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In den Berliner Gesellschaftskreisen, die sich für das Theater besonders interessiren, war im Herbst des Jahres 1873 von nichts Anderm die Rede, als von dem neuen Stücke, dessen erste Aufführung im Königlichen Schauspielhause unmittelbar bevorstand. Es führte den Titel »Herkules und Omphale«, und der Verfasser war Dr. Hugo Hall.
Von Hall hatte man seit einiger Zeit in der Gesellschaft des Thiergartens ungewöhnlich viel gesprochen. Alle Welt wußte, daß der junge Dichter mit der eleganten und geistvollen Frau Leonie Welsheim auf dem allervertrautesten Fuße stand – alle Welt, außer dem glücklichen Herrn Felix Welsheim, der an der Börse großartige Geschäfte machte, der stolz auf seine schöne Frau und sein glänzendes Haus war.
Leonie und Hugo hatten sich eine Weile große Mühe gegeben, die strafbare Wahrheit vor der Welt zu verbergen. Es war ihnen zunächst auch gelungen. Mit der Zeit aber wurden sie zuversichtlicher und ließen sich diese oder jene geringfügige Unvorsichtigkeit zu Schulden kommen, die von dem Einen bemerkt, einem Andern erzählt, eine symptomatische Bedeutung erlangte. Man brachte diese Kleinigkeiten mit den offenkundigen Thatsachen zusammen; das Besondere und das Allgemeine ließen sich sehr einfach erklären, sobald man das Vorhandensein eines Liebesverhältnisses zwischen den Beiden voraussetzte. Und so verbreitete sich das Gerücht, an dessen Berechtigung kein Mensch mehr zweifeln durfte.
Man sah Leonie und Hugo beständig zusammen, man sah, wie sie bei jedem Anlasse Blicke der Verständigung und des Einverständnisses tauschten. Diejenigen, die dem Welsheim'schen Hause näher standen, machten die Wahrnehmung, daß alle Leute, die Dr. Hall mißfielen, von Leonie abgethan wurden und nach und nach aus dem Salon verschwanden; man bemerkte auch, daß sich Leonie seit einiger Zeit in einem gewissen Sinne zu ihrem Vortheile verändert hatte; wenn sie auch das Kokettiren nicht ganz lassen konnte – das war ihr nun einmal angeboren –, so trieb sie's doch lange nicht mehr so arg wie früher; sie war ängstlicher geworden, sie fühlte sich unter schärferer Controle. Am verrätherischsten aber war ihre, agitatorische Thätigkeit für Halls Schauspiel. Jedermann, von dem sie weinte, daß er dem Stücke irgendwie nützen oder schaden könne, wurde von ihr mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt und mit allen Künsten weiblicher Schlauheit so lange bearbeitet, bis sie in dem Betreffenden eine günstige Stimmung erweckt hatte.
Sie hatte für die Dichtung, die unter ihren Augen entstanden war, das wahrste, wärmste und herzlichste Interesse. Sie war von deren Bedeutung tief überzeugt und erwartete einen durchschlagenden Erfolg. Sie fand, daß die Idee: die Bändigung des starken Mannes durch das zarte, schwächliche Weib, mit echter dramatischer Kraft erfaßt und ganz in modernem Geiste durchgeführt war. Als ihr Hugo – etwa zwei Monate nach dem ersten geheimen Kusse – den Schlußact vorgelesen hatte, war sie ihm stürmisch um den Hals gefallen, hatte ihn leidenschaftlich an sich gedrückt und selig ausgerufen: »Ich bin stolz auf Dich!«
Sie hatte ihm das Manuscript weggerissen, weil er ihr zu saumselig erschien. Welsheim hatte sich überall erkundigen und ein paar Stunden in der Stadt umherkutschiren müssen, um einen erfahrenen, verschwiegenen und gewandten Schönschreiber, dem man den Schatz ruhig anvertrauen dürfe, aufzutreiben. Sie hatte diesem eine besondere Vergütigung zugesagt, wenn er nur die Arbeit mit Anspannung aller seiner Kräfte sogleich in Angriff nehme und zu Ende führe. Sie ließ die sauber copirten Blätter bogenweise abholen und geizte mit jedem Augenblicke. Hugo hatte, bevor noch der Schluß vom Schreiber in ihren Händen war, schon den Brief an den Generalintendanten, Herrn von Hülsen, aufsetzen müssen. Sie hatte Mittel und Wege gefunden, den obersten Leiter des Schauspielhauses und den wichtigsten Lector, den Intendanzrath, schon vorher auf das kommende Ereigniß vorzubereiten, und es in der That durchgesetzt, daß ihr versprochen worden war, das Stück werde sogleich gelesen werden. Ende Juni wurde »Herkules und Omphale« eingereicht, drei Tage darauf kam die Freudenbotschaft: Angenommen! Sie hatte es zwar nicht anders erwartet, aber sie war überglücklich. Und sie gestaltete ihrem Manne, zur Feier des Tages ihr ein schönes Armband zu schenken, das sie sich schon lange gewünscht hatte.
Ihre Begeisterung für Halls Schauspiel hatte auf den guten Felix abgefärbt. Welsheim, der hellste und klarste Kopf der Börse, der in der kaufmännischen Welt des wohlverdientesten Ansehens sich erfreute, der in allen Fragen des praktischen Lebens eine höchst beachtenswerthe Intelligenz zeigte, war seiner Frau gegenüber von einer fast blöde zu nennenden Naivetät. Sie konnte mit ihm anfangen, was sie wollte. Sie redete ihm ein, daß er zu Allem, was sie gethan haben wollte, die Initiative ergriffen habe. Sie ließ ihn am Schnürchen tanzen wie eine Puppe; und er war im besten Glauben, daß er allein das Regiment führe und eine ungewöhnlich bequeme und folgsame Frau habe, die sich allen seinen Anordnungen füge. Er besaß das blindeste Vertrauen zu ihr. Für Hugo schwärmte er, und wenn er ihn ein paar Tage nicht gesehen hatte – weil Hugo dann zu Stunden kam, in denen der Gemahl an der Börse oder im Comptoir beschäftigt war –, so wurde er ganz beunruhigt und verlangte nach ihm.
Welsheim kannte das Hall'sche Stück natürlich nicht, aber er war Feuer und Flamme dafür.
Die Beziehungen zu Leonie hatten übrigens Hugo in der Gesellschaft ein besonderes Relief gegeben. Viele, die nie eine Zeile von ihm gelesen hatten, betrachteten ihn mit einem gewissen schmunzelnden Wohlwollen. Der Geliebte der schönen Leonie Welsheim, um die sich so Viele auf das Eifrigste bemüht hatten – und Alle vergeblich! – war offenbar nicht der Erste Beste.
»Da steht Dr. Hall!« raunte die Eine der Anderen zu.
»Der Freund der Frau Welsheim?«
»So sagt man.«
»Wo?«
»Da! Nicht weit von der Thür. Jetzt spricht er gerade mit seiner Freundin.«
»Ah … ja, jetzt sehe ich ihn! … Ein hübscher Mensch!«
»Sehr hübsch. Und er soll auch sehr talentvoll sein.«
Keine Wolke trübte den sonnigen Himmel dieser Ehe zu dritt. Welsheim war zufrieden, Leonie und Hugo waren glücklich. Mit einer merkwürdigen Philosophie hatte sich Leonie darein ergeben, daß ihr Geliebter Bräutigam war. Sie wußte sich nun geliebt und kümmerte sich nicht mehr nur das unbedeutende armselige Ding; sie lächelte jetzt, wenn sie sich vergegenwärtigte, daß sie sich über ein Mädchen wie Martha überhaupt jemals hatte aufregen können. Sie hatte das kranke Kind im Hinterstübchen der Brüderstraße beinahe vollkommen vergessen. Zwischen Hugo und Leonie bestand ohne irgendwelche Verabredung die stillschweigende Uebereinkunft, die heikle Frage seiner Verlobung aus ihren Gesprächen vollkommen auszuscheiden. Leonie hatte die bestimmte Empfindung, daß sie nie im Leben davon wieder berührt werden würde.
Martha hatte die Sache weniger leicht aufgefaßt. Von jenem Wege nach der Victoriastraße, den sie im Frühling unternommen hatte, um sich von Hugos Untreue zu überzeugen, hatte sie eine ernsthafte Krankheit heimgebracht, ein tückisches Fieber, das sie drei Wochen an's Bett fesselte.
Hugo erkundigte sich täglich drei-, viermal nach Marthas Befinden. Er hatte Mitleid mit ihr. Aber er schwelgte im Honigmonde seiner glückseligen Untreue; all seine Gedanken und Empfindungen theilten sich zwischen Leonie und der Arbeit an seinem dritten Acte, der damals der Vollendung zureifte. Da blieb für Martha freilich nicht viel übrig. Er freute sich, wenn er auf seine regelmäßige Frage: »Wie geht's Martha?« von der Fran Räthin die eben so regelmäßige Antwort erhielt: »Gottlob ein bischen besser!« Er wiederholte dann: »Ja, Gottlob!« und kehrte erleichtert und seelenfroh zu seinem Pulte oder zu seiner Leonie zurück.
Die körperliche Erkrankung war für Martha eine seelische Kräftigung gewesen. Sie hatte vollauf Zeit gehabt, in den hellen Stunden des Tages und den schlaflosen Stunden der dunklen Nacht über die Sache nachzudenken.
Wieviel erschütternd beredte Reden hatte sie durchdacht, um ihm die Schändlichkeit seines Verhaltens vorzuwerfen, um ihm die Schamröthe auf die Stirn zu treiben und ihn bußfertig wieder zu gewinnen! Wie viel eindringliche Briefe in ihrem Geiste an ihn geschrieben, die ihn beschämen, rühren, ergreifen mußten!
Aber die arme Martha gehörte zu jenen unglücklichen Geschöpfen, bei denen auf dem Wege vom Vorsatze zur That die Kraft versagt, die tief und richtig empfinden und sich unbeholfen und trivial ausdrücken. Sie wußte ganz genau, was sie sagen wollte, was sie aber in Wahrheit sagte, blieb hinter dem Beabsichtigten weit zurück, und erst wenn es zu spät war, fiel ihr Alles das wieder ein, was sie zu sagen unterlassen hatte.
Als es Hugo zum ersten Mal gestattet wurde, die Reconvalescentin, die drei Wochen in dem engen Stübchen neben der Küche bettlägerig gewesen war, in der Berliner Stube, mit dem schrägstehenden Fenster auf den Hof hinaus, zu begrüßen, schluchzte sie zum Steinerweichen. Sie saß auf dem großen Korbstuhle am Fenster neben dem Blumentisch mit dem Gummibaum und dem Goldfischbecken, den Kopf an das Kissen gelehnt, dessen weißer Bezug die erschreckliche Blässe des Gesichts stumpf gelblich, wächsern erscheinen ließ, die zarten durchsichtigen Hände auf das Plaid gestreckt, das die Mutter über ihre Füße gebreitet hatte. Sie empfand einen bohrenden Schmerz, als sie Hugo erblickte. Sie hatte ihm so viel zu sagen, und die Gelegenheit dazu war da, denn die Frau Räthin hatte sich discret zurückgezogen. Als aber Hugo ihre magere, kalte Hand mit der seinigen umspannte, konnte sie kein Wort hervorbringen, sie war sogar außer Stande, ihm stillschweigend durch eine Geste, durch Entziehung ihrer Hand, durch einen strafenden Blick zu verstehen zu geben, was in ihr vorging. Und der Unwille über ihre völlige Hilflosigkeit und Ohnmacht brach sich in heißen Thränen, in einem convulsivischen Zucken und Schluchzen Bahn.
»Beruhige Dich nur! Es geht ja schon wieder besser, und bald wird Alles wieder gut werden!« versuchte Hugo zu trösten. Aber seiner Tröstung fehlte die rechte Ueberzeugung. Er war von Marthas Aussehen ganz bestürzt. Er empfand mit dem unglücklichen Wesen tiefes Mitleid. Und als er ihre Thränen rinnen und den gebrechlichen Körper von den schluchzenden Stößen erschüttern sah, wurde er wahrhaft gerührt; er biß die Zähne auf die Unterlippe, und er mußte sich ernste Mühe geben, um seine Erregung zu meistern. Er litt unsagbar unter der Lüge, die das Verhältniß zwischen Martha und ihm noch zusammenkittete. Dürfte er dem armen Kinde doch die Wahrheit sagen! Die Wahrheit, daß er einen schweren, verhängnißvollen Irrthum begangen, als er sie zu lieben geglaubt hatte, daß ihm davor graute, ihr Schicksal mit dem seinigen dauernd zu verknüpfen, daß er eine Andere liebte, Leonie, der sein ganzes Herz gehörte, ohne die er nicht mehr leben und schaffen konnte! Dürfte er ihr doch die Wahrheit sagen!
Unmöglich! Es wäre zu grausam gewesen! Zwischen der schonenden Lüge und der vernichtenden Wahrheit mußte er sich jetzt, da er das weinende schwache Kind, das ein rauher Hauch umblasen würde, vor sich sah, für die Unwahrheit entscheiden.
»Beruhige Dich doch, meine arme Martha!« wiederholte er mehrere Male, ihre magere Hand streichelnd. »Es wird ja bald Alles wieder gut!«
Martha schüttelte den Kopf.
»Ja, gewiß! Du mußt nur recht verständig sein und Dich nicht so aufregen! … Vor Allem mußt Du gesund werden. Du hast einstweilen gar nichts Anderes zu thun als das. Das ist auch eine Beschäftigung, und eine sehr ernste. Du darfst Dich nicht so gehen lassen, liebe Martha! Du mußt mit Deiner ganzen moralischen Kraft gegen Deine physische Schwäche ankämpfen. Weine nicht mehr!«
Martha trocknete ihre Thränen. Ihr war das Herz so voll! Sie mußte es vor Hugo ausschütten. Sie rang nach Worten. Wiederum vergeblich. Mit Mühe brachte sie endlich heraus:
»Ich habe Dich damals gesehen … als Du zu ihr gingst.«
Hugo verstand sofort, was sie meinte. Aber er stellte sich schwerhörig, und um Zeit zu finden, sich auf die Antwort zu besinnen, sagte er: »Was meinst Du? Du hast mich damals gesehen? Wann?«
»Ehe ich so krank wurde, am Tage nach dem Besuche der Reichshallen … da habe ich Dich gesehen … in der Victoriastraße.«
»So? Nun, und weiter?«
»Weiter?« wiederholte Martha, durch Hugos Ruhe ganz betroffen. »Ich habe Dich in ihr Haus treten sehen.«
»Das ist ganz natürlich, wenn Du zu der Zeit in der Victoriastraße gewesen bist. Ich hatte mich mit Frau Leonie verabredet und bin pünktlich zur Stelle gewesen.«
»Du sagtest mir aber doch, daß Du mit einem Freunde …«
»Das habe ich Dir allerdings gesagt, weil ich Dir eine unnütze Aufregung ersparen wollte … Nun habe ich keinen Grund mehr. Dir die Wahrheit vorzuenthalten. Ich bin zu Frau Welsheim gegangen, um mich ehrlich und freundschaftlich mit ihr auseinander zu setzen, um festzustellen, wie sich Euer Verhältniß zu einander gestalten würde, und danach das meinige einzurichten … Ich bin von ihr geschieden mit dem Bewußtsein, daß sich harmonische Beziehungen zwischen Euch nicht herstellen lassen werden. Ich habe Frau Welsheim auch deutlich zu verstehen gegeben, daß wir ihr die schuldige Visite nicht machen werden, und sie hat mich vollkommen verstanden. Mein Plan ist gefaßt: da es in hohem Grade undankbar wäre, mit einem Male ein Haus zu meiden, in dem ich nur Gutes empfangen habe, bin ich entschlossen, langsam und allmählich die bisherigen Beziehungen zu lockern, bis sie sich von selbst lösen … So, nun weißt Du Alles! Nun mußt Du aber auch Vertrauen zu mir haben und darfst Dich und mich nicht mit thörichten Grillen quälen! Sprechen wir nicht mehr von der Sache! Das ist das Gescheiteste!«
Es klang so aufrichtig, so einfach und vernünftig, was Hugo sagte, daß Martha sich beinahe schämte, gegen ihren Bräutigam so schlimmen Argwohn gehegt zu haben. Die Quelle der Beredtsamkeit, die sich in ihren trüben Monologen so üppig ergoß, war nun versiegt. Sie wußte nichts zu erwidern und drückte mit ihren matten Fingern dankbar Hugos Hand.
Sie sprach nun nicht mehr von Leonie, obwohl ihr der verhaßte Name oft auf den Lippen brannte. Sie ahnte, wie es um die Beiden stand. Mit ihrem instinctiven Spürsinn konnte sie fast die Stunden bestimmen, zu denen sie sich sahen. Aber sie schwieg. Sie betäubte sich mit der gefälligen Selbstbelügung, daß zwischen den Beiden gewiß nichts Schlimmes vorkomme. Und allmählich beruhigte sie sich in der That damit. Und so gewöhnte sie sich endlich an die Ausgänge Hugos, die ihr in der ersten Zeit so furchtbar gewesen waren, und fragte ihn nicht, wo er gewesen war. Hugo zeigte sich für diese Discretion durch verdoppelte Freundlichkeit erkenntlich …
Was sollte sie ihm auch sagen? Wenn es ihr auch wirklich gelingen sollte, ihm ihr Innerstes zu offenbaren – was war dann die nothwendige Voraussetzung? Daß sie sich mit Abscheu von dem Treulosen wenden müsse. Und die Folge? Daß sie ihn verlieren würde auf immerdar! Schon bei der Erwägung dieser Möglichkeit schauderte sie zusammen. Dazu fehlte ihr der Muth und die Kraft. Alles, nur das nicht! Lieber noch die langsame Peinigung, lieber die schmähliche Gewöhnung. Nur keine Trennung!
Sie redete sich ein, daß sie eine Thörin sei, die selbstquälerisch Harmlosigkeiten zu strafwürdigen Unerlaubtheiten aufbausche. Wenn ihm jene schöne Frau etwas sei, so wäre es sicherlich nur eine vorübergehende Laune. Sein Herz, das wisse sie, gehöre ihr, der Braut. Weshalb habe er sich denn sonst mit ihr verlobt? Sie habe ihm keine Netze gestellt. Freiwillig sei er zu ihr gekommen, weil er sie liebe und ihre unbewußte Liebe empfunden habe. Zu ihr werde er zurückkehren, wenn er sich für den Augenblick wirklich durch die verderblichen Reize der Weltdame habe bethören lassen. Denn er fühle sehr wohl, daß ihn kein Wesen auf der Welt so wahr und warm, so leidenschaftlich und aufrichtig, so uneigennützig und treu lieben könne, wie sie, seine Martha …
Der Sommer war in's Land gekommen. Berlin war heiß und ungemüthlich, der Thiergarten hatte sich entvölkert. Seit ihrer Verheirathung war Leonie alljährlich mit ihren Eltern im Hochsommer in Ostende oder Scheveningen zusammengetroffen. Welsheim war daher einigermaßen erstaunt gewesen, als ihm seine Frau eines Tages erklärt hatte, daß sie sich in den modischen Seebädern langweile, daß sich da für sie das aufregende Leben der Großstadt nur in einer anderen Form fortsetze, und daß es ihr viel angenehmer sein würde, wenn sie die heißen Tage in der Nähe von Berlin in stiller Zurückgezogenheit verbringen könne – etwa an einem der schönen Havelseen oder sonstwo. Sie fühle, daß ihr das wohlthun würde. In demselben Sinne hatte sie ihren Eltern geschrieben und gleichzeitig ihren Besuch für eine spätere Zeit in Aussicht gestellt.
Welsheim hatte am Wannsee eine hübsche Villa gefunden.
Was hatte Leonie nur zu ihrem sonderbaren Entschlusse veranlassen können? Sie hatte sich in Ostende immer vorzüglich unterhalten. Es wurde ihr gewiß nicht leicht, auf die Freude zu verzichten, ihr reizend kokettes Badekostüm bewundern zu lassen. Aber Hugo hatte ihr wiederholt und in bestimmtester Form erklärt, daß er sie nicht nach Ostende begleiten und Berlin nicht verlassen werde. Leonie hatte ihn richtig verstanden: daß er sie nicht begleiten könne. Sie kannte Geldsorgen freilich nur dem Namen nach, aber sie errieth doch, daß Hugo die erforderlichen Mittel zum Aufenthalte in Ostende nicht aufbringen könne. Daß sie aber den Geliebten jetzt auf Wochen und Monde verlassen solle – daran dachte sie gar nicht. So entstand plötzlich ihre Schwärmerei für die malerische Umgebung von Berlin.
Sie fühlte sich übrigens in der idyllischen Ruhe des Wannsees wirklich sehr wohl. Hugo besuchte sie wöchentlich drei-, viermal, und es waren vielleicht die glücklichsten Stunden ihres Lebens, wenn die Beiden auf der Veranda saßen, zu ihren Füßen der glatte Spiegel des Sees, gegenüber die mit dunklem Nadelholz bestandenen Hügel des Ufers, – allein, zärtliche Blicke tauschend. Oder wenn sie Hand in Hand durch den Wald gingen. Heiteres beschwatzend, Ernstes besprechend. Gegen sechs Uhr kam Welsheim, regelmäßig schwer bepackt, aus der Stadt, dankte Hugo mit kräftigem Händedruck, daß er Leonie die langen Stunden kürze, und schmollte, daß er mit einem früheren als dem allerletzten Zuge nach Berlin zurückfahre.
Die Nachmittage, an denen die Beiden zusammen waren, erschienen ihnen endlos in ihrem Glücke, aber der Sommer war vorübergerauscht, ehe sie sich's versahen. Die Abende des regnerischen Spätsommers wurden schon kühl und ungemüthlich. Und die Blumen im kleinen Vorgärtchen waren alle verblüht, bis auf die farbenprächtigen, aber so hölzern steifen, unpoetischen Georginen. Die Zeit der ersten Ausführung von »Herkules und Omphale« rückte näher und näher. In der letzten Augustwoche übersiedelten Welsheims wieder nach der Victoriastraße.
Der Abschied von dem stillen Häuschen am Wannsee wurde Leonie wirklich schwer. Sie hatte sich nie glücklicher gefühlt. Sie sagte sich mit ungläubigem Erstaunen, daß sie im Grunde ihres Herzens doch besser sei, als sie geglaubt hatte. Die Liebe zu Hugo hatte in ihr die veredelnde Wandlung bewirkt, deren sie sich zu jeder Stunde inniglich erfreute. Sie hatte sich niemals einer solchen Echtheit und Stärke der Empfindung für fähig gehalten. Sie war also wohl gar nicht so leichtfertig, frivol und kokett, wie die dummen Leute glaubten, und wie sie es sich selbst eingeredet hatte? Hing sie nicht mit allen Fasern ihres Seins an ihm, an ihm allein? Hatte sie einen Gedanken, der einem Andern als ihm gegolten hätte?
Wenn sie diese Fragen in ihrem Alleinsein aufwarf und in einer Weise beantworten durfte, die sie ruhig, froh und zufrieden machte, so vergaß sie freilich, daß bis zur Stunde die Versuchung noch nicht an sie herangetreten war.