Detlev von Liliencron
Roggen und Weizen
Detlev von Liliencron

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Märztage auf dem Lande

»Se sünn ankomm un Swone sünn ankomm.«

Diese Worte fand ich in einem Briefe, dessen an mich gerichtete Adresse von mir selbst geschrieben war.

Jedes Jahr, etwa gegen Ende des Märzmonates, erhalte ich ein ähnliches Schreiben. Es kommen diese Zuschriften von meinem alten Holzvogt Hans Tams, der mir damit anzeigt, daß die Waldschnepfe Schleswig-Holstein durchwandert.

In Betreff des Wortes »Swone« konnte ich mir vorstellen, daß er damit wilde Schwäne meinte, die, durch den besonders strengen Winter weit ins Innre getrieben, auf dem Rückzuge zu ihren Sommerplätzen vorübergehend in dem mir gehörenden Hjortvadsee eingefallen seien.

Schon am andern Morgen war ich unterwegs.

Seit vielen Jahren war kein Frühling über meine kleine Heimatprovinz gegangen, daß ich nicht einige Märztage auf meinem Gute gewesen wäre.

Auf diese Zeit freue ich mich den ganzen Winter, und oft ist es mir in Gesellschaften ein heimlicher Trost, an den kommenden Frühling zu denken.

Und wahrlich, es ist ein Ausruhen, wenn auch nur ein kurzes, nach den langweiligen Wintergesellschaften der großen Stadt, in der ich lebe. Natur, einmal ganze Natur nach so vielen Menschen.

* * *

Gegen vier Uhr kam ich mit dem Zuge in Kiel an und setzte mich sofort in den mir von meinem Pächter gesandten Wagen, um in zwei Stunden schon im Wulffshägener Gehege zu sein. Hans Tams stand am Haltepunkt bereit. Das gute Gesicht lachte vor Freude, als er mich sah und ich ihn anredete: »Na, wo geit't, Hans?« Und dann waren wir schon unterwegs nach meinem Forste, wo wir beide seit Jahren eine feuchte Waldblöße kannten, auf der mit besondrer Vorliebe die Waldschnepfen einfallen.

Es war windig und kalt, keine Spur von Frühling. Nur Tannen und die zahlreich vertretene Stechpalme zeigten neben überwintert habenden Brombeerblättern und wenigen Farren die grüne Farbe. Am kurzen Rotbuchengestrüpp saßen, wie angenagelt, die gelben Blätter des Herbstes.

Als wir auf unserm Standort angekommen waren, wollte die Sonne grade untergehn. Wie gerne hätte ich die Drossel gehört. Sie ließ nichts von sich merken.

Als wir eine Viertelstunde auf die geheimnisvolle Schnepfe gewartet hatten, traten wir den Heimweg an. Ich machte dem Holzwärter Vorwürfe, der mir aber bestimmt versicherte, schon seit drei Tagen welche gesehen zu haben.

Bald war es dunkle, sternlose Nacht, und nur unsre beiderseitige Kenntnis der Wege ließ uns die Straße, wo der Wagen hielt, finden.

Eine kurze Strecke noch, und mein Haus lag vor mir. Nachdem ich, trotz der Finsternis, im Garten gewesen war, ging ich zur Ruhe und schlief bis in den hellen Morgen hinein.

Der Tag zeigte dasselbe mürrische Gesicht wie gestern. Das aber konnte mich nicht abhalten, sobald wie möglich ins Freie zu kommen.

Unser erstes Ziel war der See. Ich hatte ein ordentliches Fieber, wilde Schwäne zu sehen und womöglich zu schießen. Die Kälte war empfindlich; ab und zu schleuderte uns ein Hagelschauer seine kleinen Kugeln ins Gesicht.

Beim schilfreichen See vorsichtig angekommen, merkten wir durchaus nichts von Schwänen. Nur ein Erpel schien in aufgeregtester Frühlingsstimmung mit vielem »Quak Quak« seinem Herzen Luft zu machen. Enten wollte ich nicht schießen, weil schon die Brutzeit eingetreten war. Ich machte wieder meinem alten Hans Vorwürfe, war aber noch nicht am Ende, als ein heiseres »Kri Kri« mich in die Höhe blicken ließ. Wie an einer Schnur gereiht, hintereinander, flogen hastig fünf Schwäne über uns weg. Ehe ich die Büchse an die Backe bringen kannte, waren sie außer Schußweite.

Auf der Rückkehr nach Wulffhägen kommen wir im Kirchdorfe Gettorf an, wohin ich den Wagen bestellt habe. Hier ist heute die Kreis-Ersatz-Kommission beschäftigt. Ich begrüße die mir sämtlich bekannten Mitglieder.

Meine sonst so kalten, ruhigen, mißtrauischen, nüchternen (heute allerdings sind sie es, wenn man nüchtern im Gegensatz zu »angeheitert« nehmen will, nicht) Landsleute haben, zu meinem Erstaunen, ihre Mützen mit bunten Bändern geschmückt. Von Poesie, Kunst und Schönheitssinn ist sonst nicht viel die Rede in dem Ländchen; noch immer liegt Schleswig-Holstein wie eine Insel im Ozean. Dafür aber verstehn sie die Fettviehzucht um so besser.

Ist auch kein Antinous unter den Bauernjungen, die sich heute zu stellen haben, so sind doch die meisten von kräftigem, derbem Körperbau. Fast durchweg haben sie blondes Haar und tiefblaue Augen, die treu und gut in die Welt sehen. Viele lassen den Kopf sinken; die Schultern sind gekrümmt von der schweren Feldarbeit. Die dicken, roten, vom Frost aufgesprungnen und vom Tagewerk zerrissenen Hände bilden in der Farbe einen scharfen Gegensatz zu der Weiße des übrigen Körpers.

Nachdem ich mich von der Kommission, die mir die Freude machen wird, an einem der nächsten Tage bei mir zu essen, verabschiedet habe, fahren wir weiter.

In meinem Dorfe Knickstedt stehen vor dem Hause der Witwe Anna Kuhr viele Menschen. Ich lasse halten und frage nach der Ursache. Es heißt, der einzige Sohn der übrigens recht wohlhabenden Witwe hätte sich vor einigen Stunden erhängt; alle Belebungsversuche seien nutzlos gewesen.

Da mein Pächter, dem in meiner Abwesenheit die Königliche Regierung die gutsobrigkeitlichen und polizeilichen Geschäfte zu führen genehmigt hatte, in Gettorf beim Musterungsgeschäft anwesend ist, so steige ich ab, um das Protokoll aufzunehmen. Mein Erstes ist, die Weiber, die wie an jedem Orte der Erde, so auch hier mit Klagen, Heulen, Teilnahme (natürlich Neugierde) sich um die Witwe geschart haben, zum Tempel hinauszukomplimentieren. In der Stube bleiben der Arzt, der ein gelangweiltes Gesicht macht, der Gemeindevorsteher und ich.

Die Witwe liegt im Bett, das ich so stellen lasse, daß die alte Frau nicht fort und fort den Anblick ihres toten Sohnes hat. Der Verblichene selbst liegt im Wandbett.

Mein Verhör beginnt, unter möglichster Schonung. Anna Kuhr sagt mit Weinen und Stöhnen aus:

»Jau, jau, he war so melancholsch; ick segg dat all ümmer. Un güstern käm he duhn (betrunken) in't Huus. Hüt Morgen segg he in't Bett: ›Moder‹, segg he, ›kok mi Kaffe‹. Ick war man tein Minuten in de Kök, un as ick em de Tass' bringen dä, hung he dor.«

Die alte Frau schluchzt so stark, daß sie nicht weiter sprechen kann. Während ich ihre Aussage niederschreibe, höre ich, wie der Gemeindevorsteher sie tröstet; ich höre auch, wie die Witwe, zwischen Schluchzen und Weinen, als wäre nichts geschehen, ganz ruhig über den Verkauf ihres Geweses mit dem Ortsvorsteher spricht. Das ist ja aber Alles nur menschlich.

Als ich einmal während der weitern Verhandlung auf den Toten sehe, bemerke ich einen alten, weißschnauzigen Dachshund bei dem Erhängten. Er war aufs Bett gesprungen und leckte zwei rote Flecken am Halse seines verstorbnen Herrn.

Nachdem ich »das Erforderliche wahrgenommen«, besteige ich wieder meinen Wagen. Zu Hause angekommen, finde ich eine Einladung meines nächsten Nachbars, des Grafen Wohnsfleth, Exzellenz, zum Diner für heute sechs Uhr vor.

Bald bin ich unterwegs, und Schlag sechs Uhr zur Stelle. Ich kenne den alten Herrn so lange ich denken kann. Und viele fröhliche Stunden habe ich auf seinem Gute verlebt.

Wir sind zu Dreien. Exzellenz, der Oberinspektor seiner Güter: Kammerrat Schleth, und ich.

Teller und Schüssel wechseln rasch; in einer kleinen Stunde ist das Mittagessen beendet. Der greise Kammerrat empfiehlt sich mit einer unendlich tiefen Verbeugung.

Der Graf und ich setzen uns an den Kamin, und die Unterhaltung, die bisher gewissermaßen feierlich gewesen ist, nimmt nun einen privaten Charakter an. Wie gerne höre ich dem alten Herrn zu, der so interessant von seinen Reisen, Bekanntschaften und Erfahrungen spricht.

Wir sind durch irgend einen jener unmerklichen Übergänge im Gespräch auf Deichgesetzgebung und innere Organisation der Deichverbände gekommen. Mitten im Gespräch über diesen Gegenstand hält der Graf inne und sagt: »Ich muß Ihnen doch eine Deichgeschichte erzählen, die mir in meinen jungen Jahren begegnete. Sie hängt zwar nicht mit der »Verwaltung und inneren Organisation der Deichverbände« zusammen, sondern –

Doch hören Sie:

Während meines ersten Semesters in Göttingen hatte ich eine langwierige und schwere Krankheit zu überstehen und verbrachte deshalb den Sommer hier bei meinen Eltern. Um mich gänzlich zu erholen, sollte ich Nordseebäder nehmen, und fuhr, um in der Nähe meines väterlichen Gutes zu bleiben, in ein kleines Bad zwischen Elbe- und Eider-Mündung.

Im Städtchen wurde es mir bald langweilig, und so freute ich mich auf die Abwechslung, als am Sonntag Nachmittag vier Musici ihre Instrumente stimmten, und tanzte flott drauf los mit den schönen »Töchtern des Landes«. Der Ball war im Badehôtel, wo ich Wohnung genommen hatte. Im Laufe des Abends hatte ich öfter beobachtet, daß mich aus einer Ecke zwei tiefschwarze Augen groß und verwundert verfolgten. Ich ging endlich auf das Mädchen zu und bat sie um einen Tanz. Sie warf ihr Jäckchen ab, und wir traten an.

Als ich sie wieder auf ihren Platz führte, merkte ich, wie die Umstehenden kicherten. Im Gesicht des schwarzäugigen Mädchens regte sich nichts; sie starrte mich unverwandt an.

Wie weiland die Erlkönigin Herrn Olav drei Schläge aufs Herz gegeben und dadurch ihn an sich gefesselt hatte, so mußte es mir während des Tanzes mit WiebkeWiebke ist ein häufig wiederkehrender Mädchenname in Schleswig-Holstein. Übersetzt würde er heißen: Liebes Weibchen, oder so ähnlich. Hinrichs, so hieß das Mädchen, ergangen sein. Ich kehrte an diesem Abend oft zu ihr zurück, und als das »Tanzvergnügen« beendet, war es wie von selbst gekommen, daß ich sie nach Hause begleitete. Wir sprachen nur wenig, als wir auf dem mondbeschienenen Deich nach ihrem eine halbe Stunde entfernten Hause, das unmittelbar hinter dem Damme lag, gingen. Es war still. Ein schöner, ruhiger Sommerabend. Die einzelnen Gehöfte lagen wie Särge. Die Watten blinkerten. Die Wasser ebbten: es klang als wenn hunderttausend Tonnen in weiter Ferne ins Meer gegossen würden.

Auf dem Rückwege ging ich bald schnell, bald langsam. Ich war »sternhagel« verliebt, und durchlebte jene Stunden, die in ihrem rätselhaften holden Wahnsinn ein Erinnern aus einer schönern Welt zu sein scheinen.

In meinem Wirtshaus angekommen, fragte ich den Wirt, wer das Mädchen sei. Er, der nicht wußte, daß ich sie nach Hause begleitet hatte, und nicht ahnte, daß ich Anteil an ihr nahm, antwortete roh und lachend, daß man Wiebke Hinrichs weit und breit »die Verrückte« nenne. Wenn sie auch das nicht grade sei, so sei sie überspannt durch zu vieles Lesen, und vor allem sei sie hochmütig, das zeige schon ihre städtische Kleidung.

Zwar sei sie hier geboren, aber ihre Mutter sei eine Zigeunerin gewesen, oder »ut Frankrik vun de Revolutschon«. Außerdem, so erzählte mir der Wirt weiter, habe sie sich laut gegen die andern Mädchen geäußert, daß sie den »Grafen« in sich verliebt machen wolle. Gegen ihren Ruf sei nichts einzuwenden, sie gebe sich mit keinem Menschen ab, dazu sei sie zu stolz.

Am andern Tage sah ich sie wieder, und an dem darauf folgenden war ich in ihrem Hause. Der Vater schien ein alter mürrischer Geselle zu sein, der mit seinem halb blödsinnigen Sohn Tage und Nächte auf dem Fischfang war.

Ich verlebte nun eine Reihe von mir unvergeßlichen Stunden, und Sie können sich mein Entzücken denken, als ich später Heines »Nordsee« las.

Wie oft saß ich dem wunderbaren Mädchen in ihrem netten Stübchen, wo allerlei altes Geschirr und Gerät und Schnitzereien geschmackvoll neben- und aufeinander gestellt war, gegenüber. Wiebke erzählte mir, daß ihre Mutter als zehnjähriges Kind mit ihren Eltern vor der französischen Revolution geflohen sei. An den Deichen hier sei das Schiff gestrandet. Nur die Mutter, seit Jahren verstorben, sei gerettet. Alle übrigen Menschen untergegangen. Doch habe sie nie von ihrer Familie in Frankreich gehört.

So vergingen Wochen. Ich dachte nicht daran, nach Hause zu reisen, und lebte, ohne mich an irgend etwas anderes in der Welt zu erinnern, als Tannhäuser mit meinem leidenschaftlichen Mädchen im Venusberg, vulgo dem Stübchen im Fischerhause.

Meinen Eltern, die über meine kurzen Briefe und über mein Ausbleiben in Sorge zu sein schienen, und denen auch wohl Gerüchte zugegangen waren, kam es erwünscht, daß sich Verwandte von mir anboten, mich im Badeörtchen aufzusuchen und, falls sich die Gerüchte bewahrheiten sollten, versuchen wollten, mich aus den Banden zu lösen. Unter jenen Verwandten war auch eine Baroneß, die mir früher nicht gleichgültig gewesen war.

Ich muß die Niederträchtigkeit berichten, daß ich den Reden und Bitten meiner Verwandten schließlich nachgab, und daß ich, um den »Skandal«, wie sie es nannten, zu enden, mich entschloß, zurückzukehren.

So war der letzte Tag herangekommen. Wiebke und ich standen auf dem Deich und sahen in den Sonnenuntergang. Das Mädchen blieb scheinbar ganz ruhig, als ich ihr sagte, daß ich auf einige Zeit zu meinen Eltern müsse und dann für den nächsten Winter wieder auf die Universität. Wir würden uns oft schreiben und bald, im Geheimen (das war meine wirkliche Meinung allerdings in diesem Augenblick) uns wiedersehen.

Wiebke erwiderte lange nichts. Sie wiegte ein wenig den Kopf von einer Seite zur andern, als könne sie etwas nicht fassen. Dann schlug sie hastig mit dem Sonnenschirm an meine Brust, zweimal, dreimal; keine Träne floß, und es klang schwer und trotzig:

»Ich weiß, Du willst die vornehme Dame heiraten, die jetzt mit den andern bei Jansen (das war der Name meines Wirts) wohnt.« Sie stampfte mit dem Fuß und grub ihre weißen Zähne in die Unterlippe, dann aber schlug sie plötzlich ihre Arme um meinen Hals und weinte herzzerbrechend. Ich löste mich sanft von ihr und ging. Als ich vom Deich hinunterstieg, um in einen Weg einzubiegen, sah ich sie noch auf der Stelle, unverwandt mir nachschauend.

Im Hôtel angekommen, beschlossen meine Verwandten und ich, am andern Morgen abzureisen.

Nach dem Abendessen brachte mir, während ich ein Buch aus meinem Zimmer holen wollte, ein Knabe einen Zettel: »Komm in den Garten. Wiebke« stand mit Blei drauf gekritzelt. Ich ging und traf das Mädchen dicht unterm Fenster des Saales, wo sie uns, da wir dort gesessen hatten, gesehen haben mußte.

Sie empfing mich ruhig, und ihren Kopf auf meine Schulter legend, schritten wir langsam durch den kleinen Blumengarten und betraten bald den Deich. Der Vollmond schien. Die Flut stand am Fuße des Walles, und unheimliche kurze Wellen plätscherten durch die Stille.

Nun waren wir oben und sahen in die Wasser.

Und während wir lautlos nebeneinander standen, funkelten ihre schwarzen Augen, funkelten so wild wie der kleine Dolch, den sie plötzlich in der Rechten hielt. Es blitzte . . . war es aus den Wolken, war es der Mond auf den Wellen, war es der Dolch, den sie mir bis ans Heft in die Brust stieß?

Ich taumelte einige Sekunden vor und rückwärts, wie ein im Fallen begriffener Baum..

Noch sah ich, wie Wiebke mit ausgebreiteten Armen den Deich hinunter in die Flut stieg.

Ich lag lange Zeit. Der Stoß war linienbreit über meinem Herzen eingedrungen; das war meine Rettung gewesen.

Wiebke Hinrichs sah man nie wieder. Die Ebbe hat sie in die weite See und keine Flut sie je zurückgetragen.«

* * *

Am andern Morgen wurde ich gegen sechs Uhr durch die stürmischen Triller der Buchfinken vor meinem Hause geweckt.

Heute schien es ein schöner Frühlingstag werden zu wollen, im Gegensatz zu den vorhergehenden.

Ich nahm meinen Lefaucheux unter den Arm und blieb den ganzen Tag im Freien.

Die Sonne schien köstlich. Hatte ich gestern nur Schneeglöckchen gesehen, so blüten heute schon Schlüsselblumen und Anemonen und »das erste Veilchen«. Ein Zitronenfalter gaukelte über die kahlen Felder, wie enttäuscht über die Blumen- und Blätterleere.

Auf dem Wege begegnete mir die alte Neih-Trina, so genannt, weil sie die Nähereien im Dorfe besorgt. Ich besuche sie jedesmal, wenn ich auf meinem Gute bin. Sie war heute im Staat. Ich fragte, wohin die Reise gehe?

»Sieh an, uns' Herr. Ick will na Kiel, min Enkel de ward confermert; de schul na't Landratsamt in Borsholm. Dat's 'n kloken Minschen, min Korl. Sünsten heff ick keen mehr as em.«

Die Alte strich sich über den »eigengemachten« Rock. Aus der eng um Kopf und Hals liegenden Kapuze, die an den Rändern mit Pelz besetzt war, sahen ein paar prächtige, gute Augen. Eine Strähne ihres grauen Haares spielte im lauen Winde.

»Na, Addüs, Trina,« und sie wanderte weiter zur nahen Poststation.

Heute war Frühling, heute war Leben. Über den sumpfigen Wiesen schossen die Kiebitze mit ihren runden, breiten Flügeln und schrien wie toll: »Kui-witt! kui-witt.« Scharen von kleinen Vögeln, in Völkern von zwanzig bis dreißig Stück, flogen mit Gezwitscher, die Flügel im Fluge scharf und schnell ansaugend, über die Hecken. Die Goldammer sangen ihr »never never never never never more« Hinter den Knicks riefen die Pflüger und Egger ihren Pferden zu.

Kurz vorm Dorfe sah ich in der Ferne, wie eine Frau emsig auf einen vor ihr liegenden Knaben, der lautlos sich in sich selbst geknäuelt hatte, schlug.

Als ich zur Stelle war, sagte ich: »Nu is't nog, Moder. Wat hett he denn dahn?« »He schull mit Vaddern Kaffe drinken, un dat wull he nich.« Die noch immer scheltende Mutter und der trotzig ihr zur Seite gehende Flachskopf entfernten sich.

Im Dorfe selbst war wenig Leben. Alles schien auf den Feldern zu sein. In einem Tümpel badeten sich Enten, immer wieder den Hals mit Schlangenbewegung ins Wasser tauchend, das wie Quecksilber von den fettigen Federn abrollte. Mit den Flügeln schlagend, schien es ihnen ungemein behaglich zu gehen.

Weiter. Bald sah ich eins meiner Nachbargüter liegen. Ich wußte, daß hier die dritte Nachkommenschaft auf den Tod einer siebenundneunzigjährigen Ururgroßmama wartete, die, in einer süddeutschen Stadt lebend, sich des Rufes eines außergewöhnlichen Geizes erfreute. Der Großvater, schon auf das Ableben der alten Tante rechnend, hatte dennoch mit vielem Fleiße sein Gut bewirtschaftet. Der Vater, ebenfalls auf den Tod der Greisin wartend, hatte wüst und verschwendrisch in den Tag hinein gelebt. Der Sohn endlich, der nun das Gut in den Händen hatte, hoffte zwar auch; doch arbeitete er Tag und Nacht, um das Gut wieder aus dem Schuldensee herauszuheben.

Als ich quer über eine große Wiese ging, die rings vom Walde umgeben war, trat rechts von mir ein Bauer aus den Bäumen, der ein großes Paket unterm Arme zu tragen schien. Wir trafen uns in der Mitte, und ich erkannte den Insten Frenz Ohrt, der einen kleinen gelben Sarg mit sich führte. »Min lütt Dirn« sagte er, als ich teilnamsvoll gefragt hatte, und langsam ging Frenz Ohrt weiter.

Es ist Mittag geworden, und ich lege mich, mein Frühstück verzehrend, ins Gras, das allerdings noch keine Farbe und Frische bietet, sondern einer von der Sonne ausgedorrten Steppe gleicht. Die Aussicht ist einfach, still, beruhigend. Aus der Ferne, von einem Hofe her, bringt mir der Wind abgebrochne Töne einer italienischen Orgel. Das weckt in mir Erinnerungen und versenkt mich in Träumereien. Die Wirkung der Musik hat heute für mich eine »elementare« Wirkung.

Der Abend war lau und milde. Der Rebhahn rief sein »Krrrrrrt-rt« auf den Feldern. Im Walde, wo ich auf dem Schnepfenstrich war, ließ sich zu meiner größten Freude die Drossel hören. Es gelang mir, zwei Langschnäbel zu schießen.

In der Försterwohnung, wohin ich Bordeaux gesandt hatte, empfing mich die Försterin mit einem »famosen« Abendbrot. Wir wurden vom Töchterchen bedient. Es hat etwas unvergleichlich Angenehmes, sich von einer achtzehnjährigen, frischen, kräftigen, hellblondbezopften, braunäugigen Waldtochter bedienen zu lassen. Sie lacht oft, dann kommen die weißen Zähne zum Vorschein. Grüß Dich Gott, hübsche Anna.

Um nenn Uhr war ich auf dem Nachhauseweg, meine Zigarre in die ruhige Luft dampfend.

Blieb ich ab und zu stehen, um auf ein Geräusch zu hören oder in den Nachthimmel zu sehen, fühlte ich die Schnauze meiner Hündin an den Stiefelschäften; sehr ermüdet folgte sie dicht hinter mir und stieß jedesmal an mich an, wenn ich im Gehen inne hielt.

Die Venus leuchtete wie ein kleiner Mond. Das Sternbild des Orion hatte die Füße schon auf den schwarzen Wald gesetzt. Mir fiel beim Orion plötzlich einer meiner Freunde ein, ein eleganter, liebenswürdiger Hauptmann. Der höchste Stern war das rechte Epaulette. Der Hauptmann schien sich nach links zu einer sitzenden Dame zu beugen und ihr zu sagen: »Haben gnädige Frau schon ›Uarda‹ gelesen? Wirklich süperb.«

Um zehn Uhr war ich zu Hause. Auf dem Tisch lag ›Uarda‹; ich hatte das Buch mitgenommen, um es hier in Ruhe zu lesen. Schon nach den ersten Seiten schlief ich ein. Ja, ja, schon nach den ersten Seiten . . .


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