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Einige Tage vor dem Aufbruch ging ein großes Rundschreiben, das von allen unterzeichnet war, an Knut ab. Hierin wurde er zu einem Rendezvous mit der heimkehrenden Gesellschaft in Glatveds Hotel am Hönefos bestellt und beauftragt, ein wohlgeordnetes Mittagsmahl, sowie Zimmer für die Nacht in Bereitschaft zu halten. Da man es unter keinen Umständen passend fand, den Einzug in die Stadt per Eisenbahn mit Hinz und Kunz zu halten, mußte die erforderliche Anzahl Pferde und Wagen für den weiteren Transport der Expedition zur Stelle sein.
Lotte Falck, Severin Langberg, und wer von dem Kreise sonst noch in der Hauptstadt anwesend war, sollte sich Knut anschließen.
– – Der Einzug am Hönefos von der Bahnstation fand unter Anführung von Herman Abel und Bergliot in feierlicher Prozession statt.
Es wurde geklagt, daß man an der Tête zu schnell gehe. Herman Abel erklärte, die Kaiserin sehne sich nach dem Wiedersehen mit ihrem Eheherrn – – –!
Im Hotel waren Zimmer bestellt und das Mittagsessen auf briefliche Ordre von Knut Arneberg bereitet. Weder er selber noch jemand von den anderen war erschienen.
Für Bergliot lag ein Brief da.
Mein Herz! Es paßt mir heute nicht, zu reisen. Ich habe an das Hotel geschrieben und hoffe, daß ihr alles in bester Ordnung vorfindet. Langberg bittet mich, euch zu grüßen und zu sagen, daß er keine Zeit hat, – Lotte, daß sie nicht ganz wohl ist.
Das Mädchen möchte gern einigermaßen genau wissen, wann Du nach Hause kommst. Ich glaube, es hat mit der Wäsche zu thun.
Viel Vergnügen! Beste Grüße an alle.
Dein Knut.
Bergliot teilte den andern den Inhalt des Briefes mit einem Lächeln mit.
Aber während des Umkleidens vor Tische brach sie plötzlich in ein krampfhaftes Weinen aus. Sie ließ sich das Kursbuch kommen und wollte sofort nach Hause reisen; in Dreiviertelstunden ging ein Zug – –! Dann warf sie das Kursbuch hin; sie wollte überhaupt nicht wieder nach Hause. In Verzweiflung, Zorn, Trotz, Weinen ging sie im Zimmer auf und nieder. – – –
Karen Ragnhild saß ganz entsetzt in ihrem Frisiermantel da, die Brennschere in der Hand. So hatte sie Bergliot noch niemals gesehen. Und sie sagte die schrecklichsten Dinge. Sie sei das unglücklichste Geschöpf auf Gottes Erdboden, ihr ganzes Leben sei verfehlt – – sie lebe in einer einzigen, großen Kränkung, zu ertragen sei es nicht mehr.
Erst als sie finster und schweigend, aber ruhig, auf einem Stuhl saß, wagte Karen Ragnhild mit ihr zu reden.
»Aber liebste Bergliot! – – Wenn nun der Brief Knut gerade in einem ungelegenen Moment getroffen hat – –«
Mit funkelnden Augen griff Bergliot in die Tasche und holte den Brief heraus, um ihn Karen Ragnhild zu geben. Plötzlich aber besann sie sich, zerriß ihn in kleine Fetzen und warf ihn in den Ofen.
»Ach nein,« sagte sie ruhig, »du hast ja natürlich recht.«
»Du bist nur zu nervös, Bergliot! Und natürlich enttäuscht, – so im ersten Augenblick – – – !«
»Ja natürlich!« lachte Bergliot munter und stand auf. – »Ein wenig enttäuscht, – so im ersten Augenblick.« Sie ging an ihre Toilette und machte sie so sorgfältig und elegant, wie es die Verhältnisse gestatteten.
Bei Tische war die Stimmung anfangs etwas gedrückt, bis sich Bergliot erhob und an ihr Glas schlug:
»Indem ich hiermit meine Krone und meine Würde niederlege, erteile ich meinen letzten kaiserlichen Befehl: Morgen abend haben sich die sämtlichen Anwesenden bei Knut und mir einzufinden!«
Unter großem Jubel wurde die Einladung angenommen und beschlossen, daß man mit dem Morgenzug in die Stadt fahren und die Ausgabe für die Wagen sparen wolle, das Geld aber solle zu Champagner und dergleichen zu morgen abend bei Knut und Bergliot verwandt werden.
– – – Am nächsten Vormittag fuhren Bergliot und Karen Ragnhild zusammen vom Bahnhof vor die Stadt. Es regnete leise, und die Luft lag schwer und schwül in den Straßen.
Karen Ragnhild war bedrückt. Wie würde sich jetzt das Wiedersehen zwischen Knut und Bergliot gestalten? Die Scene im Hotelzimmer gestern wollte ihr keinen Augenblick aus den Gedanken. – –
Bergliot selber aber saß ruhig neben ihr und machte von Zeit zu Zeit eine Bemerkung. Vor der Stadt wurde die Luft ein wenig frischer und Bergliot sprach eifrig interessiert davon, daß es heute abend doch vielleicht noch gutes Wetter werden könne, – für die Gesellschaft.
Karen Ragnhild beruhigte sich. Bergliot selber schien ja alles von gestern völlig vergessen zu haben; sie saß so ruhig und natürlich da und sagte, wie sie sich darauf freue, wieder zu hause zu sein. – –
Und die Begegnung zwischen Knut und Bergliot war denn auch herzlich und schön; auf ihre Weise, nicht gerade stürmisch, aber gerade so, wie Karen Ragnhild es an ihnen bewunderte: mit dieser gegenseitigen Sicherheit und dem tief eingelebten Verständnis, das keiner geräuschvollen Bethätigung bedurfte. – – –
Karen Ragnhild bemühte sich, baldmöglichst auf passende Weise zu verschwinden. Aber es gelang ihr nicht. Es war, als hätten sie sich verschworen, sie daran zu hindern. – – –
Nur einen Augenblick bemerkte Karen Ragnhild etwas Ungewöhnliches. Es war beim Mittagessen, das in aller Eile bereitet war, als Bergliot Knut erzählte, daß sie alle die andern für den Abend eingeladen habe. Knut wurde so sonderbar, – sein Blick verfinsterte sich, und eine dunkle Röte trat auf seine Stirn, – – aber nur einen Augenblick. Er leerte sein Glas und sagte ruhig:
»So! Das ist ja amüsant.«
Und als Karen Ragnhild nach dem Kaffee endlich allein auf ihrem Zimmer war und wußte, daß Knut und Bergliot nun gemütlich im Atelier bei einander saßen, – ging sie umher und sang und trällerte, während sie ihren Koffer auspackte. Ihr war so glücklich und leicht zu Sinn, und mit einem Lächeln gedachte sie ihrer thörichten Angst.
Und dann mußte sie notwendigerweise ins Atelier hinunter und etwas holen. Durch Knut und Bergliots Zimmer gelangte sie auf die Galerie. Sie blieb dort oben einen Augenblick stehen. Unten war alles still, nur hastige Schritte eilten über den Fußboden.
Sie beugte sich über das Geländer und wollte hinabrufen.
Unten ging Knut hastig mit harten Schritten, die Hände in die Taschen der Jacke vergraben, quer durch das Atelier. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, da er den Kopf gesenkt hielt.
Plötzlich stieß er mit dem einen Bein gegen einen kleinen Tisch, der ihm im Wege stand, und hastig wie ein Blitz schleuderte er den Tisch mit einem Fußtritt gegen die andere Wand. –
Karen Ragnhild hörte ihn krachen, sah ihn aber nicht. Sie war schon halbwegs wieder in der Thür da oben verschwunden.
Bei der großen Geschäftigkeit, die infolge der Vorbereitungen für die Abendgesellschaft herrschte, sah sie nichts von Knut. Bergliot war beschäftigt, vergnügt, ihr war nichts anzumerken, daß nicht alles so war, wie es sein sollte. Und, du großer Gott! Ein Mann kann ja einen Tisch mit einem Fußtritt zerbrechen, ohne daß darum gleich die Welt unterzugehen braucht!
Und alle Sorgen und Bekümmernisse Karen Ragnhilds schwanden am Abend in dem Glanz und Jubel der Gesellschaft, die strahlender verlief, denn je zuvor. Es war, als hätten sie noch die Gebirgsluft in den Lungen, als riefen sie auf freien Höhen und lachten unter offenem Himmel!
Das Wiedersehen mit Lotte war stürmisch, und doch stutzte Karen Ragnhild, denn Lotte sah gar nicht wohl aus.
Und das Wiedersehen mit Langberg war ganz sonderbar.
Als sie ihm entgegentrat, wurde er rot und ganz verwirrt. Dann stand er einen Augenblick schweigend da und sagte endlich ernsthaft zu ihr:
»So also sehen Sie aus!«
»Ja–a! Habe ich mich etwa verändert?«
»Nein. Das haben Sie wohl nicht gethan.«
»Dann hatten Sie mich also ganz vergessen?«
»Ja. Da ist etwas an Ihnen, was ich immer wieder vergesse.«
Sie wollte lachen, errötete aber statt dessen.
»Was ist das denn?«
»Ach nein! Es ist nichts an Ihnen. Es liegt wohl nur an mir.«
Dann lächelte er plötzlich so warm und schön und sagte:
»Aber Sie müssen mir eins versprechen, Fräulein Karen Ragnhild!«
»Und zwar was?«
»Sie müssen es mir zu allererst sagen, wenn Sie sich verheiraten wollen.«
Karen Ragnhild lachte:
»Wenn ich mich verheiraten will? Ja, – dann will ich Sie zur Hochzeit einladen.«
»Ja, – nein!« scherzte er mit seinem alten, verschmitzten Blinzeln, – »nein, wissen Sie, das ist viel zu spät. – Nein, Sie müssen mir den Betreffenden, Ihren zukünftigen Mann zeigen, damit ich ihn mir erst ein wenig ansehen kann.«
Mehr wurde nicht gesagt. Aber durch den Lärm des Abends und alle die fröhliche Heiterkeit hindurch machte sich in Karen Ragnhilds Gemüt etwas Eigentümliches, Warmes, Gedankenvolles fühlbar, das seinen Ursprung in seinem Lächeln hatte. Sie sah und hörte Langberg den ganzen Abend mit allen den andern zusammen, genau so wie früher, amüsant, spöttisch, von schallendem Gelächter umgeben, und in eifrigem Handgemenge mit Thomas Hageman. Und doch, – es war genau so wie mit Lotte Falck, – sie fand, daß er gar nicht wohl aussah!
– – – Drei, vier Wochen vergingen wie in einen einzigen Taumel. Nach dem Willkommenfest in Knut Arnebergs Haus folgte eine Festlichkeit der andern. Die »Bande« veranstaltete ein phantastisches Bachanal oben im Walde, Dyrings und Norgreens luden ein, ja selbst Thomas Hageman gab eine überaus üppige Gesellschaft in seiner Junggesellenwohnung. Hedels kehrten heim und gaben das Signal und den Vorwand zu neuen Festen.
Den Mittelpunkt aber bildeten doch Knut und Bergliot. War bei keinem der andern offiziell Gesellschaft, so fand bei ihnen im Atelier eine improvisierte Gesellschaft statt. Und jetzt war es mehr Bergliot als Knut, die die Thüren des Hauses weit öffnete. Knut ging ziemlich still umher, er arbeitete am Tage und feierte am Abend mit den andern in seiner gemütlichen, ruhigen Weise. Auf dem Wege zur Stadt und auf dem Wege aus der Stadt guckte täglich irgend jemand ein, und Bergliot und Karen Ragnhild schlossen sich den betreffenden an. Die Stadt fing wieder an, amüsant zu werden, die Sommerfrischler kehrten heim, und die Theater wurden eröffnet – – –
Karen Ragnhild schrieb Briefe an den Drost, die schimmernden Märchen glichen, und Drost Finnes Antworten bestanden hauptsächlich darin, daß er Geld sandte, Geld und abermals Geld!
»Denn ich will, daß mein kleines Mädchen Freude daran haben soll. Du mußt Dich in Bezug auf Deine Toiletten immer an die besten Schneiderinnen wenden, und jetzt, wo es zum Herbst geht, hat ja eine junge Dame viele Bedürfnisse. Laß Deine Schwester Dir mit ihrem vorzüglichen Geschmack beistehen, – wenn ich auch nicht zweifle, daß es Dir selber nicht daran gebricht – – –«
Mit Nils Börge und seinem großen Buch wurde es immer spannender, je mehr die Arbeit dem Ende zuschritt. Es giebt die wunderlichsten Übergänge und Phasen in der Seele eines solchen arbeitenden Dichters. Sie folgte ihm getreulich von der tiefsten Verzweiflung bis zum höchsten Übermut, spielte ihm in Finstern Stunden vor, wie David dem Saul, lauschte und bewunderte mit blitzenden Augen und glühender Begeisterung, wenn seine Schwingen sich zum Adlerflug ausbreiteten. Sie faßte diese Sache als heilige Pflicht, als Lebensaufgabe, zu der sie auserkoren war, auf. Nur quälte es sie, daß ihr das unverbrüchlichste Schweigen auferlegt war. Es war geradezu physisch angreifend für sie, dies alles mit sich herumzutragen, ohne es z.B. mit Bergliot oder Lotte teilen zu dürfen, alle diese Verantwortung, diese Erlebnisse, die Freude, die Zweifel, die Angst, den Jubel – – – Aber Nils Börge bat und befahl, – und selbst dem Vater konnte sie jetzt passenderweise nicht mehr hierüber schreiben. Da war so viel, worüber sich nicht gut schreiben ließ.
So drängte sie denn ihr Mitteilungsbedürfnis zurück, lag die Nächte wach und grübelte darüber nach, was sie wohl für ihren Dichter thun könne, – ob das, was sie ihm heute gesagt hatte, am Ende nicht verkehrt war, – ob sie gestern verkehrt gehandelt hatte, als sie ihm den Spaziergang in den Wald vorschlug, – ob sie ihm morgen abraten sollte, am Abend zu Dyrings zu gehen, da sich ja am Tage nach so einem Fest immer diese entsetzliche Nervenabspannung einstellte. – – – Und immer und ewig diese entsetzliche Angst, daß sie der ganzen Aufgabe nicht gewachsen sei! Daß sie sich z.B. geradezu geniert, dumm, thöricht und prüde vorkam, wenn er diese sonderbaren Fragen an sie stellte! Und er hatte ihr doch erklärt, daß ein überlegner Mensch einem Künstler gegenüber sich erhaben fühlte, – daß es dasselbe sei, als wenn man im Museum einem schönen Bildhauerwerk gegenüberstünde! Und doch war diese Geniertheit noch nicht das Schlimmste. Nein, das Schlimmste war, daß sie in Bezug auf dergleichen so dumm und unwissend war. Sie konnte nicht recht antworten, – gab vielleicht ganz verkehrte Antworten, erzählte Nils Börge den reinen Blödsinn, den er dann wieder in sein Buch aufnahm!
Aber trotz alledem war es etwas wunderbar Schönes! Und Langberg hatte recht, wenn er sagte, daß sie jeden Tag neue Weltreiche bezwinge. Gekränzt und gekrönt von dem Fest eines jeden Tages mit allen diesen prächtigen Menschen, die Eins wollten und es aus dem Grunde verstanden, – das, was Thomas Hageman in der Rede bei sich ausgesprochen hatte: Das Leben in Schönheit leben! Genau so empfand sie es: Neue Weltenreiche mit jedem Tage!
Langberg, ja! Niemand that solche Aussprüche wie er. Und wenn Langberg jetzt mit ihr sprach, da war es etwas ganz anderes als bisher. Sie war nicht mehr »das kleine Mädchen«. Langberg hatte Achtung vor ihr. Zuweilen hatte sie geradezu Bewunderung herausgefühlt. Und darauf war sie stolz. Denn von Langberg bewundert zu werden, – ja, dann mußte doch wohl etwas an ihr sein! Und er wußte oder ahnte doch jedenfalls, was sie für Nils Börge war!
Daß auch Nils Börge sie sehr bewunderte, – ja, das war nun doch eine andere Sache. die hatten ja dies eigentümliche Verhältnis mit dem Buch zu einander. Und vielleicht war Nils Börge in seinem innersten Innern ein ganz klein wenig verliebt in sie! – Das würde ja übrigens nur betrüblich sein. Denn sie war nicht in ihn verliebt. Sie hatte ja natürlich zu Anfang geglaubt, daß sie es sei. Aber nein, ach nein! Sie fand ihn ja großartig auf seine Weise, und wenn sie so mit ihm, dem großen, starken Mann zusammensaß, der ihr sein ganzes Innere brennend, gewaltsam offenbarte, – so konnte sie oft ein Gefühl des Schwindels befallen. – Aber sich in ihn verlieben, ihre ganze Seele, ihr Leben, ihre Zukunft ihm hinzugeben, mit ihm abzuschließen, – ach nein! Das lag gleichsam höher, in einer Sphäre wie zum Beispiel die, in der ihr Vater lebte. Es gab so viel Tiefes, Vertrauliches, lustiges, was nicht mit Nils Börge zusammenpaßte, – –
Im übrigen waren die Menschen prächtig, ganz prächtig und fröhlich, und nichts war schlecht, nichts beängstigend. Bergliot strahlte, – wohl hauptsächlich, weil Knut jetzt die Schwierigkeit mit dem Bilde überwunden hatte und sagte, daß er in wenigen Tagen fertig sein würde, jetzt, wo er die Pointe gefunden und das ganze Bild umgelegt hatte. Sicher und glücklich strahlte sie wie die Sonne unter allen den anderen, und Thomas Hageman erstattete ihr völlig, wofür Knut vielleicht der Sinn abging, nämlich daß sie eine junge Dame war, die sich amüsieren, mit dabei sein, ihre Jugend und Schönheit fühlen wollte! Er begleitete sie, holte sie ab, ordnete und arrangierte, war ihr Kavalier früh und spät, wie ein Bruder, immer taktvoll und fein, und – fast wie sie, Karen Ragnhild selber – glücklich darüber, daß Bergliot glücklich war. Ja, der Mann gefiel ihr. Wäre er nicht so ein wenig – steif gewesen, hätte es wohl passieren können, daß sie ihm eines schönen Tages von dem Vater und dessen Besorgnis erzählt hätte, – und daß sie dem Vater mehr als einmal geschrieben hatte, sie glaube, Thomas Hageman sei Bergliots Rettung, gewesen!
Nur Lotte! Wenn sie nur daraus klug werden könnte, was Lotte fehlte!
Das sonderbarste war, daß sie eines Tages, als sie kam und erfuhr, Doktor Prytz sitze drinnen bei Knut, sofort Kehrt machte und wegging! Und zwar, obwohl ihr Karen Ragnhild gesagt hatte, sie fände, daß Doktor Prytz viel netter sei als früher, und Knut habe das letzte Mal, als er dagewesen, dieselbe Bemerkung gemacht. Doktor Prytz habe nämlich seit ihrer Rückkehr schon dreimal seine Aufwartung gemacht. Und Knut hatte gesagt, sie müßten ihn einladen, denn das bezwecke der Mann natürlich! Ja, er habe geradezu darum gebeten!
Aber Lotte stürzte von dannen.
Und im übrigen war sie blaß, sah schlecht aus und war ganz verändert. Und wenn Karen Ragnhild sie fragte, so lachte sie nur und sagte, es habe nichts zu bedeuten.
Sie hatte Langberg eines Tages gefragt. Aber der war ganz erstaunt gewesen und hatte gesagt, er habe nichts bemerkt.
Vielleicht war sie nur besorgt um ihre Mutter, – und das war ganz überflüssig; denn alle Menschen sagten, die alte Frau Reberg sei durchaus nicht krank! – Aber vielleicht würde sich Lotte bald besinnen und auch so werden wie die anderen, – glücklich und schön!
– An jedem Tage gab es ein paar Stunden, wo Bergliot allein war. Knut ging dann in den Wald, und Karen Ragnhild war drüben bei der »Bande«.
Sie hatte während dieser Wochen jeden Tag versucht, diese Stunden zu etwas Bestimmtem zu verwenden. Sie versuchte zu lesen, Briefe zu schreiben, zu musizieren. Sie konnte nicht lesen. Das gab neuen Stoff – und sie litt unter zu viel Stoff für ihre Gedanken! Sie konnte keine Briefe schreiben. Das erforderte Klarheit über ihr Leben in Gedanken und Gefühlen, jene Klarheit, die ihr alle diese Jahre eigen gewesen war, und die sie zu einer vorzüglichen Briefschreiberin gemacht hatte. Sie lebte in Unklarheit und in banger Sehnsucht, sich klar zu ringen.
Sie konnte nicht Klavier spielen. Sie empfand zeitweise einen förmlichen Heißhunger danach, ein Tongebrause um Sinne und Gemüt zu hüllen, und sie trat an das Instrument wie der Dürstende an das Wasser, wie der Gefangene an die freie Luft. Und sie begann, sie legte ihre ganze Seele in die Musik. Dann durchzuckte sie eine Erinnerung, – wie ein Messer durchs Herz, und sie suchte nach einem andern Stück; dieses war zu leicht, zu inhaltlos, sie wählte schwerere Musik, einen Satz von Beethoven, ein Stück von Schumann. – – – Sie spielte und spielte – – sah vor Thränen die Noten nicht, vermochte schließlich die Hände nicht zu rühren, hörte nichts mehr, – – und sie weinte, weinte und schluchzte, den Kopf auf die Arme gelegt, gegen das Notenpult gepreßt. – – –
Alle Musik endete in Thränen.
Es gab Augenblicke, wo sie den Kopf zurückwarf, an das gestrige Fest dachte, laut lachte und mit den Ausgelassensten jubelte, – bis hinab zu Offenbach. Sie spielte, so daß der Flügel unter dem Tan-Tan im Orpheus erbebte, – daß die Atelierwände bei dem »Stell dich nicht so heilig an« laut mitlachten – – und plötzlich lag sie mit den Armen auf den Tasten und schluchzte.
Sie konnte nicht spielen. Sie hatte nicht den Mut, auch nur einen Ton zu hören. Ein geheimnisvoller Schrecken lag in den Tönen. Sie sprachen laut das Verborgenste aus, sie verliehen dem Unaussprechlichsten Töne, gaben ihrer inneren, schweigsamen Stimme äußeren hörbaren Klang, so daß sie sich ihrer nicht erwehren, ihn nicht zu beschwichtigen vermochte. – – –
– – Und das wiederholte sich immer wieder. Sie wollte lesen, holte das Buch – und legte es fort. Sie nahm Papier und Feder zur Hand – und legte es wieder hin. Sie setzte sich an das Klavier – und endete in Thränen, mochte sie in Trotz, in Freude oder Kummer begonnen haben.
Und nun saß sie während dieser Stunden still in einem Stuhl. Sie fühlte, wie ihr Gesicht sich verzerrte, bis es starr wurde vor blassem Kummer.
Sie litt gleichsam physische Qualen durch diese Unklarheit. Und alles war für sie eine schmerzlich verwunderte Frage.
Klar war ihr nur eins. Und dies eine brannte jeden Tag von neuem hell in ihren Gedanken: der Augenblick, wo sie im Hotel Knuts Brief erhalten hatte. Es war wie ein schwerer Schlag von eisenhartem Hammer auf ihren Kopf gefallen. Er hatte sie mit Schrecken wachgerüttelt. Und er war kurz und klar gewesen, wie der Schlag, der einen Nagel fest in die Wand schlägt.
Während der Wochen in den Bergen hatte sie geträumt. Sie hatte geträumt, sie sei aus einem bösen Traum erwacht, daß allen Ernstes etwas Bitteres zwischen sie und Knut getreten sei. Sie hatte über den bösen Traum gelacht, sich gefreut, wie herrlich es war, in frischer, freier Bergluft zu erwachen und zu sehen, daß es ein böser Wahn gewesen, ein Traum, mit dem sie sich geplagt hatte, – daß Knut ihr Herz von ihr gekehrt und anderen Dingen zugewandt habe, – daß Knuts Herz überhaupt nicht die Tiefe war, in die sie geglaubt hatte sich mit ihrer ganzen Seele für ihr ganzes Leben versenken zu können. Sie hatte darüber gelacht und sich schließlich jubelnd danach gesehnt, sich in seine Arme zu werfen und ihm zu sagen, sie sei erwacht, sei frisch und klar und habe das Schreckliche nur geträumt. – – –
Und dann traf sein Brief sie. Der Hammerschlag, der sie wirklich wach machte, ihr die wahre Wirklichkeit klar hämmerte, so daß sie sah, daß Knut nicht dachte, fühlte, verstand und wollte wie sie; daß das, worüber sie als Traum und Einbildung gelacht hatte, bittere Wahrheit war. Er hatte sein Herz von ihr abgewandt. Das hatte Knut gethan, weil sie sicher und vertrauensvoll sie selber gewesen war, weil sie nach ihren Ansichten und ihren Gefühlen gezweifelt, gesorgt und sich gefreut hatte, sicher, daß alles, was hieraus an Meinungsverschiedenheiten zwischen Knut und ihr entstehen könne, sich in einer Erfahrung mehr in einem gemeinsamen Besitz zu allen den andern, die sie bereits hatten, auflösen würde; denn sie begegneten sich bei der gegenseitigen Erklärung ja in dem gleichen Wunsch, gegenseitiges Verständnis, Zufriedenheit und Glück zu finden.
So war ihr Knut nicht entgegengekommen. Er wünschte ihre Erklärung nicht, wollte sie nicht verstehen. Er hatte sein Herz von ihr abgewandt, einzig und allein, weil eine Meinungsverschiedenheit vorlag. Der Brief war – nach Wochen der Einsamkeit und des Sehnens – eine wohlüberlegte und brutale Wiederholung dessen, was er ihr an jenem Tage, ehe sie reiste, gesagt hatte. Beinahe von dem Tage an, als sie aus Italien heimkehrten, war ihr Zusammenleben wie das zweier fremder Menschen gewesen. Er hatte ihr gesagt, warum es so gewesen sei: Weil sie nicht »Schritt« gehalten hatte. Der Brief, wie auch jeder Tag, der jetzt dahinging, war eine Bestätigung dafür, eine Wiederholung davon, und so würde es aus demselben, unveränderten Grunde fortgehen. Er lebte mit ihr, wie mit einer fremden, gleichgültig. Er ging an seine Arbeit und kam von seiner Arbeit, über die er niemals mit ihr sprach, und ließ sie thun, was sie wollte. Ob sie zu Hause oder aus war, was sie vornahm, mit wem sie zusammen war, gar nicht zu reden davon, was sie fühlte und dachte, – es interessierte ihn nicht. Bei jeder erdenkbaren Gelegenheit zeigte er ihr so deutlich wie nur möglich, daß sie ihm gleichgültig und entbehrlich war. Ruhig und lächelnd ging er seiner Wege, ohne daß sich ein Entbehren, ein trüber Gedanke oder eine Frage bei ihm regte, – er machte keinen Versuch, sie zurück zu gewinnen.
Es war ja möglich, daß sie sich von Anfang an in Knut geirrt hatte. Daß er niemals der Mann gewesen war, den sie liebte, mit dem sie ihr Leben teilen konnte. Tausend Erinnerungen widersprachen ihr. Sie wußte, daß der innerste, alles beherrschende Zug seines Lebens eine große, wunderbare Zärtlichkeit, ein Bedürfnis zu schirmen war, – – und daß sein Glück mit jeder Blume, jeder Knospe, jedem jungen Schuß stieg, den er in ihr sah und fand, – um den er seine große, schirmende Hand halten konnte. – – –
Nein, sie hatte sich nicht in ihm geirrt. Sie vermochte nicht zu schildern, welche Lebenswelten ihr durch Knut aufgegangen waren, – weit hinaus über alles, was sie früher geahnt und gehofft hatte.
Nein. Aber er war ein anderer ihr gegenüber geworden. Er hatte sein Herz von ihr abgewandt, nicht weil sein Herz ein anderes geworden war, als sie alle diese Jahre hindurch geglaubt hatte. Sondern, weil er aufgehört hatte, sie zu lieben.
Es war nutzlos, darüber zu grübeln, weshalb er sie nicht mehr liebte. Sein Herz war erkaltet. Das war eine große und unerklärliche Thatsache in ihrem Leben.
Sie wußte es. Der Schmerz darüber brannte ihr tief in der Seele. Sie wußte es – und wollte es doch nicht ganz und bis auf den Grund wissen. Denn in dem Schmerz lag Gefahr, – sie konnte schwach werden. Und dieser Schmerz, vor dem sie Angst hatte, lag in den Tönen verborgen und machte sie unheilvoll für sie, so daß sie sie nicht über sich loszulassen wagte.
Sie durfte Knut nicht mehr lieben. Das war die Klarheit, die sie besaß. Denn diese Liebe würde eine Erniedrigung sein, ihr innerster Inhalt war nicht Stärke, sondern Schwäche, nicht Bereicherung, sondern Verarmung. Sie würde ihr stolzes Selbst, das sie wie Gott liebte, dabei einsetzen.
Jeden Tag stellte sie sich die Frage: Warum kann ich nicht zu Knut gehen und ihm sagen, daß ich mich mit ihm aussprechen will? Er würde sie ja anhören – – –! Und dann sah sie ihn vor sich, so wie er jetzt mit ihr verkehrte, kalt, gleichgültig, hart. Das war nicht Knut, diesem Manne hatte sie nichts zu sagen. Er war ein anderer geworden. Und was ihn so verändert hatte, war, daß er aufgehört hatte, sie zu lieben.
Zu ihm konnte sie nicht gehen.
Diesen klaren Gedanken starrte sie an wie ein Leuchtfeuer in Nebel und Finsternis. – –
Wie konnte sie alle die anderen beneiden! Sie hatten ja auch ihre Sorgen und Kämpfe. Aber für sie war das Leben reich und mannigfaltig. Weinte es hier, so lachte es dort, verlor man an dem einen Ende, so gewann man an dem andern. Das Leben strömte über sie herein, und sie nahmen es hin wie den freien Regenfall vom Himmel.
Für sie war es so ganz anders. Versuchte sie, so zu leben wie die andern, so konnte sie ja mit ihnen lachen, Freude an ihrer und der eigenen Jugend, an ihrer Huldigung und dem warmen, freien Frohsinn empfinden – – immer aber wie ein Gast, der dort nicht heimisch war. Zu ihr kamen die Ströme des Lebens auf tausenderlei Wegen. Sie hatte wie ein Geizhals ihre Schätze sorgfältig zusammengescharrt und an einem Punkt zu einem Haufen aufgetürmt. Wie ein Kunstverständiger hatte sie ihr Auge an dem Anblick der Schätze erfreut, die ihr das Leben gebracht. Und ihr Leben gehörte ihr und Knut. Durch Knut war sie in das Leben eingeführt, aus halb unwirklichen, beinahe krankhaft scheuen Träumereien, und mit Knut hatte sie es gelebt und es lieben gelernt. Immer reicher, größer und schöner war das Leben für sie geworden, denn mit seiner männlich klaren Natur, seinem offnen, hellen Blick und seinem tiefen, ehrlichen Talent stand Knut im Bündnis mit dem Leben selber; es war hoch bis an den Himmel unter seinem Dach, – und sicher.
Aber unter seinem Dach hatte sie doch immer gelebt. Wurde sie nun mit allen ihren Schätzen da hinausgetragen, so war sie heimatlos. Und sie besaß nicht wie die andern die Fähigkeit, sich ein neues Heim zu suchen.
Heimatlos war sie unter ihnen allen. Sie konnte sie alle der Reihe nach ansehen; sie kannte niemand von ihnen, und niemand kannte sie. Nicht einmal Karen Ragnhild. Sie liebte Karen Ragnhild, liebte sie grenzenlos, sie mußte oft denken, daß ein Liebender eine solche Liebe empfinden könne; oft kam ihr das Gefühl wie Mutterliebe vor. Aber Karen Ragnhild war wie die andern, von jener glücklicheren Art; nie würde Karen Ragnhild sie verstehen können.
Nur Thomas Hageman verstand sie. Und sie war ihm aus innerstem Herzen dankbar dafür. Sie liebte ihn herzlich, dankte ihm, schmiegte sich auf mancherlei Weise an ihn, als an den einzigen von allen, denen sie sich verwandt fühlte, der die Angst der Einsamkeit von ihr nehmen konnte. Und doch war es traurig. Thomas wollte ihr wohl, er war fein und verständnisvoll und ihr herzlich zugethan, er opferte ihr alle seine Zeit, alle seine Gedanken. Aber er konnte ihr doch nicht wiedergeben, was sie verloren hatte. Alle die Schönheit und Ritterlichkeit aus ihrer Jugendzeit hatte er getreulich bewahrt und in sich behütet. Sie aber hatte fünf Jahre davon entfernt gelebt. Sie hatte das Leben kennen gelernt. Und bei allem, was er ihr sagte, jedes Mal, wenn er die tiefen Saiten in ihr anrührte, klang es wie Klage und Sehnsucht nach dem Leben, das sie liebte – nach den treuen Armen, die sie einst so warm umschlungen hatten. – –
Sie wußte, daß sie Thomas Hageman oft verletzte, ja entsetzte, wenn zuweilen die Sehnsucht nach dem Leben sie überkam, wenn sie sie in der ausgelassensten Fröhlichkeit mit den andern zu befriedigen suchte, – hinterher mußte sie sich selber darüber wundern, ja oft schämte sie sich dieser Ausgelassenheit und eine tiefe Melancholie befiel sie. Aber das wußte er nicht, konnte er nicht wissen, er verstand es nicht, – sie verstand es ia selber nicht, es überwältigte, verwunderte sie selber – daß sie vor Lebensdurst brannte.