Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Fünfzehntes Kapitel. Heil den Lebendigen!

Die Festtage waren verrauscht. Die Studenten hatten sich wieder in ihre Hochschulstädte zurückgezogen. Alle Teilnehmer schienen verwandelt und in ihrer Lebensstimmung erhöht; große Pläne für des Vaterlandes Zukunft reiften. In jedem Einzelnen waren gute Entschlüsse zu edler Lebensführung gefestigt worden.

Nur der alte Schattenmann schien verdüstert. Seine Begeisterung war bedenklich abgeflaut. Dieser erstaunliche Umstand kam von einem anfangs ganz belanglos scheinenden Gespräch, das er mit Uli und Petersen, den beiden Hausgästen, geführt hatte.

Gleichsam im Vorübergehen hatte Uli die Bemerkung hingeworfen, auf der Wartburg hätte neben ihm ein Student gesessen, der als Schüler Follens theoretisch den Tyrannenmord verteidigte.

»Was sagst du da, Uli, den Tyrannenmord? Und dieses Jacobinertum hast du ohne Widerspruch mit angehört?«

»Ach, Vater, das war nur so nebenbei! Zudem sah der Student so milde und fast schüchtern aus wie ein junges Mädchen. Es war einer der vier Fahnenwächter. Du kannst dir denken, wie komisch es auf mich gewirkt hat, wenn ein so junger Mann, mit einem Schwall von Locken, gesteht, daß er von all diesen Reden nichts halte, um so mehr aber von der Tat. Ein Dolchstoß in ein Tyrannenherz wirke weit bedeutender als hundert solcher Reden. Na, Vater, mir kam er wie ein recht unreifer Theoretiker vor. Du guter Junge, dachte ich, stoß du mal den Dolch ins Tyrannenherz! und lächelte im Stillen.«

»Du hättest scharf und schroff widersprechen müssen, Uli! Solche ungesunde Ideen darf man nicht in einem jungen Herzen reifen lassen. Wer kann wissen, wie weit dieser Mensch ein stiller Fanatiker ist! Oh, das war ein böses Wort. Es ist eine Schmach und Schande, daß man auf teutschen Hochschulen das ruchloseste Verbrechen rechtfertigt, das es auf der Welt überhaupt gibt: den Meuchelmord! Oh pfui, Meuchelmord unter euch teutschen Jungen? Das entsetzt mich, das wirft meine ganze Freude an eurem Fest um! habt ihr denn nicht Mordfälle aus eurer Geschichte genug, ihr Deutschen, wo der Frevel des Meuchelmordes in allerübelster Erinnerung ist? Denkt ihr nicht daran, wie Held Siegfried tückisch ermordet wurde von Hagen von Tronje? Oder jener Kaiser von Parricida? Schändliches Geschwätz! Wie hieß denn der unreife Junge?«

»Ach, ich weiß kaum noch den Namen. Ich glaube: Sand. Ein mädchenhafter Jüngling, den ich so wenig mit Hagen von Tronje vergleichen könnte wie irgendeinen unserer sogenannten Tyrannen mit Held Siegfried.«

»Junge, ich sage dir, wenn dieser Geist unter dem Stichwort Tyrannenmord um sich greift, so ist euer ganzes schönes Fest vom Teufel zerstört. Der hat sich dann doch in einer Ecke hereingeschlichen. Oh weh, ich sehe böse Dinge voraus. Armes Deutschland! Die Reaktion lauert ja nur darauf, daß man eure freiheitlichen Regungen in Verruf bringe. Hättest du doch mir diesen jungen Mann hierhergebracht: den hätte ich energisch geschüttelt und gerüttelt, daß ihm der Atem vergangen wäre und mit dem Atem dieser satanische Gedanke, der ihn besessen hält! Gewiß hat einst vorn in Schillers »Räubern« das Motto »In Tyrannos« gestanden, aber der Dichter hütete sich, einen lebendigen Tyrannen, wie etwa Karl Eugen von Württemberg, leibhaftig zu töten. Oh, ihr dummen Tröpfe! Das ist ja Deutschlands Größe, daß es seine Kämpfe geistig durchficht! Habt ihr nicht auf diesem Fest den Gottesmann Luther verherrlicht? Ihr Schwarmgeister, wollt ihr wie ein italienischer Bravo den Gegner aus dem Hinterhalt überfallen und erdolchen? Schändlich! Ich bin ganz außer mir!«

Der alte Schattenmann, der Freund des biederen männlich-offenen Turnvaters Jahn, war in höchstem Maße aufgeregt.

»Ich ahne seherisch Deutschlands schwere Zukunft. Ein einziger dummer Junge kann unsere herrliche freiheitliche Bewegung versauen – ach was, ich sage deutlich versauen. Denn es ist Teufels-Aussaat, die unserer besten teutschen Gesittung ins Gesicht schlägt. Ich dächte, nachdem ihr den Typus Gangolf mit seiner Landsmannschaft überwunden habt, ihr Burschen, wäret nun zur Reinheit genesen. Aber aus diesem Gespräch ersehe ich, daß Dämonen noch immer unter euch hausen – und wenn's nur ein einziger ist. Wenn ihr schon jetzt theoretisch Tyrannenmord verherrlicht, so werdet ihr wohl bald auch zur Tat übergehen, ihr unglückseligen Verführten!«

So schalt der Alte eine gute Weile und war nicht zu beruhigen.

Aber Petersen saß ganz still, von einem neuen, fast unfaßbaren, großen Glücksgefühl durchdrungen: von der zart aufgeblühten Freundschaft zu Dorothea, die ihn manchmal mit ihren tiefen Braunaugen innig anschaute. Die politische Welt mag ihren Gang weiter gehen, dachte er während der lauten Selbstgespräche des greisen Hausherrn, aber die rein menschlichen Dinge bleiben in ihrer schlichten Schönheit ewig dieselben. Und wenn jeder an seinem Teil sein Bestes tut, indem er helfende Liebe und rechtlichen Sinn um sich verbreitet, so muß doch wohl auch der andere Teil der Welt nach und nach besser werden.

Und im Ausblick darauf, wie er sein persönliches Leben und seine Wissenschaft ausbauen wolle, geleitet von liebender Teilnahme edler Weiblichkeit, lächelte Petersen leise vor sich hin, was einen seltsamen Gegensatz bildete zu dem wetternden Alten.

Dieser schien durch einen kurzen Seitenblick des Gegensatzes inne zu werden, denn er unterbrach sich plötzlich und sagte: »Deutschland ist nun einmal als Ganzes für Politik und Staatsgestaltung nicht reif, sondern zieht sich in jene trauliche Enge zurück, die man Kleinbürgerlichkeit oder Spießbürgertum nennen muß. Habt ihr nicht an mir ein lebendiges Beispiel? Ich räsonniere wohl in meiner stillen Stube, greife aber nicht tatkräftig ein. Wir müssen schon ein staatsmännisches Genie erwarten, das die gesunde Ordnung der Dinge und den politischen Sinn in uns Deutschen herstellt. Vielleicht ist er in diesem Augenblick schon geboren. (Siehe Anhang 6.) Aber auch eure Freiheitsbewegung ist nicht nutzlos, vielmehr ein Baustein unter Bausteinen. Wie schwer ist unsere teutsche Entwicklung! Ich werde kein Ende erleben – glaube aber dennoch an die heimlichen Baumeister, wie ich an jene dunkelrote Sonnenglut dort glaube, die jetzt über der Wartburg jene graue Wolke durchbricht und Deutschland segnet. Wenn wir diesen stillen, starken Glauben an die übergeordneten, heimlich waltenden Mächte nicht in uns hätten – was hielte uns denn überhaupt am Leben?!« Er stellte die Lebensgemeinschaft mit der Umwelt wieder her, indem er sein Glas erhob und mit den Seinen hoffend und glaubend anstieß. »Gott segne die Wartburg und alle Wirkungen, die fernerhin von dieser Geiststätte ausstrahlen! Heil den Lebendigen!«


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