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Als Heleneli das erstemal zur Kommunion an den Altar getreten war, mußte es nicht mehr zur Schule gehen. »Sie kommt ja schon in die Jungfernjahre«, hatte ihr alter Pate gesagt; »denn wenn ich sonst zu Besuch kam, war ihr erstes, daß sie einen Kamm holte und meine schimmeligen spärlichen Locken nach Herzenslust durcheinander kämmte; jetzt drückt sie mir kaum herzhaft die Hand, wenn ich komme; so ein Hochmutsnärrchen!«
Bald fing das Heleneli in der Wirtschaft zu helfen an. Es gab da allerlei untergeordnete Dinge zu tun, die ihr die Mutter nicht erließ. Sie sollte eine ganze Wirtin werden und den Betrieb des großen Gasthauses in allem kennen lernen. Nicht nur das schwere, selbergewobene Leinenzeug mußte sie in Ordnung halten lernen; auch die heiße Küche und ihre Mühsale wurden ihr nicht erspart. Sie war nirgends und überall.
Aber nach und nach begannen die Gäste, die alten und die jungen, sie zu sehen, wie eine aus dem Moorgras herauswachsende goldschopfige Ilge, bei deren Anblick man auf einmal weiß, daß sie es ist, von der das ganze Riedland so süß duftet. 94 Da fragte denn bald dieser, bald jener: Was denn das für ein hübscher aufgehender Knopf sei, der dort am Schwenkkessel stehe, oder der dort antische, oder der den Weihbrunn nachfülle an der Türe? Dabei dachte aber jeder an einen Rosenknopf, dessen Aufgehen er so gerne erleben möchte. Die Kleine da, sagte dann die Pfauenwirtin, das sei ein Mägdlein, das bei ihr ein bißchen die Hauswirtschaft erlernen wolle. Es sei eben noch recht jung, habe erst vor kurzer Zeit das erstemal kommuniziert. Da kämen aber hierlands die Mädchen großgewachsen zur ersten hl. Kommunion, meinten dann wohl die fremden Gäste. Wenn aber ein Gast zufällig den neugierig, aber heimlich auf ihn gerichteten Augen des Mägdleins begegnete, erschrak er bis ins Herz hinein ob ihrem Leuchten, und war ihm nicht anders, als habe er in einen blauen Märchenwald hineingeguckt.
So kam es, daß der eine und andere junge Pilger diesem großen Kommunikantenmägdlein recht unruhig nachzuschauen und nachzusinnen begann und die Gedanken nicht also auf den lieben Gott und seine Heiligen zu richten vermochte, wie er sich's vor der Wallfahrt vorgenommen hatte.
Kurzum, das Heleneli und seine zunehmende Jungfräulichkeit wollten sich nicht mehr recht verheimlichen lassen.
Darum schickte es die Mutter eines Tages mit 95 dem alten Paten zu ihr befreundeten Pilgern nach Remund im romanischen Freiburg, wo es ein ganzes Jahr verblieb, bis es der alte Vetter wieder heimholte.
Als aber das Heleneli aus der französischen Schweiz heimkehrte und nun die Vortreppe hinaufstieg, erschrak die Pfauenwirtin fast; denn ihr war für einen Moment, sie selber komme die Stiege herauf; so groß war ihr Kind in der Fremde geworden. »Ei!« sagte ein alter Wachsbossierer, der sie ihrer Mutter entgegeneilen sah, zu einer Kramladenfrau, »ganz die Mutter, und doch wieder gar nicht. Nicht so hoch und stattlich, nicht so schön; aber hundertmal schöner; denn sie ist anmutig wie ein Bergkirchlein im Abendrot!«
Nun erst ließ die Pfauenwirtin ihr Kind auch vor den fremden Gästen als Tochter des Hauses gelten. Sie durfte die Pilger und andere Gäste bedienen und wurde ihrer Liebenswürdigkeit wegen von allen geliebt, die in ihre Nähe kamen; denn sie war nicht nur den vornehmen adeligen Wallfahrern eine aufmerksame, anmutige Wirtin, sondern auch den ärmeren Pilgern ein Augentrost und eine Herzensweide.
Aber auch die Waldleute von Einsiedeln, besonders die männlichen, diese jedoch alle, begannen sich angelegentlich nach ihr umzusehen, wenn sie mit hochgetragenem Näschen und doch anmutig, als eine reine Magd des Herrn, zur Kirche aufstieg.
96 Die jungen Waldmänner fingen ernsthaft an, über diese Erscheinung, die sie alle überraschte, nachzudenken und zu überlegen, wie sie sich als künftige Pfauenwirte neben ihr wohl ausnehmen würden und was das für eine heimliche Freude sein müßte, dieses schalkhafte Näschen an den Rosen vor den Fenstern riechen zu sehen. Es war daher nicht verwunderlich, daß die Burschen nun auf einmal die Wirtsstube des alten Gasthauses für kurzweiliger ansahen als die vielen guten Kegelplätze. So saßen sie immer häufiger und länger, sobald es einwinterte, hinter der Wappenscheibe der Stube und sahen sich nach und nach an der Wirtstochter die Augen aus und die Herzen wund, ihr Kartenspiel, das Trentnen, völlig vernachlässigend.
Heleneli aber war gegen alle gleich freundlich und aufmerksam, so daß keiner so ganz ungetröstet oder gar hoffnungslos von ihr fortging.
Einer aber war unter den jungen Burschen, der nicht zu Gast in den »Pfauen« kam. Und doch wollte eine Kramladenfrau bemerkt haben, daß allemal gar heimlich und leise im »Pfauen« ein Scheiblein gehe, wenn der Gerbebattist am Haus vorbeikomme. Freilich, sagte sie, beschwören könnte sie's gerade nicht, selbst wenn sie zwanzig Finger an einer Hand hätte.
Nur ein einziges Mal war der Gerbebattist in der Wirtsstube zum »Pfauen« zu Gast gewesen, 97 seit das erwachsene Heleneli aus der Fremde zurückgekommen. Er getraute sich damals nicht recht herauf; denn man redete von ihm nicht viel Gutes im Walddorf, nannte ihn einen haltlosen wilden Burschen, der seiner alten, übelzeitigen Mutter wenig Freude mache.
Es war auch nur zu wahr. Der Schulherr jagte ihn aus der Lateinschule, da er in den Büchern alles andere, nur nicht Latein sehe, alle nur erdenklichen Lumpereien treibe und nichts als Schlachten in der Schule in Szene setze, so daß man um ihn herum des Lebens nicht sicher sei. Mit dem künftigen Waldstattschreiber oder Geistlichen war's also nichts, obwohl ihn seine Mutter in ihren Träumen beständig als Klosterabt, mit der Inful auf dem Kopf und dem Hirtenstab in der Hand, im Dorf herumstolzieren sah. Der Verlust dieser Hoffnung plagte die Mutter sehr. Denn erst hatte sie die Gerbe verkaufen wollen, als sie noch steif und fest glaubte, es könnte aus ihm ein Gelehrter, Pfarrer oder sonst etwas Besonderes werden. Und nun, da sie das Geschäft seinetwegen doch behalten hatte, obschon sie's vorteilhaft hätte veräußern können, ließ er die Knechte darin hantieren und machte die halbe Zeit Ferien. So stieg man tiefer; der Pate tat ihn zu einem Büchsenschmied in die Lehre, bei dem er jedoch erst recht nichts angreifen wollte. »Er lernt nichts als der Gesellen schlimme Redensarten«, 98 klagte der Meister, »und nur wenn ein Weiberfähnchen über die Gasse streicht, klebt er fleißig am rußigen Scheiblein und läßt die Eisen im Feuer verkohlen!« Auf des Paten Vorschlag mußte er nun zu einem Metzger. Doch ging er nur ein einziges Mal hin, und da ward ihm die Schlächterei so zuwider, daß er den Meister, der ihn einen unhandlichen Faulpelz nannte, einen blutigen Kuttelnputzer hieß und einfach heimlief. So blieb er tags zu Hause bei seiner bekümmerten Mutter und betätigte sich ein wenig und unlustig genug in der Gerberei. Nachts aber strich er mit den Nachtbuben um alle Tätschhäuschen, worin sie ein flügges Vögelchen wußten. Soweit hatte er's vorderhand gebracht. »Und er wäre doch so ein hübscher, gradgewachsener Bursche«, sagten die Leute, »und ist noch so blutjung!« – »Eben«, meinte dann der Schulmeister Plazi, »weil er jung ist, braucht man an ihm noch lange nicht zu verzweifeln; denn altes Holz ist trocken und schlagreif, aber in jungem können noch viele gute Triebe verborgen sein. Ich glaube alleweil, der Battist hätte das Zeug zu einem rechten Soldaten!« Ja, ein Soldat, das war es, das wollte er mit Leib und Seele werden; dazu, und dazu allein fühlte er Willen und Kraft in sich. Und der alte Schulmeister, der selber mit all seinen Gedanken in seine »Napolitanerzeit« zurückflüchtete, wollte er sich ein gutes Stündchen 99 gönnen, belebte durch seine Schilderungen und Erzählungen, die er Battist und anderen gar oft auftischte, seinen Trieb zum Soldatenstand noch besonders. Tag und Nacht träumte der Bursche bald von nichts anderem mehr als von Lagerleben, schönen Marketenderinnen, von Kampf und Eroberung. Soldatenspiele waren ihm ja allezeit das Liebste gewesen. Es machte ihn geradezu unglücklich, daß diese voreiligen Spanier und Portugiesen die neue Welt schon erobert hatten; er wäre zu gerne mit dabei gewesen. Vielleicht hätte er auch schon lange Handgeld genommen und wäre in fremde Dienste über den Gotthard durchgebrannt, hätten ihn nicht Helenelis Augen daheim festgebannt.
Als er es nun, trotz seinem wenig guten Rufe, doch wagte, in die Wirtsstube zum »Pfauen« hinaufzugehen, um sich das vielumworbene Wirtstöchterlein auch einmal von Angesicht zu Angesicht anzusehen, kam er mit seinem Hang zum Soldatenleben nicht am besten an. Was denn er werden möchte, hatte ihn die Pfauenwirtin gefragt, nachdem alle anwesenden jungen Burschen ihre Liebhabereien für diese oder jene Betätigung genannt hatten. Früher pflegte er auf solche Fragen immer zu antworten, er wolle ein Tell werden, weil das Heleneli beständig eine Stauffacherin zu werden wünschte. Jetzt aber, da er eben von neuen französischen 100 Siegen gehört hatte und der Zürichbote schier allwöchentlich neue große Botschaften von dem kleinen General brachte, der die Welt zu erobern anfing, jetzt antwortete er der Wirtin mit leuchtenden Augen: »Soldat will ich werden und nichts anderes! Und am liebsten möchte ich fort in den Krieg; 's ist mir gleich gegen wen!« Heleneli, das am Fenster spann, hatte einen Augenblick erschrocken aufgeschaut und ihn so sonderbar, mit den glänzenden Augen eines kranken Vögleins, angesehen, daß er, verwirrt und seltsam bewegt, die Augen niederschlagen mußte und Krieg und Soldatenleben vergaß. Aber da hatte die Pfauenwirtin ernst zu ihm gesprochen: »Ja, ja, Soldat, da hast du recht; das wollte ich auch zu allererst werden, wäre ich ein junges Mannsbild. Die Soldaten treffen es herrlich und bringen es zu einem gesegneten Alter. Wir haben ja ein Beispiel am Meister Plazi, dem Napolitaner, der so gut hungern gelernt hat. Schau nur zu und spute dich, daß du's auch so weit bringst, und überlasse dein einträgliches väterliches Gerbegeschäft einem Klügeren!« Da war ein tolles Gelächter durch die Stube gegangen, und das Heleneli beugte sich flammendrot über sein Spinnrad und blieb still. Wie hätte sie ihn früher in Schutz genommen! Stumm war er aufgestanden und mit Trotz im Kopf und schwerem Weh im Herzen heimgegangen.
101 Nun schritt er wie ein General an der Pfauenwirtin vorbei, wenn sie ihm begegnete. Aber dem Heleneli wich er aus, sobald er's um den Weg merkte; doch wenn es sich machen ließ, sah er ihm heimlich, mit heißen Augen und einem bösen Brennen unterm Kamisol, nach.
Allemal, wenn er hörte, daß wieder einer sich in fremde Kriegsdienste verschrieben habe, wollte er nun mit ihm in alle Welt hinaus, und nur die jammernde Mutter vermochte ihn noch mit Ach und Krach zurückzuhalten. »Laßt mich doch gehen!« pflegte er sie in wildem Weh anzulärmen. »Zu Hause bin ich doch mir und Euch und andern ein Greuel und eine Last. O hätte ich doch einen Säbel in der Faust und einen Haufen welscher Jagdhunde vor mir!« machte er dann zähneknirrschend. »Oder läge ich tot unter irgendeinem Grabenbord!« Seine Mutter ängstigte sich fast zu tot, hörte sie solche Redensarten, und hatte großen Kummer und viel Verdruß seinetwegen auszustehen. Er tat immer weniger gut und fing nun gar an, ihr Hab und Gut zu verschleißen, indem er bei seinen nächtlichen Streifereien und Nachtbubereien Gelage gab und die Gulden auf alle Weise vertat. Und nun ging er auch der Pfauentochter nicht mehr aus dem Weg, sondern marschierte aufrechten Ganges, trotzig an ihr vorbei. Aber wenn sie dann, wie sie immer tat, ohne ihn anzusehen, still an ihm vorüber ging, 102 packte es ihn am Herzen. Er machte sich hinauf in die Wälder, hielt tags dem Wilde nach, fuhr nachts um die Scheiter und Fenstersimse aller Bauernhütten und kam erst nach langem, übernächtig und finster blickend, zu seiner verzweifelnden Mutter heim. 103