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Seit jenem Abend, den Hugo Hall mit Leonie Welsheim – unter gefälliger Mitwirkung des Herrn Felix Welsheim – in der Loge des Schauspielhauses verbracht hatte, waren sechs Monate vergangen. Es war im April des Jahres 1873, als Dr. Ringstetter, der ebenso geistvolle wie boshafte Herumträger aller unangenehmen Geschichten, seiner verehrten Gönnerin nebenher mittheilte, daß ihr jugendlicher Schützling wohl nur auf die Vollendung und den Erfolg seines Schauspiels, an dem er seit seiner Bekanntschaft mit Leonie mit großer Begeisterung arbeitete, warte, um sich mit seiner Wirthstochter, einem Fräulein Martha Breuer, mit der er schon seit länger als einem Jahre verlobt sei, zu verheirathen.
Leonie hatte die Mittheilung zunächst für einen ziemlich geschmacklosen Scherz gehalten. Aber Ringstetter gab eine solche Fülle von Einzelheiten, die durchaus glaubhaft wirkten, daß sie an der Wahrheit der überraschenden Neuigkeit nicht mehr zweifeln durfte. Sie affectirte nun eine übertriebene Lustigkeit, fand die Sache zu amüsant, zu komisch und lachte so stürmisch, daß Ringstetters Verdacht über die intimen Beziehungen, die sich zwischen den Beiden geknüpft hätten, erheblich verstärkt wurde. Sie erkundigte sich unauffällig, für Ringstetters Feinfühligkeit aber doch nicht unauffällig genug, nach der Kleinen und erfuhr, daß diese Martha Breuer heiße und die Tochter der verwittweten Frau Regierungsräthin Breuer, geborenen Mölldorf, sei, einer mittellosen Wittwe, die zu ihrer kärglichen Pension durch Vermiethung von Zimmern einige Thaler hinzufügte, gerade genug, um für sich und ihr kränkliches Kind die Kosten der unerläßlichsten Bedingungen des Daseins bestreiten zu können. Hugo Hall wohnte schon seit über fünf Jahren bei Frau Emilie Breuer. Die blasse Martha mit den unheimlich glänzenden großen blauen Augen und den an den Backenknochen seltsam gerötheten, sonst so bleichen Wangen und der durchsichtigen Haut, durch die die Aederchen an den Schläfen bläulich hindurchschimmerten, hatte ihn gerührt und gefesselt. Er hatte manche Abende in dem kleinen Hinterstübchen der Regierungsräthin verbracht, hatte Martha, die mit leuchtenden Blicken seinen Worten lauschte, seine Gedichte vorgelesen, und ohne daß er zu sagen vermocht hätte, wie er dazu gekommen war, hatte er um Marthas Hand angehalten und sich nachher eingeredet, daß er in sie verliebt sei. Martha war von dem Antrage nicht minder überrascht als Hugo, der ihn gestellt hatte. Von Kindheit an leidend und in großer Dürftigkeit aufgewachsen, hatte sie still und wunschlos für sich hingelebt; es war ihr nie eingefallen, daß sie ein Weib sei und geliebt werden könne. Sie hatte fast gar keinen Verkehr. Es war ihr nie der Hof gemacht worden, und wenn sie von einer ihrer Bekannten gelegentlich einmal irgend eine Bemerkung über diesen oder jenen jungen Herrn hörte, so lächelte sie, weil sie nichts zu sagen hatte. Sie wich fast nie von der Seite ihrer Mutter, die beständig über das traurige Loos der unbemittelten Wittwen, über die theuren Zeiten, die Hartherzigkeit der Menschen und die Ungerechtigkeit des Schicksals klagte, und arbeitete, so weit ihre Kräfte es gestatteten, im Geheimen für ein großes Stickereigeschäft, um monatlich ein paar Groschen zu den Kosten des Unterhalts beizusteuern. Sie hielt sich für vollkommen reizlos. Mit Unrecht. Denn sie war ein liebes, einfaches, gescheidtes und, wenn man genauer hinsah, sogar sehr hübsches Mädchen. Aber man mußte eben genauer hinsehen, auch ihre Schönheit war wie verschüchtert. Die Fülle der prachtvollen blonden Haare, die die hauptsächliche Kraft des schwachen Kindes aufzusaugen schienen, ließ sich in der einfachen Tracht kaum errathen. Nur wenn sie lachte – und sie lachte selten –, sah man die schönen, glänzenden, milchfarbenen Zähne. Sie war ziemlich groß, mager und mit achtzehn Jahren noch unentwickelt wie ein Kind. Sie brauchte einige Zeit, um sich klar zu machen, was Herr Dr. Hall, der bisher nur der Miether der großen Stube gewesen war, mit seinem Antrage eigentlich hatte sagen wollen. Als ihr der erste lange Kuß, den Hugo auf ihren kleinen Mund drückte – der erste Kuß, den sie mit geschlossenen Augen erwiderte, der ihre schmalen Lippen siedend durchglühte und dann eisig kühlte –, die Erleuchtung brachte, überkam sie ein Gefühl namenloser Glückseligkeit; es war, als ob in ihrem Innern plötzlich der Frühling ausgebrochen, als ob auf einmal ihre jungfräulich keusche Weiblichkeit vom Eise befreit sei. Sie fühlte sich Weib und hing mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit und dankbarer Liebe an dem Mann, der ihr das wunderbarste Geheimniß des Daseins offenbart, der sie erweckt hatte. Die holde Reinheit, die vertrauende Ergebenheit des Mädchens hatten Hugo tief gerührt. Er meinte, unbewußt wirklich das Richtige getroffen und durch die gütige Fügung des Geschickes die Eine, die ihm bestimmt war, die er liebte, oder die er lieben würde, gefunden zu haben. Und so war denn die erste Zeit des Brautstandes sonnig und schön. Martha war wie umgewandelt. Ihre lässigen müden Bewegungen hatten an Lebendigkeit und Bestimmtheit gewonnen, ihre bleichen Wangen hatten sich leicht geröthet, sie war frischer und gesünder geworden. Hugo arbeitete mit mehr Lust und Liebe denn je. Jetzt hatte er ein Ziel vor Augen, er fühlte, daß er ernste Pflichten übernommen hatte; und es war sein ehrliches Bemühen, diesen Pflichten zu genügen.
Der Winter kam. Es war Hugo ein Leichtes, seiner Braut, die ihm blindlings glaubte, klar zu machen, daß er als Schriftsteller, der das moderne Leben der Großstadt zu seinem besonderen Studium sich ausersehen hatte, sich nicht vergraben dürfe, daß er Gesellschaften, so sehr sie ihn auch, wie er betheuerte, langweilten, aufsuchen müsse. Ebenso verstand es sich von selbst, daß Martha, für deren einfachste anständige Kleidung der erfinderische Scharfsinn der Mutter schon auf's Aeußerste sich anzuspannen hatte, ihn dorthin nicht begleitete. Ohne Klage blieb sie daheim und lächelte ihm nach, wenn er im Frack, der ihn so gut kleidete, mit der kunstvoll leicht geschlungenen weißen Cravatte sich verabschiedete. Manchmal regte sich freilich in ihr der geheime Wunsch, auch eine der glänzenden Festlichkeiten, die Hugo, wie ihr schien, allzu geringschätzig behandelte, mitzumachen. Aber sie war verständig genug, um einzusehen, daß sie Unmögliches begehrte. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß später, wenn Hugo den verdienten Lohn seines Talentes empfangen, alles anders besser werden würde. Sie wollte geduldig ausharren. Ja, geduldig! Es mußte wohl recht schwierig sein, das Leben und Treiben der bevorzugten Welt, in der ihr Bräutigam sich bewegte, kennen zu lernen. Die gesellschaftlichen Pflichten Hugos mehrten sich unausgesetzt. Er mußte fast allabendlich ausgehen und kam gewöhnlich erst zu sehr später Stunde nach Hause. Sie hörte ihn jedesmal kommen, hörte schon die Hausthür sich öffnen und schließen und den Schlüssel im Schlosse der Corridorthür. Dann erst schlief sie ein. Oft mit recht schwerem Herzen. Weshalb nur Hugo, wenn er so spät nach Hause kam, am anderen Tage unaufgefordert eine frühere als die richtige Stunde angab? Gewiß, um sie zu schonen. Er war ja so gut. Und sie bedurfte wieder einiger Schonung. Denn die vergänglichen Rosen, die der Liebesfrühling auf ihre Wangen getrieben hatte, waren in den langen schlaflosen Nächten längst wieder gewelkt. Martha sah mitunter gespensterhaft fahl aus, und ihre feucht glänzenden, seltsam strahlenden Augen erschienen in den schattigen Ringen, die sich um sie gezogen hatten, unnatürlich groß.
Von der Verlobung war nach gegenseitiger Uebereinkunft wenig Aufheben gemacht worden. Da die Verhältnisse es noch nicht gestatteten, daß sich die Beiden zusammen zeigten, so würde das Bekanntwerden nur zu unangenehmen Scherereien und lästigen Fragen veranlaßt haben. Hugo hatte offenbar ganz Recht: was brauchte die gleichgiltige Welt von ihrem Glücke zu wissen!
Da aber keine Thatsache verborgen bleibt, so hatte doch Dieser und Jener erfahren, daß Hugo über sein Herz und seine Hand schon verfügt hatte. Er selbst sprach aber nicht davon; und es stand ihm Niemand so nahe, um ohne Aufforderung mit ihm davon zu sprechen. Seinem Benehmen im Salon hätte aber auch der Scharfsichtigste den heimlich Verlobten nicht angemerkt. Er benahm sich hübschen Mädchen, und besonders hübschen jungen Frauen gegenüber so ungebunden und frei wie nur möglich. Seitdem er in den intimsten Kreis der Frau Leonie Welsheim gezogen war, mußte eine solche Vermuthung vollends gegenstandslos erscheinen.
Bis zur Stunde hatte Leonie in der That nichts geahnt. Als Ringstetter ihr den Streich versetzte, fühlte sie etwas ganz Sonderbares, nie Gekanntes in ihrer Brust, als ob ihr Herz plötzlich in eisiges Wasser getaucht sei – ein schmerzliches Unbehagen, das sie zwang, während des hohlen lauten Lachens unwillkürlich die Lider zu senken. Und als Ringstetter sich verabschiedet hatte und sie allein war, verzerrte sich ihr Gesicht, sie sah mit einem Schlage zehn Jahre älter aus, als sie war. Sie machte einige hastige Schritte und drückte dann den Knopf der elektrischen Klingel. Ihre erste Empfindung war, sich den Hut aufzusetzen, den Wagen vorfahren zu lassen und das Mädchen aufzusuchen. Daß die Geschichte wahr war, galt ihr als zweifellos; sie erklärte ihr Alles, was ihr bisher unverständlich gewesen war: die plötzliche Niedergeschlagenheit Hugos inmitten der tollsten Ausgelassenheit, seine Scheu, sich oft öffentlich mit ihr zu zeigen, seine dunkeln Redewendungen, – Alles mit einem Worte. Sie mußte das Mädchen sehen, sie mußte ihr sagen … Was mußte, ja, was konnte sie ihr sagen? Womit den auffälligen und compromittirenden Besuch rechtfertigen – vor ihr und vor ihm? …
»Es ist gut!« sagte sie dem Diener, der in der Thür erschienen war. »Ich bedarf Ihrer nicht!«
Jean verneigte sich und verschwand wieder.
Leonie setzte sich auf das niedrige Polster im Erker und blickte durch das durchsichtige Gewebe hinüber auf die grauen Stämme, die eben das erste Grün ansetzten. Die Frühlingssonne schien goldig herab. Das heitere Licht des schönen Nachmittags taugte schlecht zu ihrer finsteren Stimmung. Sie athmete tief und seufzte so laut, daß sie selbst darüber erschrak. Sie ließ Alles, was sich zwischen ihnen ereignet hatte – seit ihrer ersten Begegnung und seit dem verhängnißvollen Theaterabend, an dem sie seine auf der Lehne des Sessels ruhende Hand warm an ihrer Schulter gefühlt und doch keinen Versuch gemacht hatte, ihre Stellung zu verändern –, an ihrem Geiste vorüberziehen. Sie klagte sich an, daß sie an demselben Abend seinen langen, bedeutungsvollen, vielbegehrenden Händedruck beim Abschied ebenso innig und vielverheißend erwidert und dabei merklich gezittert hatte, obwohl sie ohne besondere Anstrengung ruhig hätte bleiben können. Sie hatte Hugo nicht nur in ihrer Umgebung geduldet, sie hatte ihn in ihre Nähe gezogen; nicht wie mit den Anderen hatte sie oberflächlich mit ihm kokettirt, sie hatte ihm unausgesetzt gezeigt, daß ihre Gefühle für ihn ernster waren. Sie hatte ihm das Recht zugestanden, ihr über ihre Gefallsucht Vorwürfe zu machen, sie hatte sich mit unverkennbarer Freude von ihm schulmeistern lassen, hatte seine Wünsche, diesen und jenen ihrer Freunde mit verletzender Kälte zu behandeln und ihrem Hause zu entfremden, erfüllt und mit einem wunderlichen Frohgefühle die Regungen seiner Eifersucht wahrgenommen und sich ungerecht quälen lassen.
Gewiß war sie die Mitschuldige … Aber der Schuldige war Er! Wenn er sie wirklich liebte, sie allein, dann sollte ihm Alles vergeben sein! Aber wie sollte sie ihm das jetzt noch glauben – ihm, der seit einem halben Jahre mit einer Lüge oder doch mit einer verschwiegenen Wahrheit ihr gegenübertrat? Der einer Anderen dasselbe gesagt hatte und zur Stunde noch immer sagen mußte, was er ihr durch den begehrlichen Blick seiner blauen Augen, durch den Druck seiner Hand, durch das leise Aufseufzen seiner Brust, durch sein ganzes Sein und Wesen unablässig sagen wollte? Er hatte eine Braut, die er vor Gott und der ganzen Welt in seine Arme schließen und küssen durfte, ohne angstvoll nach der Portière zu spähen und bei dem leisesten Geräusch zusammenzufahren. Und das hatte er vor ihr verschweigen können!
Sie fühlte, wie ein flammendes Roth ihre Wangen färbte. Sie war außer sich – nicht bloß vor Zorn. Sie hatte ein Gefühl der tiefsten Beschämung und Demüthigung … daß ihr sein Herz streitig gemacht wurde – von einer solchen Person! Es war ja offenbar eine ausgefeimte Kokette, die ihn in ihre Netze gezogen hatte. Was konnte an ihr sein, die die erniedrigende Situation, sich verschweigen zu lassen, ruhig hinnahm? …
Leonie öffnete einen Flügel des Fensters und ließ die reine frische Luft in das Zimmer strömen, in dem das Kaminfeuer noch immer brannte. Ihr Kopf war wirr und wüst, und die Kühle that ihr wohl. Vergeblich hatte sie sich bemüht, zu einem Entschlusse zu gelangen, wie sie ihr Verhalten Hugo gegenüber zu regeln habe. Einfaches Ignoriren wäre vielleicht das Vernünftigste gewesen. Aber sie sagte sich, daß sie außer Stande sein würde, diese Komödie durchzuführen. Sollte sie ihm eine heftige Scene machen und mit einem Eclat den Bruch herbeiführen? Sollte sie ihn verletzen und langsam entfernen? Sollte sie zum Aeußersten schreiten, ihm die Alternative stellen, zwischen Jener und ihr zu wählen, und um den Preis des Opfers, das ihre Eifersucht heischte, ihm gewähren, was er unablässig forderte, und was sie ihm bis zur Stunde verweigert hatte?
Alles erschien ihr gleichermaßen unmöglich, am unmöglichsten aber, daß es zwischen ihr und Hugo beim Alten bleiben könne. Sie mußten jetzt nothgedrungen auseinandergesprengt oder völlig aneinandergetrieben werden. Leonie schauderte fröstelnd und schloß das Fenster. Sie war erstaunt, als sie auf die Uhr blickte und berechnete, daß seit Ringstetters Abschied wenigstens eine Stunde verflossen war. Zum Ausfahren war's nun auf alle Fälle zu spät. Welsheim war vermuthlich schon nach Hause gekommen, in einer halben Stunde wurde das Diner aufgetragen.
Sie wußte nicht recht, was sie mit sich anfangen sollte. Ohne besonderen Vorsatz trat sie in ihr Toilettenzimmer und musterte die Frühlingsgarderoben, die gestern aus Paris eingetroffen waren. Die auffälligste sagte ihr heute gerade am meisten zu. Sie rief ihre Kammerjungfer Germaine, die sie aus Holland mitgebracht hatte, und sagte ihr, sie wolle sich zum Diner umkleiden.
»Ist denn Gesellschaft?« fragte Germaine, der Leonie erlaubt hatte, auch zu sprechen, ohne gefragt zu sein, und die sogar selbst Fragen zu stellen sich verstatten durfte.
»Nein,« antwortete Leonie mit einer Schroffheit, die dem guten Mädchen auffiel.
»Aber für den Herrn allein ist das Kleid doch zu schade,« meinte Germaine.
»Ich wünsche es anzuziehen. Also bitte,« erwiderte Leonie noch barscher als vorher.
»Wie gnädige Frau befehlen,« bemerkte Germaine unterwürfig. Und nach einiger Zeit, während ihre geschickten Hände das Worth'sche Wunderwerk der schlanken Gestalt der Herrin anschmiegten, setzte sie kleinlaut hinzu: »Gnädige Frau sind heute recht ungehalten. Haben gnädige Frau Verdruß gehabt? Gnädige Frau sehen wirklich recht angegriffen aus!«
Welsheim hatte eine ausnehmend gute Börse gehabt und war seelenvergnügt.
»Ah!« rief er bewundernd aus, als Leonie in dem lichten Kleide in den Salon rauschte, »das lasse ich mir gefallen! Wirklich famos! Ja, diese Franzosen! … Wenn wir erst soweit wären! … Laß Dich doch erst einmal ordentlich anschauen. So rasch wird die Suppe nicht kalt werden …«
»Bitte, komm!« sagte Leonie, die sich der Thür zum Speisesaale schon genähert hatte.
»Zu Ehren der neuen Toilette,« begann Welsheim das Gespräch bei Tisch, »sollten wir eigentlich irgend etwas unternehmen. Für mich allein ist sie wirklich zu schade.«
Leonie mußte bei der Erinnerung daran, daß Germaine vor einer halben Stunde dasselbe mit denselben Worten gesagt hatte, unwillkürlich lächeln.
»Wie Du meinst,« entgegnete sie mit gespielter Gleichgiltigkeit. Sie war fest entschlossen, sich von ihrem Manne dazu überreden zu lassen, den Abend gemeinsam mit Hall zu verbringen. Aus tausend Gründen hielt sie es für das Richtige, daß ihre erste Begegnung mit ihm unter dem Zwange, den die Gegenwart ihres Mannes ihr auferlegte, stattfände. Zugleich wurde sie auch von dem Verlangen verzehrt, das Mädchen zu sehen, heute noch. Sie ahnte, daß nur ihr Mann in unverfänglicher Weise ihr dazu verhelfen könne; sie wußte zwar für den Augenblick noch nicht recht, wie das überhaupt zu machen sei, aber sie erhoffte von ihrem oft erprobten Mittel, Welsheim ihre eigenen Wünsche zu suppeditiren, das Beste. Unruhig flatterten ihre Blicke von einem Gegenstand zum andern.
»Wollen wir in irgend ein Theater gehen? … Nein? Mir auch recht! … In den Circus? … Auch nicht? Schön … Da fällt mir ein, in den Reichshallen soll jetzt ein gutes Programm sein, ausgezeichnete amerikanische Turner, eine bildhübsche Chansonettensängerin aus Wien, eine sehr lustige Pantomime … Was meinst Du? Ich lasse eine Loge holen … wir nehmen noch ein paar gute Freunde mit …«
»Gleich ein paar?«
»Oder einen guten Freund … ganz nach Deinem Belieben … Doctor Hall zum Beispiel?«
Leonie furchte die Brauen.
»Weshalb denn nicht?« fuhr Felix fort, und mit veränderter Stimme setzte er hinzu: »Ich begreife Dich nicht, Leonie! Seit einiger Zeit bist Du gegen unsern armen Doctor geradezu verletzend kalt. Nein, nein! Bestreite es nicht! Ich habe gute Augen, und mir entgeht nichts. Du thust dem armen Menschen wehe! Er verehrt Dich – Du darfst es mir glauben! Sei doch ein bischen freundlicher zu ihm! Dir ist es ein Leichtes, und Du erfreust einen braven Kerl!«
»Du irrst … ich habe nicht das Geringste gegen den Doctor …«
»Dann wirkst Du jedenfalls unfreundlicher, als es Deine Absicht ist.«
»Das mag sein.«
»Aber es ist nur, offen gesagt, unangenehm. Ich habe für Hall sehr viel übrig, und es würde mir leid thun, wenn Du ihn durch Deine Schroffheiten, die vielleicht gar nicht böse gemeint sind, verscheuchtest. Du siehst ja, Andere, die sich früher so wohl bei uns fühlten, haben es sich auch nicht gefallen lassen und sind schließlich weggeblieben – darunter sehr nette Menschen, die Dir früher ausnehmend gefallen haben. Du hast wirklich einen etwas zu starken menschlichen Verbrauch.«
Leonie zuckte die Achseln.
»Ich will Dir das Gegentheil beweisen,« sagte sie mit schläfrigem Ausdruck. »Gehen wir meinethalben in die Reichshallen und holen wir den Doctor ab, wenn Du es durchaus willst. Wir können ja im Wagen vor der Thür warten.« Ohne ihrem Manne Zeit zu der Einwendung zu lassen, daß es ihm garnicht eingefallen sei, Hugo abholen zu wollen, fuhr sie fort: »Es ist allerdings ein bischen sonderbar, daß wir vor der Wohnung eines Junggesellen vorfahren. Aber ich bin vorurtheilsfrei, und da Du es wünschest … deutlicher kann ich dem Doctor freilich nicht zeigen, daß ich nichts gegen ihn habe; hoffentlich wirst Du damit endlich zufriedengestellt sein.«
»Gewiß, gewiß,« erwiderte Welsheim etwas zerstreut, während er das Glas, aus dem er eben getrunken hatte, auf den Tisch setzte und die Serviette an seine Lippen führte. Hatte er denn wirklich Leonie den Vorschlag gemacht, Hall abzuholen? Er konnte sich dessen garnicht erinnern, aber es sagte ihm zu, und da Leonie damit einverstanden war, wandte er sich zum Diener: »Um halb acht den Landauer!«
Als Leonie zur festgesetzten Zeit mit einem entzückenden Hut auf dem kunstvoll frisirten Kopfe und einem neiderweckenden Ueberwurfe im Salon erschien und die Handschuhe bedächtig zuknöpfte, sagte sie zu Welsheim, der mit den beiden Operngläsern in der Hand schon seit einigen Minuten auf sie wartete:
»Wir wollen doch lieber direct in die Reichshallen fahren. Jean kann ja den Doctor in unserm Namen bitten …«
»Aber nein,« erwiderte Welsheim etwas ungehalten. »Dazu ist es nun zu spät. Mein Gott, sei doch nicht so zimperlich! Die Sache ist doch völlig harmlos … in meiner Gesellschaft.«
»Wenn Du meinst … Wohnt Doctor Hall eigentlich hübsch?«
»Ich bin nie in seiner Wohnung gewesen.«
»Sieh Dich ein bischen um, wenn Du bei ihm bist. Es würde mich interessiren, einmal einen Blick in die Werkstatt eines Dichters zu werfen. Man kann eigentlich einen Menschen erst richtig beurtheilen, wenn man gesehen hat, wie er haust.«
»Er wird wohnen, wie die meisten jungen Leute wohnen.«
»In dem Punkte kann ich Dir allerdings nicht widersprechen, daß das Atelier eines Künstlers, das Arbeitszimmer eines Schriftstellers etwas Anderes ist, als die Wohnstube des ersten Besten. Es ist, wie Du ganz richtig bemerkst, eine Art Museum, neutrales Gebiet …«
»In der That!« bekräftigte Welsheim ein wenig überrascht. Er konnte sich gar nicht entsinnen, eine solche Bemerkung gemacht zu haben. »In der That … wie ein Museum.«
»Aber erlaube, lieber Freund,« fiel Leonie, die gerade den letzten Knopf bewältigt hatte, mit lustigem Eifer ein, während sie ihren Arm in den seinigen legte und Felix zu beschleunigtem Aufbruch antrieb, »der Vorwurf der Zimperlichkeit, den Du mir machst, trifft mich doch nicht, wenn ich ein wenig zögere, in die Höhle des Löwen hinabzusteigen. Er wird mich freilich nicht zerfleischen, der Löwe, ich habe ja an Dir eine starke Stütze und den berufenen Vertheidiger …«
»Wie meinst Du?« fragte Welsheim.
Sie waren vor der Hausthür angelangt.
»Brüderstraße, zu Doctor Hall,« beschied Felix den harrenden Diener, der nach einer kurzen Verbeugung den Schlag vorsichtig schloß, auf den Bock kletterte und in kerzengerader Haltung seinen Platz neben dem dicken Kutscher einnahm.
»Amüsiren würde es mich natürlich,« sagte Leonie, als der Wagen auf den Gummirädern fast geräuschlos und in scharfem Trabe der Stadt zurollte, »den guten Doctor in seinem Heim aufzustöbern. Ich persönlich finde ebenso wenig dabei wie Du. Aber ich weiß nicht, ob die Leute …«
»Du wolltest mit hinaufkommen?« fragte Felix, wiederum einigermaßen überrascht.
»Wenn es Dir Spaß machen würde … ich würde es ruhig wagen,« antwortete Leonie mit ihrem reizendsten Lächeln, während sie ihre kleine linke Hand auf die Rechte ihres Mannes legte und Fingerübungen machte. »Du sollst mir nicht ein zweites Mal vorwerfen, daß ich zu ängstlich sei … in Deiner Gesellschaft.«
»Daß Du mit mir einen guten Freund abholst – mir erscheint's durchaus unverfänglich. Ich fürchte nur, wir könnten den guten Doctor einigermaßen in Verlegenheit bringen, wenn wir ihm unangemeldet, so nur nichts dir nichts in's Haus fallen.«
»Das wäre ein köstlicher Spaß,« lachte Leonie übermüthig. »Mitunter hast Du wirklich ausgezeichnete Einfälle! Würde der gute Doctor Augen machen, wenn er uns auf einmal vor sich sähe! Wie kommt solcher Glanz in seine Hütte! Denn es wird Dir nicht entgangen sein, daß ich mich heute ausnehmend schön gemacht habe …«
»Das stimmt,« versetzte Felix mit stolzem Schmunzeln, während er Leonies Toilette, über die er sich schon gefreut hatte, abermals mit liebevollen Augen musterte. »Du hast Dich heute wirklich ganz besonders angestrengt.«
»Aber nicht mit Rücksicht auf den Doctor,« lächelte sie. »Das schwöre ich Dir! Nun wirst Du mir am Ende gar noch einreden wollen, daß ich Halls wegen mein interessantestes Frühlingskleid angelegt und mein kokettestes Hütchen aufgesetzt habe … Du Undankbarer!«
»Du siehst wirklich wunderhübsch aus!« rief Felix in zärtlichem Tone aus und führte die kleine Hand, die noch immer auf seiner Rechten munter fingerte, an seine Lippen.
»Ich verspreche mir einen großartigen Effect davon,« fuhr Leonie in derselben heiteren Weise fort, »wenn wir Beide Hand in Hand in das Stübchen des Doctors eintreten.«
»Also ist es Dein Ernst? Dir möchtest wirklich mit mir …«
»Ich möchte?« fiel Leonie ein. »Ich möchte?« wiederholte sie. »Aber Du vertauschest die Rollen, lieber Freund! Wenn Du das geringste Bedenken hast … ich kann ja ruhig im Wagen unten warten.«
»Du mißverstehst mich! Ich habe gar keine Bedenken.«
»Ich bleibe sogar lieber unten, ich wollte Dir nur den Spaß nicht verderben. Wenn Du aber meinst, daß die Leute …«
»Ach was! die Leute! Dummes Zeug! Eine Frau wird mit ihrem Manne doch wohl …«
»Also gut!« Sie hatte seine Hand gedrückt, und die Beiden betrachteten sich lächelnd. Leonie war froh, daß sie ihre Absicht, noch heute in die Häuslichkeit Hugos einzudringen, durchgesetzt hatte, und Welsheim freute sich über seine anmuthige, elegante, lustige Frau und glaubte nun, daß er sie dazu bewogen habe, mit ihm den Doctor zu überfallen.
Der Wagen hielt vor einem ungastlichen Hause der alten Straße. Felix und Leonie traten ein. Die Treppen waren durch flackerndes Gas, das ohne Schutz und Dämpfung in einer dreispitzig auslaufenden Flamme brannte, ungenügend beleuchtet. Die Stiegen waren ausgetreten, die Absätze in den einzelnen Stockwerken bildeten ein schmales, fast rechtwinkliges Dreieck, in jedem Schenkel dieses Winkels befand sich je eine weißlackirte Glasthür, deren Scheiben mit billigen Gardinen behangen waren. Es sah in dem Hause ordentlich und sauber, aber überaus dürftig aus. Im zweiten Stock rechter Hand war unter der Klingel mit einem Griff aus weißem Porzellan ein Porzellanschild angebracht, auf dem in großen schwarzen gothischen Buchstaben die Aufschrift stand: »E. Breuer, verw. Regierungsräthin«; darunter befand sich mit Reißzwecken befestigt eine Visitenkarte, auf der »Dr. Hugo Hall« zu lesen war.
Welsheim hatte die Schelle gezogen. Gleich darauf wurde eine Thür der Wohnung geöffnet und die Gardine ein wenig zurückgeschoben. Es entstand eine kurze Pause, wie eine Verlegenheitspause. Leonies Herz klopfte stürmisch, sie mußte ihre ganze Willenskraft zusammennehmen, um ihre Fassung zu bewahren. Die Flurthür ging langsam auf, und auf der Schwelle erschien ein junges Mädchen, in der unvortheilhaften Beleuchtung gespensterhaft bleich, mit schlichtem, ungewöhnlich starkem blonden Haar, dessen Wucht das kleine Köpfchen niederzudrücken schien, mit großen glänzenden Augen. Sie trug ein einfaches dunkles Wollenkleid und eine saubere Schürze mit einem Besatz von gehäkelten Spitzen. Leonie ließ ihre Blicke in fieberhafter Hast über das schwächliche Mädchen fliegen, und ihre Lippen, die lächeln wollten, verzerrten sich. Martha hatte bei dem Anblick der eleganten vornehmen Dame, die unwillkürlich eine hochmüthige Haltung angenommen hatte, eine höchst unbehagliche Empfindung. Leonie, die sich unter der Braut Hugos eine ganz andere Persönlichkeit vorgestellt hatte, fand die kümmerliche, schmalbrüstige Kleine einfach lächerlich.
»Ist Herr Doctor Hall zu sprechen?« fragte Welsheim, indem er Martha seine Karte reichte.
»Ich glaube wohl … Wollen die Herrschaften gefälligst nähertreten?«
»Ich warte hier,« sagte Leonie zu ihrem Manne. »Du wirst ja sehen, ob der Doctor mich empfangen kann.«
»Wenn Sie mit meinem Stübchen fürlieb nehmen wollen, gnädige Frau, hier ist's doch zu ungemüthlich.«
»Sehr artig, mein Fräulein,« entgegnete Leonie, sich leicht verneigend.
Sie folgte ihr in das Hinterstübchen und setzte sich auf den Stuhl, den ihr Martha angeboten hatte. Welsheim war in dem halbdunklen, engen und winkligen Corridor stehen geblieben. Martha kam sogleich zurück, klopfte an die Thür des Vorzimmers und trat auf den Hereinruf, der von innen kam, ein. Unmittelbar darauf erschien Hugo, der mit voller Stimme, die hier überlaut klang, ausrief: »Ist es denn möglich? Das ist aber eine Ueberraschung! Bitte, treten Sie doch ein! Was verschafft mir denn das unverhoffte Vergnügen? …«
Die Thür wurde geschlossen. Man vernahm nur noch den Laut der Stimmen, nicht mehr die Worte.
Leonie hatte sich in dem ärmlichen Zimmer schnell umgesehen. Es war nicht viel zu sehen. Alte Möbel, die auch in ihren jungen Tagen nicht schön gewesen waren, gut gehalten, ein Sopha und zwei Sessel mit geschweiftem Holz, mit grünem Ripsbezug und gehäkelten Schutzdecken; auf dem Tisch, dessen bunte Plüschdecke ordentlich zusammengefaltet auf dem geschlossenen Pianino lag, ein Tischtuch mit zwei Gedecken und einer Theetasse; in der Mitte, von der Petroleumlampe hell beleuchtet, ein kleiner Teller mit kaltem Aufschnitt, eine Butterbüchse, ein Brotkorb, eine Flasche Tivolibier. An der Wand der Stich der Madonna della Sedia, darunter die Bilder des Kaisers, des Kronprinzen, Bismarcks und Moltkes. Ueber dem Pianino Beethoven in Steindruck. Ein hängendes Bücherregal mit ein paar Dutzend Büchern in Fabrikeinband, über einem kleinen unbrauchbaren Schreibtisch; nahe dem Fenster ein Blumentisch mit einem Gummibaum, billigen Blumen vom Markte und einem Goldfischbecken. Daneben ein Nähtisch, an den ein Rahmen mit einer angefangenen Stickerei gelehnt war. Leonie wurde in ihrer flüchtigen Musterung dieser Armseligkeit nicht gestört, denn die Frau Regierungsräthin war noch in der Küche mit dem Kochen des Theewassers beschäftigt. Ein merkwürdiges Lächeln, ein Gemisch von Mitleid und Verachtung hob ihre Lippen.
»Und das lebt auch!« sagte sie, langsam nickend, und die Brauen bis in die Mitte der Stirn hinaufziehend warf sie die inhaltsschwere Frage auf: »Wozu?«
Da trat Martha in das kleine Zimmer. Sie wurde etwas verlegen, als sie die ungewohnte Erscheinung der jungen Frau in strahlender, übermüthiger, herausfordernder Eleganz in dieser schlichten Dürftigkeit wiederum erblickte und den berauschenden, süßlich matten, krankhaft sinnlichen Gardenienduft einsog, der Leonies Vorsteckstrauße entströmte. Sie fühlte, ohne aufzusehen, wie sie von der Dame mit einer beinahe unhöflich zu nennenden Aufmerksamkeit gemustert wurde. Es war ihr zunächst peinlich, dann unheimlich; und mit einem gewissen abergläubischen Bangen hob sie die Lider und richtete trotzig den festen, ruhigen Blick ihrer großen leuchtenden Augen auf die Unbekannte. Sie erschrak fast, als sie von den spitzen, scharfen Blicken Leonies getroffen wurde. In diesen kleinen, irrenden Augen mit der zitternden Pupille lag etwas geradezu Feindseliges. Eine unerklärliche Ahnung, die fast die Deutlichkeit einer Warnung hatte, sagte Martha, daß diese vornehme, elegante, schöne Frau ihr Unglück bringen und tiefes Weh bereiten werde. Sie wich unwillkürlich zurück und machte sich mit der Tischdecke auf dem Pianino in überflüssiger Weise zu schaffen, um Leonie den Rücken wenden zu können.
Die Beiden sprachen kein Wort und Beide athmeten mit scharfgeschlossenen Lippen hörbar.
Zum Glück währte dieses peinigende Zusammensein nur wenige Augenblicke, die Martha freilich lang genug erschienen. Hugo öffnete hastig die Thür und rief mit lauter Stimme, als wolle er seine Befangenheit übertönen:
»Das ist ja ungemein liebenswürdig, gnädige Frau! Eben sagt mir Ihr Mann … Wenn Sie vor einem bescheidenen und etwas wüsten Junggesellenheim nicht erschrecken … dürfte ich Sie bitten? …«
Er reichte Leonie den Arm.
»Aber Sie dürfen sich nicht umsehen,« setzte er hinzu, während er, ohne Martha anzusehen, mit Leonie das Stübchen verließ und die Thür hinter sich schloß.
Martha trat an die Thür und sah sie wie etwas Merkwürdiges an. Sie blieb da stehen, und da stand sie noch, als ihre Mutter mit dem Theetopf aus der Küche kam.
»Hugo hat Besuch … einen Herrn und eine Dame …«
»Eine Dame?« fragte Frau Emilie erstaunt. »Wer ist denn das?«
»Ich kenne sie nicht. Ich habe den Namen auf der Karte des Herrn, der ihr Mann zu sein scheint, nicht gelesen. Ich denke mir, es wird Frau Welsheim sein.«
»Ist das der reiche Banquier, von dem Hugo manchmal gesprochen hat?«
»Ja.«
»Wie kommst Du gerade auf den?«
»Ich weiß es nicht … Ich denke es mir.«
»Ich wußte überhaupt nicht, daß Herr Welsheim verheirathet ist.«
»Hugo hat aber einmal den Namen der Frau Welsheim genannt, er wurde dabei ganz verlegen. Seitdem hat er nie mehr von ihr gesprochen. Ich glaube, es ist Frau Welsheim.«
»Nun, wir werden's ja erfahren … Jetzt setz' Dich! Der Thee hat genug gezogen.«
»Ich glaube sicher, es ist Frau Welsheim,« wiederholte Martha, als sie sich ihrer Mutter gegenübersetzte. Sie war ganz fahl geworden, auf der dünnen Haut der mageren Wangen flammten unter den Augen zwei rothe Flecken. Sie rührte das Essen kaum an.
Leonie war, als sie an Hugos Arm in das geräumige Arbeitszimmer getreten war, von einer Art von Galgenhumor befallen. Sie triumphirte, daß sie erreicht, was sie gewollt hatte. Es hatte ihr eine kitzelnde Genugthuung bereitet, vor Martha von Hugo mit selbstverständlicher Artigkeit behandelt worden zu sein. Vor Allem hatte es ihr Spaß gemacht, daß Hugo in ihrer Gegenwart seine Braut keines Blickes gewürdigt, zu würdigen gewagt hatte. Das Frohgefühl dieses wohlfeilen Sieges überwog für den Augenblick alles Andere. Sie hatte jetzt alles Ungemach verscheucht, und sie war beinahe heiterer Stimmung, als sie Hugos Zimmer mit spähenden Blicken durchschritt.
»Also so sieht es bei einem Gelehrten und Dichter aus!« sagte sie lächelnd.
Es war ein zweifenstriges Zimmer mit einem breiten Arbeitstisch, der quer vor dem einen Fenster stand, einem hohen mächtigen Bücherreck aus gestrichenem Holz, das beinahe die ganze Breite der den Fenstern gegenüberliegenden Wand einnahm, mit anspruchslosen, nicht schlechten Möbeln. Die Thür zu dem kleinen einfenstrigen Schlafzimmer nebenan war geschlossen. Das Bücherreck war ganz gefüllt, mit zum größten Theil ungebundenen Schriften, die in den vier oberen Reihen in systematischer Ordnung aufgestellt waren. In den beiden unteren Schossen waren die Sachen untergebracht, die an Hugos früheres Studium erinnerten: da stand ein Mikroskop, da lagen Herbarien und botanische Fachzeitschriften. Hier war auch an den beiden Ecken eine Art von Decoration angebracht, zur Rechten ein Büschel des schönen Pampasgrases, dessen goldig glänzende, mild crêmefarbene Federchen mit der Zeit durch Staub und Cigarrenrauch aschgrau geworden waren; auf der Linken hing beinahe von Manneshöhe ein sonderbares Pflanzengewebe in dichten Strähnen bis auf den Fußboden herab, von matt graugrünlicher Färbung, kraus verwüsteltes Moos, leicht gewellt, von schwermüthiger, aber schöner Wirkung, wie ein Wittwenschleier.
»Was ist denn das?« fragte Leonie, die mit ihren kleinen behandschuhten Fingern die vegetabilischen Flechten vorsichtig betupfte.
»›Hängendes Moos‹ nennen es die Laien. › Tillandsia usneoides‹ ist der botanische Name.«
»Sehr hübsch … wo wachsen denn diese Pflanzen?«
»In den südlichen Staaten der Amerikanischen Union und in Mexico kommen sie sehr häufig vor – als malerisch sehr schöner, aber verderblicher Schmuck der Bäume, namentlich der immergrünen Eichen und Cedern. Die Bäume, an die sie sich ansetzen, gehen gewöhnlich zu Grunde.«
»Es sind also Schmarotzer?« fragte Leonie.
»Das eigentlich nicht. Aber Sie dürften sie getrost Schmarotzer nennen. Um Ihnen das Wesen der Tillandsia wissenschaftlich correct zu bezeichnen, müßte ich Ihnen eine Vorlesung halten, die Sie kaum interessiren möchte.«
»Im Gegentheil … es interessirt mich sehr!«
»Nun, ich kann's ja kurz machen. Parasiten oder Schmarotzer im eigentlichen Sinne nennen wir Botaniker solche Pflanzen, die eigene Saugfortsätze in's Gewebe der Wirthspflanze hineinsenken und aus deren Gewebe den Nahrungssaft aussaugen. Das thun die Tillandsien nicht. Sie hängen sich an die Pflanze und wachsen nur auf den occupirten Theilen, ohne in deren Gewebe einzudringen. Wohl aber entzieht die Tillandsia, das überwuchernde und überspinnende hängende Moos, das Sie da sehen, dem überwachsenen Theile des Baumes, an den es sich angesetzt hat, Licht und Luft, also die Kohlensäure, aus der der Pflanzentheil sich aufbaut, sie erstickt ihn also und hungert ihn aus.«
»Merkwürdig! Und der Baum stirbt?«
»Der Baum stirbt, aber die Tillandsia hat ein äußerst zähes Leben und wuchert auf der Baumleiche fröhlich weiter. Jeder kleine Theil, der vom Wind abgerissen zu einem anderen noch freien Pflanzentheile gelangt und dort haften bleibt, wächst wieder zu einem solchen Alles überspinnenden Geflecht heran und entzieht der betroffenen Pflanze Luft und Licht. Aber die Bäume, an denen diese schönen Schleier herabwallen, sehen ganz wundervoll aus – herrlich in ihrem langsamen Dahinsiechen, zu dem ihnen die Tillandsia, die sie mordet, gewissermaßen den wehmüthigen Trauerschmuck selbst schenkt.«
»Sonderbar, wie starke Uebereinstimmungen in den verschiedenen Reichen der Natur bestehen.«
»Sonderbar wäre es, wenn es anders wäre. Das Leben ist überall dasselbe, immer und ewig der Kampf um's Dasein, die Abwehr des feindlichen Angriffs, die Eroberung der Macht der Anderen – dieses unausgesetzte Ringen, Angreifen, Vertheidigen, Behaupten und Unterliegen ist eben nur an verschiedene Bedingungen gebunden. Der Mensch macht es wie das Thier, wie die Pflanze, und wir sind wahrscheinlich nur nicht hellsichtig genug, um das Gleiche beim Stein wahrzunehmen.«
»Ja, ja, das wird wohl so sein,« fiel Welsheim ein, den die Unterhaltung zu langweilen anfing, der an die Pferde unten und an das Programm der Reichshallen dachte. »Und was wir Ihnen noch sagen wollten: wir wollen uns die Pantomime in den Reichshallen ansehen … Sie kommen doch mit? Ich habe eine Loge holen lassen. Unser Wagen steht vor der Thür.«
»Gewiß, sehr gern … danke vielmals … Einen Augenblick …«
»Wie viel Plätze hat denn die Loge?« fragte Leonie.
»Sechs, glaube ich … Weshalb fragst Du?«
»Eine Idee …« Und sich zu Hugo wendend, der schon die Thürklinke ergriffen hatte, um Hut und Ueberzieher aus dem Nebenstübchen zu holen, sagte sie in leichtem Tone: »Wer ist denn das hübsche junge Mädchen, das uns die Thüre geöffnet und mich so artig bewillkommnet hat?«
Hugo fühlte, daß er etwas bleich wurde. Er hatte es kommen sehen, daß diese Frage an ihn gestellt werden würde. Deshalb hatte er jetzt zum Aufbruch gedrängt. Nun war es ihm aber ganz angenehm, daß die Unannehmlichkeit sogleich abgethan wurde.
»Fräulein Martha Breuer,« antwortete er ruhig. »Die Tochter der Frau Regierungsräthin Breuer, bei der ich schon seit Jahren wohne.«
»Ein zartes niedliches Geschöpf … Wird Ihnen die Nachbarschaft mit einem so jungen und so niedlichen Mädchen nicht manchmal ein bischen … wie soll ich sagen? … ein bischen unheimlich?«
»Ganz und gar nicht, gnädige Frau! Ueber kurz oder lang werde ich Ihnen auch sagen dürfen, weshalb nicht. Für den Augenblick habe ich besondere Gründe, Sie zu bitten, auf einer weiteren Erörterung nicht bestehen zu wollen … Wenn ich Sie also um eine Minute Geduld bitten darf … ich will mir nur meinen Hut holen.«
»Holen Sie Ihren Hut!«
Sobald Leonie mit Felix allein war, flüsterte sie ihm schnell zu: »Die Kleine sah so traurig, so gedrückt aus … Du solltest sie und ihre Mama einladen, mit uns zu kommen … wir haben ja Platz genug!«
Ehe Welsheim, dem Leonie heut eine Ueberraschung um die andere bereitete, noch antworten konnte, war Hugo mit dem Hute in der Hand und dem Ueberzieher über dem Arm zurückgekehrt.
»Ich wäre bereit …«
»Meine Frau meint,« begann Welsheim, aber er brach den Satz jäh ab, als er sich von Leonies unwilligem Blick getroffen fühlte. »Das heißt, die Idee ist eigentlich von mir, aber meine Frau hat nichts dagegen … Ich denke nur, es würde Fräulein Breuer … und der Frau Räthin natürlich auch … es würde den Damen am Ende Spaß machen, sich auch … wir haben ja Platz genug in der Loge … und im Wagen zum Nothfall auch, wenn wir ein bischen zusammenrücken … ich könnte mir ja auch auf dem Schloßplatz eine Droschke nehmen …«
Hugo hatte überrascht zugehört … Eine Einladung an Martha und Mutter? … Er durchschaute Alles. Leonie hatte erfahren, in welchem Verhältnisse er zu Martha stand, und wollte sich seine Braut ein bischen näher ansehen. Daher der unerwartetete Besuch, den der sonst so gescheidte, seiner Frau gegenüber aber strafbar kindliche und mit Blindheit geschlagene Welsheim ermöglicht hatte … Jetzt nur keinen taktischen Fehler, keinen Widerspruch, der zu Weiterungen führen würde, sagte sich Hugo. Und mit verbindlichem Lächeln bemerkte er laut: »Sie sind wirklich zu liebenswürdig! Wenn Sie erlauben, vermittle ich sogleich die Bekanntschaft. Ich hoffe, daß die Damen Ihre so überaus artige Einladung annehmen werden …«
Er hoffte nicht nur das Gegentheil; er war davon sogar fest überzeugt.
Die Drei traten auf den engen Corridor. Hugo öffnete, nachdem auf sein Klopfen »Herein!« gerufen worden war, die Thür des Hinterstübchens und rief schon auf der Schwelle: »Die Damen sind mit dem Abendessen fertig? Um so besser! Ich möchte die Herrschaften miteinander bekannt machen. Herr und Frau Welsheim, Frau Regierungsräthin Breuer, Fräulein Breuer.« Während sich die Vorgestellten förmlich gegeneinander verneigten, fuhr Hugo fort: »Wir wollen in die Reichshallen gehen. Herr Welsheim hat eine Loge. Wir sind bis jetzt nur Drei … ja, und das Weitere muß ich Herrn Welsheim überlassen.«
»Verzeihen Sie, meine Damen, wenn ich mir erlaube …« begann Welsheim etwas stockend, »aber ich denke mir: die Freunde unserer Freunde … es soll wirklich sehr hübsch sein … in den Reichshallen … und wenn die Damen sich einiges Vergnügen von der Vorstellung versprechen könnten … wir würden sehr glücklich sein, meine Frau und ich, wenn Sie ganz sans gêne den Abend mit uns in unserer Loge verbringen wollten.«
»Wir würden uns sehr freuen,« flötete Leonie mit ihrer süßesten Stimme, um die Verlegenheitspause, die eingetreten war, zu füllen.
Frau Emilie Breuer sah auf ihre Tochter, auf deren fahlen Wangen die rothen Flecken brennend erglühten, und antwortete:
»Wir sind Ihnen für Ihre Freundlichkeit, die wir vollkommen zu schätzen wissen, sehr verbunden … meine Tochter und ich … aber Sie sehen ja, wir sind auf den Besuch eines Theaters so wenig vorbereitet, daß wir mit wirklichem Bedauern dankend ablehnen müssen.«
»Wegen der Toilette?« fragte Leonie heiter. »Aber Sie wissen doch, daß man da keine Toilette macht. Ich bin zufällig viel zu geputzt! Sie sind richtig angezogen, ich nicht! Wenn ich Ihnen zu auffallend, zu elegant erscheine … ich fahre schnell nach Hause, in zehn Minuten bin ich umgezogen, ich komme eine halbe Stunde später. Es ist eine Kleinigkeit!«
»Ich weiß gar nicht, wie wir Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit danken sollen, aber es geht wirklich nicht! … Nicht wahr, Martha?«
Martha blieb ihrer Mutter die erwartete Zustimmung schuldig. Ein schmerzhaftes Gefühl, das sie bisher nicht gekannt hatte, preßte ihr Herz zusammen, etwas eisig Kaltes, das ihr fast den Athem benahm. Ihre Nasenflügel zitterten ein wenig, die Zunge wurde ihr trocken, sie hatte einen bitteren Geschmack im Munde. Hastig hob und senkte sich ihre schmale, flache Kinderbrust. Alle Glieder thaten ihr weh. Sie fühlte ganz deutlich: das ist das Weib, das mir mein Glück stehlen will, mir vielleicht schon gestohlen hat! Sie war eifersüchtig bis zum Wahnsinn. Aber es bereitete ihr ein unerklärliches Wohlgefühl, in ihrem Schmerze zu wühlen, die Qualen, die sie erduldete, zu verschärfen. Sie begriff Leonies Verlangen und theilte es.
Zu ihrer Mutter und Hugos größter Ueberraschung antwortete sie: »Ganz offen gestanden, mir würde es Freude machen … und da die Herrschaften so ungemein freundlich sind … wenn Du es erlaubst, nehme ich die Einladung an … Es ist natürlich nicht nöthig, daß die gnädige Frau erst noch einmal nach Hause fährt … Sie müssen eben mit mir fürlieb nehmen, wie ich bin.«
Martha und Leonie warfen gleichzeitig einen flüchtigen Seitenblick auf Hugo. In diesem Momente bestand zwischen den beiden Nebenbuhlerinnen eine gewisse Gemeinsamkeit. Es bereitete Beiden ein sonderliches schadenfrohes Behagen, sich an der peinlichen Befangenheit Hugos, die er bei aller Selbstbeherrschung doch nicht völlig meistern konnte, zu weiden.
»Aber Sie sehen ja allerliebst aus!« ermunterte Leonie in dem angenehmen Bewußtsein ihrer unerreichbaren Ueberlegenheit.
»Wenn es Dir so viel Spaß macht … meinetwegen!« versetzte die Räthin. »Aber mich müssen die Herrschaften entschuldigen. Ich kann wirklich nicht mitkommen!«
»Wie schade!« rief Leonie. »Sie dürfen uns Ihr Fräulein Tochter ruhig anvertrauen. Wir begleiten sie natürlich nach Hause.«
Martha eilte in das Zimmer neben der Küche, in dem sie und ihre Mutter schliefen. Sie legte die Schürze ab, setzte ihren Hut auf, ohne auch nur in den Spiegel zu sehen, und zog das im vorigen Jahre in einem großen Mantelgeschäft zu herabgesetzten Preisen erstandene Jaquet an, Fabrikwaare, die eine schäbige Eleganz heuchelte. Sie wußte, daß sie in der äußeren Erscheinung den Kampf mit Leonie nicht aufnehmen könne; bei der Vergegenwärtigung des Toilettenluxus, den die reiche Frau entfaltete, mochte sie sich gar nicht ansehen. Sie wollte gar nicht so schön sein, weil sie fühlte, daß sie nicht so schön sein konnte; sie wollte nur mitgenommen sein.
»Ich gönne es dem Kinde,« sagte Frau Emilie, als Martha gegangen war; »es kommt so wenig hinaus!«
Hugo hatte das Verzwickte der Situation sogleich erkannt, er fühlte, daß er etwas thun müsse, um sie zu vereinfachen, und mit lächelndem Munde sagte er, zu Leonie gewandt: »Sie wissen gar nicht, wie tief Sie mich durch Ihre Freundlichkeit gegen Fräulein Martha verpflichten. Ich will's Ihnen sagen, obgleich wir eigentlich übereingekommen sind, davon noch nicht zu sprechen … aber es würde Ihnen sonst Manches ein bischen sonderbar vorkommen können. Also: Sie dürfen mir gratuliren … ich bin schon seit längerer Zeit mit Fräulein Breuer verlobt.«
»Ist es denn möglich!« rief Welsheim aus. »Und das erfahren Ihre besten Freunde nur zufällig?!« Er schüttelte fortwährend Hugos Hand. »Donnerwetter! Sie können aber schweigen, alter Freund! Also von ganzem Herzen das Schönste, Beste … Freut mich ganz riesig …« Er ließ endlich Hugos Hand los und näherte sich der Räthin, die inzwischen mit Leonie unter gegenseitigem nichtssagendem Lächeln einen Händedruck ausgetauscht hatte. »Auch Sie, Frau Räthin, wollen mir gestatten … Freut mich wirklich unbändig!«
»Sie wissen, werther Freund,« sagte Leonie, »daß wir an Ihrem Glücke aufrichtig theilnehmen.«
Er erfaßte die kleine Hand, die sie ihm reichte, und drückte sie – nicht wie man für einen Glückwunsch seinen Dank kundgiebt. Er drückte sie mit Leidenschaft, mit Begehrlichkeit, als wollte er sagen: zweifle nicht an mir, ich werde Alles aufklären, zwischen uns bleibt es beim Alten! Und Leonie erhörte seine flehende Bitte und preßte ihre Fingerspitzen so tief in seine Handfläche, daß er ihre langen Nägel unter dem Leder des schwedischen Handschuhs deutlich fühlte. Ein doppeltes Verbrechen war begangen.
»Und da ist sie ja schon, die liebe kleine Braut!« rief Welsheim der eintretenden Martha entgegen. »Ja, mein Fräulein, wir wissen Alles! Und wir wünschen Ihnen von Herzen Glück. Sie bekommen einen braven, tüchtigen … einen talentvollen Mann … ja, wir kennen unser Doctorchen … wir sind wohl seine besten Freunde … Freut mich wirklich ganz ungemein! Und wenn's heute eine halbe Stunde später wird, meine verehrte Frau Räthin, oder ein Stündchen – dann werden Sie sich nicht beunruhigen. Ihr Fräulein Tochter ist gut aufgehoben! Und das lassen wir uns nun einmal durchaus nicht nehmen: auf das Wohl des Bräutigams müssen wir anstoßen, und die Stöpsel müssen knallen.«
»Die Braut unseres Freundes Doctor Hall darf meiner wahrsten Sympathie versichert sein, ich gratulire Ihnen aufrichtig! Hoffentlich werden auch Sie sich wohl bei uns fühlen,« sprach Leonie mit gleißnerischem Lächeln und reichte Martha die Hand, die von dem Verrathe an Martha noch warm war.
Martha empfand die Lüge, die in ihre eisige, hagere Hand gedrückt wurde, ganz deutlich, ihr großes feuchtes Auge richtete sich strafend und vorwurfsvoll auf Leonie, und ihre Stimme klang heiser und zitterte, als sie mit erzwungenem Lächeln entgegnete: »Ich bin Ihnen sehr dankbar, gnädige Frau!«
»Nun aber … verzeihen Sie, wenn ich zum Aufbruch mahne!« rief Welsheim. »Wahrhaftig, schon drei Viertel auf neun!« fuhr er fort, nachdem er auf seine Uhr gesehen hatte. »Wenn wir überhaupt noch etwas sehen wollen, müssen wir uns sputen.«
Die Vier verabschiedeten sich von der Frau Räthin, die ihnen noch nachrief: »Aber nicht gar zu spät!« – worauf Welsheim, der schon im ersten Stock angelangt war, lachend erwiderte: »Heute stehen wir für nichts!« Und zehn Minuten später nahmen sie in der Loge Platz: Welsheim hinter Martha, Hall hinter Leonie.