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Der Arzt hatte sich aus der baufälligen Mäderei kopfschüttelnd mit den rätselhaften Worten entfernt: »Wenn's das Herz aushält ...«
Da drinnen ging's nun los – die wilde Jagd des Fiebers! Ein Gewitteraufruhr, alle Dämonen zusammenpeitschend, die sich jemals des vollblütigen und wildlebendigen Burschen bemeistert hatten! Sie trieben ihn nun im Irrsinnstanz vor sich her, so daß der Unglückliche qualvoll aufstöhnte, während sein kurzer Atem stürmisch flog. Dabei quollen Worte auf, die zwischen phantastischen und platt-alltäglichen Vorstellungen sinnlos irrten.
»Holla, da ist er wieder, der Tallieng! Weißt du, Riemann, das Wort klingt wie Peitschenhieb. Es ist aber ein englischer Fuchsreiter in rotem Gewand und führt mit seiner Peitsche ein ganzes Heer von Teufeln an. Hussa, hussa, Tallieng! Der heißt nur so, stammt aber nicht aus der französischen Revolution, er gehört in die Gattung der Dämonen. Seine Scharen sind wie große Heuschreckenschwärme – oder wie ein wildes Heer vom Kyffhäuser oder vom Venusberg, lauter Fratzen! Ich sage dir, scheußliche Fratzen! So etwas denkt nicht der kühnste Maler aus. Und das wird aus den unsichtbaren Höllenwelten auf die Menschheit losgelassen! ... Ich hätte nie gedacht, daß es so tief ist – so schauderhaft tief!«
»Die Saale?« sprach Riemann beruhigend, der am Krankenbette saß.
»Nein, das Leben, Riemann, das Leben! Aber wir müssen hindurch, Hussa, Tallieng! Hussa! Und dabei müssen wir im Schwimmen oder Waten das Kind tragen, verstehst du, das Kind! Das mußt du hinüber bringen, und wenngleich alle Teufel hier wollten widerstehen ..., das heißt, ich will dir ein Geheimnis sagen, Riemann: Das Kind führt uns, das wissen die meisten Menschen nicht! Da mögen die Talliengs toben, die Rotröcke – gegen das Kind kommen sie nicht an! Das Kind schwebt sicher über den Wassern!«
Riemann legte ihm einen beruhigenden nassen Umschlag auf den Kopf. Die wilde Jagd wurde etwas stiller, aber des Kranken Atem flog.
»Das Gewitter kommt – es kommt immer näher – hörst du? Immer stärker der Donner – dann schlägt's ein!«
»Nun, wenn nur das Kind bei uns bleibt,« sagte Riemann begütigend und schien auf des Kranken Gedankengänge einzugehen, da er merkte, daß die Vorstellung dieses Kindes freundlich auf ihn wirkte.
»Ja, das Kind, sehr wahr, oh, sehr wahr! Da ist es wieder und lächelt! Sieh, wie es lächelt!« Und er winkte selber lächelnd einem unsichtbaren Kinde zu.
»Er meint vermutlich das Kind, das er neulich vom Tode gerettet hat,« sagte halblaut Frau Mäder, die mit frischem Wasser eingetreten war. Aber der Kranke sah sie nicht, sondern schaute immerzu lächelnd in ein Geisterland.
»Er sieht vielleicht ein anderes Kind?« meinte der Theologe Riemann.
»Das Kind ist wieder fort,« flüsterte der Kranke mit weinerlich verzogenem Gesicht, während Frau Mäder zu ihren Hunden und Katzen zurückkehrte.
»Es war kein Kind da, es war nur Frau Mäder, die Wirtin,« sagte Riemann nüchtern genug.
»Unsinn! Unsinn!« winkte Gangolf unwillig. »Du solltest so was nicht sagen, du Philister! Es sind jetzt ganz andere Dinge in diesen Lüften als jene Gans, die nicht fliegen kann. Dämonen, Riemann, Dämonen! Weißt du, was das ist? Das reitet auf abscheulichen Gerippen, Fratzen, und immer wieder Tallieng dazwischen, der Rotrock, Tallieng mit der Hetzpeitsche. Er ruft die wüstesten Worte und grinst abscheulich dazu! Aber da – da kommt das Kind wieder, ganz unberührbar vom Gesindel! Das hat keine Peitsche, das winkt nur und lächelt. Denn über die Erde haben die Dämonen Wacht – das Kind aber hat die Welt erlöst mit seinem Lächeln. Du, Riemann, ich weiß Bescheid, ich war von Dämonen fürchterlich geplagt, mehr als 20 Jahre. Da kann man nicht dagegen an! Wem Gott nicht hilft, der ist verloren. Verstehst du, Theologe? Darum heißt es im Gebet: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel! Oh, das ist ein tiefes Gebet! Dieses Gebet versteht ihr Theologen noch lange nicht. Das versteht nur, wer einmal bis über die Ohren in den Sümpfen steckte. Darum hat Gott den Sünder lieb – und schickt ihm das Kind – oh, tief, sehr tief, noch tiefer als die Wasser der Saale!«
Er schloß die Augen und flüsterte heftig und unverständlich. Riemann erneuerte schweigend den Umschlag. Er fühlte, daß er diesen Fieberphantasien gegenüber nur Plattheiten zu sagen hatte.
»Das haben auch Schiller und Goethe nicht ganz erkannt, Riemann,« flüsterte der Kranke wieder so eindringlich, als ob er seinem treuen und geduldigen Wärter ein Geheimnis anvertraute. »Sie haben nur von fern das Treiben der Dämonen geschaut, die immer auf uns lauern und die Welt in Scharen umschwärmen. Weißt du, als ob's eine belagerte Festung wäre! Jene haben aber immer nur so ein bißchen Harmonie um sich verbreitet, als ob's damit getan wäre. Nein, nein, nein! Wir müssen hindurch – wir müssen ganz unter die Wasser hinab – wie im Jordan – dann erst kommt der heilige Geist von oben! Ich habe jetzt überraschende Erkenntnisse – genial, sag ich dir! Hussa, Tallieng, du tust mir nichts ... Horch, wie das donnert! Schwül, schwül! ... Riemann, mir war's nicht beschieden, das Leben zu meistern. 0h, Riemann, man soll's nicht als Spiel fassen, wahrlich kein Spiel, sondern eine furchtbar ernste Sache. Weißt du, Riemann, wem Gott nicht durch besondere Schutzgeister hilft – oder wen das Kind nicht an der Hand nimmt, das ganz leise lächelt, sehr sein lächelt – der ist verloren, du Rationalist! Denn hienieden sind die Dämonen mächtig. Darum heißt man ihren Fürsten den Fürsten dieser Welt. Der ist schauerlich großartig. Da kommst du mit dem bißchen Tugend nicht aus. Das habe ich in dem Augenblick erkannt, als jene Dame mir die inneren Sinne eröffnet hat, mit der Peitsche in der Hand. Aber das war nicht Tallieng. Hussa, hussa!«
Er schluckte mit trockenen Lippen. Riemann flößte ihm etwas Wasser ein.
Da klopfte es an die Tür, und einen Augenblick darauf stand die anmutige kleine Ilse mit einem großen Blumenstrauß im Zimmer und sagte verlegen, während man hinter ihr die alte Frau Mäder mehr ahnte als sah: »Guten Tag, und ich sollte Herrn Gangolf einen schönen Gruß sagen von Tante Dora, und sie läßt gute Besserung wünschen.« Sie sprach die wenigen Worte mit der klaren Stimme eines Schulkindes, das gut auswendig gelernt hat.
Gangolf hing entzückt und überrascht an ihrem Anblick. Die Fieberphantasien von den Dämonen und vom Kinde aus dem Geisterland mischten sich mit diesem lebendigen Bilde aus der Wirklichkeit. Er sah sie mit glänzenden Augen glücklich an und murmelte herzlichen Dank, während Riemann, gleichfalls dankend, die Blumen in ein Wasserglas stellte, worauf Ilse mit artigem Knix und nicht ohne leise Ängstlichkeit wieder ihrer Wege ging, vom Zimmerherrn mit einigen Worten hinausbegleitet.
»Riemann, was war das für ein liebes Ding? Ich habe sie schon einmal gesehen – Riemann, warum behütet man nicht solch zarte Dinger, warum trachtet der niederträchtige Mensch, der Hund, danach, sie zu zerpflücken? Die Kleine tut mir jetzt schon leid. Man sollte ihnen nur Freundliches erweisen, man kann nicht wissen, durch wieviel Schlammfluten des Lebens sie hindurch müssen und wieviel Vorrat von Güte sie brauchen. Ich habe an solche Sachen nie gedacht und habe grauenhaft viel gefehlt. Darum sind ja Gegenkräfte aus höheren Regionen nötig, Dichtung – Kunst – Religion. Daran sollten wir mitarbeiten. Wenn man sich aber statt dessen in den Sümpfen herumtreibt, so ist man den Teufelsscharen eingereiht und front dem Fürsten dieser Welt ... Erbärmlich! Ich will ihm nicht mehr dienen – will nicht – überhaupt – bin dankbar, daß ich fort darf, ihr Burschen, denn ich bin eurer nicht würdig! Feiert eure Feste des Geistes! Segnet die Welt mit reinen Gedanken und guten Entschlüssen! Ich will mich ganz still und demütig davonschleichen ... Riemann – ich bin sehr – sehr müde. Kannst du beten? Etwa das Vaterunser?«
Riemann faltete mit ihm die Hände und sprach schlicht und selber ergriffen das heilige Gebet. Der Kranke aber, von Schwäche befallen, geriet in einen unruhigen Schlaf.
Es vergingen wenige Tage zwischen Tod und Leben. Der Arzt aber sprach eines Abends: »Wir müssen auf das äußerste gefaßt sein. Benachrichtigen Sie seinen Vater, daß es zu Ende geht.«
Dorothea hatte schon mehrmals nach Eisenach zurückkehren wollen. Jedoch sie blieb von Tag zu Tag, gesellschaftlich zwar auf das liebenswürdigste unterhalten, doch in Wahrheit gefesselt und tief ergriffen von Gangolfs Schicksal. Man nahm an der Erkrankung, die den Freund ihres Bruders tödlich bedrohte, lebhaften Anteil. Es hatte sich im Kreise ihrer Bekannten herumgeredet, daß er bei Errettung eines Kindes sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte. In Dorotheas Vorstellungswelt schimmerte diese Tatsache wie in verklärendem Glanze; das Ereignis schien ihr symbolisch bedeutsam und hüllte den Unglücklichen in einen fast mystischen Schimmer. Sie kämpfte lange mit einem Entschluß. Täglich besuchte sie Frau Mäder und erkundigte sich nach des Kranken Befinden. Und an einem der letzten Tage beschloß sie, selber mit der Wirtin Blumen auf seine Stube zu tragen.
Der Sterbende lächelte ihr totmatt entgegen. Das Fieber hätte seine zerstörende Wirkung ausgeübt. Vom übermütigen Gangolf war nichts mehr übrig als ein hageres Gerippe.
»Ich danke Ihnen herzlich,« flüsterte er, als sie neben seinem Bett saß. »Sie haben mich vieles gelehrt – viel Entscheidendes. Ich habe niemandem so viel zu danken wie Ihnen. Ihr Bruder hat's Ihnen vielleicht schon gesagt – grüßen Sie den guten Uli – und sagen Sie Ihren Eltern, sie möchten mir verzeihen, wenn's möglich ist.«
Er schluckte und schwieg. Sein Zustand griff Dorothea dermaßen an, daß ihr plötzlich die hellen Tränen aus den Augen schössen, ohne daß sie es merkte. Frau Mäder wischte selber in den Augen, als sie taktvoll hinausging.
»Herr Gangolf,« sprach Dorothea leise, »Sie sollen wissen – wir denken nur gut von Ihnen.«
»Von den Toten pflegt man gut zu sprechen – nicht wahr – es ist bald so weit – und es ist gut so – ich war nicht fähig, das Leben würdig zu leben ... ja, vielleicht, wenn jemand mit mir gegangen wäre – wie das Kind – das Kind –«
Dorothea schlug, überwältigt von seinem Zustand der Hilflosigkeit, das Gesicht in die Hände und weinte fassungslos. Sie konnte ihm nicht sagen, wie gern sie ihn als guter Lebenskamerad zu allem Hohen und Edlen emporgeführt und das Reine in ihm gekräftigt hätte. Sie stammelte nur unverständliche Worte und weinte. Als sie Frau Mäder wieder eintreten hörte, küßte sie den Sterbenden auf die Stirne und hauchte ganz leise:
»Leb' wohl, lieber Freund!«
Dann erhob sie sich mit Fassung, drückte ihm die Hand und ging rasch hinaus.
Es war ein Abschied für immer von diesem einst so wilden Burschen. Noch in der Nacht entschlief er sanft.