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Achtes Kapitel
Rudolf Steiner und die neue Geisteswissenschaft

Zwischenspiel

Mit großer Rührung und im Gefühle unbegrenzter Dankbarkeit gehe ich daran, dem Leser ein leider nur in den Umrissen gezeichnetes Bild des Lebens und Wirkens Rudolf Steiners zu geben, eines Mannes, auf den die deutsche Nation, wenn sie nicht längst schon verlernt haben würde, ihre wahrhaft Großen zu ehren, alle Ursache hätte, stolz zu sein. Was ich hier darlegen will, hat den Zweck, auf das außerordentliche, für die ganze Menschheit gleich bedeutsame Geschenk hinzuweisen, das diese im Augenblicke tiefster materieller, seelischer und geistiger Not aus Rudolf Steiners Händen empfing, ein Licht, das in die Finsternis scheint und das die Finsternis wieder einmal nicht begreifen kann, das aber eines Tages, so die Vorsehung es will, dem Erdengeschlecht den Weg aus der Nacht weisen wird. Mit Rudolf Steiners Geisteswissenschaft, einer idealen Zusammenfassung aller religiösen, künstlerischen, philosophischen und wissenschaftlichen Kräfte im Menschen, erneuert aus dem Geiste der Mysterien sowie einer umwälzenden Einsicht in das Wesen des Christus Jesus und seiner göttlichen Sendung, beginnt eine neue Epoche im Leben der Erde, stark genug, in die nächsten Kulturen hinüberzuleiten und zugleich das Konzept der kommenden Phase des Planeten zu entwerfen. Den Plan der Welt, im Rahmen des Schöpfungszyklus, der sieben große Runden umfaßt, lenken die höchsten Wesenheiten, unterstützt von großen Eingeweihten, deren Wirken jedesmal durch bedeutsame Wendepunkte in der Entwicklung der Menschheit gekennzeichnet ist. Ein Eingeweihter von solchem Rang war Rudolf Steiner; sein großes Erbe, verwaltet von Marie Steiner und von einer Gesellschaft geistiger Menschen, die den Ruf des Augenblickes vernommen hat, geht jetzt als blühende Saat auf, betreut von liebevollen Händen, die im Zusammenhange mit ihm, von seiner schöpferischen Kraft beschattet und gesegnet sind. Von der Unsumme seines Tuns und seiner Konzentrationsgabe, von der Unermüdlichkeit seiner hohen Führerschaft, von der Großzügigkeit seines Wesens, von seinem stupenden Wissen, das alle Gebiete umfaßte und zugleich neue, ganz unbekannte erschloß, können sich die Menschen unserer Zeit nur schwer einen auch nur annähernden Begriff machen. War schon sein Leben hienieden wie ein Wunder, so vermehrte er die Wunder seines Wirkens täglich, bis zum letzten Augenblicke seines Erdenlebens, schrieb Bücher, hielt Vorträge, arbeitete persönlich am Goetheanum in Dornach, war Arzt, Denker, Priester, Künstler in einer Person und übte geraume Zeit ein Amt aus, das zu den heikelsten und verantwortungsvollsten der Erde gehört: das Amt eines Lehrers und Arztes der Menschen. Ich will hier, um ein anschauliches Bild vom Einfluß zu geben, den seine Persönlichkeit ausübte, schlicht erzählen, wie ich zu Rudolf Steiner kam. Gleich ihm im Februar, nur elf Jahre später geboren (vier Tage vor Steiners Geburtstag, dem 27. Februar 1861), wuchs ich als Student in denselben Zeitumständen auf, schritt wie er durch das Fegefeuer einer Epoche, die, obwohl äußerlich nicht gerade überbewegt, in ihrer unheimlichen Starrheit der Begriffe und Anschauungen doch nur Ruhe vor dem Sturm bedeutete. Die Hochschulgeneration jener Tage war fast gänzlich mit dem Kampf um die nationale Existenz erfüllt, ging doch, in diesen unglücklichen Jahren nach 1866, die Vorherrschaft des Deutschtums im alten Österreich verloren und war damit obendrein der Zusammenhang mit Deutschland und dem neuen Reich für unabsehbare Zeit zerschnitten! Gleichzeitig kam der internationale Marxismus auf, ein Unglück sondergleichen, besonders für uns Deutsche, die ihn in unserer angestammten Gründlichkeit ernster und bereitwilliger aufnahmen, als irgend ein großes Volk der Erde. Gegen den Marxismus bot Dührings knorrige und temperamentvolle Denkweise hinreichende Erfrischung, auch tat uns »Wirklichkeitsphilosophie« bei allem Idealismus und in der drangvollen Enge des Kampfes wohl, ganz abgesehen von Friedrich Nietzsche, dessen glutvolle, leidenschaftliche Sprache und unerhört unbarmherziger Freimut unsere jungen Herzen rasch entzündete, so wenig entzückt wir von seinem Mißtrauen gegen den Reichswurm (Rhinoxera) waren. In diesem Zwiespalt empfingen wir allerdings geheime Kräfte von den großen Dichtern der Nation, unter denen Goethe, für unser Gemüt, eine überragende Rolle spielte; auch Ibsens Wirkung auf das junge Deutschland von damals blieb nicht aus, indes Beethoven, Brahms und Wagner unsere Herzen im Sturm eroberten. Für okkultes Denken war in diesem, aus so verschiedenen Elementen zusammengesetzten Weltbild wenig Platz. Wohl schien so manches merkwürdige Erlebnis die Vermeintlich sicheren Bereiche einer »positiven Philosophie«, einer mageren, ahnungslosen und seelisch dürftigen Denkweise mit ihren metaphysischen Fragen und mit dem koketten Stolz auf den Triumph der Naturwissenschaften im Hintergrunde, die Grundlagen unserer Welt- und Lebensauffassungen bedenklich zu erschüttern, aber das ging vorbei, denn die freiheitliche, »voraussetzungslose« Gesinnung gehörte, leider in starkem Ausmaß, zum Gesamtbild des deutschen Studenten jener Zeit und wurde, bei mir wenigstens, dank unangenehmer Erinnerungen an einen zelotischen katholischen Katecheten der Gymnasialzeit, erheblich gefördert. Nebenbei bemerkt, trug die okkulte Literatur jener Tage, ein Gemisch von Frömmelei und wüsten Mitteilungen aus der Welt der Magie, nicht gerade dazu bei, den Sinn für okkulte Probleme zu fördern, der latent allenthalben vorhanden war. Später dann, in meiner Vaterstadt Wien, geschah die Wandlung ganz von selbst und Schlag auf Schlag. Gleich Steiner journalistisch (als Kritiker in allererster Reihe) tätig, eine romantische Natur, leidenschaftlicher ausübender Musiker und empfindsam bis zum Weltschmerz, kam ich in Kreise, die, ohne die geringste Mühe, nach und nach mein Interesse für übersinnliche Dinge belebten (das übrigens auch durch Erlebnisse, die andere für unscheinbar und geringfügig halten mochten, wachgerufen wurde); so spann mich, heute darf ich das wohl so nennen, Karma bald in neue Kreise ein; es ist viel Merkwürdiges um die Geschichte einer solchen Wandlung. Ohne daß man es merkt, fliegt Einem Alles zu, was man braucht, um innerlich weiterzukommen. Unsichtbare Helfer tragen Bücher und Schriften herbei, wecken Erinnerungen an Begebenheiten der Kindheit, die plötzlich in anderem Lichte erscheinen, führen den Suchenden mit Menschen zusammen, die eine Rolle in dieser Entwicklung zu spielen berufen sind, und geheime Wünsche, die man in bezug auf diese Dinge hegt, gehen unversehens in Erfüllung; manchmal wird man auch, wie durch unsichtbare Stimmen oder »Zufälle« davon abgehalten, diesen oder jenen Gedankengang zu Ende zu denken, diesen oder jenen Weg einzuschlagen. Wenn unsere neuen Tautologiker, die ihren Stolz darein setzen, »Philosophie« auf mathematische Formeln abzuziehen und jede Metaphysik sorgfältig aus dem Weltbilde zu entfernen, eine Ahnung davon hätten, welche Fülle von Erlebnissen einem Menschen zuströmt, dessen Sinn nicht zu und dessen Herz nicht tot ist, verhielten sie sich weit stiller und bescheidener, im durchbohrenden Gefühle der jämmerlichen Dürftigkeit ihrer Weltanschauung. Unter allen Problemen, die mich in jenen Tagen beschäftigten, spielten die Rosenkreuzer im Zusammenhang mit Rudolf II., dessen Alchimistenhäuschen auf dem Prager Hradschin mich schon zu meiner Prager Studentenzeit intensiv beschäftigten, eine große Rolle. Ich wollte um jeden Preis Näheres darüber wissen, studierte Buhle und Katsch und war sehr unglücklich darüber, daß die Monographie des braven Gindely wohl sehr Genaues über das politische Getriebe an Rudolfs II. Hofe, aber fast gar nichts über die Persönlichkeit des Kaisers selbst zu sagen wußte. Sehr betrübt ging ich eines Tages in die Wiener Hofbibliothek, um hier etwas über den Gegenstand zu finden, der mich Tag und Nacht beschäftigte. Da trat der Schriftsteller Hayek, ein Okkultist von reinstem Wasser, auf mich zu, sagte mir, obschon er nichts davon wissen konnte (außer Bulwers Roman »Zanoni« hatte ich noch nichts Sachliches über die Rosenkreuzer gelesen), was ich vorhätte. »Sie wollen wohl etwas über die ›Rosenkreuzer‹ wissen? Da kann ich Ihnen helfen!« Meine Verblüffung über dieses merkwürdige Erlebnis war groß, doch wagte ich nicht, Hayek darüber zu befragen und ließ mich gerne belehren: ich sollte zu Dr. Steiner nach Berlin gehen, denn Dr. Steiner wäre der einzige wirkliche Rosenkreuzer unserer Zeit. Wohl hatte ich schon von Doktor Steiner gehört; der junge Walter Johannes Stein aber, damals Studiosus der Philosophie an der Wiener Universität (noch warm vom Lotterbett der Freudschen Psychoanalyse, aber schon in vielen Beziehungen Anthroposoph, übrigens ein ganz außerordentlicher Kopf und hervorragender Redner) sprach in privatem Kreise, in fesselnder Weise über die esoterische Bedeutung des Mysteriums von Golgatha, über die Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaft und andere Probleme. In Berlin angelangt, hörte ich, also vorbereitet, Dr. Steiner, am 26. März des Schicksalsjahres 1914, im Architektenhaus, zum erstenmal in meinem Leben, sprechen; er hielt einen Vortrag über den Homunkulus (bei Goethe und Hamerling), und es drängt mich, einiges über die Wirkungen dieses Erlebnisses zu sagen. Vorausschicken muß ich, daß ich durch okkulte Freunde, die Steiner nicht mochten und mit ihren Beziehungen zu den Martinisten flunkerten, gegen Steiner eingenommen war, den sie einen »Schmierenhamlet« nannten, und dem ich (daran war wohl Nietzsche, der Antichrist, schuld) nachtrug, daß er durchaus eine Renaissance des Christentums im Sinne habe; einige flüsterten mir obendrein zu, Steiner sei ein Jesuitenzögling, indes andere ganz bestimmt zu wissen vorgaben, Steiner wäre Judenstämmling und Freimaurer obendrein. So wenig mich dieses dumme Gerede alterierte, denn ich war ja in erster Reihe darauf begierig, den Rosenkreuzer Steiner kennenzulernen, so kühl machte es mich; ich erwartete sozusagen, Gewehr bei Fuß, den Augenblick, da ich den vielumstrittenen Mann selbst hören würde und nahm mir vor, das Erlebnis ganz ohne Vorurteil als etwas hinzunehmen, was für meine Entwicklung notwendig schien. Nun, der Saal war überfüllt, eine elegante, aber doch auch aus Menschen verschiedenster Kreise zusammengesetzte Zuhörerschaft war erschienen; ich saß in der zweiten Reihe unmittelbar vor dem Rednerpult und muß gestehen, daß die erwartungsvolle Stimmung, die über dem stattlichen Räume lag, bald auch auf mich überging. Da tauchte nun, plötzlich, und wie mir vorkam, als wäre er aus einer Versenkung emporgestiegen, Doktor Rudolf Steiner hinter dem ragenden Stehpult auf: in seinem schwarzen, langen Rock, die schwarze Schleife unter dem umgelegten, blendendweißen Kragen, mit seinem wundervollen Kopf, in dem zwei große, unvergeßliche Augen über die Köpfe der Leute hinweg in die Ferne zu blicken schienen. Ahnte Steiner schon damals die »schicksalstragende Zeit«, die wenige Wochen später mit dem Peter-und-Pauls-Tag 1914 über die Menschheit hereinbrach? Ich weiß nur, daß dieser Mann in diesem Saal und vor diesen Leuten ein herrliches Erlebnis war, und daß mich dieses Erlebnis in eine ganz merkwürdige Stimmung versetzte. Da geschah nun folgendes: Steiner sah manchmal auf den Neuling in diesem Kreise und schien einige Sätze gleichsam für ihn zu sprechen. Es ist allerdings möglich, daß ich mich darin täuschte, jedenfalls wagte ich bei der nachfolgenden Unterredung nicht, davon zu reden. Was nun den Vortrag selbst betrifft, so dauerte es einige Zeit, ehe ich mich in Steiners Stimme und seine Art zu sprechen, hineinfand. Dennoch fesselten mich das Thema des Vortrages und die Art, es von höheren Gesichtspunkten aus zu beleuchten, auch schien mir, daß Steiner, indem er sprach (seine Rede war frei und wohlgegliedert), wie aus der Fülle seines Wissens redete und nur einen Ausschnitt daraus geben konnte. Nach dem Vortrage ward ich Steiner vorgestellt und da kam nun ein zweites; interessantes Erlebnis zustande. Steiner sah an mir vorbei wie auf einen Punkt außerhalb meines Blickfeldes und begann mit einemmal, als wüßte er, was ich augenblicklich arbeitete, von den Schwierigkeiten zu sprechen, die mir, der just mit einer neuen Übersetzung des Platonischen »Timaios« und einem Kommentar zu diesem dunklen und erhabenen Werk beschäftigt war, diese Arbeit in der Tat bereitete. Ich verbarg mein Erstaunen darüber nur schlecht, aber die Unterredung, im Verlaufe derer sich Steiner als vollkommen vertraut mit dem Gegenstand zeigte, dauerte länger, als den Anhängern, die danach lechzten, von Steiner ins Gespräch gezogen zu werden, angenehm war. Steiner reichte mir die Hand. Er sprach zu mir noch etlichemal in Wien, einmal über die Presse und ihre Bedeutung für die Geisteswissenschaft, sofern die Journalisten nur die Kraft hätten, sich von Vorurteilen und ihrem Hang zu Flüchtigkeiten freizumachen, die den Betrieb dieses Handwerks oft empfindlich schädigten. Für mich war, persönlich, die Sache Steiner schon nach dem Berliner Vortrage entschieden; ich gelobte mir, ihm im schweren Kampfe, den er zeitlebens mit Unverstand, Niedertracht und nicht selten mit eigenen Anhängern zu führen hatte, beizustehen und stürzte mich mit Feuereifer auf das Studium seiner Schriften und Zyklen. Ohne ihn zu sehen, ohne jemals in Dornach gewesen zu sein, stand ich fortab in fester, unlöslicher und inniger Verbindung mit ihm, und noch heute, da mehr als sechs Jahre nach seinem Tode verflossen sind, habe ich das sichere Gefühl, von ihm nicht verlassen zu sein, glücklich darüber, der Sache dienen zu dürfen, der er sein opfervolles Märtyrerleben geweiht hatte.

I.
Steiners Leben

Rudolf Steiner ist als Kind einfacher, kleiner katholischer Leute aus niederösterreichischem Bauernblut (die Wiege seiner Eltern stand im Waldviertel) am 27. Februar 1861 zu Kraljevek an der ungarisch-kroatischen Grenze geboren. Der Vater, Beamter der Südbahn, wechselte häufig den Dienstort, war in Mödling (Brunn am Gebirge), Pottschach und Neudörfl beschäftigt. In Neudörfl ging der kleine Rudolf in die Dorfschule und machte 1872 bis 1879 die Realschule in Wiener-Neustadt. Äußerlich betrachtet, lassen sich fünf Abschnitte seines Lebens unterscheiden: die Jugend- und Schulzeit von 1861 bis zur Absolvierung jener Realschule, 1879; die Wiener Studienzeit (technische Hochschule und Universität) vom Herbst 1879 bis zum Sommer 1890; die Weimarer Periode (Tätigkeit am Goethe- und Schillerarchiv, vom Herbst 1890 bis zum Sommer 1897); die Berliner und Münchener Zeit, vom Sommer 1897 bis zum Sommer 1914, in die, um die Jahrhundertwende, der Anfang der anthroposophischen Bewegung fällt, und endlich die letzte Lebensperiode in Stuttgart und Dornach vom Herbst 1914 bis zum Tode, am 30. März 1925; sie umfaßt den Bau des Goetheanums, das, ein Holzbau, durch Feuer zerstört wurde, die Begründung der allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft (zu Weihnachten 1923) und die Inangriffnahme des neuen, aus Beton gestalteten Goetheanums, das heute auf dem Hügel als ein Tempel neuer Gralssuche dasteht. Die Zeit von 1861 bis zum Theosophischen Kongreß, der, 1907, in München stattfand, hat Rudolf Steiner in seiner Selbstbiographie »Mein Lebensgang« geschildert, schlicht, bescheiden, Wahrhaftig und durchsichtig bis auf den Grund, in einem Buch, das unter allen Selbstbiographien eine ganz eigenartige Stellung einnimmt und sich in seiner Weise als ein hochwertiges Dokument der Zeit des Überganges vom 19. ins 20. Jahrhundert erweist. Mit großer, herzlicher Wärme, ganz besonders dort, wo es Persönlichkeiten und Verhältnisse behandelt, zu denen Rudolf Steiner vom Anfang an oder später in Gegensatz geriet, gibt dieses merkwürdige Buch, dessen seltsame, durchaus unliterarische Schönheit ich immer wieder aufs neue empfinde, ein Tableau von Menschen, Dingen und Meinungen, bunt, bewegt, farbig, fein und objektiv in den Hintergrund jener Zeit gezeichnet, wie es nur ein wahrhaft großer, sich selbst treuer Mensch in gleicher Klarheit zu entwerfen vermag. Die Welt, wie sie ihn formte und wie er sie später gestaltete, bestand aus scheinbar einfachen und doch vom Innersten her aufgewühlten Gefühls- und Denkelementen, die Steiner mit klarem Blick erfaßte und denen er das Material zu seiner auf eigener Schauung beruhenden Welt- und Lebenserkenntnis, sorgfältig ausgewählt, entnahm, ein Kämpfer und Versteher seiner Epoche, und diese mit ungeheurem Wissen, das ohne Beispiel dasteht, umspannend. Rudolf Steiner beginnt 1882/83 seine Tätigkeit als Schriftsteller und Literat in Zeitungen; um 83 nimmt er die Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in Angriff, ein monumentales Werk, das ihn durch viele Jahre (der 8. und 9. Band erschien 1892) beschäftigte und als grundlegendes und beispielgebendes Werk jedem, der ein vollkommenes und lückenloses Gesamtbild Goethescher Geistes- und Denkungsart gewinnen will, unentbehrlich geworden ist. Schon hier muß man wohl ein orientierendes Wort über Steiners Verhältnis zu Goethe anbringen, über jene ideale Verbundenheit und Wesensverwandtschaft, die gleichsam den Grundton zu Steiners Anfängen legte und die in unzähligen Schriften, Aufsätzen und eingestreuten Bemerkungen immer wiederkehrt, Goethes wissenschaftliches und denkerisches Porträt immer wieder um liebevoll und doch kritisch geschaute Details ergänzend. Noch heute zieht die exakte Wissenschaft ihr Amtsgesicht in hämische Falten, wenn vom »Wissenschafter« und Philosophen Goethe die Rede ist. Unfähig, die ganze Fülle und Fruchtbarkeit Goetheschen Denkens und Forschens auf sich wirken zu lassen, betrachten Fachleute der Naturwissenschaft und Kathederphilosophen Goethe gerne gleichsam als enfant terrible oder als einen Fachfremden von Distinktion, dessen wissenschaftliches Streben mehr den Charakter einer Liebhaberei mit liebenswürdig dilettantischen Zügen als den eines ernst zu nehmenden, selbständigen und wahrhaft schöpferischen Forschers zu tragen schien, der Goethe in Wahrheit gewesen ist. Mit diesem dünkelhaften Unverständnis für Goethes Geistesart räumte der junge Steiner (er war kaum über zwanzig Jahre alt, als er an diese Arbeit ging) gründlich auf. Schon Steiners Arbeit an den fünf Bänden der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes hätte an sich die Aufmerksamkeit aller Gelehrten in hohem Maße erregen müssen; offenbarte sie doch einen so umfassenden, kritischen, ordnenden, weitblickenden und alle Tatsachen umfassenden Geist, daß man kaum begreift, wie ein so junger Mensch imstande war, ein Wissen von solchem Umfang und solcher Tiefe des Blickes in so kurzer Zeit anzusammeln und schöpferisch zu verarbeiten. Dieses Moment zu betonen, ist schon deshalb so wichtig und unerläßlich, als in herabsetzenden und einfältigen Darstellungen über den modernen Okkultismus, die im Umlauf sind, Steiner immer wieder als unwissenschaftlicher Kopf und nebuloser Mystiker geschildert wird, dem »unkritische Naturen« leider in ausreichendem Maße »hineingefallen« sind, weil sie seine »phantastischen« Darstellungen der übersinnlichen Welten urteils- und widerspruchslos als gegeben hinnähmen. Ein Blick auf diese fünf Bände Goethe, die Steiner mit ausführlichen Einleitungen und gründlichen Anmerkungen versah, sollte diese ebenso sonderbaren als dreisten Stimmen bald verstummen machen.

II.
Die Gegensätze Goethe : Kant

Zweierlei offenbarte sich, für ein Auge, wie es Rudolf Steiner eigen war, im Genie Goethes: des Dichters besondere Art, die Dinge zu sehen, die Natur auf sich wirken zu lassen und Wissenschaft über die Rätsel der Natur nur aus dieser selbst zu holen und, zum andernmal, Goethes Kenntnis der übersinnlichen Welten, geoffenbart, im Gedichtfragment »Die Geheimnisse«, im »Märchen«, das die »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter« krönt, und im »Faust«, der, obwohl ein Dichtwerk der freien Phantasie, in vielen Teilen, unbewußt, aus den höheren Welten empfangen ist; als ein viertes Symptom für Goethes Okkultismus ist wohl die Arbeit des alten Goethe im Gartenhäuschen anzusehen, die er vor neugierigen Blicken wohl zu verbergen wußte, die er aber im Tagebuch mit seltsamen Ausdrücken bezeichnete; über diesen Punkt hat Steiner, soweit bis jetzt bekannt ist, allerdings nicht gesprochen. Was nun die zuerst genannte Seite im Verhältnis Steiners zu Goethe anlangt, so ist sie mit eine der Grundlagen dafür geworden, was man Steiners erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaft nennen kann. Von 1883 an, da er an den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes zu arbeiten beginnt, bis 1902, da seine Schrift »Goethes Faust als Bild seiner esoterischen Weltanschauung« erscheint, hat Rudolf Steiner, durch die Beschäftigung mit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis Goethes reich befruchtet, gleichsam das Gebäude seiner erkenntniskritischen Voraussetzungen für die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft ausgebaut, die, allerdings, weit über Goethe hinausgeht, indem sie die bei Goethe bloß keimhaft vorhandenen Anschauungen bewußt zu übersinnlicher Anschauung und Erkenntnis entwickelt. Steiner stellt zunächst die Grundlinien einer Erkenntnistheorie in Goethes Weltanschauung (mit besonderer Rücksicht auf Schiller) fest, und gelangt, nach einem Ausflug in »Goethes Ästhetik«, 1889, zwei Jahre später, auf dem Boden seiner Rostocker Dissertation zur »Grundfrage der Erkenntnistheorie«, das ist zur »Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst«; von hier, 1892, über »Wahrheit und Wissenschaft«, eine Schrift, die auf jener Dissertation ruht, zur grundlegenden Auseinandersetzung über eine »moderne Weltanschauung«, betitelt »Philosophie der Freiheit, 1894, der »Goethes Weltanschauung« (1897) und die »Welt- und Lebensanschauungen im XIX. Jahrhundert« (1899) folgen. Es ist ein erlesenes Vergnügen, Steiners Entwicklungsgang bis zu diesem Punkte zu verfolgen, da seine ersten hellseherischen Anfänge einsetzen, durch die Beschäftigung mit den philosophischen Problemen jener Zeit (an Goethe orientiert) wohl gestützt und vor dem Verfall in nebelhafte Mystik weise bewahrt. Ein junger Siegfried bahnt sich hier, mit dem selbstgeschmiedeten dialektischen Schwert, einem Vermächtnis Goethes, in der Hand, durch die Lohe der damaligen Naturwissenschaft zum Felsen, darauf die reine Erkenntnis übersinnlicher Welten, in tiefem Schlafe ruhte, der Erweckung harrend. Steiner selbst schildert diesen Entwicklungsgang in überaus anziehender Weise, seine Selbstbiographie wird hier zur spannenden Lektüre: sie erzählt die Geschichte eines erleuchteten Menschen, der sich in seinem dunklen Drange des rechten Weges wohlbewußt ist. Ich kann die Ergebnisse dieses Prozesses hier nur in ganz kurzen Zügen andeuten, schon weil der Prozeß selbst wohl geeignet ist, die boshafte Legende zu zerstören, als hätte Steiner hinterdrein versucht, seine Philosophie der »Freiheit« auf Anthroposophie umzufrisieren und den »Übergang zur Theosophie« durch philosophische und erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen zu bemänteln. Alle diese Einwände, erhoben von Leuten, die muntererweise gar nichts daran fanden, daß die Hüter des Goethehortes von heute auf den blasphemischen, Goethes Weltanschauung geradezu parodierenden Einfall kamen, Sigmund Freud, trotz seines absoluten Gegensatzes zu Goethe und damit, rundweg herausgesagt, Goethes Widerspiel, durch den Goethepreis zu ehren, alle diese Einwände fallen sofort in Nichts zusammen, wenn man, von Steiners Selbstbiographie geführt, die geistige Wanderung Steiners zur übersinnlichen Erkenntnis in der Erinnerung neu belebt. Wer, wie Steiner, der den tieferen Blick für Goethes Wesen vom Anfang an besaß, von Goethes Geistesart ausgeht, zweigt schon, in dieser rein äußerlichen Stellungnahme, bewußt von Kant ab. Kants Natur war völlig ungeeignet, die Natur anders zu erleben denn in ihrer Auflösung im menschlichen Geiste. Unterscheidet Kant Natur und Geist, so wird Natur bei Goethe selbst Geist. Darum durfte Goethe ganz aufrichtig sagen, daß Kants »Kritik der reinen Vernunft« gänzlich außerhalb seines Kreises blieb; das Ichselbst und die Außenwelt streng voneinander zu sondern, war Goethe nicht gegeben; er fand, wie er selbst äußert, den Grundirrtum Kants darin, daß Kant das »subjektive Erkenntnisvermögen selbst als Objekt« setzte. Nicht der Mensch spricht für ihn über die Natur, sondern die Natur im Menschen und durch den Menschen. Mit dieser Überzeugung wußte sich Goethe zugleich im Gegensatz zu Schiller, auf den Kant weit stärker einwirkte. Wie dem auch sei, das Geheimnis der tiefen Verbundenheit Steiners mit Goethes Geistesart, im »Goetheanum« zu Dornach für immer, auch nach außen, geoffenbart, ruht auf dem Grunde dessen, was Steiner als neues Wissen um die Welt und den Menschen der Erde gab.

III.
Kant, Hartmann, Nietzsche in Steiners Entwicklung

In »Wahrheit und Wissenschaft« gibt Steiner eine klare Auseinandersetzung mit Kant. Steiner ging es in diesem »Vorspiel einer Philosophie der Freiheit« darum, die Natur des Wissens selbst festzustellen und das wichtigste Problem alles menschlichen Denkens darin zu erblicken, daß es den Menschen als auf sich selbst gegründete, freie Persönlichkeit begreife. Der junge Hauslehrer und Erzieher Rudolf Steiner verbrachte, in den Achtzigerjahren, die Spätabende am Attersee damit, an Hartmanns Schriften, die damals in hohem Ansehen standen, »immer größere Sicherheit« für die eigenen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte zu gewinnen. Für Goethes Art der Erkenntnis gab es keine »Erkenntnistheorie« im Sinne der damaligen Zeit. Waren »Wahrheit und Wissenschaft« schon Eduard v. Hartmann in Verehrung gewidmet, so ging das erste Exemplar der »Philosophie der Freiheit«, noch warm vom Druck, an den Philosophen, der, wie sich bald darauf zeigte, die Quellen und Ziele Steinerschen Denkens vollkommen mißverstand, was in Steiners Lebensbeschreibung mit der Steiner eigentümlichen Gründlichkeit und Objektivität geschildert wird. Steiner sah in diesem berühmten Buche, das die zünftige Kathederphilosophie mit Geringschätzung beiseite schob, die Möglichkeit eines vollkommenen Zusammenseins von Seele und Geistwelt. Der alte Irrtum, die erkennende Seele müsse sich, um zu erkennen, von dem zu Erkennenden streng sondern, verschwand hier und löste sich in Nichts auf. An diesem Punkte läßt sich übrigens eine wichtige Seite Steinerschen Denkens mit Gewinn betrachten. Die größte Schwierigkeit für jene, die nicht fassen konnten, daß es ein leibfreies Bewußtsein gebe, lag darin, einzusehen, wie ein solches leibfreies Bewußtsein dann wieder in den Körperbereich »zurückfinde«, um seine in der übersinnlichen Welt erworbene Erkenntnis auf die Welt der gewöhnlichen materiellen Erkenntnisart zu übertragen und in dieser Welt zu verwerten. In diesem Sinne gibt es auch bei Steiner, wie in Kants »Kritik der reinen Vernunft« (bei Steiner allerdings nur scheinbar) ein besonders schwieriges und dunkles Kapitel: dort den »Schematismus der reinen Verstandesbegriffe«, hier den Schematismus der »unbewußt« und den objektiven Geist untersuchenden erkennenden Seele, die das »vollkommen Wesenhafte« bei voller »Selbstbesinnung« wieder ins Bewußtsein hereinbringt. In der Geistwelt kann die erkennende Seele auch zu den Ideen vordringen und die Welt der sittlichen Impulse erleben. Ein für allemal war in der »Philosophie der Freiheit« gezeigt, daß die Welt unserer Sinne in Wirklichkeit von geistiger Beschaffenheit ist, daß also der Mensch, als seelisches Wesen, durch wahre Erkenntnis der Sinneswelt im Geistigen lebe und webe. Lag hier das eine Ziel der »Philosophie der Freiheit«, so sah Steiner eine zweite Bestimmung seines Buches in der durch die Kraft der moralischen Phantasie erlebten moralischen Welt, die den Menschen in Freiheit an sich herankommen läßt. Hartmann war außerstande, diese Impulse zu verstehen; er sah in Steiners Buch nichts als eine willkürliche Kuppelung des »erkenntnistheoretischen Phänomenalismus« mit dem »ethischen Individualismus«. Die Gestalt, die Steiner seinen Ideen gab, war, nach den ersten drei Jahrzehnten seines Lebens, durch seine damalige Seelenverfassung gegeben. Die »Philosophie der Freiheit« birgt gleichsam die Grundzeichnung der späteren Anthroposophie; die Natur offenbart sich, durch Steiners Erlebnis der geistigen Welt, in unmittelbarer Anschauung als Geist, und eine zeitgemäße Naturwissenschaft sollte aus diesem Erlebnis aufblühen. Der »weitere Weg« von dieser »Philosophie der Freiheit« zu der »Ideengestaltung« für die geistige Welt selbst, war damit skizziert und ward von Steiner mit strenger Konsequenz eingeschlagen. Daß der Ausdruck »Anthroposophie« für die zeitgemäße Erkenntnis nicht schon damals gebraucht wurde, kam daher, daß Steiners Denken und Schauen, immer nach Anschauungen drängend, den Wunsch einer bestimmten Namengebung noch nicht empfand. Mit dem Ringen nach einer Ideengestaltung für die geistige Welt sind die zehn Lebensjahre Steiners, von 1891 bis 1901, erfüllt. In diese Zeit fiel auch die nach der Lage der Dinge unvermeidliche Berührung mit Friedrich Nietzsche, mit diesem »Kritiker der Zeit, den seine eigene Kritik krank machte«; daß Nietzsche diese Krankheit erleben mußte, um seinen Traum von Gesundheit und Lebensbejahung zu träumen, hat Steiner als Erster ausgesprochen; 1895 erschien als Frucht dieser Berührung »Nietzsche als Kämpfer gegen seine Zeit«; schon früher hatte Steiner die Bekanntschaft mit Elisabeth Förster-Nietzsche gemacht, die nach Weimar gekommen war, um, nach dem Muster des Goethe- und Schillerarchivs, die Anlage eines Nietzschearchivs zu entwerfen. Über dieser Begegnung stand allerdings kein günstiger Stern; es kam später zu schweren Konflikten zwischen Steiner und der Schwester Nietzsches. Steiner, die ganze Bitterkeit jener unseligen Tage empfindend, blieb der genialen, aber sehr streitsüchtigen Frau doch dankbar für ein besonderes Erlebnis: für einen Besuch beim Umnachteten, den Steiner mit edelster Ergriffenheit schildert. Am Ende seiner Weimarer Zeit stand Steiner in seinem 36. Lebensjahre; in diese Zeit fällt auch die Entscheidung über sein weiteres Leben, Wirken und Denken. Bis zum Jahre 1897 gab es einen Hofmeister, einen Journalisten und Kritiker, einen Gelehrten Steiner, der, trotz seiner Jugend, zu ernster und schwieriger Arbeit an Goethes Schriften berufen, an den Dingen und Umständen seines Lebens innerlich wuchs. Kein Mensch ahnte im Rudolf Steiner jener Zeit den künftigen Welten- und Menschheitslehrer Rudolf Steiner, nur Eingeweihte hätten es an Symptomen besonderer Art feststellen können; wußten sie doch oder hätten wissen müssen, daß gegen das Ende der Siebzigerjahre ein Wechsel in den Impulsen eintrat und das Wort Mensch neuen Klang bekam. Steiners literarisches Wirken setzt mathematisch fast genau mit dem Beginn der Achtzigerjahre ein. Wir werden später sehen, daß diese Impulse, in Rudolf Steiner besonders wirksam, Michaelimpulse sind, eine Vorstellung, die richtige Exaktler zur Verzweiflung bringen mag, obschon gerade diese ihre Verzweiflung mit zum Bilde gehört und darin eingeschlossen liegt. Das Lebenswerk Rudolf Steiners zeigt erstaunliche Einheitlichkeit, und die Gliederungen, die darin zutage treten, sind durchaus im menschlichen Seelenleben begründet; sie weisen nicht etwa einen logischen Fortschritt, wohl aber die Gesetzlichkeit einer »verwirklichenden Entwicklung« auf. Der erste Abschnitt in Steiners Schaffen, repräsentiert durch die Schriften der Achtziger- und der ersten Neunziger Jahre, betonen mehr den Gedanken, die Schriften aus der Zeit der Jahrhundertwende mehr das Gefühl und die eigentlichen anthroposophischen Schriften der letzten Jahre mehr den Willen, der zur Tat geworden. Immer aber erscheinen Aspekte, die in den beiden früheren Abschnitten gleichsam als Verheißungen auftreten, später, als Taten, aus dem Willensimpulse erfüllt. Um so interessanter ist es, wenn man Steiners Anthroposophie erfaßt und in immer wieder erneuter Arbeit sozusagen dem eigenen Wesen einverleibt hat, zu den Schriften einer früheren Epoche zurückzukehren. Sie erscheinen dann dem prüfenden Auge in neuem und glänzendem Licht, ein Erlebnis, das ich besonders mit Steiners »Philosophie der Freiheit« hatte; sie ist unendlich mehr als ein philosophisches Buch: ein Dokument von überragender Kraft, die allerdings den Philosophiebeamten von gestern und heute nur schwer bewußt wird; enthält sie doch neben der Erledigung des Kantschen Denkens schon die Christuslehre Rudolf Steiners! Von diesem Gesichtspunkte aus wird man wohl auch verstehen, wenn Steiner in seiner Selbstbiographie (XXII) von sich selbst sagt, sein gesamtes Beobachtungsvermögen habe sich nach der Richtung der Genauigkeit und Eindringlichkeit, im 36. Lebensjahre umgestaltet: das Gefühl gab seinem Denken neuen Antrieb. Einzelheiten wurden ihm wichtig, die Sinneswelt begann, ihm zu enthüllen, was nur sie zu enthüllen vermag.

IV.
Der Philosoph auf dem Wege zu Christus

Sechsunddreißig Jahre alt und die Weimarer Zeit hinter sich, entdeckte Steiner, daß die Wesen und Vorgänge der physischen Welt ganz anders zu ihm sprachen als bisher; »Ich hatte das Gefühl«, so schreibt er in seiner schlichten Art, aller schriftstellerischen Koketterie fern und einzig darauf bedacht, sich selbst und seiner Zeit wahrheitsgetreuen Bericht über seinen Entwicklungsgang zu geben, »die Sinneswelt habe etwas zu enthüllen, was nur sie enthüllen kann«. Der Mensch als Rätsel ist des Rätsels Lösung in einem. Es ist ungeheuer spannend zu verfolgen, wie Rudolf Steiner hier dem Hange ausweicht, Mystiker zu werden, das heißt: ein Mensch, der den Zusammenhang mit der Welt nach und nach verliert. Dinge, wie sie Steiner um diese Zeit erlebt, zeigen sich zunächst bloß im Gefühl; eine gewisse Bequemlichkeit und wohl auch offene Gegnerschaft gegen das Getriebe der Welt mögen den Wunsch mystischer Naturen, nicht dabei zu bleiben, sondern gänzlich im Meere der Mystik unterzutauchen und der Welt bei der ersten besten Gelegenheit zu entwischen, heimlich nähren, wofür es in der Geschichte der Mystik wahrhaftig der Beispiele genug gibt. »In das Licht gerückt«, darin »sich die Ideen offenbaren«, hebt Steiner das mystische »Erfühlen« mit einem Ruck ans Licht des Tages und schöpft daraus immer klarere Erkenntnis. Dreieinhalb Jahre nach »Goethes Weltanschauung« und der Einleitung zum letzten Bande der Kürschnerschen Goetheausgabe, mit einem Überblick über die »Welt- und Lebensanschauungen im XIX. Jahrhundert« beschäftigt, hatte Steiner wieder ein großes Stück des Weges im Eilschritt durchlebt. Das Abenteuer der Mystik war überwunden, die Meditation in ihrer Bedeutung für die Erkenntnis nach allen Seiten klargestellt; es zeigt sich ihm nun eine neue Landschaft der Einsicht, in Stufen geteilt, die später ganz genau, auch begrifflich klar und unzweideutig, geschildert werden: als Aufstiege von der materiellen Erkenntnisart (mit Gegenstand, Bild und Begriff, ohne Gegenstand), zur Inspiration (Begriff, ohne Bild und Gegenstand) und zur Intuition (das Ich allein, alles umfassend und in allem enthalten). Was Steiner in seinem minutiösen Bericht als Erlebnis hier wiedergibt, ist nichts anderes, als eine Entdeckungsreise in das innere Wesen des Menschen, zum Bewußtsein des »inneren, geistigen Menschen«, der, losgelöst vom physischen Organismus, lebt, wahrnimmt und sich bewegt! Wer angesichts solcher Begebenheiten noch den Mut aufbringt, einzuwenden, Steiner habe sich in »Autosuggestion« geübt, weiß ebensowenig von der geistigseelischen Art eines Menschen wie Steiner, noch überhaupt, was Autosuggestion ist. Die gespenstige Formel des »Dings an sich«, war mit einemmal spielend überwunden. In diese Zeit mächtiger Wandlungen fällt nun Steiners Berufung an das »Magazin für Literatur des Auslandes«, einer alten, im Todesjahre Goethes (1832) gegründeten Wochenschrift; im Juli 1897 übernimmt er, zusammen mit Otto Erich Hartleben, die Redaktion dieser Zeitschrift. Er unterwirft sich diesem Abschnitt seines Karmas mit einer Geduld und Größe, die nur Eingeweihten gegeben sind. Die Menschen um das »Magazin« und die »Freie literarische Gesellschaft« waren ganz deutlich in Steiners »Schicksal verwoben«; er allein wußte, warum gerade er auf diesem Platze stand, die anderen ahnten es kaum. Im November 1901 erscheint Steiners letzte Arbeit für das »Magazin«, »Tolstoj und Nietzsche«, als Autoreferat eines Vortrages, den Steiner am 22. Oktober dieses Jahres in der »Freien Literarischen Gesellschaft« hielt. Sein Abschied von der Redaktion des »Magazins« war schon am 29. September 1900 erfolgt, und 1901 erscheint Steiners erstes okkultes Werk: »Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zu den modernen Weltanschauungen« und in einer Leipziger Zeitschrift für Theosophie, Dezember: 1901 Steiners erster »theosophischer« Aufsatz. In einer überaus anziehenden und liebevollen Weise hat Dr. H. E. Lauer in zwei Nummern der »österreichischen Blätter für freies Geistesleben« (1927) Steiners Wirken am »Magazin« geschildert. »Ein Sänger ohne Publikum« ist Rudolf Steiner in den Augen der naturwissenschaftlichen Kreise immer geblieben. In diesem Bereich, für den Mut konsequenten Denkens, vor allem für den Mut zum »Zu-Ende-Denken«, war kein Echo aufzutreiben. Ein anderes Echo aber meldete sich gleichsam von selbst; der Lindwurm (durch Steiners Siegfriedshorn aus dem Schlafe geweckt), der die Höhle der okkulten Geheimnisse vor der andringenden Geisteswissenschaft bewachte: die Theosophie! Von der »Mystik im Aufgang« und dem »Christentum als mystischer Tatsache«, diesen beiden Grundsäulen am Eingange der Anthroposophie, soll gleich im weiteren die Rede sein; um ihres eigenartigen Reizes willen mag aber vorher noch Steiners Erlebnis mit dem Giordano-Bruno-Bund gestreift werden. In einem Vortrag über »Monismus« bekannte Rudolf Steiner ganz offenherzig, die schroffe Scheidung von Stoff und Geist sei im Grunde nur eine Erfindung der neuesten Zeit; diesem Dualismus stand, ganz richtig und unzweideutig, der Monismus der Scholastik gegenüber, womit die Scholastik im Grunde höher gestellt war als Kant und seine Lehre. Das bloße Wort »Scholastik«, noch heute ein rotes Tuch für jede Sorte der »Feld-, Wald- und Wiesenfreidenkerschaft«, brachte Steiner natürlich sofort in schroffen Gegensatz zu der Brunogesellschaft, die »Verrat« witterte und den Verdacht im Busen hegte, Steiner wolle den Bund an den Katholizismus ausliefern; so erschien Steiner den Freidenkern bald als Jesuit, indes es eine Menge von Leuten gab, die ihn senkrecht für einen Materialisten erklärten. Die Aufforderung an Rudolf Steiner, im engeren Kreise vor Angehörigen der Theosophischen Gesellschaft zu sprechen, fällt in das Jahr 1900. Als Frucht dieser Berührung sind eben jene beiden Schriften: »Mystik im Aufgang« und Christentum als »mystische Tatsache« anzusehen.

V.
Die Leidensstation: Theosophie

Es ist durchaus nötig, hier einem Generaleinwand gegen Steiner, als habe er die »Theosophie« und die »Theosophische Gesellschaft« einfach als »Sprungbrett« benützt, mit einigen entscheidenden Sätzen zu begegnen. »Ich nahm«, sagt Steiner bei Erörterung der Frage, wie weit das Verbot der Geheimhaltung für esoterisches Wissen bestehe, »von alter Weisheit nichts an; was ich an Geisterkenntnis habe, ist durchaus Ergebnis meiner eigenen Forschung; nur, wenn sich mir eine Erkenntnis ergeben hat, da ziehe ich dasjenige heran, was von irgend einer Seite an ›altem Wissen‹ schon veröffentlicht ist, um die Übereinstimmung und zugleich den Fortschritt zu zeigen, der der gegenwärtigen Forschung möglich ist.« Schon seit den Achtziger jähren beschäftigten Steiner Imaginationen, die mit Goethes »Märchen« zusammenhingen und die er 1899 unter dem Titel »Goethes geheime Offenbarung« im Druck erscheinen ließ. Um die Jahrhundertwende kam dann die Aufforderung durch das gräfliche Paar Brockdorff, das Steiner bat, im Rahmen allwöchentlicher Veranstaltungen zu sprechen. Steiner sprach zunächst über Nietzsche, trat aber erst in einem zweiten Vortrag über das eben angegebene Thema (Goethes geheime Offenbarung) offen mit esoterischen Erkenntnissen vor seine Zuhörer, also mit einem Thema, das dem Kreise der damaligen Theosophie vollkommen fernstand. Das Ehepaar Brockdorff spielte eine führende Rolle in der von der Blavatsky gegründeten theosophischen Gesellschaft; von Brockdorffs aufgefordert, auch vor rein theosophischen Zuhörern zu sprechen, bemerkte Steiner sofort und prinzipiell, daß er nur darüber, was in ihm selbst als Geisteswissenschaft lebe, sprechen wolle und könne. Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit zu Beginn der Jahrhundertwende spürte Steiner den Gegensatz seiner schon damals Anthroposophie genannten Geisteswissenschaft zu dem, was damals durch die theosophische Gesellschaft verbreitet wurde, und eine Reihe von Vorträgen aus jener Zeit markiert Steiners Weg ganz deutlich; er sprach über »Mystik im Aufgange«, »Von Buddha zu Christus«, über das »Wesen der Mysterien«, über Goethes »Faust« vom esoterischen Gesichtspunkt aus und schließlich über das »Christentum als mystische Tatsache«, lauter Themen, die unter Theosophen und für theosophische Ohren keineswegs theosophisch im indischen Sinne klangen. Nirgends im Rahmen der theosophischen Gesellschaft hätte man über solche Dinge in dieser Art sprechen können, ohne Befremden zu erregen und offenen Widerstand hervorzurufen. Zu dem, was man bei einigem Wohlwollen für die Theosophen von damals theosophische Dogmatik hätte nennen können, stand Steiner schon damals in Widerspruch, noch ehe die deutsche Sektion der Gesellschaft mit Steiner als deutschem Generalsekretär begründet wurde, sogar in schroffem Gegensatz (Londoner Kongreß, 1902). Das einzige, was die Theosophie diesem Manne zu bieten vermochte, bestand in einem ständigen Hörerkreis, der auf geistgemäße Vorträge eingestellt war und für solche Interesse zeigte. In seiner »Mystik im Aufgange« stellte sich Steiner die Frage der Zusammenhänge zwischen den Anfängen des gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Denkens (in der Zeit vom 13. bis zum 17. Jahrhundert) mit jener besonderen Gestalt der Mystik, wie sie durch Meister Eckhart, Nicolaus von Cuës, Agrippa von Nettesheim und Theophrastus Parazelsus, durch Valentin Weigel und Jakob Böhme, durch Giordano Bruno und Angelus Silesius vertreten wird. Was die führenden Mystiker jener Zeit zu sagen hatten, steht in einem starken Gegensatz zu den Erkenntniskräften, wie sie im 13. und 14. Jahrhundert in der europäischen Menschheit auftraten. Wer ein unbefangenes Auge für diese Problemstellung hat, der kann sich gewiß auch zusammenreimen, wie sich Steiners enges Verhältnis zur Ideenwelt Ernst Haeckels gleichzeitig mit der Ideenwelt der deutschen Mystiker vertrug. Zweieinhalb Jahrhunderte waren verflossen, seit Angelus Silesius im »Cherubinischen Wandersmann« die Weisheit seiner Vorgänger sammelte; da standen nun Goethes Geistesart und naturwissenschaftliche Denkweise auf der einen, die moderne Naturwissenschaft mit Lamarck, Darwin und Haeckel auf der anderen Seite. Dennoch ließ sich, durch geistgemäßes Denken, eine unterirdische Verbindung herstellen, die Steiner mit seinem genialen Blick erkannte und schon verarbeitet hatte, während seine Gegner noch bei den scheinbaren Widersprüchen in Steiners Seele verweilten. In den bedeutsamen Jahren der Jahrhundertwende 1902 vor allem, das als Beginn der deutschen Sektion und als Anfangsjahr für die gemeinsame Tätigkeit Rudolf Steiners und Marie von Sievers anzusehen ist, kann man den geistigen Grundriß des Riesengebäudes der Anthroposophie schon deutlich ersehen, gekennzeichnet durch die Erkenntnis des Christentums als einer »mystischen Tatsache« und niedergelegt in Vorträgen, die heute erst zugänglich geworden sind und die ein spannendes Bild der inneren Situation des großen Anthroposophen und Menschheitslehrers geben. Die theosophische Gesellschaft war eine auf dem Spiritismus und auf Inspiration durch »Meister« ruhende, stark dogmatische Sekte mit dilettantischen Zügen geworden. Daß diese Bestrebungen schon in der Anlage verfehlt waren und daß Rudolf Steiner nichts mit ihnen zu tun haben konnte, versteht sich von selbst. Schon 1906 zeigten sich offenkundige Anzeichen des Verfalls, die dann ihren Gipfel in der Gründung eines besonderen Ordens fanden, der »Stern des Ostens« genannt wurde und der zu dem Zwecke gegründet war, um den Hinduknaben Krishamurti dem christlichen Wesen als neuen Erlöser und Menschheitslehrer aufzuzwingen. Innerlich war der Bruch schon 1906 vorhanden; wohl versuchte Steiner anfangs, was er als Anthroposoph zu sagen hatte, im Rahmen der theosophischen Gesellschaft zu geben, aber seine Anthroposophie löste sich als heller, reiner und idealer Kern schon 1913 von der faulenden theosophischen Schale los.

VI.
Christentum und Theosophie

Der okkulte Entwicklungsgang Steiners geht nun vollbewußt, herbeigeführt durch eine Überfülle esoterischer Erkenntnis, die sich seinem schauenden Blicke ergab, ihren Weg, dessen Hauptlinie durch seine drei großen, grundlegenden Bücher »Theosophie«, »Geheimwissenschaft im Umriß« und »Wie erlangt man ...« als durch drei gewaltige Merksteine für immer bezeichnet wird. Sie fallen in die Jahre 1904 (Theosophie), 1909 (Wie erlangt man ...) und 1910 (Geheimwissenschaft im Umriß). 1903 begründet Steiner das Erscheinen einer Zeitschrift für Seelenleben und Geisteskultur, Theosophie, genannt »Lucifer« (560 in der Zahl der Steinerschen Publikationen); hier sammelt er zunächst gleichsam das Material zu den übersinnlichen Mitteilungen, die in seinen Büchern und Vorträgen zusammengefaßt sind, von Arbeiten über Dr. Faust, J. G. Fichte, Meister Eckhardt und Angelus Silesius bis zur Theosophie, als »Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung« und zur Erneuerung des »Luzifer« in Gestalt einer »Lucifer-Gnosis«, die 1908 mit Arbeiten »über die Stufen der höheren Erkenntnis« (Inspiration und Intuition) und »zur Akashachronik« aufhört. 1909 nimmt der philosophisch-theosophische Verlag (Berlin) Steiners weitere Publikationen auf. Die erste Auflage der »Theosophie«, die bis zum heutigen Tage nicht weniger als zwanzig Auflagen erlebte, 1904 in Berlin erschienen, ist noch »dem Geiste Giordano Brunos gewidmet«, ein Vermerk, der schon in der zweiten Auflage verschwand, offenbar, weil das Treiben der Freidenker den Begriff Giordano Bruno mit Bestrebungen verband, die Steiner weder fördern wollte, noch aus inneren Gründen konnte. Vergleicht man Steiners »Theosophie«, die eigentlich schon eine Art Einleitung in seine Anthroposophie ist, mit Publikationen der theosophischen Gesellschaft, so springt der tiefgehende Unterschied zwischen Steiner und den Theosophen, die Steiner »als Sprungbrett« benützte, sofort ins Auge; seine Schrift läßt keinen Augenblick Zweifel darüber, daß sie vom Autor des »Christentums als mystische Tatsache« stammt. Nach einer Einleitung, in der Steiner, von J. G. Fichte ausgehend, feststellt, daß man nicht im vollen Sinne des Wortes Mensch sein kann, ohne der durch das Wissen vom Übersinnlichen enthüllten Wesenheit und Bestimmung des Menschen in irgend einer Art nahegetreten zu sein, daß das Höchste, zu dem der Mensch aufzublicken vermöge, das »Göttliche« genannt wird, daß man übersinnliches Wissen in gewissem Sinne auch »Theosophie« nennen dürfe, während der Betrachtung geistiger Vorgänge im Menschenleben und im Weltall die Bezeichnung »Geisteswissenschaft« gebührt, und daß er endlich in seinem. Buche nichts dargestellt habe, was nicht aus dem »Schauen des Geistes« stammte und für ihn nicht etwa als Tatsache in Betracht käme, befaßt sich Steiner mit dem Wesen des Menschen und dessen drei Wesensseiten, die durch die drei Worte Leib, Seele und Geist ausgedrückt werden. Für den oberflächlichen Leser mag dieses Festhalten an der Dreifältigkeit des menschlichen Wesens zunächst als pedantisch erscheinen, da der Durchschnittsmensch in der Gewohnheit hat, von Leib und Seele zu sprechen, mit denen er das Geistige in einer dunklen und ungenauen Weise verbindet. Der abendländische Mensch kann, wenn er in dieser oberflächlichen Art einem seichten Dualismus in der Auffassung des Menschenwesens huldigt, die Bedeutung jener Dreifältigkeit kaum ermessen, aber eine Ahnung von der Wichtigkeit dieses Problems geht ihm doch auf, sobald er daran erinnert wird, daß im Konzil zu Konstantinopel 381 die Wesensgleichheit des Vaters mit dem Sohne und damit das Dogma zum Durchbruche kam, den Heiligen Geist vom Vater und vom Sohne ausgehen zu lassen, womit der Boden für einen späteren Beschluß vorbereitet war; für das Konzil von Konstantinopel, abgehalten just in der »Hagia Sophia«, in der Kirche zur heiligen Weisheit, das vom 5. Oktober 869 bis zum 28. Februar 870 tagte und den Lehrsatz verdammte, der Mensch habe zwei Seelen (Seele und Geist), indes das alte und neue Testament lehre, daß der Mensch bloß eine verständige und vernünftige Seele besitze. Umsonst wies Paulus auf den »seelischen Menschen« hin, der nicht annimmt, was vom Geiste Gottes ist, indes der geistige Mensch alles ergründet, ohne selbst von jemandem ergründet zu werden, vergeblich unterschied er Soma (Körper), Psyche (Seele) und Pneuma (Geist) und sagt vom Logos, daß dieser bis in die Fuge von Seele und Geist eindringe: von jenem verhängnisvollen Konzil ab war es unchristlich, wie zu Zeiten Platos, der Gnostiker und des Manichäismus, von Leib, Seele und Geist zu sprechen. Mit diesem Beschluß öffnete die »Kirche Christi«, indem sie sich geistigen Impulsen verschloß, den materialistischen Vorstellungen von »Funktionen« des Gehirns alle Pforten in das kirchlichreligiöse Leben, es begann die verheerende Epoche einer ungeistigen Auslegung der Bibel unter voller Preisgabe der Weisheit des Origines. Noch bei Luther finden sich schwache Ansätze, den Geist zu retten, aber jene Entwicklung, die im Protestantismus zur Heraufkunft der materialistischen Naturwissenschaft und Begründung einer ungeistigen Philosophie führte, war nicht mehr aufzuhalten, sie schloß mit dem Verlust auch der Seele. Wie dem immer wäre: in Steiners Theosophie, der grundlegenden Schrift seiner anthroposophischen Wissenschaft, lebt die alte heilige Dreiteilung in Leib, Seele und Geist feierlich auf, logisch begründet. Steiners Geisteswissenschaft steht streng und sachlich auf dem christlichen Boden.

VII.
Grundzüge der Geisteswissenschaft

Steiners Anthroposophie ruht auf der Grundlage der Dreiteilung des menschlichen Wesens: durch seinen Leib ist der Mensch seiner Umwelt verwandt, aus deren Stoffen sein Leibliches zusammengesetzt ist, das Seelische, leiblicher Anschauung entzogen, trägt der Mensch als seine eigene Welt in sich, mit seinem Geist aber erfaßt er eine Welt, die, »über Leib und Seele erhaben«, in der einigen geistigen Welt wurzelt; so gehört der Erdenpilger drei Welten als Bürger an, die er gedanklich von einander zu unterscheiden vermag. In seinem Leibe findet er die drei Formen des irdischen Daseins, die steinhafte, pflanzenartige und tierische, vermehrt um eine eigene, zu den anderen Formen hinzutretende menschliche, denn durch sein Menschentum bildet er, neben den drei Reichen der Natur, sein eigenes Reich, eben das Reich des Menschen. Der Mensch, das Menschenreich, bildet und hat seine eigene Innenwelt; schon seine Sinnesempfindung ist seelisches Erleben, das mit bloßen Gehirnvorgängen nichts zu tun hat; an die Sinnesempfindung schließt sich das Gefühl (Behagen, Mißbehagen, Lust und Unlust, Sympathie und Antipathie), an das Gefühl aber der Wille, durch den der Mensch auf die Außenwelt zurückwirkt. Die Leiblichkeit wird zum Untergrunde der seelischen Wesenheit des Menschen. Indes: das Seelische des Menschen wird nicht allein durch den Leib bestimmt. Seine Wahrnehmungen und Handlungen werden vom Denken geleitet; den Denkgesetzen unterwirft er sich selbst, womit er sich in eine höhere Ordnung einfügt, in die geistige Ordnung. Fortpflanzung und Wachstum haben Mensch, Tier und Pflanze gemein, wodurch sie sich vom »leblosen Mineral« unterscheiden. Lebendiges entsteht aus Lebendigem durch den Keim, die Form und Gestalt des Lebendigen pflanzt sich durch Vererbung fort. Die Art vererbt sich auf die Nachkommen und diese artbildende Kraft, die der Zusammensetzung der Stoffe Gestalt gibt und diese bestimmt, mag mit einem wissenschaftlichen Ausdruck Lebenskraft genannt werden. Die Äußerungen der Lebenskraft bleiben den gewöhnlichen Sinnen verborgen, man kann sie nur wahrnehmen, wenn der Sinn dafür erschlossen, darauf entwickelt ist, das Leben der Lebewesen wahrzunehmen; man gewahrt dann in jedem Tier und jeder Pflanze die »lebenserfüllte Geistgestalt«, die in der Anthroposophie Steiners den Namen Äther- oder Lebensleib führt; er ist eine selbständige, wirkliche Wesenheit, die erst die physischen Stoffe und Kräfte zum Leben aufruft und die den physischen Leib im Leben vor dem Zerfalle bewahrt; nur das erweckte geistige Auge kann ihn schauen; während der physische Leib nach dem Tode in der mineralischen Welt aufgeht, löst sich der Ätherleib in die Lebenswelt auf. Mit dem, was der Ätherleib für den Menschen bedeutet, ist aber sein Seelisches noch nicht berührt und ergriffen. Die Welt der Begierden und Wünsche, der mannigfaltigsten Empfindungen gehört genau so wesenhaft zu ihm als irgend ein Wesensteil des Menschen überhaupt. Er schwimmt in einer nur dem Eingeweihten wahrnehmbaren eiförmigen Wolke, die beständig in innerer Bewegung ist. Erscheint der Ätherleib als ein Schemen, als eine rötlich-blaue Lichtform, die glänzt und leuchtet, von Farbe etwas dunkler, als eine Pfirsichblüte, so ist auch dieses dritte Wesensglied des Menschen, Astralleib genannt, je nach Wesensart, von verschiedener Farbe und Bewegung. Temperament und Grundstimmung eines Menschen sind an diesem bewegten Spiel mit seiner von innen heraus sich immer wieder erneuernden Lebendigkeit, an der Aura, zu erkennen. Unter Aura versteht der Hellseher diese beständig wechselnden bewegten Ausstrahlungen. In der Philosophie der Rosenkreuzer wird der Astralleib Seelenleib genannt, den der Mensch mit dem Tiere gemeinsam hat. Durch das Selbstbewußtsein endlich fühlt sich der Mensch als selbständiges, in sich geschlossenes Wesen, als ein Ich, das alles Leibliche und Seelische erlebt. Leib und Seele tragen das Ich in sich eingeschlossen; ist das Gehirn der Mittelpunkt des Körpers, so hat die Seele im Ich ihren Ausdruck, das, als die eigentliche Wesenheit des Menschen in sich bergend, gänzlich unsichtbar bleibt. Mit seinem Ich ist der Mensch ganz allein, es ist, sozusagen, der Mensch selbst; im Ich liegt seine wahre Wesenheit, sein Wesenskern; es ist der Teil des Menschen, der durch alle Inkarnationen geht und nur jedesmal neue »Hüllen« mitbringt. »Ich« kann ich zu niemandem andern sagen als zu mir, »ich« kann niemand anderer zu mir sagen, denn er ist für mich ein Du, ein Er! Die Hülle des Ichs aber ist der Geist; der Geist lebt in der Hülle Ich, so wie das Ich in Leib und Seele als in seinen Hüllen lebt. Das Ich wird von der mineralischen Welt von außen nach innen, im Geiste aber von innen nach außen gebildet. Im Ich endlich sind die drei Seelen wie Keime zu höherer Entwicklung verborgen, die in der Geisteswissenschaft den Namen Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele tragen. Astralleib und Empfindungsseele sind Eins. Die Empfindungsseele ist eine Tätigkeitsquelle, sie hängt in ihrer Wirkung vom Ätherleib ab, holt aus ihm hervor, was in ihr als Empfindung aufglänzt; durch den Ätherleib aber hängt sie natürlich auch mit dem physischen Leibe zusammen, durch den sie begrenzt wird, obschon sie, für den Hellseher sichtbar, um ein Stück über den physischen Leib hinausragt, mächtiger als dieser. Die Verstandesseele (auch Gemütsseele oder Gemüt genannt) ist die den Gedanken erlebende, vom Denker bediente Seele. Der Kern des menschlichen Bewußtseins, der die Ideen des Wahren, Guten und Schönen zu entwickeln vermag, also die Seele der Seele, wird als Bewußtseinsseele bezeichnet; in ihr lebt die bleibende, von Sympathie und Antipathie unabhängige Wahrheit. So wären nun mit dem physischen Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich die vier niedrigeren Wesensglieder bezeichnet, deren die Geisteswissenschaft noch weitere drei kennt, so daß das Ich als Mittelpunkt nach der niederen wie vor der höheren Wesenheit anzusehen ist. Die Keime zu den höheren Entwicklungen, die in der indischen Lehre als Manas, Buddhi und Atman, in der Geisteswissenschaft als Geistselbst, Lebensgeist und Geistmensch bezeichnet werden, sind in den drei Seelen des Ichkerns enthalten: Bewußtseinsseele und Geistselbst bilden eine Einheit, so wie Astralleib und Empfindungsseele eine solche bilden. Durch die Entwicklung des Geistselbst wird der Astralleib, durch die des Lehensgeistes der Ätherleib, durch die des Geistmenschen endlich der physische Leib verwandelt und veredelt. Unter dem Geistselbst versteht die Anthroposophie den das Ich bildenden, als Ich oder Selbst erscheinenden Geist; berührt die Bewußtseinsseele die von Antipathie und Sympathie gereinigte Wahrheit, so trägt das Geistselbst dieselbe, nur vom Ich aufgenommene und umschlossene Wahrheit, durch das Ich individualisiert und in die selbständige Wesenheit des Menschen übernommen; mit dem Ich ist die Wahrheit wesenhaft verbunden, sie macht das Ich zu einem Ewigen. Das Geistige ist die ewige Nahrung des Menschen; wird der physische Mensch aus der physischen Welt geboren, so wird er durch die ewigen Gesetze des Wahren und Guten aus dem Geiste zur Welt gebracht. Die Geisthülle, in der die selbständige, geistige Wesenheit, Geistmensch genannt, wohnt, wird Äthergeist oder Lebensgeist genannt. Die gesamte geistige Wesenheit des Menschen umstrahlt ihn, für den Hellseher wahrnehmbar, wie ein Licht (Aura). Kann die physische Wesenheit des Menschen nur bis zu einer gewissen Grenze wachsen und zunehmen, so ist die geistige Wesenheit des Menschen unbegrenzt. Das Ich trennt und vereinigt keimhaft zugleich den irdischen von dem höheren, den physischen vom geistigen Menschen. Gibt sich das Ich dem Physischen und dessen Eigenart hin, so kann aus dem Ich allein die höhere Seelen- und Geisteswelt erschlossen werden. Die Wesensglieder des Menschen ergeben das nachstehende Schema:

1. Physischer Leib

2. Ätherleib

3. Astralleib

4. Ich

  Empfindungsseele
Verstandesseele
Bewußtseinsseele

5. Geistselbst (Manas)

6. Lebensgeist (Buddhi) und

7. Geistmensch (Atman).

Dieses Schema ist der Schlüssel zum Wissen des Menschen und birgt in sich die heilige Formel aller menschlichen Entwicklung, die mit der Evolution der Welt verbunden ist.

VIII.
Das Michaelgeheimnis

Die Dreiteilung in Leib, Seele und Geist, die sieben-(neun-) gliedrige Wesenheit des Menschen, um das Ich als Mittelglied gruppiert, als Frucht der drei niederen Wesensglieder und zugleich Keim für die drei höheren (Manas, Buddhi und Atman), sie bilden zusammen auch den Schlüssel zum Michaelmysterium der Gegenwart. Wer sich in dieses erhabene Schema vertieft, kann, in ihm und an ihm, die gesamte Geisteswissenschaft, Anthroposophie, vor sein geistiges Auge rufen. Sind doch zugleich die sieben großen Verkörperungen der Erde darin enthalten: die Saturnzeit, die den Körperkeim entwickelt, die Sonnenzeit, die den Ätherleib hinzufügt, die Mondenzeit, die durch das Hinzutreten des Astralleibes ihren Sinn empfängt und endlich das Ich, das auf der Erde in das Menschenwesen einzieht und die irdische Entwicklung abschließt, um sie, durch den Manas, in der kommenden Jupiterzeit, zur Verwandlung des Astralleibes, durch Buddhi, in der Venuszeit, zur Verwandlung des Ätherleibes und, durch den Atman, der Vulkanzeit, zur Verwandlung und Vergeistigung des physischen Leibes und damit zum Abschluß des großen Schöpfungszyklus weiterzuführen. Eine große Rolle spielen die Empfindungsseele, die Verstandesseele und die Bewußtseinsseele in der Entwicklung der nachatlantischen Epoche und ihrer sieben großen Kulturen bis auf unsere Zeit. Gott, Welt und Mensch werden von dieser geheimnisvollen Figur der siebengliedrigen Menschennatur umschlossen; man kann kein Christ sein, die Evangelien nicht verstehen, den Geist unserer Tage nicht erfassen ohne sie, Medizin, Astronomie im geistigen Sinn (als geistig gesteigerte Astrologie), Geschichte, Geographie, Geologie, Soziologie, Erziehung, Technik, Landwirtschaft, Künste nicht betreiben, ohne daß die Erkenntnis der siebengliedrigen Natur den Schlüssel zu diesen verschlossenen Türen liefert, und keines der sieben Menschenrätsel und Weltgeheimnisse entschleiert sich dem stumpfen Blick der bloß auf die »fünf Sinne« gegründeten Erkenntnis.

Ein zweites grundlegendes Kapitel der Geisteswissenschaft ist die Erkenntnis der drei Welten: physische Welt, Seelenland und Geisterland, in denen der Ichkern des Menschen bis zur nächsten Verkörperung weiterlebt. Die physische Welt ist die Domäne des »exakten«, auf die Sinne gegründeten Wissens; sie wird von der »positiven«, aber sehr unvollkommen und eng begrenzten Forschungsmethode nur halb »erklärt« und gedeutet, aber gewissenhaft beschrieben, beklopft und erforscht; man betritt sie durch die Geburt und verläßt sie durch die Pforte des Todes. Das Seelenland mit seinen sieben Regionen (der Begierde, der fließenden Reizbarkeit, der Wünsche, der Lust und Unlust, des Seelenlichtes, der tätigen Seelenkraft und des Seelenlebens) wird, von den höheren, zum Schauen entwickelten Sinnen aufgenommen, von der Seele durchschritten, wenn sie die physische Welt verlassen hat. Die dritte Welt, die Geisterwelt endlich, ist die Urheimat der geistigen Dinge und ihrer Schatten, der abstrakten Gedanken. Hier hausen die schaffenden Wesenheiten, die Weltmeister alles dessen, was in der physischen und in der seelischen Welt entsteht; ihre Formen wechseln. Hat das Seelenland Bilder und Farben (in beständigem Dahinfluten begriffen), so sind das Hauptmerkmal der geistigen Welt, des Geisterlandes, Töne: wer die Seelen- und Geisterwelt schauen will, muß, als Seher des Seelenlandes, das geistige Auge auftun, das geistige Ohr entwickeln; auch hier, in der Geisterwelt, gibt es Stufen und Regionen, die nicht etwa schichtenweise übereinandergelagert sind, sondern einander durchdringen. In der ersten Region sind die Urbilder der physischen Welt, in der zweiten die des Lebens, in der dritten der Luftkreis des Geisterlandes, die Urbilder alles Seelischen, der Leidenschaften, Gegensätze und Kämpfe, Gewitter und Stürme zu finden, in der vierten Region die ordnenden und gruppierenden Geister, in der fünften, sechsten und siebenten aber die Urtriebe (Impulse) zu allen Tätigkeiten und Absichten, die geistigen Worte und ewigen Namen. Die dreifache Welt hat sieben Elementarreiche: das der urbildlichen, formlosen Wesen, der gestaltschaffenden Wesen, der seelischen Wesenheiten, der geschaffenen Gestalten (Mineral, Pflanze, Tier und Mensch). Die Gebilde der drei Welten kann erlebend erkennen, wer die Fähigkeiten und Organe dazu entwickelt, was an den Farben der Aura sichtbar wird, deren es drei Arten gibt: die erste Aura als Spiegelbild des Einflusses, den Leib und Seele auf den Menschen üben, die zweite als Kennzeichen des Eigenlebens der Seele, die dritte endlich als Spiegel der Herrschaft, die der ewige Geist über den vergänglichen Menschen gewonnen hat. In allen drei Teilen der Aura sind Farben in zahllosen Nuancen und Abstufungen, in der ersten wie in der zweiten und dritten verschieden im Farbengrundton. In der physischen Welt lebt der Mensch mit seinen vier niederen Wesensgliedern, das Tier hat drei niedere Seelenglieder in der physischen, sein Gruppen-Ich aber in der seelischen Welt (auf dem Astralplan), die Pflanzen physischen Leib und Ätherleib in der physischen, den Astralleib in der seelischen, das Ich im unteren Teile (im unteren Devachan) des Geisterlandes, das Mineral endlich den physischen Leib in der physischen, den Ätherleib in der seelischen Welt, den Astralleib im unteren, das Ich aber im oberen Devarhan des Geisterlandes, darin der Hellseher Kontinente, Meere und Luftkreis unterscheidet. Steiners »Theosophie« enthält, ebenso wie sein Vortragszyklus »Vor den Toren der Theosophie«, eine Fülle von Details, die zu wissen niemand versäumen darf, der in die Erkenntnis der übersinnlichen Welten eindringen will. Sie sind eine schwierige Lektüre, aber ganz unerläßlich als Vorstufe des Adepten.

IX.
Die Erlebnisse nach dem Tode. Die Wiederverkörperung

Die siebengliedrige Menschennatur und die drei Welten (Zwischenreich, unteres und oberes Devachan) mit ihren festen Ländern, Meeren und ihrem geistigen Luftkreis eröffnen gigantische Ausblicke auf eine Überfülle dahinwogender, flutender und tönender Gebilde und Erscheinungen; sie sind zugleich Stufen des Bewußtseins und im entwickelten Bewußtsein enthalten. In ihnen bewegt sich der Mensch mit seinen Träumen und während des Schlafes, der den physischen Leib und den Ätherleib in der physischen Sphäre läßt, indes der Astralleib und das Ich in die geistig seelische Welt ausschwärmen. Die Seele lebt in der Mitte zwischen Leib und Geist; sie spielt eine entscheidende Rolle im Geheimnis des Todes. Man kann auf verschiedene Weise zur Erkenntnis dieses Geheimnisses gelangen, doch ist es durchaus möglich, auch auf gewöhnlichen Wegen des Denkens zu richtigen Anschauungen und Auffassungen davon zu kommen. Empfindung und Wahrnehmung sind an Sinneseindrücke geknüpft; ganz anders entsteht und aus ganz anderem Wesen sind Gedächtnis und Erinnerung, die gleichsam als Eingangstor in die geistig seelische Welt Bedeutung haben. Der Leib allein ist außerstande, Eindrücke zu behalten; sie würden einfach immer wieder in das Nichts zurücksinken, wenn zwischen Seele und Außenwelt nicht etwas spielte, was den Menschen in den Stand setzt, durch Vorgänge in seinem Innern Vorstellungen von dem zu haben, was die Eindrücke der Sinneswelt früher bewirkten. Wie sich schon an dieser vielleicht etwas gezwungenen Beschreibung zeigt, ist es sehr schwer, eine Definition des Gedächtnisses und der Erinnerung zu geben. Die Philosophen nennen das Gedächtnis eine »Fähigkeit der Psyche«; sie verweisen auf die Eigentümlichkeit des Gedächtnisses, »Spuren« des Erlebten zu bewahren und nennen die Erinnerung einen Prozeß der »Reproduktion«, in Vereinigung mit einem »Gefühl der Bekanntheit«. Hält die ältere Psychologie an der Vorstellung fest, daß das Gedächtnis eine Art »Aufbewahrung« von Vorstellungen ermögliche, gleichsam eine (von Bergson übrigens abgelehnte) »Aufspeicherung von Erinnerungen im Gehirn« gestatte, so spricht Semon von »Engrammen« und »mnemischen Empfindungen«. Die Wahrheit ist, daß es töricht wäre, zu glauben, die Vorstellungen hielten sich »irgendwo im Menschen auf«. Die Vorstellungen leben und vergehen mit dem Augenblick. Die durch die Erinnerung hervorgerufene Vorstellung ist etwas ganz neues, was mit einer »alt aufbewahrten« keinerlei Zusammenhang hat. Erinnern heißt, nach Steiner, etwas erleben, was an sich (selbst) nicht mehr da ist, was aber Vergangenheit zu neuem Jetzt wandelt. Den Vollzug schafft die Seele, die treue Bewahrerin alles Vergangenen; sie ist es, die »Engramme« macht, ein Wort, das gar nicht so übel klingt. Für wen die Seele diese »bewahrt«? Für den Geist ist der Leib nur der Schauplatz, auf dem diese Verwandlung spielt. Die Seele gibt, was sie durch den Leib erhielt, an den Geist weiter, wo es in gewissem Sinne ewig lebt, wenngleich der Geist die Erinnerungsschätze umgestaltet; der Geist verewigt gleichsam die Früchte des Erlebnisses. In geistiger Hinsicht ist jeder Mensch eine Gattung für sich. Der Leib wiederholt nur die Existenzbedingungen des Vorfahren, der ein Mensch war, und der Mensch kann immer wieder nur Menschen hervorbringen. Der geistige Mensch hat mit Vorfahren nichts mehr zu tun, er kann nur seine eigene Geistgestalt tragen, die er von niemandem »Anderen« hat, als von sich selbst. Meine Vorfahren sind geistig vollkommen von mir verschieden, mein Leben läßt sich aus dem der Vorfahren nie und nimmer erklären. Ich selbst kann nur die Wiederholung, die Wiedergeburt, von mir selbst sein. So kann der Mensch durch das reine unbefangene Denken sehr wohl zu einer richtigen, verstandesgemäßen Auffassung der eigenen Wiederholung im Sein kommen. Man muß, um zu solchen Schlußfolgerungen zu gelangen, die sich als geistige Prozesse natürlich nicht naturwissenschaftlich »beweisen« lassen, nur genug Vertrauen in die Kraft des Denkens besitzen, die ja nicht von »dieser Welt« (von der körperlichen Welt) stammt. In einem Erdenleben erscheint der Menschengeist nur als Wiederholung seiner selbst, vermehrt durch die Früchte vorangegangener Lebensläufe. Wenn ich des Morgens vom Schlafe erwache, bin ich gezwungen, an das Gestern anzuknüpfen, das durch meine Taten und Handlungen geschaffen ist. Meine Tätigkeit, im Schlafe scheinbar verloren, gehört zu mir, wie ich zu ihr. Mein Gestern schafft mein Heute und dieses Schaffen ist mein Schicksal. Mit seinen Taten schafft sich der Menschengeist sein Los. Daran, was ich in den früheren Leben getan habe, knüpfte mein gegenwärtiges Leben an. Der Menschenleib unterliegt den Gesetzen der Vererbung innerhalb der menschlichen Rasse, der Menschengeist aber muß sich immer wieder aufs neue verkörpern. Steht der Leib unter den Gesetzen der Vererbung, so steht der Geist unter dem der Wiederverkörperung. Der Tod bedeutet bloß eine Änderung in den Verrichtungen des Leibes; dieser hört nach dem Tode auf, Vermittler von Seele und Geist zu sein und geht in die physische Welt des Stoffes zurück, dem er entnommen war. Vom Leibe losgelöst, bleibt der Geist noch immer mit der Seele verbunden; war er durch den Leib an die physische Welt gekettet, so ist er jetzt mit der seelischen Welt verbunden; die Seele lebt nach dem Tode, mit dem Geist vereint, in seelisch-geistiger Umgebung. Es ist durchaus nicht etwa so, daß Seele und Geist den Leib »aufgeben«, wenn dieser »stirbt«, sondern der Leib wird von Geist und Seele entlassen, der Stoffwelt wiedergegeben, der er entliehen war. Indes: auch die Seele hat ihren Auflösungsprozeß; sie muß sich, durch Begierde mit der physischen Welt verbunden, von dieser Begierde lösen, die Sphäre der Begierdenglut durchschreiten (Fegefeuer) und wandert nun, vorn Geiste zunächst begleitet, an Sympathie und Antipathie vorbei, durch die sieben schon genannten Stufen der Seelenwelt, in die Sphäre, in das Land, in die Welt des Geistes, wo die lebendigen Gedanken oder Geistwesen leben. Den Gedanken als lebendiges Geistwesen ins Bewußtsein aufzunehmen, das bereitet der gegenwärtigen, im Schatten materialistischer Anschauungen herangewachsenen Generation freilich nicht geringe Schwierigkeiten. Das Gestaltlose, bestimmt, im Sinne eines höheren Bewußtseins gestaltet zu denken, liegt ihr nicht. So wendet sie denn die Denkgebräuche, die der physischen Welt angemessen sind, unbekümmert auf die geistigen und seelischen Welten an, zu denen ihr der Eingang verschlossen bleibt. Das geistige Reich, das »Geisterland«, ist die Sphäre der Urbilder im »Unbelebten«; die erste Region dieses Reiches stellen gleichsam die Kontinente dar, die zweite die Urbilder des Lebens, das hier eine geschlossene, fließende Einheit bildet, die dritte die Urbilder alles Seelischen, den Luftkreis des Geisterlandes, die fünfte, sechste und siebente Region aber, anders als die vier vorangehenden, umfassen die Urbilder der Antriebe und Impulse, die Absichten und Gedankenkeime, nebst dem Geheimnis der ewigen Namen, und endlich den Lebenskern, den Lebensgeist und Geistmensch (Buddhi und Atman). Aus der Welt der Seele tritt der Ichkern des Verstorbenen in das Geisterland. Hier lernt er das auf Erden Gelernte in lebendigen Geist verwandeln. Hier findet er seine wahre geistige Heimat, hier überwindet er sein Karma, dessen verschlungene Linien er von außen gleichsam durchschaut und begreift. Mit dem Karma verhält es sich, bildlich gesprochen, ungefähr so: ein See ruht ruhig und regungslos im Gebirge; du stehst am Ufer und wirfst ein Steinchen in die glatte Fläche; es bildet, um die Einfallsstelle als Zentrum, Kreise, die immer größer werden; es bleibt aber nicht bei dem einen Erreger, unermüdlich wirfst du Stein und Stein in die Untergründe des Sees, ihre Kreise schneiden sich, werden von den Kreisen der anderen, die mit dir am See des Lebens stehen und so tun, wie du, geschnitten und durchkreuzt; wenn alle Kreise sich geglättet haben und aus dem Bilde des Sees geschwunden sind, hat Karma aufgehört: das deine, wie das der anderen. Über die eigenen Kreise und die der anderen aber kannst du nicht hinweg: deine Taten hören nicht auf, ihre Kreise zu ziehen. Unerschöpflich ist die höhere Mathematik dieser Kreise, deren jeder einen Kern, einen Mittelpunkt hat: deine Tat! Der Einsiedler, der weitabgewandte, weltflüchtige, lebensfremde und lebensfeindliche Eingeweihte, des Treibens überdrüssig, wird dir sagen: wirf keinen Stein in den See, handle nicht, setze keine Taten, bezwinge deine Begierde, dann gehst du in Gott ein und alle Furcht schwindet aus deinem Herzen! Er hat gut reden, denn was er dir rät, sind der Egoismus des Heiligen, sein Ehrgeiz, sein Strebertum, selbst ein Gott zu werden; er vergißt dir nur zu sagen, daß dieser ewige Gott selbst eine Tat gesetzt hat, die alle Taten dieser Welt in sich schließt: die Welt, die seines Strahles, des Demiurgos genannt, erhabenes Werk ist!

In Wiederverkörperung und Karma liegen die Angelpunkte des gesamten bewußten Lebens. Von ihnen aus löst sich jedes Rätsel, jede scheinbare Ungerechtigkeit der Welt.

X.
Nicht Mystik: Anthroposophie!

Alle diese Dinge sind in Steiners »Theosophie« zu finden, die ein unerläßliches Lehrbuch für alle höherstrebenden Menschen ist. Sie gehört zu den schwierigsten und doch klarsten Büchern ihrer Art. Ihr reiht sich die »Geheimwissenschaft im Umriß« an, deren großartige Kosmogonie in dein vorliegenden Buche ebenso behandelt wurde, wie Steiners ungeheure Umwälzung in der Erkenntnis des Christentums als einer mystischen Tatsache. Sowohl »Theosophie« als »Geheimwissenschaft« enthalten aber auch schon die Keime dessen, was Steiner in seinem grundlegenden Buche »Wie erlangt man Erkenntnis höherer Welten?« der Menschheit hinterlassen hat. Zeigt er in den beiden anderen Büchern die geistigen Welten in gigantischen Gemälden, so behandelt er hier den Pfad, der zur Erkenntnis, zur Entwicklung der höheren Sinne führt; davon, daß die alten Mysterien bis zum Christus Jesus nichts anderes als Wege der Einweihung gewesen sind, war schon die Rede. Sie waren so mannigfach, so vielfach verschlungen und, zugleich, Ort, Rasse und Klima angepaßt, daß eine einfache Schlußfolgerung schon genügt, zu erkennen, wie unangebracht es ist, den Menschen unserer Zeit diese verschollenen und überlebten Anweisungen zu höherer Einsicht in die Hand zu drücken. Steiner unterscheidet drei Gruppen solcher Pfadanweisungen: den indischen, den christlichen und den rosenkreuzerischen Weg, deren Stufen und Erlebnisse er schildert. Die indische Form, für abendländische Menschen und Verhältnisse ungangbar, ja in gewissem Sinne gefährlich, lebt heute in einer Art modernisierter Yogapraxis weiter, der alte christliche Weg wird in einer bestimmten Form von den Jesuiten gepflegt, der rosenkreuzerische, gegründet auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis im Geiste des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, entspricht in dieser Gestalt heute nicht mehr den Anforderungen unseres Zeitalters. Besonderes Interesse darf der Weg, den Ignatius von Loyola seinen Schülern und Adepten hinterließ, für sich beanspruchen; hier handelt es sich, wie schon erwähnt wurde, um ein regelrechtes Belagerungssystem, den lieben Gott in seiner himmlischen Feste Jerusalem mit kriegerischen Mitteln, ja sogar mit Kriegslist, regelrecht zu fangen. Ignatius von Loyola hinterließ ein strenges Dienstreglement, eine aus den gewaltigen Bildern des Christustodes auf Erden geschöpfte Exerzierinstruktion, die, durch Entsagung, Askese und gewollte Einsamkeit gestützt, dazu führen soll, daß Gott sich endlich ergibt. An dem militärischen Charakter dieser mit fast scharf jüdischem Verstand erklügelten Überfallsordnung mag es auch liegen, daß der Jesuitismus seine Wirkungen auf den irdischen Bereich erstreckt, obwohl Jesus, der Meister, mit wunderschöner, edler und echt göttlicher Gebärde ausrief: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt!« Im Untergrunde dieses kriegerischen Systems liegt die Absicht, Menschen von höchster Einsicht und magischer Gewalt auszubilden, die, indem sie für den Jesus streiten, die Kirche als »Braut« und als vollkommenen, idealen und alles andere ausschließenden Organismus in der sichtbaren Welt umwerben, kurz, für die Kirche kämpf en, wie ein mittelalterlicher Ritter für die Dame seines Herzens. René Fülöp-Miller hat diesen Orden in seinem großangelegten, alle Äußerlichkeiten restlos erschöpfenden Jesuitenbuch vorbildlich geschildert und beschrieben; der Beifall der kirchlichen Kreise ward ihm dafür ebenso zuteil, wie die Anerkennung der zahlreichen Feinde des Jesuitismus; der Esoteriker vermißt darin das Zentralgeheimnis der Bewegung: die Frage, warum der Jesus (nicht der Christus) den Kern dieses Systems ausmacht und warum die rosenkreuzerische Christusströmung geflissentlich in den Hintergrund tritt; nicht umsonst hat ja der Jesuitismus ein verhältnismäßig gutes Einvernehmen mit der materialistischen Wissenschaft durchgesetzt, und es sieht fast so aus, als hätten Jesuiten und Freimaurer den Menschen auf der Erde unter sich aufgeteilt: die Jesuiten haben die Seele, die Freimaurer, den Geist übernommen» und die scharfe Front, die sie gegen die Geisteswissenschaft einhalten, macht sie als ähnliche Brüder mit ähnlichen Kappen weithin erkenntlich; Luzifer und Ahriman traten oft genug gemeinsam auf: als Hauptakteure des einen Menschheitsdramas! Stützt sich der Jesuit noch auf die Kräfte des Glaubens, der, solange er auch das Wissen umschloß, umfassende Kräfte besaß, so legt die Freimaurerei mehr Gewicht darauf, die Meinungen des modernen Menschen zu besitzen. Was zwischen den drei großen Gruppen, Jesuiten, Freimaurern und Anthroposophen sonst nach Erkenntnis strebt, sind gleichsam Privatkindergärten, in denen okkulte Spiele gespielt, Neugierige mit sozialen und sonstigen Flechtarbeiten beschäftigt werden. Der Mystiker, abseits dem Leben (wie A. M. O.), findet die starke, werktätige Liebe ausreichend, er möchte durch Emanzipation vom Getriebe der Welt eine Art Glückszustand herbeiführen, den auch der kleine Krishnamurti, geschäftskundig und tüchtig darin, billiges, aber recht mangelhaft zubereitetes Wortgemüse als Gedankenrohkost abzusetzen, als Massenartikel auf Lager führt. Indes ist der Bolschewismus eben daran, seine intellektuelle, revueartige Karnevalsoperette des Sozialismus in Blut, Gewalt und Dreistigkeit zu ihrem logischen Horrid-end (im Gegensatz zum beliebten Happy-end) zu bringen.

XI.
Was tun?

Rudolf Steiners neurosenkreuzerischer Michaelsweg ist der vollkommenste Ausdruck des Initiationswesens unserer Zeit. Er ist für jeden Menschen gangbar, da er vom seelisch erfüllten Denken ausgeht und alle Wesensglieder des Menschen als prima materia an den Anfang der inneren Entwicklung setzt. Niemand darf glauben, daß man diesen Pfad der Einweihung betreten kann, ungefähr wie man eine Kur beginnt, auf Abmagerung losgeht, oder im vulgären Sinne ein »neues Leben« anfängt, Vorsätzen nachjagend, mit denen der Weg zur Hölle allemal gepflastert ist. Coué hat diese Art schlagend ad absurdum geführt, indem er sich einfach vornimmt, reich, glücklich und gesund zu sein; er setzt großes Vertrauen in Worte, die zweideutige Äußerung eines trainierten festen Willens; Worte haben in der Tat eine gewisse magische Kraft, die wiederum der übersinnliche und doch allzu sinnliche Trainer gebrauchen lehrt. Ein witziger Mann sagte mir einmal ganz richtig: »Ich brauche den ganzen Coué nicht mehr, sobald ich an ihn selbst glaube!« Darüber, wie man sich überhaupt zu verhalten habe, um des »größtmöglichen Glückes« teilhaftig zu werden, haben die Menschen gewöhnlich übertrieben extreme Vorstellungen. Lehrt die christliche Wissenschaft, die in Amerika große Häuser und Zeitungen besitzt, der Mensch, wie die Lilie auf dem Felde, hätte nichts zu tun, als sich Gott zu überlassen, der alles lenkt, wie es für die Menschen das Beste ist, so verkünden die Willens- und Tatmenschen, vom Pragmatismus bis zum Couéismus, man müsse es mit dem festen, unbeugsamen Willen machen, denn nur die Tat habe Wert, eine Anschauung, der gelegentlich einmal auch Strindberg Ausdruck gab, darüber klagend, daß er wahrscheinlich deshalb so jämmerlich arm geblieben sei, weil er das Geld nicht heftig genug geliebt und begehrt habe; steckt in jedem Extrem ein Körnchen Wahrheit, so ergibt sich aus einer Zusammenfassung beider Spitzensysteme die wahre Haltung von selbst: nie auf Gott allein, nie auf die eigene Kraft allein vertrauen, sondern immer bereit und stark genug sein, Glück oder Unglück zu ertragen! Oft genug sind beide Sorten des Schicksals in dem einen Erlebnis enthalten, oft gibt sich ein Glück später als Unglück, ein Unglück später als Glück zu erkennen! Wer die Hände in den Schoß legt, ist genau so töricht, wie ein anderer, der ohne Unterlaß auf der Jagd ist; wer leugnet, daß Wunder geschehen können, genau so einfältig, wie der, der mit einem Wunder rechnet. Ein Wunder als Wunder erkennen, wer diese Kunst versteht, hat die richtige Lebens- und Verhaltungsformel bald gefunden. Nicht selten will sich eine Hoffnung jahrelang nicht erfüllen, trotzdem man mit aller Kraft darauf hinarbeitet, damit sie sich erfülle, aber auf einmal (man denkt gar nicht mehr daran) ist die Erfüllung da, obzwar, in diesem Augenblick, kein Finger dazu gerührt ward. Es gibt Leute, die keinen Schritt ohne Horoskop Ion, kein Unternehmen beginnen, ohne der guten Tattwas sicher zu sein, keine Tat setzen, ohne die Ephemeriden zu befragen; sie sind Sklaven des Augenblickes, die nicht wissen, daß ein Werk oft weit besser gedeiht, wenn man es unter Hindernissen oder gegen Hindernisse in Angriff nimmt. Andere wieder setzen, in Unkenntnis ihrer Abhängigkeit von kosmischen Einflüssen, die für alle Einsichtigen längst als sicher feststeht, alles daran, die Götter herauszufordern, tollkühn und im Glauben befangen, sie wären nun einmal Sonntagskinder und alles müsse zu ihrem Besten ausschlagen. In Wahrheit gibt es nur ein Glück: wissend zu leben, und ein Unglück, unwissend um die großen Geheimnisse durch das Leben zu gehen. Das erkannte Steiner, das eröffnete sich ihm als einem Erleuchteten, dessen ganzes Leben auf die Betätigung dieser Weisheit gerichtet war. Darum entströmt seiner Geisteswissenschaft eine geradezu geheimnisvolle Kraft, die, in sich zu erleben, zu den größten Sensationen aller irdischen Sensationen gehört. Das Leben des wahrhaftigen Anthroposophen, der den Weg zur Erkenntnis höherer Welten betreten hat, ist, selbst wenn er nur einen Teil dieses Weges zu gehen imstande war, das Dasein des Geistesmenschen im Sinne der Geisteswissenschaft, sage ich, ist ein Leben der Tätigkeit und Arbeit für die Menschheit, durchwirkt von Augenblicken der Ruhe und Besinnung, der Erleuchtung und der Liebe, wie sie nur aus dem Erleben des »Christus in mir« empfangen wird. Betritt man den Pfad, den Steiner in allen Einzelheiten beschrieben bat, nicht im gegebenen Augenblick, so bringt es viel Mühe und wenig Frucht, ihn zu wandeln. Dazu ist eine richtige Astrologie, empfangen aus dem kosmischen Bewußtsein, eine starke Helferin; kein wahrer Adept am Stein der Weisen hätte je seine Arbeit begonnen, ohne sicher zu sein, daß seine Stunde geschlagen hat. Lächerlich aber sind zugleich jene »Astronomen«, die dreist und hochmütig behaupten, es gäbe keine »astrologische Wissenschaft«, weil sie sich niemals die Mühe genommen haben, die Aussagen einer richtigen Astrologie zu prüfen und, davon überrascht, zu sehen, wie Vieles in einem richtigen Horoskop aufs Haar mit den Tatsachen übereinstimmt. So wahr es ist, daß jedermann durch Fleiß und Mühe auf dem anthroposophischen Wege zu bestimmten Stationen innerer Entwicklung gelangen kann, so sicher gibt es eine Prädisposition für diese Erkenntnis; eine Ahnung des richtigen Augenblickes auch ohne Einsicht in die »Aspekte«. Man erlebt in dieser Hinsicht, oft schon während der ersten Stadien, ganz erstaunliche und wundersam geheimnisvolle Dinge: Anzeichen, die man zunächst gar nicht recht beachtet, Vorgänge, die wie eine bestimmte Botschaft auftreten und sich in irgend einer anderen Gestalt wiederholen und verstärken, »Symbolisches« und »Zufälliges« der verschiedensten Art, Hilfen aus Gegenden, von wo man sie am allerwenigsten erwartet, Begegnungen, deren Sinn nicht alsogleich aufgeht, und vieles andere mehr. Wer Offenbarung leugnet, hebt seine eigene Existenz auf. Es gibt Offenbarungen auf Schritt und Tritt und zu jeglicher Lebensstunde!

XII.
Der Weg, die Wahrheit und das Leben

Ist in der alten indischen Einweihung und ihrer modernisierten Form der Führer (Guru) von großer Wichtigkeit, wird zum Führer der alten christlichen Einweihung der Christusjesus und die Leidensgeschichte des Erlösers zur Grundlage des Erleuchtungsweges genommen, so liegen bei der durch Rudolf Steiner aufgebauten, zeitgemäßen rosenkreuzerischen (Michaelseinweihung) Entwicklung des höheren Bewußtseins die Dinge wesentlich anders. Einen Guru und Meister im Sinne der überlebten Pfade gibt es auf diesem Wege nicht. Der Weisheitsschüler, der nach einem solchen sucht, würde vielmehr ganz merkwürdige Dinge erleben: er kann den ihm bezeichneten Eingeweihten sehr entschlossen und keineswegs gewillt finden, die Vorbereitung und die ersten Schritte für den Schüler und mit dem Schüler zu übernehmen. Der Eingeweihte wäre kein solcher, würde er wahllos und ohne Ansehung der Person jedem Neugierigen entgegenkommen. Der Eingeweihte sieht und weiß genau, wen er vor sich hat und ob die Stunde für den Schüler da ist. Wohl darf der »Führer« und »Lehrer« niemandem, der reinen Herzens danach verlangt, das höhere Wissen vorenthalten, um so weniger darf er aber dem Unreifen auch nur einen Zipfel vom Schleier der Geheimnisse preisgeben. Gibt es heute keine sichtbaren Mysterien- und Einweihungsstätten mehr, so sind die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse, um einen alltäglichen Ausdruck zu gebrauchen, überall erhältlich, ohne daß es sichtbare Absatzstellen dafür gäbe. Ist die richtige Grundstimmung vorhanden, so wird der Weisheitsschüler an solchen Stellen kaum vorübergehen können, sofern er die angemessene Gangart einschlägt und Wahrheit und Erkenntnis als verehrungswürdige Güter ansieht. Niemand kann zu höherer Einsicht kommen, ohne innerlich zu fühlen und mit unumstößlicher Sicherheit zu wissen, daß es höhere Dinge und Einsichten in höhere Dinge gibt. Man mag dieses Gefühl im älteren Sinne Glauben nennen, es ist doch im Lichte unserer Zeit eine wesentlich andere Sache! Es gibt Menschen, denen dieses ehrfürchtige Gefühl von der Geburt an eingepflanzt ist, daneben solche, denen, vom Zeitgeist mitgerissen, in der wahren Bedeutung des Wortes nichts heilig zu sein scheint; die haben es natürlich sehr schwer, zu höherer Einsicht zu kommen, sie stehen sich selbst buchstäblich im Licht und stolpern ohne Unterlaß über das eigene Wesen, darin sich Hochmut, Dünkel und kritisch-dialektischer Überschwang in wilder Mischung vorfinden. Ein lehrreiches Beispiel paralleler Natur findet sich in den zahlreichen Spielarten der irdischen oder, wie man sie gerne nennt, der sinnlichen Liebe. Die Kirche und die Zentralstellen anderer Glaubensbekenntnisse, insbesondere aber die Kirche, haben den Fehler begangen, alle »Fleischeslust«, alles geschlechtliche Begehren als schwere Sünde zu brandmarken und schon den Wunsch nach dem Besitz eines geliebten Wesens als verbrecherisches Gelüste zu verdammen; das hat die Beziehungen der Geschlechter maßlos und schier unheilbar verwirrt. Edlere Naturen können auch im Sturm des Triebes nicht irregehen, so geflissentlich niedere und zynische Wesen hinterher sind, den geliebten Gegenstand in den Augen des Liebenden herabzusetzen und durch Hinweis auf dessen Abhängigkeit von banalen Verrichtungen und Bedürfnissen lächerlich zu machen und zu entehren. Verehrung, Ehrfurcht, Hingabe im Geiste der Liebe kommen über diese Dinge spielend hinweg. Daß ein Talent sich in der Stille, ein Charakter aber im Strom der Welt bildet, ist richtig. Der Geheimschüler ohne Gesinnung und Charakter wäre ein Unding, eine tragikomische Figur, ein Hindernis des Fortschritts und Aufstiegs der Menschheit. Den Keim zu höherer Geisteshaltung kann der Geheimschüler nur im ruhigen und klaren Denken finden. Solange aber dem Weisheitsschüler die Flügel der höheren Erkenntnis nicht gewachsen sind, bleibt ihm nichts übrig, als alles, was er über Wesen, und Natur des Menschen, über Entstehung der Welt, über das Christentum, über anthroposophische Wissenschaft in allen ihren Zweigen von Steiner gehört hat, wie etwas hinzunehmen, das er selbst noch nicht nachzuprüfen und an sich zu erleben vermag. Er muß es hinnehmen wie den Bericht eines Forschers und Entdeckungsreisenden, der so lange als aufrecht und vertrauenswürdig gilt, als man die fremden Dinge und Länder nicht selbst gesehen und durchwandert hat. Das höhere Wissen ist eine Erfahrungswissenschaft im reinsten und erhabensten Sinne des Wortes. Viele glauben, daß man im Augenblick, da der Fuß auf die Schwelle der höheren Welten gesetzt wird, schwankenden Boden und Gelände ohne Geländer betritt. Sie halten den Adepten der rosenkreuzerischen Einweihung und dieses neue Wissen um den Gral selbst für ein dumpfes Brüten über dunklen Geheimnissen, für weltfremd und lebensabgewandt, allem Praktischen und Gegenständlichen verloren und abhold, für ein Mischwesen verschiedener Welten, die er sich einbildet, »Halluzinationen« als willenlose Beute unterworfen. Nichts von alledem, ja das genaue Gegenteil ist wahr. Der Weisheitsschüler geht in keiner Weise seinem Pflichtenkreis, seiner irdischen Arbeit und seiner opferheischenden Alltäglichkeit verloren, und ist ein armseliger »Schwärmer und Schwindler«, wenn er aus seinen neuen Erkenntnissen nicht auch die Kraft gezogen hat, Täuschungen, Illusionen, Phantasmagorien und wildem, willkürlichem Innenleben auszuweichen. Gesunde Sinne, gesundes Seelenleben, gesundes Denken sind unerläßliche Voraussetzungen für die wahre und richtige Geheimschulung, die ich gelegentlich, in Äußerungen über Steiners Pfad zum Übersinnlichen, scherzhaft, als den einzigen Weg zur Erleuchtung bezeichnet habe, der ohne Berufsstörung betreten werden kann. Unter großen Mühen und Anstrengungen wird der Bau des neuen Menschen, der alchimistische Prozeß der Verwandlung aufgeführt und gekrönt, als Rest- und Randerlebnis zu einem bestimmten höheren Erkenntnisgrad: die Begegnung mit den beiden Hütern der Schwelle, von Steiner geschildert, erscheint ...

Schlußwort und Ausblick

Die gedruckten Schriften Steiners, zusammen mit den Zyklen und Vorträgen, die Rudolf Steiner bis knapp an sein physisches Lebensende gehalten hat und die alle Gebiete der Erscheinungswelt erfassen und durchleuchten, stellen in ihrer Geschlossenheit ein ungeheures Gebäude dar, das nun von seinen Schülern, als den Trägern der Michaelssendung, im einzelnen auszuführen und zu vollenden ist. Sie bergen bei sich eine schier unübersehbare Fülle von Erkenntnissen, körperlicher, seelischer und geistiger Art, wie sie vorher kein anderer Menschheitsführer an das Erdengeschlecht heranbrachte und kein späterer heranzubringen vermag. Eine ganz neue zeitgemäße Kultur steigt unter dem belebenden Strahl seiner Geistessonne aus dem Chaos dieser entwurzelten und ratlosen Epoche, als deren hervorragendstes Merkmal die rapide Verdummung und Charakterverschlechterung des Europäers anzusehen ist. Hier liegt Stoff für die Arbeit kommender Jahrhunderte; hier stehen, plötzlich wie aus der Erde hervorgezaubert: eine neue Religion und Theologie, eine neue Naturwissenschaft, eine Philosophie der Ewigkeitswerte ohnegleichen, eine neue Heilkunst, eine neue Psychologie und Physiologie, eine neue Himmelskunde, eine neue Menschenkunde, eine neue Rechtsfindung, eine neue Erziehungslehre, eine neue Geologie und Pflanzenlehre, eine neue Geschichte, Geographie und Mathematik, die im wahren Sinne des Wortes, höhere Mathematik genannt zu werden verdient, eine neue Landwirtschaft, eine neue lebendige Schätzung der Kunst, eine neue Ethik und Ästhetik und nicht zuletzt eine neue Geologie und Rassenkunde. Das Wunder eines Geistes, der alle diese unermeßlichen Gebiete mit hellseherischen Sinnen zu erfassen und in einer gar nicht langen Lebensspanne von Grund auf in der Hauptsache an das Bewußtsein heranzubringen vermochte, ist so riesengroß und erschütternd, daß dem Geschlechte von heute nichts dagegen aufzubieten blieb als Ignoranz, Geringschätzung, Hohn, Mißverständnis und dunkler Fanatismus einer im Innersten ihres Wesens verwundeten Feindesschar. Eine große Menge erleuchteter und selbstlos der großen Arbeit an der Menschheit dienender Geister hat sich um das Banner der anthroposophischen Geisteswissenschaft, köstliche Ernte bergend und immer neue verheißend, gesammelt; den Hort hütend und stets neue Schätze aus dem Nachlaß ans Tageslicht fördernd, waltet Steiners Witwe, Marie Steiner, ihrer Sendung, und in jedem Augenblick dieses vielgestaltigen, verwirrenden und trostlosen Treibens ist es, als griffe Steiner aus den höheren Welten in das irdische Geschehen dieser Epoche und der kommenden Zeiten ein. Unberechenbare Impulse gehen von seiner Durchleuchtung des Christentums, seiner Lehre von den Hierarchien, von Luzifer und Ahriman, als den beiden Hauptquellen aller Täuschung, von Karma und Wiederverkörperung, vom Geiste der Evangelien, und von der Dreigliederung des sozialen Organismus als des einzigen Heilmittels gegen die sozialen Kämpfe unserer Epoche aus, das er einer verständnislosen und stumpf gewordenen Welt in einem kritischen Zeitpunkt an die Hand gab, ohne daß sich diese seiner zu bedienen wußte. In welcher anderen Weise und wo anders als im deutschen Volke, das fremde Kulturen und fremdes Geisttum wie sein eigenes Leben hegt und pflegt, hätte eine erhabene Gestalt, wie die Rudolf Steiners, erscheinen können, ohne Mißdeutungen zu begegnen? Wo anders wäre ein Bau, wie des Goetheanum in Dornach, nach geheimnisvoller Einäscherung neu erstanden, denkbar, als dort, wo es heute steht, eine Sendestation der seelischen und geistigen Welten für alle Arten von Wellen, deren Namen und Wesen die exakte Wissenschaft von heute gar nicht kennt. Wo anders sind Bücher möglich, wie Rittelmeyers »Begegnung mit Steiner« (eines der edelsten biographischen Dokumente der Weltliteratur), wie Beckhs Schriften über den kosmischen Rhythmus der Evangelien, wie Günther-Wachsmuths lebendige Lehrbücher von den ätherischen Bildekräften, wie Walter Johannes Steins »Neuntes Jahrhundert«, wie Poppelbaums Schriften über das Tierreich, wie E. H. Lauers einführende Schriften und Aufsätze, wie die Schriften der medizinischen Schule, der juristischen Klasse (Thieben), wie die Jahrbücher des »Gäa Sophia«, und unter den Zeitschriften wie »die Drei« und das »Goetheanum« und seine Beilage, ganz abgesehen von den herrlichen Evangelienerläuterungen Bocks und Rittelmeyers und ihrer Zeitschrift »die Christengemeinschaft«, als dem Organ eines neuen Apostolats, das die neuen Christen der freien Christengemeinschaft sammelt und dessen Kreise seit 1925, immer weiter und weiter ausgreifen, sterbende Formen religiösen Lebens umackernd und zu neuer Ernte bereitend. Goetheanum, Waldorfschule und »freie Christengemeinschaft« sind die drei Grundmaterien, aus denen die neue Menschheitskultur hervorgehen muß. Nur im Fluge habe ich, als ein dürftiges Rundgemälde, eine Gesamtansicht der Geheimwissenschaften im Lichte unserer Zeit entwerfen können. Wer gehofft haben mag, in diesem einführenden Buche Anweisungen, Rezepte und Formeln zu zauberhaften Hantierungen zu finden, wird es vielleicht enttäuscht beiseite legen und lieber nach Traktätchen greifen, die unerhörte Wonnen versprechen, aber zugleich in unabsehbare Gefahren stürzen. Von Erneuerungen des Zauberwesens kann heute keine Rede mehr sein, sondern nur von klarer Einsicht in die übersinnlichen Welten, erworben durch ein übersinnliches Bewußtsein und kosmische Erfassung des Christus Jesus und des Christentums als einer mystischen Tatsache.

Dieses Buch, am Eingang zum Goethejahr erscheinend, will nichts anderes sein, als zugleich ein Führer durch das Labyrinth verneinender, im Wesen satanischer Erscheinungen. Es gibt so viel schwarze Magie in unserer sichtbaren Welt, daß hoch an der Zeit ist, das Wesen dieser schrecklichen, mit der tierischen Menschennatur tief verbundenen Praktiken an ihrem himmlischen und reinen Widerspiel in ihrer ganzen dämonenhaften Unnatur zu zeigen. Das Wort »γάρ χαιός εγγύς«, der Apokalypse entnommen, steht keineswegs etwa aus koketten, literarischen Gründen auf dem Titelblatt meines Buches, das als ein Leitfaden zur wahren Metaphysik, der prima philosophia, der philosophia perennis dienen möchte. Die Zeit ist nahe, da sich die Geister scheiden müssen, in solche, die an das Ghaos, die Masse und die Technik glauben und nur dieses wollen, und solche, deren Blick auf das Ewige im Menschen, auf die großen Gesetze und Pläne gerichtet ist, denen alles Erschaffene im Lichte der göttlichen Weisheit unterworfen bleibt. Ward das hochentwickelte Instrument des menschlichen Verstandes bisher dazu gebraucht, die Reste der Erinnerung an das Paradies endgültig zu verwischen, das Bewußtsein göttlicher Abkunft endgültig zu zerstören und durch sinnlose »Freidenkerei« die Quellen zu verschütten, aus denen die ewige Erkenntnis des Guten, Wahren und Schönen fließt, so ist nun die Stunde neuer Einsicht gekommen. Erneuerung des Menschen auf allen Wegen sendet ihre untrüglichen Zeichen in die Dunkelheit dieser drangvollen und schier hoffnungslosen Gegenwart! Als in den letzten Wochen Berichte über Erdbeben auftraten, die in Gegenden beobachtet wurden, wo man bis zum heutigen Tage keine Beben kannte, war die Stimme von Hellsehern zu hören, die kühn behaupteten, der wiedererscheinende Christus kündige sich auf diese Weise an. In jeder solchen Behauptung wohnt ein Pfund Irrtum neben einem Milligramm Wahrheit. Wahr ist, daß Erdbeben keine rein geologische, sondern eine geistig-moralische Tatsache sind, denn: die Erde als Leib des Christus Jesus, Hervorbringerin und Trägerin alles Lebens, eine tote Masse zu nennen, vermag nur eine geist- und lebensfremde Afterweisheit, die ihre »Offenbarungen« aus übler Verdauung und zerstörenden Getränken schöpft, eine Lehre des Niedergangs, des Abstiegs und der Fäulnis, empfangen vom unheiligen Ungeist haltloser Naturen. Unwahr aber ist, daß die Welt das Wiedererscheinen des Christus in neuer Körperlichkeit erwarten darf. Wer die Vorgeschichte des Mysteriums von Golgatha kennt, versteht, warum das so sein muß. Viermal, vor diesem Mysterium, geriet die Menschennatur in Gefahr, für immer zu verderben: nach dem »Sündenfall« der lemurischen Epoche, nach den Entartungen des Ätherleibes in einer späteren, und nach dem inneren Zerfall des astralischen Leibes in seine drei unabgestimmten Grundkräfte Denken, Fühlen und Wollen in einem noch späteren Zeitpunkt, der gleichfalls vor den Beginn unserer Zeitrechnung zu setzen ist; endlich, im Beginne unserer Zeitrechnung, da die Kräfte des Ichs die Entwicklung der Menschheit zu sprengen drohten. Die Geschichte Griechenlands und Roms, geistgemäß erfaßt, als ein Spiel der luziferischen und ahrimanischen Kräfte, ist ein Kolossalgemälde dieser ungeheuren Ichkrise. Wie dem immer wäre, in jedem dieser vier kritischen Zeitläufte ist der Mensch durch Christuskräfte vor dem sicheren Untergang ins Chaos bewahrt worden. »Der neue Adam, der in Christus erschienen ist«, wie ihn Paulus weissagt, wird sich zeigen, weil das in der Geschichte der Erde und der Menschheit begründet ist, aber er wird und kann nur in seiner ätherischen Leiblichkeit dem erleuchteten geistigen Auge offenbar werden. Der Zusammenhang der Paulusbriefe mit der Bhagavadghita, der Offenbarung des Krishna, gegeben am Ende der alten, lichten Epoche als Erinnerung an die verlorene Urweisheit der Menschenseele, und in ihrer wahren Natur erforscht durch Rudolf Steiner, weist mit deutlicher Schrift auf das große Geheimnis, in dessen Mittelpunkt die Geisteswissenschaft Steiners, die Michaelsgestalt rückt; Geisteswissenschaft, Wissen vom Menschen, Anthroposophie ist eine Michaelsbotschaft an das kommende johanneische Zeitalter. In seinem letzten Vortrag, den Rudolf Steiner, Michaeli 1924, hielt, wies er, als Abschiedsgruß gleichsam, noch einmal mit der ganzen magischen Kraft seines Seherwortes auf Michael, den mächtigsten Sendboten der Menschheit, hin. Was auf Golgatha in der Körperlichkeit des Christusjesus spielte, entrollt sich nun im Entwicklungsgange der Menschheit und, gerade in unserer Zeit, als eine neue Passionsfolge in einer höheren, ätherischen Körperlichkeit; diese Passionsfolge ist bis zur neuen Auferstehung gediehen, nur dem Michaelsbewußtsein sichtbar. Von diesen Dingen aber weht der geistige Wind den »natürlichen« und primitiven Hellsehern von heute hin und wieder eine Ahnung zu. Sie hören etwas läuten und predigen die Wiederkunft des Christus im Leben, vorangekündigt dadurch, daß die Erde wieder bebt, wie sie auf Golgatha bebte, als Christus am Kreuze starb.

In dieser Welt, die nicht mehr weiß, wohin sie sich wenden soll, tobt zur Zeit ein gigantischer Kampf um Gott auf dem ewigen seelisch-geistigen Schlachtfelde. Er scheint Leuten, die nur gelernt haben, die Oberfläche der Dinge zu sehen, als eine Sache, die sie nichts angeht, denn sie haben, wie man es vulgär ausdrückt, »andere Sorgen«, aber sie würden doch wahrscheinlich vor Schrecken starr werden, könnten sie mit geöffnetem geistigen Auge die wahren Streiter sehen, die in den übersinnlichen Welten gleichsam die höhere Oktave dieses Kampfes austragen. Mit Gottes Worten und Gebärden, mit den Ausdrucksmitteln, die von ihm stammen, zu sprechen: »es ist kein Gott!« gehört wohl zum übelsten aller Verhängnisse. Heißt es zu weit gehen, wenn man annimmt, daß der »Tank Atheist« sozusagen das Schluß- und Endsymbol jenes finsteren Zeitalters bedeutet, das mit diesem Jahrhundert und Jahrtausend abläuft? Was könnte noch Schlimmeres auf Erden geschehen, als daß man die Quintessenz aller entsetzlichen Handlungen, vom Menschen am Menschen durch viele Jahrtausende begangen, in die einfache, fast exakte mathematische Formel zusammenfaßt: »es ist kein Gott!?« So daß also nichts anderes zu tun bliebe, als in den Lärm und Gestank entarteter Zeiten mit aller Macht hineinzurufen: »Haltet ein, Gott lebt!« Woher man aber die Kraft nimmt, das zu tun und ein Mensch zu bleiben unter Millionen von Unmenschen, das lieber Leser, lehrte von Anbeginn und lehrt noch immer, bis Heute: die Geheimwissenschaft!


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