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Eingemauert, wie sie die langen Abende über ihre Arbeit gebeugt sitzen mußte, während die Mutter mit Habichtsaugen über sie wachte, gab es für Silla keinen anderen Ausweg, als sich droben in der Fabrik zu entschädigen.
Dort huschte sie, in ihrem unterdrückten Sehnen so eifrig interessiert, daß ihre Augen beim Schwatzen, Tuscheln und Flüstern strahlten, unter ihren verschiedenen Idealen umher.
Natürlich war es Kristofa, die alles mit einem bezaubernden magischen Schimmer zu überziehen verstand. Ein kleiner Spaziergang, eine vermutliche Verlobung, ein Abend mit Tanz – alles gestaltete sich unter ihrer geschäftigen Einbildungskraft zu Begebenheiten, denen es nie an einem Helden mangelte.
Silla selbst hatte einen kleinen Roman, den sie für sich selbst behielt; – vor allen, Dingen durfte sie ihn Nikolai nicht erzählen!
Sie mußte auf der Hut sein, wenn sie mittags etwas für die Mutter bei Barbro einkaufen sollte, – daß Wejergang nicht im Laden war, um sich auf dem Wege zur Stadt seine Zigarre anzuzünden! ...
Kürzlich, als sie ihn dort wieder traf, lachte er und fragte sie, ob das »Schwarzäuglein« neuerdings vor ihm ausrücke? – so gefährlich sei er doch nicht! ... In der letzten Zeit sei sie ja wie weggeblasen! Einige munkelten, ihre Mutter halte sie wegen eines Schmiedegesellen eingesperrt – ob das wohl wahr wäre? ... Wenn ein junges Mädel zwei so schwarze Augen hätte, dürfe es sie nicht verstecken ...
Ein eigentlicher Kriegszustand herrschte zwar nicht, aber er wußte recht wohl, daß sie aufpaßte und wartete, bis er den Laden verlassen hatte, und wenn's auch noch so lange dauerte.
Dies war für sie wie ein Sonnenstrahl durch eine hohe, dicht gefügte Holzplanke!
Sonst floß ihr Leben, den einen Tag wie den andern, gleichförmig dahin. Die wenigen Male, wo Nikolai Gelegenheit fand, ein paar Wörtchen mit ihr zu schwatzen, klagte Silla ganz erbärmlich.
Sie redete sich in solche Verbitterung hinein, daß sie zu weinen anfing, weil die anderen – alle anderen! – alles mögliche tun durften, bloß sie nicht! ... Erst sei sie während ihrer ganzen Kindheit und Jugend in ein Kellerloch gesperrt gewesen und jetzt – wo sie allmählich sozusagen erwachsen wäre – sei sie geradezu in eine Zwangsanstalt gekommen!
Nachdem sie eine Zeitlang düster und traurig hierbei verweilt hatte, schlugen ihre Betrachtungen eine andere Richtung ein, und sie begann mit großer Lebhaftigkeit, sich in Gedanken auszumalen, wie sie beide – Silla und Nikolai – sich amüsieren wollten, wenn sie erst einmal der Gefangenschaft entronnen wäre. Sie wollte sich wie alle anderen jungen Leute amüsieren, und mußten sie auch in ihrem eigenen Stübchen tanzen! – und abends wollten sie rudern und fischen und Sonntags mit dem Essen in den Wald hinaus und jauchzen und jubeln, daß es von den Felsen wiederschallte ...
Ihre Augen funkelten, und sie war fast rasend ob all dem Zwang und all der Arbeit, worunter sie schmachtete!
Aber wenn sie sich nicht in Feuer redete, sah sie bedrückt aus – jedesmal schlimmer, dünkte es Nikolai. Immer sah er ihr Gesicht mit dem kläglichen Ausdruck.
Es war nichts anderes zu tun, als die Zähne zusammenzubeißen und zu hämmern – und auf die Zeit der Erlösung im kommenden Winter zu hoffen! ...
– Georgine Kornelinssen im übernächsten Pause, die beim Schuhmacher nadelte – das wäre ein ordentliches, nettes Mädchen! An die solle sich Silla nur halten, meinte Frau Holman; es dämmerte ihr langsam auf, daß Pflichterfüllung auch ihre Sorgen haben kann! Sonntags könnten sie sich ja abwechselnd besuchen, dann wären sie, hier wie dort, immer unter Aufsicht!
Ja, Madam Holman erlaubte sogar, daß Silla eines Sonntags mit Georgine in die Stadt spazieren durfte. Ab und zu mußten junge Leute ja einmal ein Vergnügen haben.
Silla hatte die ganze Woche hindurch diesen Sonntag mit brennender Ungeduld erwartet, wie ein Vogel, der aus dem Bauer befreit werden soll, und endlich brach der Morgen an, voller Erwartungen, was der Tag bringen würde ...
Sie trabten zur Stadt hinab – Silla gleichsam ungeduldig in die Zügel schäumend, nun ja nichts von den Herrlichkeiten des Tages zu verlieren.
Aus den Straßen und im Parke promenierte um diese Zeit des Sonntagnachmittags das große Publikum im feinsten Staat auf und ab und musterte sich; und Silla und Georgine hatten eine Zeitlang mehr als genug damit zu tun, sich gegenseitig auf die elegantesten Moden aufmerksam zu machen.
An der Natur schien niemand Geschmack zu finden; sie trafen nur dann und wann einmal einen müden, gelangweilten Menschen, der augenscheinlich nicht wußte, was er mit einem solchen Sonntagnachmittag anfangen sollte, und von Zeit zu Zeit stehenblieb und in die Bäume hinaufsah.
Eine Schildwache rief ihr langgezogenes »Ab-lö-sung vor!« Es klang wie ein mächtiges Gähnen in den Nachmittag hinein! – Draußen auf dem stillen, blanken Fjord lagen Boote und Fahrzeuge und schaukelten in der Hitze, in der sich kein Lüftchen regte ...
Hier war nichts los; deshalb lenkten sie ihre Schritte dem Hafen zu.
Dort war es ebenfalls einsam und sonntäglich öde ... Die Schiffe wie ausgestorben!
Also wieder durch die Straßen hinauf!
Auf dem Markte standen einige beschäftigungslose Arbeitsmänner, die sich als Sonntagsvergnügen die Zeit mit ›Dummkopf-Wechseln‹ vertrieben, während hinter ihnen die Kirche läutete und die Gläubigen zum Abendgottesdienste lud.
Müde, gelangweilt und durstig schlichen sie durch die Straßen weiter, bis sie in den bunten Strom von Menschen gerieten, die zur Brücke hinabgingen, an der alle Augenblicke Dampfer an- und ablegten, um das Publikum zu den Inseln hinüberzubefördern.
Hier entstand eine Meinungsverschiedenheit.
Georgine fand, es sei so überfüllt und vielleicht unschicklich, jetzt, wo es bereits spät wurde, noch mit dem Dampfer zu fahren.
Aber Silla meinte, sie hätten lange genug auf den Straßen Staub geschluckt, und sie müßten das bißchen Zeit, das sie hätten, ausnützen. Wollte Georgine sich etwa mit dem Amüsement, das sie bisher gehabt hätten, begnügen und heimgehen?
Es war kühl und erfrischend, da vorn im Bug des Dampfers im Luftzuge zu sitzen und sich von all dem zwecklosen Umherschlendern auszuruhen!
Von dem überfüllten Dampfer aus gingen sie dann auf der Insel an Land, wo die Fahrgäste sich nach und nach in den verschiedenen schattigen Wegen verloren.
Gleich an der Landungsstelle winkte das große, die Bucht beherrschende Vergnügungslokal, dessen Tore sämtlich einladend offen standen; ein Schwall von Tanzmusik flutete heraus. Drinnen herrschte Lust und Leben.
Silla hielt an, um einen Blick hineinzuwerfen und der Musik zu lauschen, aber Georgine zog sie ärgerlich mit sich fort.
Dort stehenzubleiben – als anständiges Mädchen! ...
Silla folgte ihr langsam; die Tanzmusik begleitete sie, Frohsinn erweckend und entzückend, den ganzen Weg am Holzgitter entlang, und sie schlürfte sie mit beiden Ohren begierig ein, während ihr der Takt im Blute wogte.
Müde, matt und verdrießlich gelangten sie endlich gegen Abend heim, und es geschah, daß Silla mitten in ihrem Bericht über all die Stätten, wo sie gewesen waren und sich amüsiert hatten, – auf ihrem Stuhle einschlief!
Die Musik spukte in ihrem Kopfe, und sie träumte sich auf einem Ball ...
*
Drinnen bei Barbro bullerte es bereits zur Zeit der Herbstkühle gemütlich im Ofen, während die Leute, die es sich nicht so leisten konnten, noch das Heizen scheuten.
Deshalb war es auch so nett, über den Ladentisch gelehnt zu stehen und zu schwatzen, und noch netter für die Auserwählten, denen das Glück zuteil wurde, zu einer Tasse Kaffee aufgefordert zu werden.
Aber in diesem letzten Punkte war Barbro bei weitem nicht mehr so zuvorkommend wie früher. Sie litt an Stimmungswechseln, war bald unnatürlich knauserig, daß es aussah, als wolle sie die Grießkörner und Kaffeebohnen einzeln zählen, dann wieder an anderen Tagen freigebig und großzügig sowohl Gästen wie Kunden gegenüber.
Mochte es nun kommen, wie es wollte – sicher ist, daß sie ab und zu in stillen Stunden grübelte ... Die Rechnung für Zucker, Grieß, Mehl und Kaffee stand wieder vor der Tür.
Die Ladenkasse war auf ein solches Ereignis nicht vorbereitet; es jammerte und klapperte kläglich in ihr, sooft sie tagsüber herausgezogen und hineingeschoben wurde.
Aber die Zeit ging unerbittlich ihren Gang, – wenn auch der Ofen im Stübchen noch so gemütlich bullerte und tat, als ob nichts los wäre.
Und so weit war es nun gekommen, daß übermorgen Zahlungstermin war!
Barbro war in einer für ihre Verhältnisse ganz und gar unnatürlichen Erregung. In der Hoffnung, einen aller-, allerletzten Aufschub zu erlangen, hatte sie heute nachmittag die lange beabsichtigte Attacke auf den Kaufmann unten in seinem Kontor versucht, hatte jedoch eine völlige Abweisung erlebt. Wenn sie jetzt nach all dem, was sie gelobt und versprochen hatte, nicht bezahlte, dann – ja, dann sah es nach dem Bescheid, den sie erhielt, so aus, als würde das Rad mit einem Ruck zum Stillstände kommen!
Das war es, was Barbro – die feinste Sonntagshaube noch auf dem Kopfe, in fieberhafter Unruhe auf und ab gehend – Nikolai klarmachte, der in der Küche saß.
Nikolais Miene ließ just nicht daraufschließen, daß er Rat wisse. Er saß im Gegenteil vorgebeugt mit zusammengekniffenen Lippen da, starrte zu Boden und rollte die Daumen. Der Hahnenkamm, die Schulterhaltung und sein ganzer Ausdruck sahen widerspruchsvoll aus.
Barbro setzte sich neben den Ofen; sie atmete schwer und seufzte beklommen ...
Exekution – das würde das Ende vom Liede sein, so wahr sie da säße! ... und um achtunddreißig Taler handelte es sich!
Nikolai wußte genau, worauf sie hinaus wollte, daß sie nur auf ihn wartete, – daß er ein Wörtchen fallen lassen sollte, an das sie sich klammern könnte. – Aber das Geld, das er zusammengebracht hatte, saß doch nicht so locker! Er wußte, was er wollte; – mit diesem Handel ging es ja doch nur immer mehr und mehr bergab!
Barbro stöhnte ... Sie könnte sich ja lieber gleich ins schwarze Grab legen!
Nikolai schnalzte nur mit dem Finger und blickte doppelt entschlossen auf den Fußboden.
Als die unerträgliche Pause lange genug gedauert hatte, und es ihr klar wurde, daß eine Antwort ausblieb, fing sie leise zu weinen an.
Sie hätte eigentlich gedacht, schluchzte sie, wenn sie einen Sohn hätte, der Werkmeister wäre, würde sie gewiß nicht hilflos in der Welt dastehen.
»Du weißt doch, Mutter, wie dringend ich jeden Schilling selber nötig habe!«
Wieder ein hartnäckiges Schweigen unter fortgesetztem Schluchzen und Tränentrocknen auf Barbros Seite!
»Vielleicht wäre zu überlegen, ob der Handel wohl lohnend genug ist!« entschlüpfte es endlich Nikolai vorsichtig.
Ob er wolle, sie solle sich wie eine Kuh hinlegen, die vor Weihnachten geschlachtet würde, entgegnete sie schwül, – »wegen so 'n paar Schillinge«.
»Ich meinte nur, es wäre das beste, rechtzeitig Schluß zu machen.«
Aber die Worte wirkten wie ein Funke im Pulverfaß; rot wie ein Ziegelstein fuhr sie auf ... Recht so! nun wollte er auch, daß sie zumachen sollte!
Sie lief, ein wenig an das von ihr erwähnte nützliche Tier erinnernd, wenn es sich losreißt und durchgeht, in die Stube und dann wieder in die Küche zurück ...
Bildete Nikolai sich ein, sie wolle zum Gelächter und Gespött aller Leute »pleite« machen, wenn sie doch bloß hinzugehen brauche, um beim Ludwig genügend Geld zu leihen – dann irre er sich aber gewaltig!
Verrückt im Oberstübchen wäre Barbro noch lange nicht.
Sie wolle sich nicht noch ein zweites Mal Nikolais wegen völlig ruinieren lassen! Es genüge, daß er sie einmal ins Unglück gestürzt hätte. – Ja-a-a, er brauche sie gar nicht so mit offenem Munde anzuglotzen! ... Weswegen sei sie denn wohl von Wejergangs weggejagt, wo sie so schön aufgehoben gewesen? Doch nur, weil Nikolai sich an Generalkonsuls Ludwig vergriffen hätte! ... J-a-a! er möge sich nur so viel wundern, wie er wolle: aber nur deswegen sei sie aus einem behaglichen Leben in Not und Elend hineingestoßen! ... Und wenn es dann so weit käme, daß Nikolai Gelegenheit hätte, ihr ein wenig unter die Arme zu greifen – dann habe er sein Geld für jemand anderes nötig!
Das tollste aber sei, daß Nikolai ihr verbieten wolle, ihre Zuflucht zu dem zu nehmen, der sozusagen ihr eigen Kind sei – wo die Not vor der Türe stehe!
Daraus würde aber nichts! Wollte er ihr nicht helfen, so müsse er sich gefälligst darin finden, daß sie zu dem ginge, der es könnte, jetzt, wo es sich um Obdach und Existenz handelte! ...
Bankerott machen? ... nein! um keinen Preis! – sie schlug auf den Tisch, daß das Kupfergeld in der Schublade klirrte.
... Ein wahres Glück, daß es noch in dieser Woche passiert sei, denn nächste Woche reise er auf ein paar Monate ins Ausland ... er habe es selbst vorgestern hier bei ihr im Laden erzählt; Silla sei auch dabei gewesen und hätte es gehört.
Nikolai war wachsbleich. Es zuckte um seinen zitternden Mund, und ein paarmal wischte er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn ...
Langsam erhob er die Augen zur Mutter empor; es war, als fürchte er, der Haß gegen sie würde in seiner Brust die Oberhand gewinnen!
»Du sollst das Geld haben!«
Er fühlte, daß er dem Weinen nahe war, und wollte deshalb hinaus, um ausrasen zu können ...
Es bedeutete für ihn und Silla wieder eine Verlängerung der Wartezeit bis zum Frühling! – und war überhaupt ein Ende abzusehen? ...
Bebend tastete seine Hand nach dem Türgriffe.
Diese neue Aufklärung, mit der seine Mutter so unerwartet gekommen war, daß er es sei, der sie ins Unglück gestürzt habe, lastete nun als weiterer Stein auf ihm und drückte ihn nieder.
Bei alledem dämmerte und glomm inzwischen eine Glut des Aufruhrs in seinem Innern, obwohl es bei seinem redlichen Bestreben, mit sich selbst ins reine zu kommen und die Wahrheit zu ergründen, einige Zeit währte, ehe sie aufloderte.
Sollte er auch Silla in demselben Abgrund versinken sehen?
Die Antwort schlug ihm klar entgegen, so daß die Flammen leuchteten und züngelten:
Nie, solange noch ein Fetzen von dem übrig war, das Nikolai hieß!
Und was seine Mutter anging, daß er möglicherweise ihr Unglück verschuldet hatte ... Hätte er etwa nicht um sich schlagen, sich immer nur wie ein Röter niederducken und niedertrampeln lassen sollen, wie er jetzt wieder auf dem besten Wege war? Seine Mutter wollte mit ihrem Handel sie nur erdrücken und ersticken, sie alle beide, ihn und Silla ... Sie sollten nicht einmal zum Atmen Erlaubnis haben!
Aber daraus sollte nichts werden!
Er war ein anderer Mensch geworden, nachdem er sich endlich klar darüber geworden war: er war Nikolai und war Werkmeister bei Frau Ellingsen!