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Die griechisch-lateinische Epoche (von 747 v. Chr. bis 1413 n. Chr. gerechnet) birgt ein für die ganze Menschheit, ja für den Erdenplaneten und seine kommenden Zustände entscheidendes, von den Schauern höchster Geheimnisse umhülltes Ereignis: die Geburt, den Erdenwandel und den Kreuzestod des Christus Jesus auf Golgatha. Mit der Darstellung dieses Ereignisses beginnt freilich auch eine erhöhte Verantwortlichkeit für den Autor, dessen Begabung und Gewandtheit, vor eine überaus schwierige Aufgabe gestellt, ohne die Hilfe und den Beistand eben jener Kräfte und Impulse, die mit dem Erscheinen des Christus auftreten und wirksam werden, zum stumpfen Werkzeug herabsinken müßten. Sich dieses Beistandes zu versichern, sich gleichsam mit dem ganzen Wesen in dieses erhabenste Kapitel der Menschheitsgeschichte zu versenken, erschien mir als unerläßliche Voraussetzung. Die gewöhnliche Routine einer irdischen Feder wird hier zuschanden, die Kunst des Schreibers zur heiligen Handlung, sein Schreibtisch zum Altar, seine landläufige Stilisteneitelkeit aber zur Farce. Die Stille um ihn wandelt sich zu lebenserfüllter Ruhe und Klarheit: an das hohe Geheimnis rühren nur gefaltete Hände! Es ist etwas anderes, von den vorchristlichen Kulturen und Mysterien zu sprechen, etwas anderes, in den Vorhof der allerheiligsten Dreifaltigkeit einzutreten, entblößten Hauptes und barfuß, als Gottes Gast und Bekenner. Der billige Ruhmesglanz alltäglicher Schriftstellerei verlischt davor wie ein armseliges Flämmchen, das die Finsternis nur vermehrt, statt sie zu besiegen, das zu leuchten nur vermeint, obschon es, bei aller Demut, ein Fünkchen aus dem unermeßlichen Vorrat des göttlichen Lichtes ist. Niemand kann, zeitlos, in den Raum dieser Begebenheiten vordringen, ohne von den Dingen dieser Welt abzufallen denen er einzig und allein durch das Maß der Liebe, das ihm vom Schöpfer gegeben ist, verbunden bleibt. Das Denken wandelt sich hier zum reinen Klang der Andacht. Von der Vorstellung der Schönheit, vom Begriff des Guten, vom Urteil des Mysten »Du bist« nimmt der Weg zur Christuserkenntnis seinen Anfang; der Weg selbst aber führt in weltenferne Höben, zu denen die atonale Musik der Tiefe kaum mehr emporklingt. Der wahre Bekenner des Christus Jesus »glaubt« nicht mehr an Gott, an den Gottessohn und an den heiligen Geist: er weiß sie; er ist in Ihnen und Sie sind in »ihm«, indem er sich anschickt, Zeugnis von Ihnen zu geben. »Ich bin«, so lautet das ewige göttliche Wort, »der Weg, die Wahrheit und das Leben!« Kein anderer erhabener Geist aus den höchsten Lichtregionen durfte diesen Satz sprechen, ehe denn der Christus Jesus kam; es gab, vordem, auch keine Ohren, ihn zu hören, keine Herzen, ihn zu verstehen, keine Möglichkeit, ein voller Mensch zu sein, ehe nicht Gott selbst herniederstieg, um als Mensch unter den Menschen zu wandeln und für ihre Sache zu sterben. Kein Irdischer kommt, an Gott vorbei, zu sich selbst, der eine Wohnung des Göttlichen ist. Ihn »leugnen« heißt: sich selbst aufheben und in die Nacht des Nichts versinken; Ihn »verneinen«: die heilige Erlaubnis, auf Erden Ja zu sagen, für immer verlieren; ihn nicht bekennen: das Recht verwirken, auf zwei Beinen und erhobenen Hauptes auf diesem »Geoid« zu wandeln. Die Menschheit schreitet, so chaotisch ihr Zustand auch anmuten mag, auf ganz bestimmten Wegen durch die Erkenntnis des Christus zum Erlebnis des Jesus. In seinem Namen streben Orient und Okzident zu ihrer Vereinigung. Wer ohne dieses lebendige Wissen ist, hat keinen wahren Anteil am Gang der Dinge, es mögen noch so viel Macht und äußerliches Ansehen mit ihm verbunden sein. Sein Wort mag so stark tönen, als es will, es klingt nicht, seine Gedanken haben keine Flügel, und das Licht, das von ihm ausgeht, wird aus Sümpfen gespeist, als ein Irrlicht. Alle Unrast, aller Jammer auf Erden stammen daher, daß die Menschen sich selbst fremd sind, daß sie etwas suchen, was außerhalb ihnen wäre. Lalande, wenn ich mich richtig erinnere, rief eines Tages triumphierend aus, er habe alle Höhen und Tiefen des Weltalls forschend durchmessen, aber nirgends Gott finden können! Der rettende Gedanke, bei sich selbst vorzusprechen, kam ihm nicht, denn seine Karma war, vor der verschlossenen Türe zu stehen und sie nicht als Türe zu erkennen. Darum mußte das alte Wissen, so unabhängig es auch auftreten mochte, erst gänzlich absterben und der Erkenntnis im Zeichen des Christus Jesus weichen. Haben die alten Mysterien verschiedene Möglichkeiten, so entströmt dem Christus Jesus Gewißheit. Führt der gottfremde Forschergeist zu »Annahmen«, so erhebt das Christentum als mystische Tatsache das menschliche Wesen zum Schauen und Erleben der Wahrheit. Das ist es, was gesagt werden muß, ehe das Auge zum Kreuze aufblicken kann, als dem erhabensten Symbol der Wirklichkeit und Einsicht. Im Mysterium von Golgatha gipfelt die menschliche Geschichte bis ans Ende der Weltentage, deren sieben im Buche der Schöpfung verzeichnet sind.
Die Erde und der Christus sind Eins!
Das Mysterium von Golgatha fällt in den vierten Kulturraum der nachatlantischen Zeit, sohin in die Mitte des sieben Kulturen umfassenden Kreises der Erdentwicklung. Unserem Fischezeitalter folgen dann eine Wassermann- und eine Steinbockkultur, die in neue kosmische Nacht führt und zur nächsten Erdverkörperung der Jupiterzeit, überleitet; dem Jupiter folgen dann Venus und Vulkan, als die beiden letzten Verkörperungen der Erde. So stellt die Geheimwissenschaft unserer Zeit das Christusereignis genau ins Zentrum nicht nur der Erdentwicklung selbst, sondern auch der dem reinen Erdenstadium eingebetteten sieben Kulturabschnitte. Schon in diesem Umstände drückt sich die ungeheure Bedeutung der mystischen Vorgänge im heiligen Lande aus. Ein neuer, die ganze Erde und ihr Wesen erfassender Impuls tritt unter Erscheinungen zutage, deren Eigenart keinerlei Vergleich mit früheren Epochen des religiösen Erlebens zuläßt. Das hängt allerdings, wie eine kleine Meditation ergibt, mit dem Geheimnis der Siebenheit überhaupt zusammen. Die Siebenheit stellt einen abgeschlossenen Komplex im Zahlenraum, dar; in der Musik ist die Septime der letzte selbständige Intervall, denn die Oktave wiederholt nur die Prime, die None die Sekunde, die Dezime die Terz. Die Vierzahl bildet gleichsam die Brücke zwischen zwei Dreiheiten, einer niederen und einer höheren. In der Vier ruht die Zählung und Gruppierung aus, indem jene ihre Wurzeln nach links in 1, 2 und 3, nach rechts aber in 5, 6 und 7 schlägt; sie umfaßt in dieser Weise die Wesenselemente der beiden Dreiheiten, die in der Siebenheit stecken, und ist sozusagen mit dem Inhalt beider Dreiheiten, der vorangegangenen wie der nachfolgenden (zukünftigen), gesättigt. Darum hat die vierte Entwicklungsphase der nachatlantischen Kulturen auch eine ganz eigenartige Stellung, während die nachfolgende fünfte die vorangegangene dritte, die nachfolgende sechste die vorangegangene zweite und die nachfolgende siebente die vorangegangene erste Kultur wiederholt, ähnlich wie oberhalb und unterhalb des mystischen Raumes um die Vierzahl, Verbindungen von der Fünf zur Drei, von der Sechs zur Zwei und von der Sieben zur Eins laufend gedacht werden können. Diese kleine Betrachtung wird deshalb wichtig, weil sie für den, dem das Geheimnis der Siebenzahl in Fleisch und Blut übergegangen ist, keinen Zweifel darüber aufkommen läßt, daß das Christentum nicht etwa bloß eine »Religion« des vierten Kulturraumes darstellt, sondern daß es, in der Vier, die übersinnliche Erkenntnis dreier vorangegangenen Epochen zu höherer Einheit zusammenfaßt und gleichzeitig die drei folgenden Zeitabschnitte durchsetzt und durchtränkt, daß in ihm also der Geist der Erde wohnt. Damit erledigen sich auch von selbst die landläufigen und gebräuchlichen Einordnungen des Christus Jesus in die Galerie der »Religionsstifter«, gleichwie es zu den bewußten Irreführungen unseres (des »Fische-«) Zeitalters gehört, wenn die neuen Gnostiker und Bruderschaften von ähnlicher Farbe behaupten, die Religion des Mitleids, als welche die christliche Religion allgemein bekannt ist, habe im Augenblicke, da die Sonne ins Wassermannzeichen eintrete, einer Neuorientierung der Liebe Platz zu machen, die durch die höchst gefährliche und sehr zweideutige Formel »mitleidlose Liebe« (kalte Liebe) ausgedrückt wird. Das Mysterium von Golgatha ist sonach ein zentrales Ereignis in der gesamten Menschheits- und Erdgeschichte; es durchdringt die Erde, in die es mit dem Blute des Erlösers einzog, dem Wesen Erde gleichsam sein ewiges Ich gebend. (Die Vierheit erlöst die beiden Dreiheiten der Vergangenheit und der Zukunft, in dem sie diese zusammenfaßt, sie verankert und von der Sieben in eine Einheit zurückbindet.)
Lächerlich wäre, zu behaupten, die Menschheit bedürfe einer neuen Religion, die, aus der reinen Vernunft geschöpft, eine Art »Ersatz durch Vollkommeneres« darstellt. Nicht eine neue Religion, sondern neue und wahrhafte Erkenntnis des Christus Jesus tut not und nur aus solcher Erkenntnis können die beiden nachfolgenden Kulturen ihre Impulse holen. Alle diese Dinge verstehen sich ganz von selbst, wenn man den Mut und die Seelenstärke aufbringt, losgelöst von allen Vorurteilen und Mayaergebnissen des gegenwärtigen Schulunterrichtes, das Christentum als eine mystische Tatsache geistig zu durchdringen und damit seelisch zu begreifen. Den erdhaften und doch himmlisch erhabenen Sinn des Christus Jesus verkennen bedeutet daher nicht mehr und nicht weniger, als außerhalb der Erdentwicklung auf einem ganz unmöglichen und widersinnigen Standort stehen und die freie Entwicklung der Menschheit verneinen und stören. In der Tat kommt, wer die historischen, sozialen und ethischen Grundlagen des Christusereignisses unbefangen prüft, zu ganz erstaunlichen und beglückenden Feststellungen, aus denen sich die Einzigartigkeit und abschließende Bedeutung des Mysteriums? von Golgatha unzweifelhaft ergibt. Man muß die Natur des Ackers verstehen, darin der Same des Christusgeheimnisses aufging, um nur zu begreifen, warum der Schauplatz dieses in seinen Wirkungen unermeßlichen Geschehens überraschenderweise nicht mit den Mysterienorten vorangegangener Kulturen zusammenfällt, sondern ganz neues, durch Josua erobertes Land erfaßt: Palästina, das heilige Land, darin der Tempel wieder aufgerichtet wird, nicht etwa als Gotteshaus einer bestimmten Nation, sondern als äußeres und unsichtbares Wahrzeichen der Gesamtheit der Menschen.
Die Äußerlichkeit des Zeitraumes, darin des Christus Jesus Geburt, Wirken und Tod auftreten, wird durch drei geschichtliche Momente gekennzeichnet: durch die große Dämmerung des römischen Weltreiches, durch das erste Auftreten der Germanen im europäischen Räume und durch die Auflösung des alten Judentums. Mit anderen Worten: durch den Untergang der res publica, vorbereitet durch die Auseinandersetzungen zwischen Pompejus und Caesar, Antonius und Oktavian, durch Roms Kämpfe mit den Germanen (Drusus und Tiberius), den Aufstand der Pannonier und Dalmater und den Übergang in das römische Kaiserreich einerseits, anderseits durch die Erhebung Judäas zur römischen Provinz. Das Ende der griechischen Philosophie, der griechischen Kultur, die Befestigung römischer Rechtsanschauungen im Menschengeiste, die vollkommene Zersetzung des Menschentums, das vom Heimweh nach einem Erlöser ergriffen wird, bereiten die Atmosphäre des Christus vor, den schon die alten Kulturen verkünden, der aber allerdings, ganz anders, ganz schlicht, scheinbar ganz abseits und unbemerkt, in die Weltentwicklung eintritt. In den alten Mysterien (das ist hier schon angedeutet worden) liegt das Christusgeheimnis schon seit Anbeginn der nachatlantischen Kulturen verborgen. Schwierig durchschaubar wird, wenn es sich darum handelt, den Beweis für diese Tatsache zu erbringen, bloß das Dunkel der altindischen Kultur; der alte Inder war sich der menschlichen Situation, verursacht durch den Verlust des Paradieses, kaum bewußt; er sah gleichsam nur das Ahrimanische der Sache; immerhin ist im Rigveda vom Weltenopfer und vom Weltenzimmermann deutlich genug die Rede; auch Krishna steigt zur Erde nieder; am schärfsten aber drückt der indische Yoga selbst das Christusgeheimnis aus; der Yoga lehrt den Weg ins Innere des Menschen, damit er die »Ruhe im Ich« finde, freilich unter Verlust der äußeren Welt, die als Maya ihre Wirklichkeit einbüßt; der Christus vollendet, wie Steiner und später Beckh gezeigt haben, die mystische, die Ich-Seite des Yoga, unter Preisgabe seiner magischen Natur, die, genau so wie die mystische, erst durch die Christuskraft vollendet wird. Weit heller (auch darauf ist schon hingewiesen worden) strahlt das Christusgeheimnis aus den Mysterien des Zarathustra; durch die Gegensätze von Licht und Finsternis gewinnt, zum erstenmal in der Menschheitsgeschichte, die Offenbarung erhabenen Sinn; Zarathustra selbst wirkt auf der Erde, deren Geschöpf er ist. Zarathustras Wesen fließt stückweise in die Mysterien der vorchristlichen Menschheit, und was aus dem Zarathustraimpulse heraus geschieht, geschieht zum erhabenen Zwecke, die Menschen vorwärtszubringen, sie zu entwickeln, das dahinsterbende Erdendasein zu erneuern (zu erlösen), den Tod zu überwinden und die Freiheit des Willens auf Erden zu begründen. Was endlich die ägyptischen Mysterien betrifft, so stellen sie, durch den Auszug der Hebräer aus Ägypten bedeutungsvoll vorbereitet, die eigentlichen Christusmysterien der vorchristlichen Zeit dar. Ägypten hat große und gewaltige Gräber hinterlassen, eine Totenkultur begründet, die ohne Vergleich ist, aber erst das Mysterium von Golgatha gibt dieser gespenstigen Kultur lebendigen Sinn, und die alte Sternenweisheit der Ägypter feiert im esoterischen Christentum des Grals seine Auferstehung: die neue Isis der Menschheitsseele erwacht als »neue Offenbarung der Geheimnisse der Sternenschrift«. Ganz nahe endlich und mit ihm schicksalhaft verbunden, rückt das alte Testament in den Bannkreis des Christusereignisses. Hier steigert sich die Symbolik der Jahvereligion zu greifbarer Deutlichkeit; sie begründet, gleich dem Logos der Griechen, die Lehre der Erlösung durch den Messias, der den zerstörten Tempel in Jerusalem wieder aufbauen wird. Seit 63 v. Chr. war Palästina ein Teil des römischen Reiches; ein Edomiter, Herodes, erfeilscht und ergattert in den Wirren des römischen Bürgerkrieges vom Senat die Würde und den Titel eines »Königs der Juden«. In dem mächtigen Tempel, den er über den Trümmern der einstigen Burg Ahabs errichten läßt, treibt er religiösen Kult mit Augustus, seinem kaiserlichen Herrn; es nützt wenig, daß er den Neubau des Tempels von Jerusalem in die Hand nimmt: die Juden durchschauen sein Tun, obzwar ihr Land dem Herodes einen kulturellen Aufschwung von großer Schwungkraft verdankt. Warum übrigens gerade Palästina als Schauplatz für das Mysterium von Golgatha auftrat, führt Wachsmuth in lebendiger und anschaulicher Art aus; er zeigt, daß zwischen den höchsten Erhebungen der Erde und deren tiefstem Punkt eine »zunächst geheimnisvolle Gesetzmäßigkeit waltet« und daß sie »mit dem geistigen Schicksal der Menschheit eng verbunden sind«. Das Hochplateau von Tibet, eine der höchsten Erhebungen der Erde, war die Heimat und Wiege der orientalischen Kulturen und Religionen, eine der tiefsten Senkungen der Erde, das Jordantal aber, durch die Jordantaufe, die Geburtsstätte der christlichen »Religion«. So greifen Geistesgeschichte und Geologie ineinander. An jenem Punkte, der das »Außen« der Erde am stärksten betont, erstand die religiöse Geisteskultur der Orientalen: die Wärme- und Lichtätherreligion des Buddhismus. Das Jordantal vom Tiberiasee bis zum Toten Meere, die Geburtsstätte des Christentums, zählt zu den größten unter den bekannten Depressionen der Erde. Hier ist gleichsam das »Innere« der Erde betont, wo das Lebensätherische überwiegt. Die Bewußtseinsentwicklung an Orten, wie dem Plateau von Tibet und dem Jordantale, konnte von diesen Umständen nicht unberührt bleiben.
Die neue Erkenntnis des Christentums setzt kurz nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein; sie darf aber ihr Anfangs- und Ausgangsdatum getrost in das Jahr 1902 zurückverlegen, in welchem Rudolf Steiners »Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums« erschien. Der Umstand, daß Steiners Schrift sechs Jahre vor De Jongs Buch über das »antike Mysterienwesen« herauskam, das in wissenschaftlichen Kreisen merkwürdigerweise noch immer großes Ansehen genießt, gab dem Holländer, einem Privatdozenten der Universität in Leyden, Anlaß zu einem ebenso dünkelhaften als rüden und echt professoralen, gleichsam mit den Hufen der Hinterbeine verübten Ausfall auf Steiners Buch, dessen Bedeutung auch nur zu ahnen, De Jong allerdings nicht imstande war; er nennt Steiner einen »Schwindler wie keiner« und dessen »Christentum als mystische Tatsache« »jeder Wissenschaftlichkeit und Phantasie bar«. De Jong gleicht bei seinem Versuch, mit untauglichen Mitteln, Vermutungen und Annahmen an die geistigen Dinge heranzukommen, ungefähr einem Skiläufer, der sich Schlittschuhe anschnallt. In Wahrheit will Steiner in jener Schrift zunächst zeigen, daß das Christentum als »ein Keim von selbständiger Art« im Boden der vorchristlichen Mystik wurzelt, obgleich es durchaus als eine selbständige Wahrheit zu verstehen ist. Sein Buch, obwohl der wissenschaftlichen Denkweise jener Zeit angepaßt (es wäre gefährlich gewesen, sich damals schon anders zu gebärden), gibt zunächst einen Überblick über die wichtigsten und wesenhaftesten Merkmale der antiken Einweihung in ganz klaren und exakten Sätzen; der Neophyt entwickelt die im Menschen verborgenen Kräfte zu voller Wirklichkeit; sie liegen wie verzaubert im Menschen und harren ihrer Erlösung; ergreift sie der Mensch nicht und unterläßt er, sie zu entwickeln, so verschwinden sie ins Nichts. Bei den vorsokratischen Philosophen und bei Platon ist wenig zu gewinnen, vermag der Forscher ihr Mystisches nicht zu durchdringen; Platon selbst, den göttlichen Meister, umgab Mysterienatmosphäre, sonst wären die Obertöne seiner Worte bald verklungen; seine Weisheit gipfelt in dem grandiosen okkulten Dokument des »Timaios«, der auf mystische Weise einsetzt und helles Licht über den Mysteriencharakter der platonischen Philosophie wirft. Uraltes übersinnliches Erkenntnisgut ruht auch auf dem Grunde der griechischen Mythen, die sich rationalistischen oder gar psychoanalytischen Deutungen streng verschließen. In den ägyptischen Mysterien, in Leben und Lehre des Mythus überhaupt, sind erhabene Hinweise auf das Christusereignis verborgen. Was sich in den alten Mysterienkulten und im Innern der Mysterientempel abspielte, wird durch das Christentum später als weltgeschichtliche Tatsache beglaubigt. Das alles hätte De Jong seinen Lesern nicht vorenthalten dürfen, wenn er nicht bar jeder wissenschaftlichen Kritik und jeglichen Schauungsvermögens gewesen wäre. Man wird gleich sehen, welche wichtigen Feststellungen Steiners Buch dort unternimmt, wo es auf die Evangelien, auf das Lazaruswunder, auf die Apokalypse, auf Jesus und seinen geschichtlichen Hintergrund, auf das Wesen des Christentums, auf dessen Verhältnis zur heidnischen Weisheit und auf Augustinus und die Kirche übergeht. Wie dem immer wäre, festzustellen bleibt, daß der Boden, darin der Same des Christentums aufgehen sollte, durch die Mysterien vorgelockert war. Philo beschreibt das Leben zweier palästinensischer »Sekten«, die sich Essäer und Therapeuten nannten, deren eine, nach dem Muster des alten pythagoräischen Ordens organisiert, den bestimmten Zweck hatte, höheres Leben zu entwickeln und die Wiedergeburt des Geistigen vorzubereiten. Die Essäer (zur Zeit der Geburt Christi ungefähr 4000 Köpfe stark) und Therapeuten stellen bloß den natürlichen Übergang von den alten Mysterien zum Christentum dar, nicht mehr; schon deshalb, weil das höhere Leben hier dem Betrieb einer begrenzten Gemeinschaft anvertraut war, indes das Christentum, den Rahmen der Völkergemeinschaft und der Blutsbande sprengend, von Anbeginn an mit eigenartiger Klarheit und Offenheit als eine Sache der ganzen Menschheit auftrat. Was immer der antike Myste erleben und erschauen mochte, je nach Maßgabe des Grades, den seine Entwicklung erreicht hatte: es war nur für ihn sichtbar, denn kein gewöhnlicher Sterblicher hat vor Christus jemals Gott selbst geschaut. In Christus Jesus aber kommt Gott selbst zur Erde; der Christus Jesus erlöst in erster Reihe die sterblichen und irdischen Menschen vom Unglauben an das Dasein Gottes; der »eingeborene« Gottessohn (eingeboren, weil es nicht zweier Menschen, Vaters und Mutters, bedurfte, um dieses Wunder von Menschwerdung zu vollziehen), der eingeborene Gottessohn steigt zur Erde herab, deren Erlösung damit zur Tatsache wird. Des Erlösers Blut vermählt sich mit diesem Planeten, der noch drei weitere Entwicklungen durchzumachen hat, ehe sein Ziel erreicht und seine Sendung erfüllt ist. So manchem, mit reinen Verstandesmitteln forschenden Betrachter des Mysteriums auf Golgatha mag schon der Gedanke gekommen sein, was aus der Menschheit und der Erde geworden wäre, wenn sie ohne den Christus Jesus hätte dahinleben müssen. Die Geheimwissenschaft gibt auf diese Frage eine überraschende und klare Antwort: die Menschheit wäre verdorrt, die Erde verkümmert, und sie gibt diese Antwort keineswegs als dogmatische Antwort, denn nur sie allein ist in der Lage, zu beweisen, was sie sagt.
Als Hauptquelle für das Wissen über Geburt, Wirken und Tod des Christus Jesus kommen die vier Evangelien Matthäus, Markus, Lukas und Johannes in Betracht. Angaben über die Persönlichkeit der vier Evangelisten fließen nur spärlich. Matthäus, der Gottgeschenkte, war ein Apostel Jesu; sein Vater Alphaeus Zolleinnehmer am See Genezareth; Matthäus selbst, dessen Fest auf den 21. September fällt, soll als Märtyrermissionär gestorben sein und sein Grab wird in Salerno gezeigt; als Attribut ist ihm die Gestalt eines Engels beigegeben; man behauptet auch, das Evangelium des Matthäus beruhe auf desselben »Verfassers« »Reden des Herrn« und Zustände der flavischen Kaiserzeit wären darin deutlich sichtbar. Markus (auch Johannes Markus genannt) stammte nach Aussagen der Theologen aus Jerusalem; er war Reisegefährte des Petrus und später des Paulus und gründete die Gemeinde von Alexandrien; als Schutzheiliger Venedigs, wo sein Leichnam bewahrt wird, hat er den Löwen zum Sinnbild und sein Festtag ist der 25. April; unter den vier Evangelisten zeichnet er sich als bedachter und die Form pflegender »Schriftsteller« aus, der sein Material weise zu ordnen versteht; sein Evangelium gibt Proben der Paulinischen Gedankenwelt. Lukas, der Evangelist und Arzt, Reisegefährte des Paulus und gleichzeitig Verfasser der Apostelgeschichte, gilt, nach der Legende, als Patron der Maler; Malergerät und Ochse (Stier) sind als seine sinnbildlichen Zugaben zu sehen; sein Evangelium ist Theophilos gewidmet, sein Fest fällt auf den 14. Oktober. Johannes endlich (hebräisch Jochanaan, das ist von Gottes Gnaden), »der Jünger, den der Herr liebhatte«, ist ein Sohn des galiläischen Fischers Zebedäus; sein Bruder Jacobus, Simon Petrus und Er waren die vertrautesten Jünger des Herrn; einige behaupten, Johannes sei 44 in Jerusalem, wahrscheinlich samt seinem Bruder, hingerichtet worden; nach anderen lebte er »später« in Ephesos weiter, wurde von Domitian auf Pathmos verwiesen und starb hochbetagt in Ephesos; sein Tag ist der 27. Dezember, sein Attribut eine Schlange. Blickt man diesen mageren Daten näher ins Auge, so scheinen sie, wenigstens was die Verfasser des Markus- und Matthäusevangeliums betrifft, auf Notizen zu beruhen, die Papios von Hieropolis (ein Schriftsteller aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhundert) hinterlassen hat, aber auch Papios beruft sich ganz allgemein auf »mündliche Äußerungen eines Älteren; er hielt die apostolischen Prediger für Skribenten, die gelegentlich mit einem Sekretär reisten. Ebenso unsicher wie die Angaben über die Persönlichkeit der Apostel sind jene über die Zeit der Abfassung der Evangelien. Bei Lukas werden Stellen aus diesem Evangelium darauf gedeutet, daß dieser Apostel die Belagerung und Zerstörung Jerusalems mitgemacht habe, Lukasevangelien und Apostelgeschichte somit nach dem Jahre 70 entstanden sind. Auch eine Stelle bei Matthäus wird auf die Zerstörung Jerusalems bezogen. Markus hingegen erweckt den Eindruck, als habe er das Erlebnis der Auferstehung am leeren Grabe Christi miterlebt und erzählte es als Erster und Augenzeuge. Eine Reihe spitzfindiger Schlüsse kommt sonach zum Ergebnis, daß auch das sogenannte älteste Evangelium erst nach 70 entstanden sei, welches Datum aber auf mindestens 20 Jahre später verschoben werden müßte, sofern der Verfasser der Apostelgeschichte wirklich Josephus Flavius benützt hätte. Der Stand der Dinge um die Evangelien bleibt also für die theologische Wissenschaft rettungslos in Dunkel gehüllt; um so heller und glänzender sprechen der Gehalt und der hohe Atem dieser überirdischen und wunderreichen Bücher dafür, daß es ein aussichtsloses Beginnen ist, die Äußerlichkeiten der Evangelistik irgendwie festzustellen. Die erhabenen Wirkungen, die von den Evangelien ausgehen, weisen ohne Zweifel auf ein Mysterium, das in ihnen ruht und das den Mysterien des Todes auf Golgatha selbst nur wenig nachsteht. Exegeten und Wortklauber haben angesichts dieser ewigen und unzerstörbaren Dokumente in der Tat einen schweren Stand. Sie werden in erster Reihe von gewissen Widersprüchen verwirrt, die zwischen den einzelnen Evangelien zu bestehen scheinen und die sich auf exoterischem Wege als unlöslich erwiesen haben. Daß diese Widersprüche allerdings nicht so sehr in den Evangelien selbst als bei denen zu suchen sind, denen sie eben als Widersprüche erschienen, liegt auf der Hand. Gottes Bücher sind für rein irdische Naturen schwer leserlich; Übersinnliches erscheint den Sinnen natürlich als ein Rätsel, und mit schmerzlicher Entsagung muß festgestellt werden, daß übersinnliche Sachverhalte sich in der sinnlichen, auf rein irdische Zusammenhänge gerichteten Sprache oft als fehl übersetzt herausstellen. Eine dem Mysterium entsprechende deutsche Übersetzung gibt es ebensowenig wie etwa eine in irgend einer anderen lebenden Sprache. Als weit fruchtbarer erweist sich der griechische Text der Evangelien, der dem Geiste der heiligen Bücher noch weit näher stand und besonders dann reiche Aufschlüsse gibt, wenn der Urbedeutung einzelner Ausdrücke, wie Logos, Pleroma und mancher anderer nachgegangen wird. Unter dem Einflüsse Rudolf Steiners hat die freie Christengemeinschaft indes schon heute überaus Wertvolles an Deutung, Erklärung und synthetischer Schauungsgabe zutage gefördert. Eine vollkommen neue, tiefe und sinngemäße Theologie ist, dank der ausgezeichneten Männer, die 1925 die freie Christengemeinschaft ins Leben riefen, im Werden.
Für den, der die Einsicht erlangt hat, daß das Christentum als mystische Tatsache ein für die gesamte Erdentwicklung und alle Menschen bedeutungsvolles Ereignis ist, verschwinden auch die Widersprüche, die sich daraus ergeben, daß die Evangelien gleichzeitig bloß als literarische Erzeugnisse und mehr oder weniger verläßliche Darstellungen von Zeitgenossen aufgefaßt werden. Überschaut man aber das Werk der Evangelisten gleichsam als »eine Art höherer Figur«, die von innen beseelt wird, so erscheinen die Evangelien als »Kunstwerke Gottes«, einzig und allein aus dem Geiste der heiligen Ordnung und jener Gesetze zu verstehen, die in der göttlich-geistigen Welt wurzeln und ewige Geltung haben. Schon in der Komposition dieser heiligen Schriften ruht ein Geheimnis, das den Schlüssel zum Verständnis der Evangelien birgt; Wissenschaft und Kunst vereinigen sich darin mit dem Religiösen, woraus schon der unbefangen wägende Verstand folgern mag, daß eine ganz neue Art Theologie heraufkommen muß, weil es bei der landläufigen, bloß auf das Moralischreligiöse oder auf das Wissenschaftlich-geschichtliche aufgebauten Exegese nicht mehr bleiben kann. Mit den Evangelien verhält es sich so, daß man, ihrem tiefen und erhabenen Sinn mit dem Herzen nachforschend, immer wieder auf neue Tiefen stößt und ihm niemals ganz auf den Grund kommen kann. Es gehört zu den beliebtesten theologischen Gebräuchen, bei jeder Gelegenheit mit Bibelstellen aufzuwarten und auf diese Weise eine Art regelmäßigen Zitatenbetrieb einzurichten, der dem Fleiß der Sammler sicherlich alle Ehre macht, zum Verständnis der heiligen Sache selbst aber nicht das geringste beiträgt. Ist doch aus diesem Lieblingsverfahren der rein äußerlichen Theologie gerade das hervorgegangen, was sich als wirksamster Hemmschuh am Rade der christlichen Verständnisentwicklung erwies: das Dogma! Auf Grund jener rein äußerlichen und betriebsamen Kritik der Evangelien begann bald ein Feilschen und Streiten über die Echtheit dieser oder jener Schriften, über die Zulässigkeit dieser oder jener Auslegungen; der Mensch warf sich zum Kritiker der Evangelien auf, die ihm nicht mehr als ein Kunstwerk Gottes, sondern als ein Dokument historischer und lehrhafter Art erschienen. So blieb in den Händen derer, die es ja wahrlich gut meinten und in ihrer Art der christlichen! Sache nützlich zu sein glaubten, schließlich wenig mehr übrig als ein Häuflein von Dogmen und ein Kranz von Legenden. Man sieht die Evangelien vor lauter Exegese nicht mehr. Würde sorgfältiger auf die Herkunft des Wortes Evangelium geachtet werden, so ergäbe sich bald von selbst, daß der wahre Charakter der heiligen Schriften schon im Namen selbst zum Ausdrucke kommt, der »Botschaft«, »Kundschaft« von Engeln und aus Engelsphären bedeutet. Die Evangelien sind, schon ihrer Bezeichnung nach, keineswegs etwa bloße Beschreibungen von Vorgängen und Erlebnissen, die sich innerhalb des irdischen Bereiches abspielen, sondern vielmehr Botschaften, Kundgebungen, Offenbarungen übersinnlicher Wahrheiten, Einsichten und Sachverhalte, die hier zum erstenmal sichtbar und greifbar werden. Das unsterbliche Verdienst Rudolf Steiners (er durchschlug die Wand, die ein materialistisches und rationalistisches Zeitalter zwischen sich und dem wahren Verständnis der Evangelien errichtet hatte) steht, ein für allemal, als eine der größten Taten des forschenden Menschengeistes an der Eingangspforte zu einer ganz neuen, alles Bisherige verdunkelnden Erkenntnis vom göttlich-geistigen Inhalt der Evangelien. Das Werk, das die freie Christengemeinschaft auf ihre Schultern nahm und das heute so verheißungsvolle Fortschritte macht, wäre ohne Rudolf Steiners maßgebende Impulse niemals möglich gewesen. Leider muß ich mir hier, da der Rahmen dieses Buches eng begrenzt ist, versagen, Beispiele dafür zu geben, wie die zünftige, namentlich aber die neuere protestantische Theologie zu Werke geht und welche Früchte, im Gegensatze dazu, die Evangelienforschung der Anthroposophie und der freien Christengemeinschaft schon gezeitigt hat und ohne Unterlaß zeitigt. Wenn nun von der Frage der Komposition der Evangelien die Rede ist, meint niemand, dem sinngemäßes Eindringen in die Evangelien am Herzen liegt, etwa die Frage der literarischen Zusammensetzung und des Aufbaues der heiligen Schriften, sondern: einzig und allein von der göttlichen Komposition, dem göttlichen Grundriß der Evangelien wird gesprochen, und unter Komposition selbst die »innere Ordnung der geistigen Realitäten verstanden, die sich in der Evangelistenseele spiegeln«, ohne daß dieser Vorgang dem Bewußtsein der Evangelisten selbst nahegelegen wäre; nicht menschliche Willkür führt behutsam die Sonde dieser neuen Evangelienkritik, sondern Ehrfurcht vor und Sehnsucht nach der göttlichen Wahrheit und Wirklichkeit. Damit langt unsere Darstellung ganz von selbst bei der Frage nach dem Impuls an, der den Evangelien eben ihren Charakter als göttlichgeistigen Wahrheiten verleiht: bei der Frage nach dem Wesen der Inspiration, die als eigentliche Erkenntnisquelle der Evangelisten angesehen werden muß, denn in der Tat und ganz gewiß und gänzlich außer jedem Zweifel ist, daß in der Inspiration die Hauptquelle liegt, aus der die Evangelien ihre Erkenntnis geschöpft haben, womit keineswegs etwa gesagt sein soll, ein Wunder wäre dabei geschehen, oder die Evangelien wären etwa als ein direktes Diktat aus der göttlich-geistigen Welt aufzufassen.
Der gebildete, aber in der Lektüre mystischer Tatsachenberichte ungeübte Leser wird, da er das Wort Inspiration hört, wahrscheinlich ein ziemlich enttäuschtes Gesicht machen. Das Wort Inspiration ist ihm keineswegs unbekannt; er hört es vielmehr sehr oft aussprechen und verbindet damit in der Regel, als mit einem Begriff der neueren Psychologie, ungefähr geistige Eingebung, Erleuchtung, »effektiv betontes Ergriffensein von einer Idee«, einem Wissen, das scheinbar ohne Vorbereitung ins Bewußtsein tritt, während »in Wahrheit assoziative, phantasiemäßige, intuitiv-kombinatorische, synthetische, aber unterbewußtbleibende Geistesfunktionen die Inspiration herbeiführen oder vorbereiten«; er denkt an Shaftesburys »enthusiasm«, an wissenschaftliche oder künstlerische Einfälle und Eingebungen, oder gar an jenen »Sturm von Freiheitsgefühl«, darin Nietzsche »Alles«, aber »im höchsten Grade unfreiwillig« geschehen läßt.' Es gibt natürlich auch solche »Inspiration«, und sie spielt, namentlich beim schöpferischen Künstler, sicherlich eine große Rolle, da er doch, als Enthusiast (abgeleitet von, en to theo ejnaj), im Augenblicke der Inspiration in Gott ist. Nichtsdestoweniger hat man, wenn Steiner von Inspiration spricht, etwas ganz anderes darunter zu verstehen. Für die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners ist Inspiration eine ganz bestimmte Stufe (die dritte; materielle und imaginative Erkenntnisart gehen ihr voran) bewußter geistiger Entwicklung und Bewußtseinserhöhung; sie wird zur Quelle höherer Erkenntnis und aus solcher Quelle schöpfen die Evangelien. Damit wird diese Quelle aber auch zugleich von jener ungeordneten und aus einem herabgeminderten Bewußtsein fließenden »Inspiration« geschieden, die auf spiritistischem Wege zustande kommt und aus der beispielsweise Jakob Lorbers zehnbändiges »Evangelium« empfangen ist; wohl erscheint dieser Weg interessant und lehrreich, aber er hat mit dem, was inspirativer Impuls im Zusammenhang mit den Evangelien genannt wird, nichts zu tun. Das inspirative Bewußtsein trat, schicksalhaft oder aber durch Schulung erworben, in der Zeit des Urchristentums vielfach auf; es spiegelt die übersinnliche Welt, eröffnet den Blick in Vergangenheit und Zukunft (eine Gegenwart in diesem Sinne gibt es nicht) und erhebt zu den hierarchischen Stufen der göttlichgeistigen Wesenheiten, wohlgemerkt, bei vollem Vorhandensein des irdischen, materiell erkennenden Bewußtseins. Bis zu welchem Grade dieses inspirative Bewußtsein, bei vollem Bestand des irdischen Bewußtseins, im Evangelisten entwickelt war, davon hing eben auch die Grundstimmung ab, in der das Evangelium als Offenbarung empfangen wurde. Aus diesen Feststellungen lassen sich sehr wichtige und grundlegende Erkenntnisse gewinnen. Man hört, wie ich schon erwähnte, sehr oft, meist in geringschätziger Weise, von Offenbarung sprechen; das oberste Dogma aller Formen des Freisinns, der Aufklärung und des sogenannten voraussetzungslosen Wissens ist ja gerade darin verankert, daß die Offenbarung »geleugnet« oder sogar als ein Humbug und Selbstbetrug schlimmster Art hingestellt wird; man beliebt in Schriften dieser Art gerne auf die Lächerlichkeit der Annahme hinzuweisen, daß Gott oder irgend welche göttliche Wesenheiten auserwählten Menschen bestimmte Eröffnungen gemacht hätten. Das göttliche Wort ist zu allen Zeiten und in allen Ewigkeiten da; die Natur offenbart in jedem Augenblick ihre Geheimnisse; man muß nur Augen haben, zu sehen, und Ohren, zu hören, und Goethes Faustwort: »die Geisterwelt ist nicht verschlossen, dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot«, sagen heute mehr denn je. Obgleich ich nie in Australien war, muß ich doch annehmen, daß es ein Australien gibt, denn dieser fünfte Erdteil hat sich zahlreichen Menschen, die schon in Australien waren, tatsächlich als solcher geoffenbart; ich wäre also ohne Zweifel ein Narr und Tor, wollte ich leugnen, daß es Australien gibt. Narrentum und Torheit dieser Art wird aber unablässig von Freidenkern, die weder frei sind, noch denken können, als befreiende Weisheit und letzte Raison aller »vernünftigen« Menschen gepriesen. Da es Offenbarungen nur für ein erhöhtes Bewußtsein geben kann, bleibt nichts übrig, als ein erhöhtes Bewußtsein zu entwickeln, will man einer Offenbarung teilhaftig werden, woraus sich von selbst ergibt, daß die Tatsache inspirativen Bewußtseins kein Dogma ist, das Glauben verlangt, sondern eine Erfahrungstatsache, an der jeder teilhaben kann, je nach Schicksal und Entschluß. In den vier Evangelien offenbaren sich vier verschiedene Seelen, vier »grundlegende Arten erhöhten Menschentums«. Um aber zu dem Ausdruck Inspiration zurückzukehren, so ist damit zugleich die Fähigkeit, Worte zu hören, bezeichnet, während die Vorstufe, die der Imagination, des Schauens von Bildern, die nachfolgende aber, die der Intuition, die Fähigkeit birgt, mit den Dingen und Wesen eins zu werden, sie zu berühren und damit in sie einzufließen, indes diese selbst zugleich den Ichraum des Eingeweihten erfüllen: die drei ersten Evangelien, aus der Inspiration empfangen, ruhen auf Imaginationen (auf der Fähigkeit, Bilder zu schauen), das Johannesevangelium aber umfaßt alle drei Erkenntnisstufen zusammen. Johannesevangelium und die drei vorangehenden Evangelien ergeben eine ideale Einheit, eine Art ewigen Gesamtevangeliums; sie bilden eine mystische Figur, die auch die übrigen Kompositionsgeheimnisse umfaßt. Man kann in ihr Inneres mit den Voraussetzungen gewöhnlichen Forschens und Dichtens nicht eindringen. Der kalte Blick kann nichts von ihren Geheimnissen schauen, das gleichgültige Ohr das tönende Wort nicht vernehmen, und keine Kunst der »Einfühlung« kann das ersetzen, was die Geheimwissenschaft Intuition nennt.
Von den vier Evangelien sind zwei (Matthäus und Lukas) Jesus-, zwei (Markus und Johannes) Christusevangelien. Das Zusammenwirken des Jesus- und Christusimpulses gehört überhaupt zu den tiefsten Geheimnissen der vor- und nachchristlichen Zeit. Die beiden Jesusevangelien unterscheiden sich von den beiden Christusevangelien schon äußerlich dadurch, daß die beiden ersteren sich auch mit der Zeit vor der Taufe im Jordan befassen, also, gleichsam, die Kindheits- und Jugendgeschichte Jesu berühren, indes Markus und Johannes schon mit oder nach der Taufe im Jordan einsetzen. Merkwürdigerweise folgen die Jesus- und die Christusevangelien einander nicht unmittelbar, sondern wechseln ab; auf je ein Jesusevangelium folgt ein Christusevangelium. Auch darin liegt Sinn, der sich erst dem eindringenden Blicke offenbart. Das Matthäusevangelium, in der neuen, durch Steiner begründeten Auffassung, ist in gewissem Sinne das Evangelium des Petrusmenschen, und nichts wäre törichter als die Annahme, das Matthäusevangelium eröffne die Reihe der Evangelien nur ganz zufällig. Es wächst als ein herrlich aufragender Baum aus dem Boden des alten Testamentes hervor und stellt die Brücke vom alten zum neuen Bunde dar; nach urchristlicher Quelle war es ursprünglich in hebräischer Sprache abgefaßt; leider hat sich diese Urschrift nicht erhalten. In seinem Geschlechtsregister bis zu Jesus, einer sehr wichtigen und von der Exegese zu Unrecht geringgeschätzten »Einleitung«, zählt es von Abraham bis zu Jesus 42 Generationen; sechsmal sieben (dreimal vierzehn) Stufen weist die Leiter auf, die von Abraham bis Jesus führt, als eine kurzgefaßte, tabellarische Zusammenstellung des alten Testamentes; »jeder der darin angeführten Namen ist ein Schlag an die Glocke eines alttestamentlichen Mysteriums«; das erste Kapitel des Matthäusevangeliums sammelt eine bewegte und lebendige Gruppe von Gestalten, Bildern und Szenen, man beschreitet, »wie durch eine von Schauern erfüllte Vorhalle den erhabenen Dom des Christentums«. Der Name hat ja im alten Testament überhaupt eine ganz andere Bedeutung;, als sie der Namensgebung unserer Zeiten ansonsten zukommt. Die Namen des alten Bundes haben jeder für sich unter- und überirdische Beziehungen zu dem Wesen, das ihn (den Namen) trägt, und niemals gab es ein weiseres und besser treffendes Wort, als das vom nomen, so ein omen ist. Es würde zu weit führen, wollte man im Rahmen dieses Buches etwa versuchen, das Problem der vier Frauen zu beleuchten, die im Geschlechtsregister Matthaei genannt werden (Thamar, Rahel, Ruth und Bathseba), so daß als fünfter Name des Registers, Maria erscheint, womit das Mysterium der jungfräulichen Geburt verknüpft ist. Matthäus, als Schüler des Matthai (was auf das Essäertum hindeutet), vereinigt in sich einen neuen Menschen, einen Weltenmenschen, der das Denken des Levitentums, das Fühlen der Essäer und, von Beruf römischer Zöllner, das römische Wollen in sich vereinigt. Auch im Lukasevangelium findet sich ein Geschlechtsregister vor, allerdings nicht zu Beginn dieses Evangeliums, sondern erst im dritten Kapitel, nachdem der Evangelist erzählt hat, wie Jesus »begann, als er ungefähr dreißig Jahre alt war«, und dieses Register reicht, im Gegensatz zu dem des Matthäusevangeliums, von Jesus bis (über Abraham) hinauf zu Adam, »der Gottes war«. Aus diesen beiden Registern, aus ihren Abweichungen vor allem, lassen sich auch äußerlich Belege dafür ableiten, was Rudolf Steiner, aus übersinnlicher Forschung heraus, zum erstenmal festgestellt hat und was geradezu ein Ausgangspunkt für die vollkommene Erneuerung des Christusverständnisses geworden ist, entscheidend für alle späteren Zeiten: Belege dafür, daß es in Wahrheit zwei Jesusknaben gegeben hat. Die ersten Eröffnungen über dieses Geheimnis machte Rudolf Steiner im engeren Kreise 1909 bei einem Vortragszyklus über das Lukasevangelium, öffentlich zwei Jahre später. Der Widerspruch, den diese Feststellung hervorrief, war ebenso heftig als unbegründet; sie als Ausgeburt der Phantasie zu werten, blieb allerdings nur jenen Kritikern vorbehalten, die keine Möglichkeit hatten, einzusehen, wie übersinnliche Erkenntnisse überhaupt zustande kommen; im Eifer des Gefechtes ignorierten sie zugleich den Umstand, daß aus den Evangelien selbst die Erkenntnis von den beiden Jesusknaben gewonnen werden kann, die schon zu sehr frühen Zeiten vorhanden war. Immerhin ist, ehe an eine gedrängte Darstellung dieses Sachverhaltes geschritten werden kann, zunächst notwendig, noch einmal auf das Problem des Jesus und des Christus im Mysterium von Golgatha zurückzukommen. Es gibt ein Christus- und ein Jesusmysterium! Der Schritt vom Jesus zu Christus, in den Evangelien ganz deutlich unternommen, bedeutet soviel wie ein Verständnis des Jesusmysteriums im Lichte des Christusgeheimnisses. Er muß unternommen werden, soll das Verständnis für den Jesus nicht gänzlich an der Oberfläche bleiben; ein zweiter Schritt bleibt allerdings zu tun übrig; er führt vom Christusmysterium gleichsam zu einer um eine Oktave höheren Auffassung des Jesus, in die alle christliche Entwicklung führen muß. Petrus und die Urapostel taten den Schritt von Jesus zu Christus, Paulus den vom Christus zum Jesus; er war im Besitze eines höheren Jesusmysteriums als Petrus. Die oben erwähnte Anordnung der Evangelien zwingt dazu, den Schritt vom Jesus zu Christus zweimal zu tun, einmal im Matthäus-, das anderemal im Lukasevangelium. Das Geheimnis der Mitte (der Schritt von Markus zu Lukas) liegt darin, daß Lukas eben ein Jesusevangelium im anderen Sinne ist als das Matthäusevangelium; es steht unmittelbar vor dem Johannesevangelium, über welchem die Krone der Mysterien aufstrahlt.
Die Jesuszeit im Leben des Christus-Jesus umfaßt den Zeitabschnitt von der Geburt bis zum dreißigsten Jahre; ihr folgen drei Christusjahre, von der Jordantaufe bis zum Opfertod am Kreuz. Matthäus und Lukas führen die Kindheitsgeschichte des Jesus nur bis zum zwölften Jahre. Der Raum vor dem zwölften Jahre, vor den Geburtsgeschichten und dem Erlebnis mit dem zwölfjährigen Jesus bleibt ebenso leer wie der Abschnitt vom zwölften bis zum dreißigsten Jahre im Leben Jesu. Die landläufige Forschung schreibt diesen offenkundigen Mangel dem Umstände zu, daß es den Evangelisten an Quellen und Überlieferungen gebrach, denn sie hätten sonst, so meint man, sicherlich nicht darüber geschwiegen. In Wahrheit wollten aber die Evangelisten keineswegs das bieten, was man eine lückenlose Lebensbeschreibung nennt; was sie sagen und worüber sie sprechen wollten, das haben sie sicherlich gesagt. Es gibt aber ein fünftes Evangelium, das zur gegebenen Zeit zu den vier Evangelien hinzutreten wird; darüber hat Steiner (1913, in Christiania vom 1. bis zum 6. Oktober) Mitteilungen gemacht; das fünfte Evangelium ist von gleichem Alter wie die vier anderen; es wirft volles Licht auf das Pfingstereignis, es verkündet die überirdische Wahrheit über den Christus: seine Berührung mit den Stätten des Mithraskultes, sein Verhältnis zum Streit der beiden Rabbinerschulen, seine Wanderungen bis zum vierundzwanzigsten Jahre, die ihn die Abgründe der Menschennatur erkennen ließen, seine Erlebnisse mit den Essäern, die Versuchung durch Luzifer und Ahriman und die Entstehung des »Vaterunser«. Um aber zur Kindheitsgeschichte des Jesus von Nazareth zurückzukehren, die, wie schon angedeutet ward, das Geheimnis der beiden Jesusknaben birgt, so liegt auch für den ersten flüchtigen Blick klar zutage, daß Matthäus und Lukas in zwei ganz verschiedene Welten einführen. Matthäus erzählt die irdischdramatische, Lukas die himmlischmusikalische Weihnachtsgeschichte. Worauf es hier in erster Reihe ankommt, das ist der Umstand, daß bei sorgfältiger Betrachtung der beiden Geburtsgeschichten der Eindruck entsteht, es handle sich gar nicht um einen und denselben Jesusknaben; die beiden Geburtsgeschichten haben nichts gemeinsam, als den Namen des Bandes und den der Eltern, welch letztere übrigens in jener Zeit von vielen getragen wurden und sehr häufig vorkamen. Da findet sich vor allem die Geschichte des bethlehemitischen Kindesmordes im Matthäusevangelium, die zur Flucht nach Ägypten zwang, ausgeführt unmittelbar nach der Anbetung durch die drei Könige des Morgenlandes. Lukas weiß nichts davon. Das Jesukind wird geboren, in der Krippe von frommen Hirten angebetet und nach acht Tagen nach Jerusalem zur Beschneidung gebracht; darauf kehren die Eltern mit dem Kinde wieder nach Nazareth zurück. Die eine Erzählung schließt die andere aus. Wenn Herodes den Befehl gab, alle Kinder, die in jener Nacht zur Welt kamen, umzubringen, wie konnten dann Jesu und seine Eltern ruhig in Jerusalem und Nazareth verweilen, ohne von den Häschern des Herodes aufgefangen zu werden? Des weiteren hat Steiner mit Recht darauf hingewiesen, daß das nach Lukas ein halbes Jahr vor dem Jesusknaben geborene Johannesknäblein dem Herodes entging, obzwar dieser den Befehl gegeben hatte, alle Knaben unter zwei Jahren zu töten. Nach Lukas sind die Eltern des Jesusknaben in Nazareth ansässig, ziehen zur Volkszählung nach Bethlehem, zur Beschneidung nach Jerusalem und kehren dann wieder nach »ihrer Stadt« (Nazareth) zurück. Nach Matthäus wohnen die Eltern Jesu in Bethlehem, wo das Knäblein geboren wird. Erst nach der Heimkehr aus Ägypten zieht Josef nach Galiläa und erst geraume Zeit später kommt er, um dort Wohnung zu nehmen, in die Stadt, die da heißt: Nazareth, damit sich das Prophetenwort erfülle. Ist das nicht wirklich so, als handelte es sich, nach den beiden Evangelien, um zwei verschiedene Elternpaare mit je einem Jesusknaben, das eine in Bethlehem, das andere in Nazareth wohnhaft? Diese Gedankengänge erhalten aber weitere Nahrung eben durch die in den beiden, einander »widersprechenden« Evangelien (Matthäus und Lukas) enthaltenen Geschlechtsregister. Das Geschlechtsregister bei Matthäus führt, gleich an der Spitze des Evangeliums, Jesu Stammbaum aus der Vergangenheit bis zur Gegenwart (von Abraham zu Jesus). Das Lukasevangelium, das von der Gegenwart in die Vergangenheit, von Jesus bis Adam, »der Gottes war«, hinaufsteigt, stellt seine Stammbaumtafel erst in das 3. Kapitel, also in unmittelbare Nähe des Christuswirkens, gleich nach der Jordantaufe, mit der das Christuswirken einsetzt. Matthäus zählt von Abraham bis Jesus 41, Lukas von Jesus bis Adam 76 Namen auf, 20 (die bei Matthäus ganz fehlen) von Gott bis Abraham (darunter Henoch) und 56 von Abraham bis Jesus. Von Abraham bis David decken sich das matthäische und das Lukas'sche Geschlechtsregister; bis zum 14. Namen (dem Davids) sind beide gleichlautend. Von David ab beginnt indes eine völlige Verschiedenheit der Namen und der Zahl der Generationen; nur die Namen Sealthiel, Serubabel, Joseph und Jesus stimmen überein. Die Evangelisten führen also zwei ganz verschiedene Stammbäume vor, deren einer die salomonische, deren anderer aber die nathanische Liste (als einem anderen Sohn des David) als Davids Nachkommen anführt, so daß man, wohl auch mit einiger äußerlicher Berechtigung, von einem salomonischen (Matthäus) und einem nathanischen (Lukas) Jesusknaben sprechen darf.
Die landläufige Theologie hat, um nicht annehmen zu müssen, daß bei Matthäus und Lukas zwei verschiedene Geschlechtsregister und daher auch zwei Jesusknaben zu finden sind, die gequältesten Kombinationen gewagt. Ihre Neigung, überhaupt so zu tun, als wären die Evangelisten sehr naive und sozusagen primitive Leute gewesen, die schleuderhaft arbeiteten und nicht einmal in der Bestimmung des Großvaters Jesu (bei Matthäus ist es Jakob, des Matthäus Sohn, und bei Lukas Eli, Matthats Sohn) einig waren. Selbst wenn man diese törichte Annahme irgendwie für berechtigt hielte, bliebe aber noch immer eine andere, ebenso unhaltbare Auffassung übrig, nämlich die, das Urchristentum, das jeden Buchstaben der heiligen Bücher anbetete und zu deuten wußte, wäre über so grundlegende Abweichungen, wie sie die Geschlechtsregister bei Matthäus und Lukas aufweisen, stillschweigend zur Tagesordnung übergegangen. In der Tat hat sich schon Julius Afrikanus (im 2. bis 3. Jahrhundert n. Chr.) bemüht, die Leviratsehe (Schwagerehe) des herrschenden mosaischen Geschlechtes zur Erklärung der Widersprüche heranzuziehen und Joseph wohl für den rechtlichen Sohn des Eli (bei Lukas), aber gleichzeitig für den leiblichen Sohn des Jakob (bei Matthäus) anzusehen. Allerdings darf nicht vergessen werden, daß das Geschlechtsregister des Matthäus auch mit den Stammbäumen der Königsbücher des alten Testamentes nicht übereinstimmt, sondern daß Matthäus ab und zu eine oder mehrere Generationen ganz ausläßt, woraus sich für die theologische Forschung ergibt, Matthäus habe, um seiner »spielerischen« Generationenrechnung (2 x 7 bis David, 2 x 7 bis zur babylonischen Gefangenschaft und 2 x 7 bis Jesus, also im ganzen 42 Generationen) willen, nach Belieben unter anderem drei wichtige Könige ausgelassen, die in den Königsbüchern natürlich vorkommen. Es stellt sich aber überraschenderweise heraus, daß der Evangelist Matthäus im Zählen »geirrt« hat: die letzte Zählung (von der babylonischen Gefangenschaft bis Jesus) stimmt nicht, sie umfaßt nicht vierzehn, sondern dreizehn Glieder. Rudolf Steiner hat auch diesen »Irrtum« erklärt; die Geschlechtsregister sind zugleich die Stufen eines bei den Essäern üblichen Einweihungsweges, auf dem das Bewußtsein seinen ursprünglichen himmlischen (übersinnlichen) Inhalt zurückerlangt. In der alten Einweihung spielt die 7 als Zahl eine besondere Rolle, Matthäus nennt 6 x 7 Stufen, aber die 7. Siebenergruppe als oberstes Stockwerk wird auf 6 x 7 Stufen erreicht. Dazu kommt nun etwas nicht minder Merkwürdiges. Lukas läßt die Siebenzählung ganz beiseite, er führt sie äußerlich, im Gegensatze zu Matthäus, nicht durch, aber in der Lukasweihe ist die Formel 6 x 7 doch auch enthalten. Lukas zählt 7 x 11 Stufen, also 77, enthält aber bloß 76 Stufen, so daß auch bei ihm (nur daß er sich dabei nicht äußerlich irrt) eine Stufe fehlt, die Stufe, die der Initiierte selbst als eigentliche erste Stufe einnimmt. Wie dem immer sein mag, sicher ist, daß, wenn das Lukasevangelium nicht vorhanden wäre, es nur einen Jesusknaben, den salomonischen Jesus, gäbe; den zweiten Jesusknaben, der allerdings später mit dem nathanischen Jesus in eine Gestalt zusammenfließt, fügt das Lukasevangelium ganz unzweideutig hinzu. Zwischen den beiden Jesusknaben liegt nach Steiner ein Geburtsjahr. Der Zusammenhang zwischen beiden, den Steiner gibt, stellt sich nun, auf die kürzeste Formel gebracht, so dar: in Bethlehem wie in Nazareth leben um dieselbe Zeit zwei Ehepaare Joseph und Maria; beide Joseph stammen aus dem königlichen Geschlechte des Hauses David, der zu Bethlehem von Salomon, als dem einen, der zu Nazareth von Nathan, als dem anderen Sohne Davids; sie repräsentieren zusammen ein königliches und ein priesterliches Geschlecht, denn Nathan war, schon seinem Namen nach, Priester. Das Kind aus der salomonischen Linie, zuerst geboren, ist der Jesusknabe des Matthäusevangeliums; die Könige aus dem Morgenlande beten es an und seine Eltern fliehen (mit ihrem in Bethlehem geborenen Kinde) vor der Verfolgung des Herodes nach Ägypten. Ein knappes Jahr später kommt der Jesusknabe der nathanischen Linie (auch in Bethlehem) zur Welt; seine Mutter ist ein besonderes, jungfräuliches, noch im Mädchenalter stehendes Wesen; an der Krippe dieses Jesusknaben beten die frommen Hirten; der hethlehemitische Kindermord ist vorüber und vergessen; gefahrlos bringen die Eltern das Kind nach Jerusalem, um dann mit ihm nach Nazareth zurückzukehren. Aus Ägypten heimgekommen, nimmt nun das früher in Bethlehem seßhafte salomonische Ehepaar in Nazareth seinen Wohnsitz. Beide Familien, das salomonische und das nathanische, wohnen fortab am gleichen Ort; beide Jesusknaben wachsen zusammen auf, der ältere, durch Inkarnationen gegangen, sehr reif und weise, der jüngere (nathanische) zart von Leib und Seele, himmlisch gut und tief an Gefühl; während dem älteren (irdischeren) Jesusknaben noch Geschwister geboren worden (Markus 6, 3) bleibt der jüngere, nathanische, das einzige Kind seines Vaters und seiner jungfräulichen Mutter. Beide Familien sind durch Freundschaft miteinander verbunden. An einem Osterfest, von dem das Lukasevangelium erzählt, pilgern beide Familien gemeinsam nach Jerusalem. Hier im Tempel spielt sich nun die merkwürdige Szene ab, die Lukas schildert. Der Jesusknabe sitzt im Tempel, mitten unter den Gelehrten, hört ihnen zu und legt ihnen Fragen vor. Seine Eltern können ihn kaum erkennen. Im Tempel, so faßt Steiner den mystischen Vorgang zusammen, ging der salomonische Jesusknabe auf den nathanischen über.
Die Erzählung des Lukasevangeliums schildert diesen Umzug des salomonischen Jesus-Ichs in das nathanische Jesus-Ich; vom zweiten, anderen Jesusknaben ist darin nicht die Rede; sie gibt eben nur das Resultat und die Wirkungen des Ergebnisses auf die Eltern. Materielle Gehirne, Tatsachen- und Wirklichkeitsintellekte, können ein Geschehen solcher Art weder verstehen noch sich irgendwie vorstellen, aber Steiner selbst hat in einem wundersam zarten Bilde den Vorgang ungefähr so beschrieben, wie er für irdische Gedankengänge noch zur Not faßbar ist. Die beiden Kinder, miteinander aufgewachsen und traumhaft spielend, kommen ungefähr zur selben Zeit beim Wendepunkt der Geschlechtsreife an; sie steigen aus dem Kinderlande ins Land der Jugend auf; sie erwachen, und der Eintritt in den Tempel übt tiefgehenden Einfluß auf ihr junges Gemüt; die Knaben sind sich förmlich fremd geworden, aber in dem irdischeren von beiden, im gedankenreiferen und ichstärkeren, salomonischen Jesusknaben blüht ein Strahl der Erkenntnis über das eigene und über das Wesen des nathanischen Knaben auf, der in seiner Gemütstiefe und Seelenreinheit göttliches Licht verbreitet. Ein Gefühl unsagbarer Hingabe erfaßt den salomonischen Jesusknaben; das Gefühl dieser Hingabe wird so stark, daß es sich zum realen Geschehen wandelt. Der zurückgebliebene, schwächere, ganz im Gemüt versonnene und weltfremde nathanische Jesusknabe erwacht in einem verstärkten Ich, in neuer Denkkraft, denn der andere, der salomonische Jesusknabe hat seinen Wesensinhalt in die leuchtende Seelenschale des nathanischen Jesusknaben ergossen. Drei Tage lang suchen die nathanischen Eltern ihr Kind und können es nicht finden. Am dritten Tage finden sie Jesus im Tempel, staunen über seine Weisheit und finden ihn völlig verändert, ohne seine Reden verstehen zu können. Nach diesem großen Erlebnis ziehen beide Familien wieder nach Nazareth zurück. Der salomonische Jesusknabe, der sein Ich geopfert hat, siecht dahin und stirbt kurz nachher; sein Ich lebt im nathanischen Jesusknaben weiter. Indessen segnet nun auch der Vater des salomonischen Jesusknaben, Joseph, das Zeitliche und bald darauf stirbt die junge Mutter des nathanischen Jesusknaben. Der nathanische Joseph nimmt die salomonische Maria samt ihren Kindern zu sich. Der nathanische Jesusknabe lebt nun also mit seinem leiblichen Vater, der Stiefmutter Maria und den Geschwistern des verstorbenen salomonischen Jesusknaben zusammen. Später stirbt dann auch der nathanische Joseph, und der nathanische Jesus schließt sich mit besonderer Innigkeit an die Stiefmutter Maria an. Eine Reihe tiefer und schwerer Erlebnisse, die im fünften Evangelium geschildert werden, führt den nathanischen Jesus nun bis zur Jordantaufe, in der er sein Ich opfert, um das Christuswesen in sich aufzunehmen. Man kann sich ungefähr vorstellen, welche Wirkungen diese Feststellungen Steiners auf die zünftige protestantische und katholische Theologie ausübten. Sie schalten ihn einen ausgemachten Phantasten, wenn nicht Schlimmeres und waren außerstande, auch nur in den Vorhof des Jesusgeheimnisses, das in dieser Erkenntnis von den beiden Jesusknaben steckt, einzudringen, obgleich hier allein der Schlüssel zum Mysterium Menschensohn und Gott liegt. Vergeblich wird man den zünftigen Bibelkritikern vorhalten, daß das apokryphe Ägypterevangelium die Frage, wann das Reich des Herrn kommt, damit beantwortet, daß es wörtlich sagt: »bis die zwei Eins sind und das Auswendige wie das Inwendige und das Männliche mit dem Weiblichen«; vergeblich, für solche Ohren, erzählt die salomonische Jesusmutter in der Pistis Sophia, daß das andere Ich des Knaben ihr erschien, daß sie es an das Bett gebunden habe und daß es dann mit dem Jesus eins geworden sei; vergeblich, für ihr Auge, sitzt auf dem Raffaelgemälde im Berliner Museum die Madonna mit dem Jesuskind auf dem Schoße, links von ihr ist ein zweites Kind zu sehen, dem Jesuskind unverkennbar ähnlich, rechts aber der kleine Johannes der Täufer; vergeblich gewahren sie auf dem Gemälde »Jesus im Tempel«, das von Borgognone stammt und in Mailand aufbewahrt wird, die Jesusmutter unter den Schriftgelehrten, vorne, links vom Beschauer, aber den Jesusknaben noch einmal, mit erloschenen Augen, kränklich von Aussehen und im Abgang begriffen; vergeblich erinnern sie sich daran, daß im Sohar, der einen Teil der jüdischen Kabbala bildet, gesagt wird: »der Sohn Davids und der Sohn Josephs sind Zwei, nicht Einer«. Die Mitteilung Steiners über die beiden Jesusknaben und die Opferung des Jesus-Ichs, vollzogen am Jordan, damit die Christuswesenheit in den Leib des nathanischen Jesus einziehe, sind der Ausgangspunkt einer völlig neuen Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Strahlt doch gerade aus dieser Enthüllung des Golgathageheimnisses die Lehre von den drei Leibern des Jesus von Nazareth hervor, die in ihrer Zusammenfügung eine Menschheitssubstanz darstellen, so auf der Erde niemals im Fleische verkörpert war. Ohne dieses Mysterium wäre ein geistiges Chaos ohnegleichen über das Abendland hereingebrochen. Es gibt eine elementarische Welt voll dämonischer und gespenstiger Kräfte, die immer bereit sind, sich des Menschen zu bemächtigen und ihn zum Spielzeug ihrer sinnlosen Impulse zu machen. Der Christus, der in den drei Leibern des nathanischen Jesus Wohnung nahm, hat, in die Erdenaura eingeflossen, die dunklen sibyllinischen Kräfte um ihre Stoß- und Triebkraft gebracht. Ihre Macht ist für immer vorbei!
Drei Evangelien erzählen von Johannes dem Täufer und von der Taufe im Jordan, die nichts anderes offenbart als den Einzug des Christus in die irdischen Leiber des Jesus. Lukas berührt das Geheimnis der Geburt des Johannes, Matthäus schildert aber auch die Persönlichkeit des Rufers in der Einsamkeit und Markus die Teilnahme des heiligen Geistes an der Taufe im Jordan. Es besteht kein Zweifel darüber, daß Johannes der Täufer der Sekte der Essäer und Nasiräer angehört hat. Wohl verkündigt er noch Essäerweisheit, aber er beeilt sich, gleichzeitig festzustellen, daß diese Weisheit schon im Abklingen begriffen ist und daß mit dem Christusjesus etwas Neues, Unmeßbares, alle Dinge Veränderndes in die Erdenentwicklung eintritt: »Er (Christus) muß wachsen, ich aber abnehmen«. Bei Markus ist Johannes der Täufer ein priesterlicher Engel, der die Taufe vorzunehmen hat (»Siehe, ich sende meinen Engel vor Dir her«). Bei Matthäus aber stehen die ebenso erhabenen wie düsteren Ausdrücke (in des Johannes Munde) von der Axt am Baume und der Worfschaufel auf der Tenne, und der erste Evangelist schildert den Engel als einen Menschen, Lukas aber als einen Hierophanten, der den Abstieg zur Erde vollendet hat und den Rückweg von der Erde zum Himmel antritt. Der »Prediger in der Wüste«, der »Rufer in der Einsamkeit«, beide Bezeichnungen drücken die Mission dieses wundersamen und rätselhaften Mannes aus. Die Seele, dank dem Pharisäertum, verarmt und verhärtet. Eine neue Menschheit wird geboren und Christus ist ihr Ahnherr. Kam in Bethlehem der Jesus zur Welt, so ereignet sich am Jordan die geistige Geburt des Christus. Immerhin bleibt noch übrig, das Dunkel des Taufaktes selbst zu erhellen. In alten Zeiten war der Umstand, daß der Mensch an den vier »Elementen«, Erde, Wasser, Luft und Feuer wesentlichen Anteil hat, etwas Selbstverständliches und Bekanntes. In der Anthroposophie sind die Elemente den vier niederen Wesensgliedern des Menschen zugeordnet: dem physischen Leib das Erdige, dem Äther- oder Lebensleib das Wässerige, dem astralischen die Luft und dem Ich das Feuer. Dort, wo Johannes der Täufer von den beiden verschiedenen Taufen spricht (er tauft mit Wasser, der Christus aber wird mit Licht und Feuer taufen), berührt er selbst das Wesen der Wassertaufe, die ohne Zweifel eine Institution des Essäer- und Nasiräerbundes ist. Die Wassertaufe war ein strenger und ernster Einweihungsakt. Der Täufling, unter das Wasser getaucht, erlebte einen todesähnlichen Prozeß: die Heraushebung des Äther-, Astral- und Ichleibes aus dem physischen Körper. In den Schriften der freien Christengemeinschaft wird mit jener plastischen Deutlichkeit, die ihnen eigen ist, sehr anschaulich gesagt: die Seele erlebte auf diese Weise die Dreifältigkeit des menschlichen Wesens; sie sah auf den physischen Leib herab, der die Vaterkräfte trägt; ihr höheres geistiges Ich, im Erdensein mit ihr vereinigt, sah diese in Gestalt einer Taube oder der feurigen Zunge; sich selbst aber erlebte sie gleichsam in der Mitte, durch die Taufe, eben ein zweites Mal, als Sohn des Vaters, geboren. So stellt sich die Taufe im Jordan als eine letzte große Zusammenfassung der vorchristlichen Einweihungsgeheimnisse dar. Daraus erklärt sich auch, warum der Taufakt von heute nur noch eine sehr blasse Erinnerung an das schwere Todeserlebnis der Johanneischen Ganztaufe bedeutet; der Taufakt von heute und die Taufe im Jordan sind äußere (außerbiblische) Taufen, die Christustaufe mit Luft und Feuer aber eine innerliche: das Feurige und Luftige wird in das Erden- und Wasserelement hinabgetragen. Der heilige Geist als das reinste und höchste Seelentum und das heilige Feuer des Christus-Ichs ziehen in den Menschen ein, dessen Bewußtsein für die geistige Welt er erweckt. Nicht ohne Grund fällt also, am 6. Jänner, die Huldigung der drei Könige mit der Jordantaufe und dem Feste der Epiphanie zusammen; es ist das gemeinsame Fest des Opfers, das hier begangen wird. Die Taufe wird zum Weihefest der Geburt zweifacher Art: das Mysterium des Herabsteigens und das des Empfangenwerdens sind in ihr vereinigt. Über der Wiege jedes neugeborenen Kindes schwebt der Dauerstern (Goethe, im Faust, II) des gottentkeimten Ichs, darin das Geheimnis der Individualität, der Besonderheit verborgen liegt. Jeder Mensch hat seinen Namen in der göttlichgeistigen Welt, bei dem er gerufen werden kann. Darum wird die Namengebung in der Bibel als etwas Feierliches, Bedeutsames und durchaus Mysteriöses erörtert. In der geistigen Welt gibt es keine Herde und keine Masse, hier ist der Mensch keine bloße Nummer, kein Fleck wie jeder andere im Mengenbild, sondern ein ewiges, unzerstörbares, gegen alle anderen Iche scharf abgegrenztes Ich. So wurden Geburt und Taufakt zum Fest der Weltbejahung, demgegenüber die buddhistische Meinung, es wäre besser, gar nicht geboren zu sein, bloß die Trauer und die Schauer des Auf-die-Welt-Kommens zum Ausdruck bringt. So enthält das Christentum als mystische Tatsache auch den Grundkern, die Grundformel, das Grundschema einer Eroberung der Einheit der Menschen aus dem Innern heraus, aus dem Leben der Individualitäten. Eine Fülle grandioser Imaginationen eröffnet sich dem Blick, der auf die Geheimnisse der Menschwerdung des Christus und dessen Einzug in die Jesushülle gerichtet ist. Nur ein Blick dieser Art kann auch das Wunder des Taubengeistes bei der Taufe im Jordan ermessen und in der Schauung neu erleben lassen, was sich nun in jedem auf den göttlichen Sinn eingestellten Taufakt wiederholt. Mit der Taufe im Jordan schließt das Wunder der Jesuswerdung und Christuserfüllung ab. Nach ihr beginnt das Christusdrama: die Opferung auf der Schädelstätte zu Golgatha.
Wie schon erwähnt wurde, fehlen, was die Zeit zwischen dem 12. und 30. Jahre im Leben Jesu betrifft, jegliche äußere, historischen Mitteilungen. Die apokryphen Berichte, zumeist in einem späten Zeitpunkte niedergeschrieben, besitzen legendenhaften Charakter. Steiner hat in zwei Vorträgen über das Mysterium von Golgatha gesprochen. Umgeben von einer geistesverlassenen Menschheit, fühlt die Jesusseele das nahende Gotteswesen, von dem sie überwältigt wird. Kein irdischer Mensch kann sich dieses Jesusringen mit der göttlichen Sendung auch nur annähernd vorstellen. »Unter der Last der Stunde«, sagt ein Kapitel der wundervollen Evangelienbetrachtungen, die im Rahmen der »freien Christengemeinschaft« erschienen sind, »unter der Last der Stunde zerbrechend, ganz vom Willen zum Opfer und zur Hingabe erfüllt, stieg Jesus von Nazareth unter Anspannung seiner letzten Kräfte zum Jordan hinab, um sich von Johannes taufen zu lassen; er opferte sein Ich völlig hin, um den Christus in sich aufzunehmen. Zur Stunde, in der das Jesus-Ich am Jordan starb und in seine geistige Welt zurückfand, verkörperte sich das Christuswesen in der Leibes- und Seelenhülle des Jesus; es war das gewaltigste Seelenereignis, das die Menschheitsgeschichte aufzuweisen hat.« An die Jordantaufe schließen sich nun zunächst die drei Szenen der Versuchung, der das Christus-Jesus-Wesen ausgesetzt war. Zur selben Zeit, da der Christus-Jesus auf Erden wandelte, spätestens um die Mitte des ersten Jahrhunderts, darin Christi Lebens- und Seelenwandel spielt, kommt ein hellenischer Theurge aus Thyana in Kappadokien nach Athen, dessen Heiligtümer er besichtigt. Er reist umher, um die Menschen das religiöse Leben zu lehren, unterstützt, ein großer Magier aus dem Osten, seine Lehren durch Wunder, die er kraft der alten Einweihungen verrichtet und die in manchem Punkte mit den Wundern, die der Christus Jesus verrichtete, übereinstimmen. Die Welt dieser Zeit war voll mit Magiern, die ihre Kraft aus den sich auflösenden Geheimschulen des Ostens, der Pythagoräer und der alten hebräischen Einweihungen schöpften. Versuche der geistigen Welt, wie sie an den Christus Jesus herantreten, fanden bei Magiern dieser Art leichteres Spiel. In die drei Wesensglieder des menschgewordenen Gottes senken jene Wesen vergeblich ihre Verführersubstanz: der Christusleib widersteht dem Wesen, das ihn lehren Will, aus Steinen Brot zu machen, der Ätherleib des Christus wehrt dem Versucher, der ihn dazu verführen will, sich, mit den Lebenskräften spielend, von der Zinne des Tempels hinabzustürzen, und der Astralleib des Christus Jesus bricht vollends die Macht des Verführers, der ihm nahelegt, lieber die Rolle eines Weltbeherrschers als die eines Weltenerlösers auf sich zu nehmen. War in diesem Erlöser, der als hoher Sonnengeist und Menschensohn über die Erde wandelte, nicht tatsächlich eine so übergroße Macht und Schöpfungskraft, daß es reizte, sie zu mißbrauchen? Liegt aber nicht gerade darin, daß die Versucher, bei aller »Gewißheit«, doch nicht wußten, wen sie vor sich hatten, die ganze Tragödie der Versuchung überhaupt? Wie dem immer wäre, anschließend an die drei Versuchungsszenen ist es jetzt wohl auch an der Zeit, ein Wort über die Wunder Christi zu verlieren. Niemand, der die Evangelien mit rein irdischen Augen ansieht, will mit ihnen zu tun haben. Neben den Kurzsichtigen, die an Wunder überhaupt nicht glauben, stehen andere, die etwas von Legende und Sage stammeln, wenn von Wundern die Rede ist, oder sie versuchen allerhand aus der reinen Vernunft geholte Deutungen. Trotzdem steht fest, daß die Wunder Christi einen unlöslichen Bestandteil der Evangelien und des Christentums als einer mystischen Tatsache bilden; versucht man sie aus dem Rahmen herauszureißen, der sie umgibt, so geht bei diesem Gewaltprozeß das Evangelium und mit ihm das ganze Mysterium von Golgatha unwiederbringlich verloren. Alle Unsicherheit löst sich aber sofort, wenn die Wunder Christi als Einweihungserlebnisse erkannt werden; dann haben sie die volle geistige und seelische und, wenn man so will und wenn man es so versteht, auch materielle Wirklichkeit. An allen drei Wirklichkeiten hatte der Spötter und Zyniker Heinrich Heine teil, als er, ein Jude, in seinem herrlichen Gedichte »Frieden« schrieb: »halb im Wachen und halb im Schlummer, schaute ich Christus, den Heiland der Welt; im wallend weißen Gewände wandelt er riesengroß über Land und Meer«. Nicht ohne Grund ist aber an dieser Stelle gerade von den Wundern des Apollonios von Thyana gesprochen worden. Auch Apollonios, der große Magier, wandelte auf dem Wasser; er vermochte es als magische Verrichtung, die, die Schwerkraft aufhebend, Gesetze der physischen Welt über den Haufen warf. Bei spiritistischen Sitzungen mit einem hervorragenden Medium geschehen, wahrhaftig, noch heute, Wunder. Ist die Aufhebung der Schwerkraft keines? Sind die Scherze und Spässe der Dämonen und Elemente des Zwischenreiches nicht Mirakel von ganz besonderer, wenn auch gespenstiger Realität? Sind die »Erscheinungen Verstorbener«, die Materialisationen von Armen und Beinen, die Klopflaute, Lichterscheinungen, das kalte Licht und der kalte Wind, der den Seancenraum durchfließt oder durchweht, nicht wundersame Begebenheiten für brave Materialisten, die sich in den Kopf gesetzt haben, hinter diese Geheimnisse zu kommen, und die erleichtert aufatmen, wenn ihnen hinterdrein jemand sagt, daß es sich um »Schwindel« oder um »Selbstbetrug« gehandelt habe? Die Wunder Christi gehören auf ein anderes Blatt; sie sind frei von Magie, sie sind keine Wunder für Materialisten und Sinnesmenschen; ihre Wirklichkeit besteht auf höherer Ebene, in den Regionen der göttlichgeistigen Welt, für Jeden Erlebnis, der die höheren Sinnesorgane entwickelt.
So verlockend es wäre, an dieser Stelle über die Wunder und die Gleichnisse des Christus Jesus zu sprechen, so gebieterisch mahnen die Grenzen, die diesem Buche gesetzt sind, zu einsichtiger Beschränkung des ungeheuren Stoffes. Er drängt nun zur geisteswissenschaftlichen Erkenntnis vom Mysterium auf Golgatha selbst. Das Drama des Erlösers beginnt mit der Taufe im Jordan, es erreicht seinen Höhepunkt in der Kreuzigung und Auferstehung, seinen Abschluß in der Erscheinung des Christus Jesus vor seinen Jüngern. Im Leben und Erdenwandel des Christus Jesus gibt es, noch weniger, als es ihn ansonsten gibt, keinerlei Zufall. Der Prozeß Christi und dessen martervoller Tod, der Tod eines Gottes, der auch als Mensch keinen Fehler besaß, hat sich wirklich so abgespielt, wie ihn die heiligen Schriften erzählen und schildern. Gleichzeitig sind aber alle diese äußerlichen Geschehnisse in der geistigen Welt bedeutsam und voll von geheimnisvollen Beziehungen zur Welt- und Menschenentwicklung im göttlichen Sinne. Die Allmacht Roms, die Christi Ankläger gewähren ließ, obzwar sie selbst von der vollkommenen Unschuld des Angeklagten überzeugt War und auch genug Machtmittel besaß, die schmachvolle Hinrichtung des Gottesmenschen Jesus zu verhindern, war, wenn man den Ausdruck im Rahmen einer so ernsten Sache gestatten will, mit ihrem Latein zu Ende. Es war ihr Karma, auf das schreckliche Karma einzuwirken, das den Henkern des Christus Jesus gebot, sich zu Vollziehern einer schändlichen Tat aufzuwerfen. Die »erleuchteten« Priester Judas waren ebenso blind und unfähig, diese ihre schmähliche Rolle zu durchschauen; so sind sie denn als finsterer Teil der Christustragödie für ewig in das Mysterium von Golgatha eingebaut und in ihrer Art mit diesem selbst, wenn auch im trübsten Verstände, unsterblich geworden. Der Prozeß Christi war zugleich ein Kampf des Gesetzes gegen das ewige und unzerstörbare Ich, das zur Christusstunde sich für immer vom Gesetze loslöst, indes das Verbleiben im Gesetze zwei dreifache Abirrungen zuläßt: Almosen, Beten und Fasten einerseits, Anhäufung von Schätzen, irdische Sorgen und angemaßte Richterfunktionen anderseits; diesen beiden je dreifachen Abirrungen stehen die drei Stufen christlichen Werdens gegenüber: Gebet, die enge Pforte zum Himmelreich und die Wachsamkeit derer, die auf dem Wege dahin sind. In den drei Worten Gethsemane, Ölberg und Golgatha ist das Mysterium des Christusjesus für immer verankert; sie haben heute allerdings einen ganz neuen Klang. Der Hügel Golgatha, den das Johannesevangelium selbst als »Schädelstätte« deutet, ist von allen anderen Erhebungen dieser Erde für immer unterschieden. Die alten Eingeweihten wußten um das Geheimnis, daß die Erde, die Stätte alles Lebens, selbst ein lebendiges Wesen ist, dem Menschen vergleichbar, den sie hervorgebracht hat und trägt. Ist Palästina das Haupt, so ist Golgatha die Stirnwölbung dieses Wesens. Die Schädelstätte war zur selben Zeit, wie das Adamsbuch, ein Dokument alter Weisheitsüberlieferung, zeigt: Mittelpunkt der Erde, Schatzhöhle, Grab Adams und Altar des ewigen Hohepriesters Melchisedek. Wie die Erde, so hat auch jeder einzelne Mensch seine Schädelstätte; starb auf Golgatha der Gottmensch, so erstarb im Haupte des Menschen der Geist des Menschen zum bloßen Gedanken. So bleiben Golgatha und Menschenschädelstätte für immer miteinander verbunden; des Menschen Haut wird von der mineralischen Substanz der Knochen gebildet, und der Totenschädel ist seit jeher das Symbol des Todes gewesen. Hier wird auch die Erkenntnis eines neuen Lebens geboren, das, nicht mehr an den Leib gebunden, dem Tode benachbart ist, so wie das Auferstehungsgrab Christi und der Garten des Josef von Arimathea Golgatha benachbart waren. Auf Golgatha ist der Kelch des Menschenwesens bis an den Rand gefüllt. Eine göttliche Trinität, am Jordan geoffenbart, spiegelt sich hart und irdisch in den drei Kreuzen auf der Schädelstätte. Hier hängt Gottes Sohn in der Mitte zwischen Ahriman, als dem linken Schacher, der den Gottvater um der Stoffwelt willen verließ, indes Lucifer, der rechte Schacher, eine Abirrung des heiligen Geistes, den Weg zum Christus, weicher und heller als Ahriman, noch immer finden kann. Christus zwischen Ahriman und Lucifer: hier bietet sich dem schauenden Menschen das erschütternde Bild einer »allzu irdischen Trinität«. Hinzugefügt sei hier noch, daß in den sieben Worten Christi am Kreuze ein besonderes Geheimnis steckt, kulminierend in dem alten Kultwort: »Es ist vollbracht!« Wen ein gütiges Schicksal das ungeheure Erdenmysterium von Golgatha in seiner geistesgeschichtlichen und ewigen Wahrheit erkennen läßt, der wird von diesen rein schemenhaften Andeutungen, die aus den Schriften der Christengemeinschaft geschöpft sind, wohl zu den Quellen selbst zurückgreifen, die, trotzdem auch sie nur Andeutungen geben können, doch die ganze herrliche Wunderwelt des wahren Christentums angelweit vor dem erschauernden Blicke öffnen, deren Torwächter Rudolf Steiner ist. In einem späten Augenblicke meines an Irrtümern reichen Lebens bin ich, selbst wie durch ein Wunder, vor diese Wunderwelt geführt worden, der eine unirdische, alles verklärende Kraft entströmt. Sie gab mir am Abend meines Daseins eine Fülle von Erkenntnissen, von denen nicht gesprochen werden kann, ohne daß die ganze Armseligkeit und Nichtigkeit des Wortes und Begriffes Dank wie brennender Stoff auf unbewehrte Haut fiele. Die echte Dankbarkeit verstummt, weil sie keine Worte mehr findet.
Das Mysterium von Golgatha schließt, um ihm eine äußerliche Grenze zu setzen, obzwar es längst in das Wesen der Erde übergegangen ist, mit der Auferstehung, mit dem Pfingsterlebnis der Apostel und mit der Paulusbekehrung auf dem Wege nach Damaskus. Es ist notwendig, von diesen Dingen an der Hand des Evangeliums und der Apostelgeschichte zu sprechen, ehe von den weiteren Schicksalen des Urchristentums die Rede ist. Man kann diese außerordentlichen Begebenheiten allerdings nicht verstehen, ohne das persönliche Christentum und die Berufung der ersten Jünger zu berühren, mit denen die große Frage der Nachfolge Christi einsetzt. Im Evangelium des Matthäus wird erzählt, wie Jesus, am Gestade des Galiläischen Meeres wandelnd, zwei Schiffe mit je einem Bruderpaare sieht, Netze nach Fischen auswerfend, eines ferner auf dem offenen Meere, das andere näher dem Ufer. In einem Fischerkahn sitzen Simon Petrus und Andreas, im anderen Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus. Das Meer verlassend, legen sie am Ufer an. Auch auf dem Grunde dieser Begebenheit liegt ein Gleichnis, ein reales Schicksal, das seinen vollen Sinn erst vom Geistigen her empfängt. Dann wieder erzählt Johannes, im vierten Evangelium, Johannes der Täufer sei mit zweien seiner Jünger an dem Wege gestanden, wo Jesus vorüberging. Der Täufer weist auf Jesus hin und sagt: »Das ist das Lamm Gottes.« Daraufhin werden die beiden Johannesjünger Jünger Jesu; einer von den beiden ist Andreas, der sogleich seinen Bruder Simon Petrus mitbringt; der zweite der Jünger, der bei Johannes dem Täufer stand, wird nicht genannt. Das Verschweigen eines Namens kehrt im Evangelium sehr oft wieder; auch der Name des Jüngers Johannes kommt im vierten Evangelium nicht vor, was sicherlich nie ohne Absicht geschieht; so bleibt denn immerhin die Vermutung offen, der zweite Jünger des Johannes sei Johannes gewesen, der darauf seinen Bruder Jakobus zu Christus Jesus führte. Andreas und Johannes gehen als Jünger des Täufers, Petrus und Jakobus aber durch Vermittlung ihrer Brüder zu Christus über. Die Evangelisten Matthäus und Johannes scheinen auf verschiedenen Wegen zur Berufung der ersten Jünger gelangt zu sein: Matthäus durch das Schauen der beiden Schiffe auf dem Meere, Johannes aber als Mitwirkender bei dieser Gelegenheit selbst. Wie dem immer wäre (insbesondere ob nun Petrus und Jakobus wirkliche oder nur im Einweihungssinne Brüder des Andreas, beziehungsweise des Johannes waren oder nicht): die geistige Kraft, die dieser Szene entströmt, eröffnet auch das Geheimnis des persönlichen Christentums und der Nachfolge Christi überhaupt. Der Christus Jesus gibt den Mut zur Persönlichkeit. Nur das heimatlos gewordene Ich vermag die Nachfolge Christi anzutreten. Am Schlusse des Johannesevangeliums aber sagt der Jünger, »den der Herr liebhatte«: »dieses ist derselbe Jünger, der von diesen Begebenheiten Zeugnis gibt und dieses geschrieben hat, und wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist.« Man weiß ferner, daß es nach und nach zwölf Jünger waren, die den Gottessohn umgaben, und daß Simon Petrus unter ihnen die erste Stelle einnahm, obzwar gerade er es war, der Christum »dreimal verleugnete«, Johannes aber der Jünger, den der Herr liebhatte. Ein erstaunlicher Vorzug also, ebenso erstaunlich wie die Figur Judas', des Verräters, unter den zwölf Jüngern. Auch der Name Petrus, den Simon von Jesus empfängt und der »Fels« heißt, will so gar nicht mit dem Wesen dieses Jüngers übereinstimmen, der auszusprechen bestimmt war: »Ich kenne diesen Menschen nicht!« Dennoch liegen auch in diesen scheinbaren Widersprüchen tief geistige Dinge verborgen. In der Zahl 12 der Jünger offenbaren sich kosmische Beziehungen zu dem Tierkreis, in den Jüngern, Petrus Jakobus und Johannes klingt das ewige, flüssige und luftige Element an, indes der Christusjesus selbst das feurige darstellt. Auch der Name Jona, den Christus im Matthäusevangelium dem Petrus beilegt (ein hebräisches Wort, das zu deutsch »Taube« heißt, mit dem Johannesnamen enge verwandt ist und jenem Propheten zukommt, der das Abenteuer mit dem Walfisch hatte), als die »erste, große Verwirklichung des Christuswortes von der Erneuerung des Jonaszeichens«, liegt in dem siebenstufigen Johannesweg bis zur Auferweckung des Lazarus. Durch die Hinzufügung des »Jona« zu Petrus wird angedeutet, daß sich Petrus- und Johannesweg nun berühren. Damit wird also die Johannesnähe des Petrus bezeichnet: die Johannes-, aber auch die Judas-Nähe, die in den Worten »Hebe dich, Satan, von mir«, verborgen liegt! Beim Abendmahl sitzt Petrus zwischen Judas und Johannes! Als tiefes Weltsymbol endlich erscheint der Schlaf des Petrus im Garten zu Gethsemane: hier schläft der »Fels«. Dazu tritt die Szene mit dem Knecht, dem Petrus das Ohr abschlägt, symbolisch tief bis in die innersten Winkel. Die zwölf Apostel sind zwölf Arten von Menschen. Der Judas, geisteswissenschaftlich in die Nähe des Oedipus zu rücken, ist ein Märtyrer des Intellekts und die Judastragödie zugleich die Tragödie des jüdischen Volkes jener Zeit, das zwischen Bewunderung und Furcht vor dem Römertum schwankte. Mit ihr ist der Verrat des Judas zu erklären, der den Christus zu einer magischen Tat gegen das Römervolk zwingen will. Zwischen diesem Apostel und Jesus besteht eine schwere dramatische Spannung, dieselbe Spannung, die zwischen niederem und höherem Ich vorhanden ist. In Judas, der die Haltlosigkeit einer vereinsamten Ichseele darstellt, lebt Ahasver, »der ewige Jude«; er huldigt dem Grundirrtum unserer Zeit, daß immer etwas »getan« werden muß; unsere Zeit hat das Judasprofil, die Ruhelosigkeit einer falsch verstandenen Sozialität; sie führt zu Wahnsinn und Selbstmord. Nicht ohne innerliche Berechtigung ist Judas der Abgott des Bolschewismus geworden; dieser unheimlichsten aller ischariotischen Unternehmungen auf Erden. Der Skorpion Judas starb an dem Stich, den er dem Menschensohne versetzte. Welches Ende mag den heutigen Anhängern des Judas vorbestimmt sein!
Der Tod des Christus Jesus auf Golgatha und was sich nach diesem Ereignis begab wird in den vier Evangelien je nach dem Grade der Imagination, Inspiration und Intuition, als ein erschütterndes Weltendrama geschildert. Nach Matthäus entstand, von der sechsten Stunde an, eine Finsternis über dem ganzen Land bis um die neunte Stunde; um die neunte Stunde aber, mit lauter Stimme schreiend: »Mein Gott, mein Gott! Warum hast Du mich verlassen?«, starb der Menschensohn. Einige Umstehende, die das hörten, sagten: »Er ruft den Elias!« Da lief sogleich einer von ihnen hinzu, nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr und gab Jesu zu trinken; die anderen aber riefen: »Warte, laß uns sehen, ob Elias kommt, ihm zu helfen«; da nun Jesus noch einmal laut gerufen, gab er den Geist auf; und siehe: der Vorhang im Tempel riß von oben bis unten entzwei, die Erde bebte, die Felsen spalteten, die Grüfte öffneten sich, viele Leichname entschlafener Heiliger standen auf, verließen ihre Gräber und wandelten. Der Hauptmann und die Wachleute erschraken sehr und sprachen: »in der Tat, dieses war Gottes Sohn!« Jedes Wort dieser Schilderung hat mystischen Sinn. Die sieben Stufen des Christustodes (Fußwaschung, Geißelung, Dornenkrönung, Kreuzigung, Grablegung, Auferstehung und Himmelfahrt) sind Stufen der christlichen Einweihung, die vom Neophyten des ersten Christentums innerlich meditiert und erlebt wurden, so wie sie denn auch in den Exerzitien des Ignaz von Loyola eine große Rolle spielen. Am Kreuze offenbart sich das Geheimnis der Menschengestalt; nicht ohne Sinn nennt der Mensch sein Rückgrat sein »Kreuz« und zugleich die Schwelle zur anderen Welt. Durch den Tod am Kreuz wird der Mikrokosmos zum Makrokosmos. Die Erde bereitet sich zum Empfange des Gottessohnes vor, dessen Blut sie aufgenommen hat: die Sonne verfinstert sich, die Erde bebt und verstorbene Heilige stehen aus ihren Gräbern auf; auch die sechste und neunte Stunde sind nicht bedeutungslos und im gleichen Grade erfordert die Szene mit dem Essigschwamm und die Deutung des Schmerzensrufes des Erlösers als Anrufung des Propheten Elias besondere Aufmerksamkeit. Im Essig liegt das Geheimnis des Weines, ganz abgesehen davon, daß er in den Allegorien der alten Alchimisten einen bestimmten Platz einnimmt. Der Prophet Elias, eine der glanzvollsten Gestalten des alten Bundes, fällt in die Zeit des Zerfalles in ein Reich Juda und ein Reich Israel; König Ahab hat die Tochter des Königs von Tyrus und Sidon zur Frau genommen, Jesabel. Die großen religiösen Prophetenschulen Palästinas spielten ungefähr dieselbe Rolle wie die Initiationsstätten und Mysteriumschulen der andere Völker, als Zusammenfassungen Eingeweihter und Einzuweihender, die vor allem mit einem außerordentlichen Witterungsvermögen für alle Wandlungen in der menschlichen Bewußtseinslage ausgestattet und für Vorgänge solcher Art besonders empfänglich waren. So konnte denn eine so gewaltige, den König Ahab mit Schauern erfüllende Gestalt wie die des Propheten Elias nicht auftreten, ohne daß die Propheten ihre nahende Kraft gespürt hätten. König Ahab, der wohl vom Propheten Elias gehört hat, aber ihn, obwohl heimlich erschauernd, sucht, weiß nicht, daß Elias sein Nachbar ist und sich in unmittelbarer Nähe aufhält. Seine Gattin Jesabel aber weiß es und hütet ihr Geheimnis auch gegenüber dem Gatten: daß Naboth (wie ihn die Bibel nennt) der physische Träger der geistigen Individualität des Elias ist. Eine Hungersnot bricht aus und Elias-Naboth erlebt sie als eine geistige Sendung, die zur Gotteserkenntnis führt. Ein Zeichen entscheidet darüber, ob Ahabs Gott Baal oder der Gott des Elias die Zukunft und Entwicklung trägt. Das Zeichen spricht deutlich genug: Elias siegt über die Priester des Gottes Baal auf dem Berge Karmel. Jesabel, die sein Geheimnis kennt, sinnt nun auf den Tod des Elias, der die Gefahr erfassend, seine Nachfolge zu bestimmen unternimmt. Sein innerer Blick wird auf einen Mann namens Elisäus gelenkt, den er nach Damaskus einlädt, um ihn in sein Geheimnis einzuweihen. Jesabel aber beginnt ihr Rachewerk: die Tötung des Naboth als des Trägers des Elias. Ahab und Jesabel sterben bald darauf, im Kriege mit Jehu, eines gewaltsamen Todes. Nach Naboths Tode aber geht die Kraft des Elias auf den Elisäus über. Elias ging mit dem Elisäus aus dem Gilgal fort, womit keineswegs etwa ein Ort, sondern ein Wanderzustand der Seele von Leib zu Leib gemeint ist. Elisäus aber sieht den Elias »im Wetter gegen den Himmel aufsteigen«; des Elias Mantel aber fällt zurück: die geistige Kraft, die den Elisäus zu umhüllen hat, geht auf ihn über. Die Prophetenschüler, die den Elisäus sehen, gehen nun auf diesen zu, verneigen sich vor ihm und erkennen, daß der Geist des Elias auf Elisäus ruht. In die Sprache der Mysterien übertragen, weist diese Schilderung auf nichts Geringeres als auf neue Impulse, auf eine Erneuerung und Stützung des Jahveglaubens. Hier setzt aber auch schon der Augenblick ein, der das Eliaserlebnis mit dem Christentum verbindet. Elias ist der Vorläufer, ist der Prophet des Christus; in Damaskus empfängt Elisäus die Erleuchtung durch Elias, in Damaskus wird Saulus zum Paulus durch die Erleuchtung des Christus Jesus. Die starke Stromkraft prophetischen Lebens reicht tief hinein in das neue Testament und bis in die Offenbarung Johannis. Die jämmerliche Gedankenleere der materialistischen Bibelforscher, die in den Weissagungen der Propheten einen Betrug sehen, der nach der »Erfüllung« verübt wurde, ist außerstande, zu bemerken, daß es auch heute noch Prophezeiungen gibt, die in Erfüllung gehen; sie stehen nicht an, in ihrer docta ignorantia so weit zu gehen, daß sie behaupten, Christus wäre dort, wo er »Weissagungen« verspricht, eben bloß ein »Kind seiner Zeit« gewesen. Die Leute, die den sterbenden Christus rufen hörten, sprachen nicht ohne Grund die Meinung aus, der Sohn Gottes habe Elias gerufen. Die Worte Christi »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen« stehen im 22. Psalm; sie sind ein alter Einweihungsspruch, bezogen auf die große Loslösung des Seelisch-geistigen vom physischen Leibe. Bleibt nicht das Groteske zurück, daß die materialistische Finsternis in diesen Kreuzesworten des Gottessohnes einen Beweis dafür sieht, daß der Christusjesus selbst nicht verstanden habe, warum ihn »Gott« verließ? ...
Im Markusevangelium sind weitere mystische Einzelheiten zum Tode des Christus Jesus zu finden: daß man ihm Myrrhenwein zu trinken gab, den er aber nicht nahm; daß es die »dritte Stunde« war, da sie ihn kreuzigten; daß über seinem Kreuze zu lesen stand »König der Juden«; daß die, die ihn höhnten, an sein Versprechen erinnerten, den Tempel zu zerstören und ihn in drei Tagen wieder aufzubauen, und ihn aufforderten, sich selbst zu retten und vom Kreuze herabzusteigen. Im Lukasevangelium steht die Ansprache an die Töchter Jerusalems mit dem wundervollen Ausklang vom grünen und vom dürren Holze; bei der Kreuzigung rief der Gottessohn: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«; ferner: die Weissagung an den Mitgekreuzigten: »Wahrlich, ich sage Dir! Heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein.« Die letzten Worte des Gekreuzigten endlich: »Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist.« Das Johannesevangelium endlich gibt den Streit über die Inschrift auf dem Kreuze mit dem echt römischen Worte des Pilatus wieder: »Was geschrieben ist, bleibt geschrieben!«; die Ansprache an den Jünger: »Siehe, Deine Mutter!«; die Worte Christi: »Es ist vollbracht«, die zum letzten Male die Formel der Geheimeinweihungen wiedergibt und mit neuem Sinn erfüllt; die Bestätigungen der Weissagungen im Buche Mosis, in den Psalmen und im Zacharias. Drei Tage sind nach diesen erschütternden Begebnissen verflossen. Gottes Sohn ist unter Qualen gestorben wie ein armer sündiger Mensch. Gleich nach dem Tode am Kreuz aber setzen die Erscheinungen ein. Matthäus erzählt, daß die Grüfte sich öffneten und die Leichname der entschlafenen Heiligen aufstanden, um in die heilige Stadt zu gehen, und dort vielen (nicht allen) erschienen. Die Oberpriester und Pharisäer sind ihrer Sache nicht sicher. Josef von Arimathäa hat den Leichnam in ein neues Grab geschafft, das er in Felsen hauen ließ; sie erinnern sich nun, daß der Gekreuzigte gesagt hat, er werde nach drei Tagen wieder auferstehen; sie bitten auch den Pilatus um Grabwächter, damit kein »neuer Betrug« geschehe; Pilatus bewilligt die Wache und diese versiegelt den Stein. Am ersten Wochentage nach dem Sabbath kommen Maria von Magdala und die »andere Maria«, um nach Christi Grab zu sehen. Da erschüttert ein Erdstoß den Boden; ein Engel steigt vom Himmel; er wälzt den Stein von der Öffnung und setzt sich darauf; sein Anblick war »wie ein Blitz, sein Kleid war glänzend weiß wie Schnee«. Die Wächter fallen wie tot um. Der Engel aber spricht zu den Frauen; er redet zu ihnen vom auferstandenen Heiland und weist ihnen den Weg des Wiedersehens nach Galiläa. Da laufen nun die Frauen zu den Jüngern, voll Furcht und großer Freude. Es geschieht nun (noch immer nach dem Bericht des Matthäus) etwas Seltsames. Christus selbst erscheint den Frauen und wiederholt die Botschaft des Engels. Die Oberpriester, betrogene Betrüger, sehen das Spiel verloren und lassen für Geld die Mär vom Diebstahl des Leichnams verbreiten, an die, bis zum heutigen Tage, auch die materialistische Auslegung glaubt. Die elf Jünger (ohne den Judas, der seine Tat gesühnt zu haben glaubt) gehen nach Galiläa, auf den Berg. Dort sehen sie den Heiland und beten ihn an; einige aber zweifeln, was das Johannesevangelium zur Erzählung vom ungläubigen Thomas erweitert. Jesus aber tritt näher zu ihnen und spricht die heiligen Worte von »aller Gewalt im Himmel und auf Erden«, die ihnen gegeben ist; er trägt ihnen ihre Sendung vor, alle Völker zu lehren und sie zu taufen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes; ich bin, schließt er zärtlich, »bei Euch alle Tage bis ans Ende der Welt!« Mit diesen Worten hat der Erlöser ohne Zweifel eine Gemeinschaft gegründet; sie enthalten sein feierliches Testament, gegeben vom Auferstandenen. Die Sendungsreden im Matthäus und Lukas sind klar bis auf den Grund: Christi Reich ist nicht von dieser Welt, um keine äußere Gewalt kann es sich handeln, sondern alles soll im Geiste der dienenden Liebe geschehen; man kann nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen; kein Verlangen nach irdischer Herrschaft soll die Jünger erfüllen, denn die Gewalt im Himmel und auf Erden bleibt in des Christus Jesus Erlöserhänden. Markus läßt den Heiland bei Tisch unter den Jüngern erscheinen; denen, die der Nachricht von seiner Auferstehung Zweifel entgegensetzen, erteilt er Verweise wegen ihres schwachen Glaubens und ihres harten Sinnes. Dann folgt auch hier der Auftrag an die Jünger, aber nicht so allgemein wie bei Matthäus; sie haben das Evangelium allen Völkern zu verkünden; auch zählt der Herr die Wunder und Zeichen auf, die sie wirken werden. Erst dann steigt der Erlöser zum Himmel und sitzt zur Rechten Gottes. Matthäus und Markus endigen damit ihren Bericht von Christi Erlösungswerk. Lukas aber läßt zwei Männer in glänzender Kleidung erscheinen. Am selben Tage, da sich die Auferstehung ereignet hat, gehen zwei der Jünger nach Emmaus bei Jerusalem; während sie über das Wunder sprechen, gesellt sich Christus zu ihnen, aber sie erkennen ihn nicht. Kleophas, der eine von ihnen, »gibt dem Fremdling« Bericht. Christus läßt ihn ruhig erzählen, dann setzt er ihr Gespräch fort, beruft sich auf alle Schriftstellen, die von der Auferstehung sprechen, begleitet sie bis ins Haus, setzt sich zu Tische, nimmt wie beim Abendmahl das Brot, segnet und bricht es und teilt ihnen zu. Jetzt gehen ihnen die Augen auf, er selbst aber entschwindet ihren Blicken. Sie gehen nun hin und berichten den anderen Jüngern ihr Erlebnis, und während sie erzählen, steht wiederum Jesus plötzlich in ihrer Mitte, vollendet seine Rede, wiederholt den Auftrag an die Jünger, führt sie hinaus nach Bethanien und segnet sie. Dann steigt er zum Vater auf. Mit dieser bedeutsamen Erzählung schließt Lukas. Johannes aber wiederholt den Bericht von den beiden Engeln. Maria klagt: »meinen Herrn hat man genommen und ich weiß nicht, wohin man ihn gebracht hat.« Da sieht sie Jesus selbst vor sich stehen und erkennt ihn nicht. Da ihr nun die Augen aufgehen und sie den Lehrer begrüßen will, spricht er die mystischen Worte: »rühre mich nicht an, denn noch bin ich nicht aufgefahren zu meinem Vater!« Am ersten Abend des Wochentages nun sind die Jünger hinter verschlossenen Türen beisammen. Jesus tritt mitten unter sie und spricht die mystischen Sendungsworte. Thomas wird gläubig: acht Tage später, da der Herr seine Wundmale aufzeigt; Johannes allein aber weiß noch eine andere Begebenheit: die Szene am See Tiberias. Sie weist die großen Wege des Petrus- und des Johanneschristentums. Die Apostelgeschichte aber spricht davon, daß der Erlöser sich noch durch vierzig Tage den Jüngern zeigte. Sie sehen mit ihren Augen die Himmelfahrt des Herrn und erleben das Pfingstwunder. Eine letzte Erscheinung, zu Damaskus, bringt die Verwandlung des Saulus in den Paulus. Die Saat geht auf ...
Man kann eine Darstellung des Mysteriums von Golgatha nicht schließen, ohne eines seltsamen Dokumentes zu gedenken, das in die kanonischen Schriften Aufnahme gefunden hat: der Apokalypse des Johannes, »welcher bezeugte das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi, so wie er es gesehen«. Die Apokalypse steht nicht durch Zufall am Schlusse des neuen Testamentes; sie stellt gleichsam »den höchsten Gipfel erhöhten Bewußtseins« dar, als eine Inspiration, die klar und gewaltig von den Daseinskreisen der geistigen Welt spricht. Durch vier große Kreise führt der kühne Flug des Sehers Johannes zu den Höhen des »himmlischen Jerusalem« empor. Zu jedem dieser vier Kreise gibt es sieben Stufen: sieben Sendschreiben an sieben Gemeinden, sieben Siegel, sieben Posaunen und sieben Zornesschalen. Die sieben Gemeinden sind irdische Orte, in denen die Christussaat aufgegangen ist; die sieben Siegel verschließen ein Buch, voll Schauungen der Bilder göttlichgeistiger Welt; die sieben Posaunen, geblasen von sieben Engeln, gehen vom geistigen Schauen zum geistigen Hören über; die Posaunen und die Posaunenklänge sind keine irdischen Instrumente, keine irdische Musik; in den sieben Zornesschalen aber ist die unmittelbare Berührung mit den Wesen und Kräften der Geisteswelt gegeben.
Das fünfte der sieben Sendschreiben ist an unsere Zeit gerichtet; wir selbst sind die Gemeinden von Sardes, denn wir haben den Namen, »daß wir leben und sind tot«. Im Namen des Ichbin empfing unsere Zeit ihr Ich, ihre Persönlichkeit, das Höchste, wozu unsere Zeit gelangen kann, doch ist es so, wie unsere Zeit es empfängt, tot, nicht erfüllt von den Impulsen der göttlichgeistigen Welt, sondern gebunden und verloren an das Sein im Erdenstoffe, im Felde der sichtbaren Geschichte; auch hierin ist das fünfte Siegel für unsere Zeit bedeutsam: in Verbindung mit den vier ersten Siegeln erscheinen vier Reiter auf einem Pferde; unter dem fünften Siegel sah der Seher »die Seelen derer, die erwürgt waren um des Wortes Gottes willen und um des Zeugnisses willen, das sie hatten«; es ist die Höllenfahrt der Menschheit im fünften Zeitraum, der der unsere ist, und der ein weißes Kleid angetan wird, die reine Seelenhülle, die das Geistige erschaut. Da nun der fünfte Engel posaunt, öffnet sich das Tor unseres niederen Seelenlebens. »Erschauet!« ruft der sechste Engel, dessen Ton schon in unseren fünften Zeitraum hinüberklingt, »des Himmels Buch! Erkennet die Mysterien, denn es ist an der Zeit!« Unsere Erde hat bisher 171 Formenzustände durchgemacht, sie steht gegenwärtig im 172. Zählt man die 171 durchlebten Formzustände zu den schon verflossenen hinzu, so stehen wir mit 343 Abschnitten mitten im mittleren Abschnitt der Weltentwicklung überhaupt, im 344. streng genommen, also ein Stück über die Mitte hinaus. Man kann also wohl sagen: 344 ist die Zahl unserer Entwicklung. In der Apokalypse taucht nun als Zahl der kommenden Entwicklung die Zahl 666 auf, entstanden und gebildet dadurch, daß in jenem Zeitpunkte kommender Entwicklung 6 Runden mit 6 Haupt- und 6 Unterrassen durchgemacht sind, der in der Apokalypse als der Kampf Aller gegen Alle gekennzeichnet wird. Dreimal hat die Menschheit Gelegenheit, der Verführung zum Bösen zu erliegen: die letzte wird in der Zahl 666 gegeben sein, die in den Mysterienzahlen 400, 200 und 660 verborgen liegt. Verschiedene Deutungen der mysteriösen Zahl 666 sind von Leuten gegeben worden, die den Schlüssel zum Geheimnis darin gefunden zu haben glaubten, daß sie, für die Zahlen die hebräischen Buchstaben einsetzend, glücklich den Namen Nero herausbekamen. In Wahrheit, und Steiner war auch hier der Erste, der den Vorhang von diesem Geheimnis (60, 6, 200 und 400) zog, ergibt diese Zahlreihe den Namen Soradt, des Sonnendämons, der ein Gegner des Lammes ist. Darum sagt der Apokalyptiker: »Hier ist Wahrheit; wer Verstand hat, überlege die Zahl des Tieres, denn diese ist 666!« Es ist schon angedeutet worden, daß unserem Erdenzustand drei weitere Zustände folgen: Jupiter, Venus und Vulkan, als letzte Glieder des großen Schöpfungszyklus, darin die Menschheit eingeschlossen ist. Am Ziele der Erdenentwicklung, da die Erde sich zu vergeistigen anschickt, gibt es zwei große Gruppen: die einen, die das Christusprinzip in sich aufnehmen, und die anderen, die sich ihm verschlossen halten. Aus der ersteren Gruppe gehen die Menschen hervor, die den Plan zur kommenden Jupiterentwicklung entwerfen, einen neuen Himmel und eine neue Erde bewohnen, das neue Jerusalem, begleitet von einem Trabanten, besiedelt von denen, die den zweiten Tod wohl erlebten, aber keine Möglichkeit hatten, das Jupiterbewußtsein zu erlangen. Noch auf diesem Jupiter aber gibt es Möglichkeiten, die Zurückgebliebenen und Gesunkenen zu erheben. Erst die Venusentwicklung bringt die eigentliche große Entscheidung. Die Apokalypse ist kein dunkles Dokument; es ist vor allem möglich, Aussagen darüber zu machen, zu welchem Zwecke sie geschrieben worden sein mag. Der Apokalyptiker beschreibt in gewaltigen Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen kommende Zeiten, in denen der Mensch die Wesenheiten wiederschaut, die der Erde Entwicklung leiten. In alten Zeiten besaßen die Menschen die Kraft des natürlichen Hellsehens. Das alte Hellsehen verschwand und machte dem Selbstbewußtsein Platz. Im Augenblick des Gottestodes auf Golgatha aber verwandelte und veränderte sich die astralische Aura der Erde; die sich mit der Christuskraft durchdrang. In dieser Kraft liegt die Waffe zur Überwindung des zweiten Todes. Die Quellen der Apokalypse reichen zurück in die alten Mysterien, deren Ergebnisse das Christentum als mystische Tatsache in sich vereinigte und zusammenfaßte. Für Menschen, die von den alten Mysterien nichts wissen, bleibt das Mysterium von Golgatha nichts als ein simpler Vorgang: Tod eines politisch Verurteilten. Es sind wahrhaftig Posaunen nötig, um die Menschen aus solchem dogmatischen Schlafe zu reißen!