Meinrad Lienert
Das Hochmutsnärrchen
Meinrad Lienert

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X.

Seit dem Untergange des alten Bern waren kaum vierzehn Tage vergangen, und schon schwärmten die fränkischen Horden, ohne ernsthaften Widerstand zu finden, ja vielerorts in den Vogteien mit lautem Jubel empfangen, durch die Mittel- und Ostschweiz bis an den Zürichsee, von wo aus sie den Kanton Schwyz bedrohten.

Da endlich erwachten die Schwyzer Bergbauern. Bisher hatten sie gedacht, es werde etwa mit den Rüstungen nicht so heillos sprengen; die Welschen seien noch weit weg und die Brandrohre, Hellebarden und Knüttel nahe bei der Hand. Ja, manch einer biß bei den Gerüchten, die über die Untaten der fränkischen Greuelbanden im Land herumgespensterten, die Zähne ineinander, machte eine Faust im Sack und brummte: »Kommt mir nur vor die Türe, ihr welschen Fetzel; ich will euch dann gehörig durch den Jauchekasten ziehen!« Es wollte jeder den Krieg am liebsten auf eigene Faust führen, statt dem bedrängten Nachbar zu Hilfe zu eilen. Als nun aber die Welschen wirklich an die Türen des Standes Schwyz klopften, ging's an ein fieberhaftes Rüsten. Die Bauern hockten sich hinter den Dengelstock, dengelten die Sensen feiner 147 heraus als ein Rasiermesser, und gelobten sich, dies Jahr einmal Frankenbeine zu mähen. Und mehr als einer sah grimmig auf die blutbefleckte Hellebarde an der Wand und dachte: Seiest du nun rot vom Blute der österreichischen Ritter oder der Herren von Burgund, heuer will ich dich in welschem Rebellenblut nun einmal gehörig waschen.

Auch im Herzen des Landes Schwyz, in der Waldstatt Einsiedeln, wurde auf Tod und Leben gerüstet und für den Krieg drauflosgewerkt. Zeichen und Wunder geschahen. Der Präzeptor, der lateinische Schulherr, lief herum wie der lebendige Drohfinger des jüngsten Gerichts, und verkündigte, bei allen alten Weibern herumschnupfend, mit beelendischem Gesicht, daß es mit der sündigen Menschheit Matthäi am letzten sei, da die Posaunen schon gestimmt seien, die ihr zum großen Kehraus blasen würden. Er redete dabei die ganze Zeit vom großen Tier der Offenbarung Johannis, als welches ja dieser Bonabartli von jedem Kind erkannt werden müsse. Auch der Beinhaussigrist ward zum Propheten. Er behauptete, die Toten gingen um und die Welschen hätten Bocksfüße, mit denen sie über alle Gräben springen könnten. Im Klosterhof versammelte sich die Landsgemeinde, die der Pfarrer in Chorhemd und Stola eröffnete und an der er zum heiligen Krieg wider die heidnischen fränkischen Unholde aufforderte. Die 148 unfreien Beisassen der Waldleute mußten den Treueid schwören, wofür sie ins Landrecht aufgenommen wurden.

Die gedienten Soldaten, sogenannte Holländer, Spanier und Napolitaner, drillten rasch die Jungmannschaft ein, wobei auch der Gerbebattist als Drillmeister so gute Dienste leistete, daß ihn die Offiziere zum Unterlieutenant ernannten. Der Schulmeister Plazi, der nun wieder gute Zeiten hatte und in der Uniform ins Bett stieg, freute sich dessen sehr und sagte lachend zur Pfauenwirtin: »Ja, ja, Mutter. Wenn einer den Bonabartli wieder heimjagt, ist's der Battist. Wenn's der nicht eines schönen Tages zum Landeshauptmann bringt, will ich eine Blume werden und künftig nur noch Tau trinken!«

Vorläufig nahm er aber das Gläschen Kirschenbranntwein, das ihm die Pfauenwirtin einschenkte, also bedachtsam ein, als enthielte es Wundertropfen. Und da trat denn auf einmal das Heleneli, der Wirtin flachslockige Tochter, mit verweinten Augen in die Wirtsstube. In den Armen aber trug sie wie ein Wickelkind einen Degen mit vergoldetem Griff, legte ihn vor dem erstaunten Schulmeister auf den Tafeltisch und sagte: »Da, seht her, Meister Plazi; das ist meines seligen Vaters Säbel. Tut mir nun den Gefallen und bringt ihn dem Gerbebattist. Selber darf ich's nicht tun. Ihr wißt ja, er hat seinen Säbel beim Kaiser Franz 149 zurückgelassen. Sagt ihm, ich hätte den Säbel vor dem St. Sigismundaltar einsegnen lassen. Er solle ihn nun selber für das Vaterland einweihen; er komme von einer, die ihn nie vergessen . . .« Die hellen Tränen gingen ihr über die Wangen, und aufschluchzend eilte sie aus der Stube in ihr Kämmerlein hinauf. »Nichts für ungut, Pfauenwirtin«, sagte der alte Schulmeister; »'s ist doch ein Weltskrötlein, dieses Heleneli; den Kopf von der Mutter, das Herz vom Vater!« Dann besah er wohlgefällig den Degen von allen Seiten, riß ihn gar aus der Scheide und fuchtelte damit herum, als wollte er das Blitzen lernen. »Ist eine schöne Waffe!« machte er, sie schmunzelnd wieder einsteckend. »Christo santo abeinander! Wenn mir seinerzeit so eine den Säbel hätte einsegnen lassen, ich würde vor Kampflust die ganze Welt mitten auseinander gehauen haben, so daß wir Menschen jetzt wie jene zwei Königskinder durch einen tiefen Graben waten müßten, wollten wir zueinander kommen. Lebt gesund, Mutter. Ich will jetzt das schöne Mordinstrument dem Ketzersburschen zutragen. Der wird etwa wohl eins aufjauchzen!«

Der Gerbebattist schaute erst glühend vor Scham auf den Degen, den der Schulmeister vor ihn auf den Tisch legte.

»He, porco di Napoli abeinander!« fuhr ihn der Alte verwundert an. »Freut dich der Säbel 150 aus der Hand des hübschesten Maitlis der ganzen Urschweiz bis zum stiebenden Steg und darüber, denn nicht einmal so viel, daß du das Maul zu einem Vergeltsgott aufreißen magst?!«

Aber er bekam keine Antwort. Battist riß den Degen plötzlich an sich, band ihn flink um und verließ die Stube.

»Aha!« machte schmunzelnd der Schulmeister und blinzelte Battists Mutter, die bekümmert am Ofen kauerte, schlau zu. »Der Siebenketzer freut sich halt inwendig. Jetzt gnad Gott dem Welschen, dem er Helenelis Säbel über den Kopfputz haut; der ist gestriegelt und gestrählt für immer!«

Näher rückte die welsche Gefahr. Alle Friedensverhandlungen mit den proklamationssüchtigen fränkischen Generälen zerschlugen sich.

Eines Tages stieg denn ein Bataillon von Schwyz am kleinen Mythen vorbei ins Tal der Alp hinab. Mit ihm zusammen brach nun auch ein Bataillon junger Waldleute auf, um über die Etzelhöhen einem glarnerischen Obersten zu Hilfe zu eilen, der die Landesgrenzen der schwyzerischen March bewachte.

Als die Truppen über den Dorfplatz vor dem Kloster hinaufzogen, standen die Pfauenwirtin und ihre Tochter, die blaß und übernächtig aussah, auf der Vortreppe ihres Gasthauses und schauten auf die mit Trommel und Pfeifen heranmarschierenden Soldaten.

151 »Ach, dieser Krieg!« klagte die Wirtin. »Wann nimmt unser Herrgott diese Geißel endlich von der Erde hinweg. Aber wenn's nun einmal sein muß, so möge er die Fäuste unserer Burschen da in Schmiedhämmer verwandeln, auf daß diese gottlosen Frankenschädel, die so viel Unheil aussinnen, wie gelötete Kaffeekacheln zusammenkrachen!«

»Mutter, Mutter!« machte leise das Heleneli, die Wirtin verstohlen am Rock zupfend. »Schau, dort ist er; schau, wie bleich er aussieht! Ich muß ihm rufen; nur geschwind herankommen soll er dürfen. Wenigstens die Hand will ich ihm zum Abschied drücken!«

»Tu's nicht!« flüsterte die Wirtin mit tiefer, schier männlicher Stimme zurück. »Sei fest, Kind! Er hat jetzt gezeigt, daß er ein Mann werden will; sonst hätte er den Säbel zurückgewiesen oder hätte den Jammerlappen gemacht und wäre auf den Knien um dich herumgerutscht. Und ist er nun zu verschämt und zu stolz gewesen, also daß er's nicht zu dir hinaufbrachte, um Abschied zu nehmen, so gefällt mir das an ihm; aber nachlaufen darfst du ihm nun auch nicht. Verdirb jetzt nicht in einigen Augenblicken, was du in standhaften bösen vierzehn Tagen gutgemacht hast! Es wird sich nun zeigen, ob er deine Liebe verdient oder nicht. Es wäre auch zu auffällig und sähe wie eine Verlobung aus, nähmet ihr jetzt da auf der Treppe offen von einander 152 Abschied. Eine solche Komödie kann dir jetzt nicht anstehen, und ihn täten seine Kameraden, die ja auch nicht zum Tanz ausrücken, hänseln und verhöhnen. Schau, wie er kräftig auftritt! So ist er früher nicht gegangen. Beim heiligen Meinrad, er sieht gut aus; der ist einmal ein Soldat!«

»Mutter, der tausend Gottswillen seid doch barmherzig! Bedenkt doch, was er gelitten haben muß diese ewigen vierzehn Tage hindurch!«

Die Pfauenwirtin schaute mit sichtlichem Vergnügen auf den eben vorbeimarschierenden Unterlieutenant, den Gerbebattist. Sie vermochte kein Auge von ihm abzuwenden.

»Mutter, Mutter!«

Die hochgewachsene Frau, die wie ein General dastand, als hätte sie die Parade der Truppen abzunehmen, blieb stumm; doch ihre Hand legte sich warm auf Helenelis Schulter.

»Mutter, ich muß ihm rufen!«

Jetzt blickte die Wirtin ernst in ihrer Tochter Augen, die füriorufend, wie zwei Fensterlein aus einem brennenden Hause, zu ihr aufschauten.

»So ruf ihm meinetwegen!« sagte sie kalt.

Eben sah Battist flüchtig auf und grüßte mit dem Degen.

Die Pfauenwirtin winkte ihm herzhaft zu. Das Heleneli jedoch stand wie betäubt da.

»He nun, so lächle ihm doch zu!«

153 Wohl zuckte es um des Mägdleins Mund, und in seinen Augen war etwas wie ein blaues zitterndes Irrlichtchen in schwüler Hochsommernacht; aber ein Lächeln wollte es nicht werden. Seine Hände krampften sich ineinander, und wie durch einen Nebel staunte es auf den vorbeimarschierenden Zug.

»Helf euch Gott!« rief die Wirtin und winkte eifrig, »und Unsere Liebe Frau und der liebe heilige Landespatron Sankt Meinrad!«

»Siehst du's dort, Battist!« raunte ein Schulkamerad dem bleichen Unterlieutenant zu. »Siehst du das Heleneli auf der Pfauenstiege! Steif und still wie ein steinernes Heiligenbild steht's mit der Alten auf der Vortreppe, macht kugelrunde Augen und sieht uns nicht. Nicht einmal eine Hand rührt es, uns zum Abschied zuzuwinken. Ist doch wahrhaftig ein recht überspannter Fratz geworden, dies Hochmutsnärrchen, dies Hochmutsnärrchen!«

Battist gab keine Antwort. Gesenkten Hauptes marschierte er zu, und als nun das alte Rabenbanner der Waldstattschützen über ihn geschwungen wurde und ein wildes Jauchzen und Haarusrufen Berg und Tal erfüllte, fuhr er sich verstohlen über die Augen und krampfte den Degengriff in die Faust.

Die beiden Frauen auf der Pfauenstiege und all das bange Volk der Waldstatt schauten der abziehenden Jungmannschaft nach, bis sie hinter dem Furrenrain verschwand. Aber noch lange war das 154 Rasseln der vierzehn Trommeln und das Schrillen der Pfeifen zu hören.

Aufschluchzend jagte Heleneli über Kopf und Hals zum Gerbehaus hin, aus dessen Wohnstube Battists Mutter immer und immer wieder mit zitternder Hand ins Weite winkte, als die Truppen schon lange nicht mehr zu sehen waren.

Die Pfauenwirtin aber war auf der Vortreppe stehen geblieben und schaute bekümmert zur Kirche hinauf. Eben begannen dort Abt und Konvent das Salve regina zu singen, das vor der Gnadenkapelle alltäglich seit bald tausend Jahren ertönte. Morgen in aller Frühe wollten sich die Klosterherren flüchten. Wie Geistergesang kam es aus der offenen Kirchenpforte: »Salve regina, mater misericordiæ, vita dulcedo et spes nostra, salve!«

Die Pfauenwirtin faltete die Hände und senkte ihr stolzes Haupt. 155

 


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