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IV.

Der Blockmacher hielt allabendlich regelmäßig Einkehr in Selvigs Schenke, um sich den nötigen Mut für die Heimkehr anzutrinken. Wenn die Bierflasche und eine entsprechende Anzahl Schnäpse geleert waren, gerann seine anfangs etwas nervös unruhige Miene zu einer stumpf stierenden, unbeweglichen Maske. Das war die Kruste über seinem inneren, tief ins Unbewußte versunkenen Menschen, der seine tägliche Stunde des Vergessens genoß, seine Stunde des Ausruhens von dem Lebenskämpfe, den er nun einmal auf sich genommen hatte, als er sich entschied, sein Schicksal unzertrennlich an seine pflichtstrotzende Frau zu fesseln – von jenem Lebenskampfe, demgegenüber er so gänzlich versagte. Wenn er so schweigsam versonnen dasaß und über sein Glas wegstierte, fühlte man, daß er über etwas grübelte, vielleicht nur über die Zahl der Schnäpse, vielleicht über die Rechnung, vielleicht auch über eine völlig abseits liegende Gedankenwelt, in die er still wie der Naturforscher in das hoffnungslos Unergründliche starrte. Oder vielleicht sann er über das Problem der Ehe nach – und über das wunderbare Gesetz der Konsequenz, das ihn hier in die Schenkstube hineingespült hatte.

Aber »Ordnung muß sein«, sagte der Blockmacher und trat, sobald es halb neun schlug, das Werkzeug in der Hand, den Nacken gebeugt, schwankend den Heimweg an.

Sonnabends, wenn in der Werkstatt Feierabend gemacht wurde, kam gewöhnlich ein hoch aufgeschossenes, junges, flinkes Mädchen mit breiten Handgelenken, mageren Armen und etwas vorgebeugter Haltung, um ihn abzuholen. Sie trug einen Korb in der Hand und brachte einen Zettel mit, auf dem geschrieben stand, was für den Wochenlohn gekauft werden sollte.

Dann schoben die beiden ab – immer langsamer, lässiger und träger. Er blieb ein über das andere Mal stehen, sah sich, die eine Hand in der Tasche, nachdenklich um und stieß ab und zu ein »So, so!« hervor – bis er schließlich bei Madam Selvigs grüner Tür plötzlich erklärte, er habe sein »Werkzeug« da drinnen stehen; er käme sofort wieder!

Was »sofort« bedeutete, wußte Silla aus Erfahrung, und inzwischen ging sie ihre eigenen Wege hinunter zu den Lagerplätzen. –

Aber die Wiesenbrücke kam an dem schönen Augustabende ein Trupp Arbeiter nach dem andern, manche unter ihnen, gerade wie ihr Vater, von einer Frau oder einem Kinde begleitet. Das war so allgemein, so selbstverständlich, daß sie weiter keinen Gedanken darüber verlor.

Während die verschiedenen Tore und Arbeitsplätze ihre Ströme von Arbeitern ausspien, hatte sie sich einem der schmalen Gäßchen genähert, die sich, mit Holzplanken auf beiden Seiten und hohen Bretterhaufen dahinter, zwischen den Lagerplätzen hinschlängeln. Der ausgefahrene, schwarze Schlammweg führte auf einen Schmiede- und Geräteplatz.

Gleich an der Ecke lag ein Schutthaufen mit zerschlagenen Flaschen und Scherben. Da war sie mit ihrem Korbe stehengeblieben und gelangte, Schritt für Schritt zurücktretend, um den Passanten Platz zu machen, immer weiter auf den Haufen hinauf. So konnte sie schließlich über die Planke weg auf den Hof blicken.

Sie drängten sich drinnen noch in dichtem Schwarm vor einem kleinen Schuppen, der als Kontor gelten sollte, um ihren Lohn zu erhalten.

Den Hals lang gestreckt und vorgebeugt, den Kopf mit den dunklen, stechenden Augen beinahe wie ein Vogel wendend, stand sie da und spähte eifrig hinüber. Was sie vorhatte, war leicht zu erraten ...

»Na, Mädel! glotzt du nach 'm Schatz?« – kam's von unten her.

Aber da sie im selben Augenblick Nikolai entdeckte und er ihr zuwinkte, überhörte sie es und schwenkte lebhaft ihren Korb.

Er kam berußt und ungewaschen gerade von der Arbeit das schwarze Gäßchen herab.

»Oh! nun ist er weg?«

»Wer?«

»Der Rothaarige – mit den blauen Hosenträgern und der Segelmachermütze! Ich glaube, es war der da drüben von Grönlien, den sie Otterschlange nennen ... er meinte, ich stände hier und glotzte nach meinem Schatz!«

»Ich will ihm was glotzen! wenn ich den Lümmel nur vor die Pfoten kriege, dann zerhacke ich ihn zu lauter Nietnägeln ... und die roten Haare reiß' ich ihm zu Werg aus, daß sein Papachen sie nur noch in die Pechpfanne zu schmeißen braucht!«

Seine Augen lachten; aber als sie nirgends die einem so grausig schrecklichen Schicksal geweihte Otterschlange fanden, legte sich der Zorn plötzlich, und mit einem flüchtigen Wink nach oben schlug er sofort vor:

»Bäcker Ring, Silla?«

Er hatte den Wochenlohn in der Tasche, und flugs ging es auf Schleichwegen über ein paar lehmige Hinterhöfe, die an den schlimmsten Stellen mit Brettern belegt waren, zu dessen Laden hin.

Wie sie einkauften! – und wie sie schmausten!

Namentlich einige feine, teure Kuchen mit Eingemachten: gefüllt ... Die beiden Kragen, die er nach reiflicher Überlegung am Wochenschluß hatte kaufen wollen, die aßen sie jetzt auf!

Voll Selbstgefühl prahlte Nikolai, daß er jetzt sechs große, gebogene Eisenhaken geschmiedet hätte; und sie brauche sich nicht einzubilden, daß man nur so drauflos schlagen müsse – nein! da heißt's hämmern und klopfen und dann zur rechten Zeit biegen! Da unten machten sie weiter nichts als Stangen und Haken und schwere Radbeschläge; er wolle aber entweder Schlosser oder Gürtler werden ...

Silla interessierte das nicht übermäßig; sie wollte etwas von der Waldtour letzten Sonntag hören, wo er mit den Gesellen gehen durfte. Das mußte doch ganz furchtbar amüsant gewesen sein! Und getanzt hätten sie auch, nicht wahr?

»Na, das will ich meinen! Anders Berg ist ein tüchtiger Kerl, du! Er will bald selbst eine Schmiede übernehmen – unten in Svelvig; und dann heiratet er.«

»Und die anderen? – Sind die auch verlobt?«

»Hm!«

»Was?«

»O-h!«

»Was ist mit denen los? – Kannst du mir das nicht sagen?«

»Och, gar nichts – Firlefanz! – nicht eine von ihnen kriegt einen ordentlichen Schmied ... So welche, die bald mit dem einen, bald mit dem andern herumstrolchen – ne, pfui!«

»Und du? Hast du getanzt?«

»Oh, die Lehrjungen holen bloß immer das Bier! – doch wenn ich erst Geselle bin ... Aber Silla, die Uhr ... wir müssen schnell machen!« brach er plötzlich ab.

»Oh – es ist noch nicht so gefährlich. Komm! noch einen gefüllten ... hol' mir noch einen, ja? Bitte – bitte, Nikolai!« bettelte sie, und als er zum Bäcker hinübersprang, rief sie ihm nach:

»... und dann noch ein paar Brustbonbons für den Heimweg – von denen zu vier für den Schilling!«

»Kannst du's nicht unterwegs essen, Silla!« drängte er, als er wieder zurückkam, »mach' bloß flink! Denk' dir nur, wenn sie zu Hause Wind davon bekämen, daß du mit mir zusammen gewesen bist …«

»Pah! hat noch Zeit!« – sie lehnte mit dem Rücken an der Wand und tat sich gütlich – »nämlich,« murmelte sie, »Vater sitzt noch bei Selvigs ... und das – sage ich ganz einfach – hat mich zunächst aufgehalten; ich kann gut und gern eine halbe Stunde dafür rechnen! Und dann habe ich noch die Ausrede, daß heute Sonnabend abend ist, und daß in dem Laden so viele Menschen waren, daß ich gar nicht an den Tresen kommen konnte ... Und wenn ich nichts essen mag, weißt du – dann sage ich zu Mutter bloß, ich hätte von dem Warten im Laden so gräßliche Kopfschmerzen gekriegt; es wäre da so muffig und heiß gewesen! Mutter müßte einen feinen Riecher haben, wenn sie raten könnte, daß ich dich getroffen habe. – Nanu? weshalb schneidest du denn solche Fratzen?«

»Sie zu Hause« – er nannte ihre Mutter nie anders – »zwingt dich tagaus, tagein zum Lügen; niemand hat das Recht, die Wahrheit zu reden, als sie selbst.«

»Ach!« – sie warf den Kopf ungeduldig zurück; immer dieselbe Geschichte!

»Sie hat die Ehrlichkeit bei euch zu Hause ganz allein gepachtet, weißt du! – Denn manches Mal ist es glatt unmöglich, ihr gegenüber ehrlich zu sein, bloß aus Angst! Sie allein sorgt für Zucht ... groß oder klein, gänzlich schnuppe! Wer die Wahrheit sagen will und nicht die nötigen Fäuste dazu hat, kriegt Prügel, so wie ich! – Na, mir für mein Teil kann's ja gleichgültig sein ... Aber wenn ich denke, daß du nun nach Hause gehen und wieder alle deine Lügen abhaspeln sollst, und daß du so feige bist und dich so wenig dagegen wehrst, Silla ...!«

Sie versuchte zu lachen und die Sache in den Wind zu schlagen; aber ihr Gesicht wurde recht kleinmütig. Sie konnte dieses unbehagliche Thema nicht recht vertragen – denn lügen mußte sie ja, wenn er sich auch noch so sehr darum anstellte!

Und dann bekam sie es plötzlich mit der Eile.

»Nein, nein, Nikolai, wir müssen nach Haus! – hörst du, nach Haus! Ich darf nicht mehr hier stehen!«

Nikolai war in Eifer gekommen, hielt aber plötzlich inne, als er Sillas erschrecktes Gesicht sah. Sie hatte die Rocktasche ganz ausgekrempelt und hielt sie in der Hand, während sie rings um sich gespannt auf dem Boden suchte. Dann hakte sie fieberhaft ihre Bluse auf und suchte darin.

»Das Geld, Nikolai! ... Das Geld!« – stieß sie ängstlich hervor und schüttelte, ganz außer sich umherspähend, unaufhörlich die Schürze. »Das Kleingeld und die Silberstücke lagen in den beiden Talerscheinen, gerade wie ich's von Vater bekommen hatte ... ich habe es gleich in die Tasche gesteckt!«

»Was fange ich nur an, Nikolai!« – begann sie zu jammern; unter einer plötzlichen Eingebung griff sie in den Korb. Da war es nicht!

Sie suchten und suchten ...

Hinten an der Ecke – der Schutthaufen – da war es sicherlich, denn da hatte sie ja gestanden und den Korb geschwenkt. Natürlich lag es da zwischen den Glasscherben!

Ein schmaler, bleicher Streifen des herbstlichen Neumonds hatte sich über die Lagerhöfe gelegt, während sie Schritt für Schritt suchend umhergingen, Silla von Zeit zu Zeit ein mut- und tonloses »Wenn ich es nun nicht wiederfinde!« hervorjammerte und Nikolai bis zum Ellenbogen in den Schmutzpfützen wühlte, in die möglicherweise die Geldtüte versunken sein konnte.

Sie waren an der Brücke gewesen, waren zum Schutthaufen gegangen; sie hatten gesucht und geforscht, hier und dort und überall – von dem Gelde keine Spur!

Jetzt fing es an, spät zu werden ... und zu Hause wartete Frau Holman ... Jetzt wartete sie wirklich!

Silla begann zu heulen.

Nikolai hatte sie dann und wann gebeten, »ruhig zu sein«, dann würde er das Geld schon finden! Jetzt sagte er ganz unvermittelt:

»Ich hätte Lust, dich noch einmal tüchtig mit Kuchen zu füttern und dann – ins Wasser, wir alle beide, Silla! Das wäre dann keine Lüge mehr, wenn sie uns da fänden!«

War nun sein Vorschlag ernst gemeint oder nicht – jedenfalls fand er kein Gehör. Sie saß verzweifelt und ganz stumpf auf ihrem Balken; die Tränen rannen in großen Tropfen über ihre Backen.

Der sechzehn-, siebzehnjährige Schmiedelehrling stand nachdenklich da, die flache, kuchenförmige Mütze weit über das Haar zurückgeschoben, das vom Arbeitsschweiß der Woche zusammengefilzt war. Er starrte unverwandt auf ein altes, morsches Loch in dem Balken ... Das Loch wurde immer morscher, hohler und leerer, während seine arbeitenden Gedanken nach Rat suchten ... aber es kam keiner ...

Ihr Schicksal klar vor Augen erhob sie sich, nahm den Korb und ging heimwärts, unaufhörlich vor sich zu Boden blickend. Es war ihr Weg zum Schafott!

Ihr nach folgte Nikolai, so weit es nur irgend ging, indem er auf die verschiedenste Weise wiederholte: »Sei nicht bange, Silla! ... das Leben können sie dir nicht nehmen!«

Etwas wie ein leises Jammern verkündete, daß sie ihn hörte.

Als sie um die Ecke verschwand, schlug er Richtwege ein, die nur er und diese und jene alte Hofkatze kannten; und von dem Bretterzaun unten am Platze sah er, wie sie gebeugt und im gleichen stillen Schritt, ohne haltzumachen, die Kellertreppe hinabstieg.

Als es dunkel geworden war, stand er draußen vor dem Fenster und horchte. Er hörte sie noch leise nach dem Sturme schluchzen, der über sie hingefahren war.

*

Madam Holman hatte Silla ins Gebet genommen, hatte sie kreuz und quer verhört und schließlich aus ihr herausbekommen, daß sie mit Nikolai zusammen gewesen war. Daß sie, Madam Holmans Tochter, trotz des strengen Verbots mit diesem verworfenen und verlorenen Menschen Umgang pflegte, der ihr mit solchem Undank gelohnt hatte – das würde sie an den Rand des Grabes bringen.

Und das könne ihr auch niemand vormachen, daß Holmans sauer verdienter Wochenlohn wie der Dampf aus dem Kessel verschwinden könne! – Ein ausgehungerter Lehrjunge und daneben eine wohlgespickte Börse – wie das zusammenhinge, könne man sich an den fünf Fingern abzählen. Das saubere Bürschchen habe bloß ganz gerissen und schlau den Augenblick abgepaßt, wo er wußte, daß Silla Vaters Geld in der Tasche hatte, um es aus ihrer in die seine hinüberzupraktizieren!

Es verbesserte die Sache nicht, daß Silla in ihrer Halsstarrigkeit darauf bestand, er habe das Geld nicht einmal gesehen – »geschweige denn einen Schilling von ihr genommen!«

Diese letzte Äußerung besiegelte sein Schicksal; in ihrem Hause wollte sie keine stillschweigende Hehlerin dulden! – –

Es gab ein großes Aufsehen in der Schmiede, als am Tage darauf ein Konstabler kam und den Lehrling Nikolai mitnahm. Er sollte auf die Polizei, weil er am Sonnabend abend ein junges Mädchen um den gesamten Wochenlohn ihres Vaters betrogen hätte.

Aber daraus schwor Anders Berg, als sie fort waren – und er ließ den großen Vorhammer über den Amboß hinrollen –, daß Nikolai das nie und nimmer getan hätte! Die anderen, Jan Peter und Katrinus und Bernt Johan Jakobsen und Petter Evensen, die glaubten ihrerseits gar nichts; – aber daß er die Polizei aus eine anständige Werkstatt hetzte, das ... Er sollte sich man lieber anderswo Beschäftigung suchen, nach diesem Vorkommnis!

Im ersten Augenblick hatte Nikolai nur ein Gefühl – das des lähmenden Schreckens, das stets eine erste Bekanntschaft mit der Polizei begleitet. Daß er ein gutes Gewissen hatte, leuchtete zwar in ihm auf, aber nur, um sofort wieder zu erlöschen. Das Gefühl hatte er so oft gehabt, und es hatte sich immer gezeigt, daß es allzu dünnes Eis war, um einen in der Stunde der Heimsuchung zu tragen. Diese Art von Selbstbewußtsein war ein Gewächs, das schon zu oft unter Madam Holmans Hacken zertreten war, als daß es noch irgendwie in seinem Innern zur Blüte kommen konnte!

Das Ergebnis seiner Betrachtungen war eine plötzliche Wendung, ein gewaltsamer Ruck, wodurch er seinem ungebetenen Begleiter zu entschlüpfen hoffte; – indessen nur mit dem Erfolge, daß er unmittelbar darauf einen Konstabler an jedem Arme hatte.

Beim Verhör auf dem Polizeibureau leuchtete finsterer, unwilliger Trotz aus seinem Gesichte, und der für sein Alter allzu scharfe Blick seiner Augen nahm auch nicht gerade für ihn ein. »Silla? ... Er sei am Abend mit keiner Silla zusammen gewesen!«

Es fiel ihm mit keinem Gedanken ein, sie zu verraten, und erst, als er mit ihr und mit ihrer Mutter konfrontiert wurde und hörte, daß sie gestanden hätte, gab er es zu.

Daß Silla – fortwährend mit dem Weinen kämpfend – dabei beharrte, er habe das Geld nicht genommen, bewies nichts, weder für noch gegen ihn. Schwerwiegender war das, was man bei einer Nachsuchung in seinem Logis herausbekommen hatte. Er wohnte zusammen mit drei anderen Lehrlingen unter dem Dach bei Glaser Olsen: sie hatten alle einstimmig ausgesagt, daß er an bewußtem Sonnabend abend erst spät, nachdem sie alle bereits eingeschlafen, nach Hause gekommen, und daß er am Sonntag schon ganz früh wieder fortgegangen sei.

Die Behauptung des Angeklagten, das sei geschehen, um unten aus dem Platze wieder nach der verlorenen Summe zu suchen, schien nur wenig glaubhaft. Aber ihm näherzukommen, war unmöglich.

Ein ganz verstockter, junger Gauner! ... Dasselbe Zeugnis stellt ihm auch seine Pflegemutter aus ...

Nikolai stand mit der Mütze in der Hand und blickte zu Boden. Er hatte die Gewohnheit, die Stirnhaut auf und ab zu bewegen, wenn er grübelte. In dem jungen, breiten Gesicht mit seinen groben Zügen, den grauen Augen, in denen zwischendurch ein eigenes Feuer aufzuckte, dem an Zink- oder Kupferfarbe gemahnenden Hahnenkamm las der durchdringende, durch vieljährige Praxis untrügbare Blick des Polizeiinspektors das Signalement eines Subjekts, das aller Voraussicht nach in Zukunft die Polizei noch öfter beschäftigen würde.

»Um die Möglichkeit, mit den anderen Lehrlingen auf seinem Zimmer sich ins Einvernehmen zu setzen, auszuschließen«, diktierte er zu Protokoll, »und in Ansehung dessen, daß der Angeklagte durch seinen Fluchtversuch sowohl wie durch sein unaufrichtiges Verhalten und sein Leugnen beim verhör » mala fides« manifestiert hat, wird er bis aus weiteres in Untersuchungshaft abgeführt.«

Als Nikolai den Haftbefehl vernahm, huschten einige unwillkürliche Muskelzuckungen über sein schweißperlendes Gesicht; es zitterte darin die Verdammnis des Armen, nie einen Ausweg zu haben; – ein Fehltritt: er ist gefangen; ein verlorener Taler: er steht vor Gericht!

– Nach abermaligem Verhör wurde Nikolai wegen mangelnder Beweise von der Anklage freigesprochen.

An jenem Vormittag, da die Arresttür sich hinter ihm schloß, schlich er die Straße hinab mit einem Gefühl, als ob alle Fenster auf beiden Seiten gleichsam hinter ihm herblickten. Das war nicht der Gang eines Mannes, der die Sonne seiner Ehrlichkeit wieder scheinen lassen kann! Nein, alles andere!

Drunten im Logis bei Madam Olsen fand er seine paar Sachen zum Abholen in dem Verschlage unter der Treppe bereitgestellt und den Bescheid, daß sein Platz in dem Dachzimmer an jemand anders abgegeben sei.

Er fragte nicht warum. Frau Olsens zuvorkommendes Schweigen brandmarkte ihn besser, als wenn sie wer weiß wie laut über jemand geschrien hätte, der ihr »Haussuchungen, Recherchen und sonstigen Spektakel auf den Hals brächte!«

Und dann mußte er hin und sich wieder in der Schmiede zeigen – sich zeigen vor Haegberg, dem Meister, vor Anders Berg und den Gesellen und allen Lehrjungen!

Er ging unsicheren Schritts, und ein über das andere Mal hielt er inne ... Was mochte wohl Anders Berg denken? ...

Unter einem Anfall von Mutlosigkeit wandte er halb um. Aber ans Messer mußte er ja doch! – So machte er denn den Nacken steif und pfiff leise vor sich hin. Doch als er sich dem rußbedeckten Bretterzaun der Schmiede näherte, hörte das Pfeifen auf, und als er durchs Tor ging, war er in kalten Schweiß gebadet.

Ohne ein Wort ging er zur Kohlenkiste und begann, einige Roheisenstangen aufzuheben, die beiseite geschafft werden sollten. Nicht einer begrüßte ihn oder redete ihn an.

Anders Berg hatte ein Eisen in der Esse, und erst, als er und der andere Geselle es ausgehämmert hatten, kam er zu ihm hin und sagte:

»Ich wußte es ja, daß du wiederkommen würdest! – Komm, hier hast du Arbeit ... willst du diese drei Schlüssel abfeilen?«

So wurde Nikolai denn wieder an einen der Schraubstöcke gestellt und war gleich darauf mit Bastard- und Schlichtfeile im Gange.

Daß Anders Berg ihn anredete, hatte ihm so wohl getan, ihn der ganzen Schmiede gegenüber gleichsam wieder auf die Füße gestellt, und er schwor im stillen Anders Berg Freundschaft und Ergebenheit bis zum letzten Atemzuge!

Es sang und blitzte unter den Vorhämmern drinnen in der großen Schmiede, es klangen und klopften die Hämmer, die Feilen schrien und kreischten und gellten in die Ohren. Die Arbeit flog, und Nikolai vermeinte, er habe nie zuvor wie heute empfunden, wie herrlich es sei, ein Schmied zu sein! – Den Schlüsselbart nahm er gleich mit der Schlichtfeile mit, während der Schlüssel noch so im Schraubstock saß; den Haken feilte er so sauber und glatt zu, als wäre er ein zierlicher Schlüssel zu einer Kommode und nicht ein großer ohne Rohr zu einem Brettertor gewesen.

Jetzt kam der Griff an die Reihe. Er legte mit der Bastardfeile los, daß er den Vorhammer vor dem Kreischen kaum hörte ...

Drinnen am Amboß stand ein Geselle und machte Nietnägel, während einer der Lehrjungen den Blasebalg zog und die Nägel sammelte. Sie schwatzten und lachten. Ab und zu drang dieser und jener laute Ausbruch zu Nikolai hinüber.

Aber erst, als der Junge ihm eine Fratze zuschnitt, kam Nikolai auf den Gedanken, daß er der Gegenstand ihrer Unterhaltung sei. Die ohrenbetäubende Grobfeile ging plötzlich ganz leicht in seiner Hand, und mit einem Schlage hatte er wieder für alles um sich herum Auge und Ohr ...

Da standen sie und schwatzten und nickten sich über die Schraubstöcke zu; da lief Jan Petter und berichtete, was der eine sagte und was der andere sagte. Es war leicht zu merken, um was es sich drehte ... daß er nun dastand wie irgendein Ausstellungstier! – nein, noch schlimmer: wie einer, der imstande war, jedem einzelnen von ihnen in die Tasche zu greifen! ...

Nicht einer von den Lehrlingen würde jetzt mit ihm das Nachtlogis teilen wollen ... das sah er ihnen an! ...

Er stand und lauschte gespannt mit dem Bewußtsein, daß sie ihn jetzt in der großen Werkstatt an jedem Platze erschlugen – an den Schraubstöcken zerfeilten sie ihn, mit ihren leichten Hämmern schlugen sie ihn breit, mit den schweren zermalmten sie ihn. Er erriet ihre Blicke und Mienen – und verstand ...

»Ja, siehst du, Matthias,« – hörte er drüben von den Nietnägeln her, wo der Geselle eine Lederschürze vollpackte – »es gibt manche Arbeit, die leichter ist, als in der Schmiede zu stehen; ein guter Griff mit den Pfoten, Junge!«

»Hi – hi – hi!« kicherte der Angeredete.

»... oder mach' dir 'ne Klemmerzange, mit der du in die Rocktaschen kommen kannst – denk' mal, all die Mädel ringsum in der Stadt, die Geld haben!«

Nikolai hörte jedes Wort, hörte auch das wiehernde Lachen; er war entsetzlich bleich.

Aus dem rußigen Gesichte des Gesellen leuchtete rohe Lustigkeit, und als ihre Blicke sich begegneten, grinste er verächtlich.

Kurz darauf kam er, die Schürze voller Nietnägel, an ihm vorbei, wieder trafen sich ihre Blicke! Die höhnischen Augen wurden größer; es war Nikolai, als sähe er sie im Schwindel – und von einem Faustschlage mitten ins Gesicht getroffen, taumelte der Geselle hintenüber, daß die Nägel ringsumher flogen!

Es entstand eine kurze Pause der Überraschung, bis sie alle auf ihn losfuhren.

Aber Nikolai schlug wie besessen mit der Grobfeile um sich. Er fühlte in der Lust der Raserei, wie er schlagen mußte – sie alle niederschlagen, Mann für Mann, alle in der Schmiede, bis er recht bekäme! – wartet nur! das war bis jetzt erst der Anfang! – da, auf dem Klotz lag ein Hammer ...

Aber die in der Schmiede warteten nicht, und einen Augenblick nachher war er es, der am Boden lag, die Augen von blauen und gelben Funken geblendet mit so vielen um und über sich, als Platz war; sie wollten ihn knebeln und abtransportieren: er hatte Handwaffen gebraucht!

Er fühlte einen gewaltigen Griff am Rockkragen, einen Griff, der die Haut mit faßte – fühlte sich hochgerissen und mit einem Ruck aus der Schmiedetür halb herausgehoben, halb geschleudert.

Es war Anders Berg, der seine Kräfte eingesetzt hatte, um ihn zu bergen, und der – den Griff nur etwas lockernd – ihn jetzt zum Tor hinausführte.

Das war der Abschied von der Schmiede! – –

»Ich will euch was sagen,« rief Anders Berg später, als der Tumult vorüber war; – er war noch immer rot im Gesicht und schrie beim Aushämmern – »Nikolai hat einen bösen Knacks gekriegt! – aber seine Schuld ist es nicht!«

Dröhnend fiel der Hammer aufs Eisen!

*

An jenem Abend mietete Nikolai sich nirgends ein; dazu war er allzu zerschunden und übel zugerichtet, seine Kleider allzu zerrissen und zerlumpt; dazu scheute er vor allen Dingen die Menschen zu sehr – jetzt, wo er zu allem Überfluß auf solche Weise aus der Schmiede fortgekommen war!

Als die Nacht sich herabsenkte, hatte er wieder sein altes Quartier in einem der Bretterstapel unten auf dem Holzlagerplatz bezogen. In einem der tiefen, viereckigen Räume lag er und schaute zu den Sternen empor und fand, daß die Welt jetzt so lustig sei – so lustig!


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