Georg Christoph Lichtenberg
Lichtenberg. Ein verkleinertes Bild seines Gedankenlebens
Georg Christoph Lichtenberg

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Über Physiognomik

172. Wir können uns beim Anblick einer Sache nicht enthalten, wenigstens etwas darüber zu urteilen; dieses tun wir auch bei Menschen, darauf hat einer eine Physiognomik gebaut.   B

 

173. Sobald man weiß, daß jemand blind ist, so glaubt man, man könnte es ihm von hinten ansehen.   B

 

174. Es ist besonders, und ich habe es nie ohne Lächeln bemerkt, daß Lavater mehr auf den Nasen unserer jetzigen Schriftsteller findet, als die vernünftige Welt in ihren Schriften.   B

 

175. Nachdem die Theorie von der Notwendigkeit eines Mangels an Symmetrie, um original zu sein, ist gegeben worden, so kann gesagt werden: Ich hielte daher für ratsam, daß man den neugebornen Kindern einen sanften Schlag mit geballter Faust auf den Kopf gäbe, der, ohne ihnen zu schaden, die Symmetrie des Gehirns etwas verrückte. Ich riete ihn ja nicht gerade auf die Stirn, oder oben oder hinten hinzugeben, auch nicht auf die Seite, weil dieses die Symmetrie keineswegs affizieren würde. Denn in den drei ersten Fällen werden beide Seiten gleich stark unmittelbar getroffen, und in dem letzten würde die Reaktion der gegenüberstehenden Seite statt eines Schlages sein. Ich riete also unmaßgeblich den Schlag gerade über einem der beiden äußern Augenwinkel anzubringen; denn da alsdann Teile von einer ganz andern Struktur und Lage in Reaktion gebracht werden, so kann es nicht anders sein, als daß dadurch die schönste Asymmetrie des Gehirns erhalten wird. Ich habe deswegen oft mit Verdruß bemerkt, daß die Schläge auf den Kopf, oder die sogenannten Ohrfeigen in unsern Schulen abkommen, und nur in der großen Gesellschaft, wo sie ganz umsonst angebracht werden, weil die Köpfe alsdann gewöhnlich schon in das Holz gegangen sind, Mode sind.   P

 

176. Gewiß hat die Zollfreiheit unserer Gedanken und der geheimsten Regungen unseres Herzens bei uns nie auf schwächern Füßen gestanden als jetzt, wenn man aus der Emsigkeit, der Menge und dem Mut der Helden und Heldinnen, die sich wider sie auflehnen, auf ihren baldigen Umsturz schließen darf. Man dringt von allen Seiten auf die zukommlichsten Werke ihrer Befestigung, und wo man sonst geheimen Vorrat vermutet, mit einer Hitze ein, die mehr einem gotisch-vandalischen Sturm als einer überdachten Belagerung ähnlich sieht, und viele behaupten, eine förmliche Übergabe könne schlechterdings nicht mehr weit sein. Es gibt aber auch eine Menge sanguinischer Menschen, die dafür halten, die Seele liege über ihrem geheimsten Schatz noch jetzt so unzukommlich sicher, als vor Jahrtausenden, und lächle über die anwachsenden babylonischen Werke ihrer stolzen Stürmer, überzeugt, daß sich, lange vor ihrer Vollendung, die Sprachen der Arbeiter verwirren, und Meister und Gesellen auseinandergehen werden.

Die Sache, wovon hier die Rede ist, ist die Physiognomik, und die erwähnten Parteien kein geringer Teil der guten Gesellschaft unseres Vaterlandes. Nach ersteren ist es das epochemachende Weltumschaffende, und nach letzteren Brauchbarkeit für das Jahr 1778 bei der Toilette.

Der Verfasser ist nicht von der Partei jener Belagerer, und man wird also in nachstehendem Aufsatz keinen förmlichen Unterricht in der Physiognomik erwarten. Es ist auch in der Tat zu dieser Zeit Unterricht nicht mehr so nötig, als es die Ermahnung ist, ihn an den bekannten Orten mit Behutsamkeit und selbst mit Mißtrauen zu suchen; und diese allein enthält der Aufsatz. Denn ob Physiognomik überhaupt, auch in ihrer größten Vollkommenheit, je Menschenliebe befördern werde, ist wenigstens ungewiß; daß aber mächtige, beliebte und dabei tätige Stümper in ihr der Gesellschaft gefährlich werden können, ist gewiß. Indessen alle Aufsuchung physiognomischer Grundregeln hemmen zu wollen, hat der Verfasser so wenig die Absicht, als das Vermögen, und ferne sei es von ihm, sich Bemühungen zu widersetzen, die vielleicht, wie die ihnen ähnlichen, den Stein der Weisen zu finden, auf nützlichere Dinge leiten können, als ihr Zweck, ich meine: in diesen traurigen Tagen der falschen Empfindsamkeit Beobachtungsgeist aufwecken, zu Selbsterkenntnis führen und den Künsten vorarbeiten.

Um allem Mißverständnis auszuweichen und neuem vorzubeugen, wollen wir hier einmal für allemal erinnern, daß wir das Wort Physiognomik in einem eingeschränkteren Sinn nehmen und darunter die Fertigkeit verstehen, aus der Form und Beschaffenheit der äußern Teile des menschlichen Körpers, hauptsächlich des Gesichts, ausschließlich aller vorübergehenden Zeichen der Gemütsbewegungen, die Beschaffenheit des Geistes und Herzens zu finden; hingegen soll die ganze Semiotik der Affekte, oder die Kenntnis der natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen, nach allen ihren Gradationen und Mischungen Pathognomik heißen.

Niemand wird leugnen, daß in einer Welt, in welcher sich alles durch Ursache und Wirkung verwandt ist, und wo nichts durch Wunderwerke geschieht, jeder Teil ein Spiegel des Ganzen ist. Wenn eine Erbse in die mittelländische See geschossen wird, so könnte ein schärferes Auge als das unsrige, aber noch unendlich stumpfer als das Auge dessen, der alles sieht, die Wirkung davon auf der chinesischen Küste verspüren. Und was ist ein Lichtteilchen, das auf die Netzhaut des Auges stößt, verglichen mit der Masse des Gehirns und seiner Äste, anders? Dieses setzt uns oft in den Stand, aus dem Nahen auf das Ferne zu schließen, aus dem Sichtbaren auf das Unsichtbare, aus dem Gegenwärtigen auf das Vergangene und Künftige. So erzählen die Schnitte auf dem Boden eines zinnernen Tellers die Geschichte aller Mahlzeiten, denen er beigewohnt hat, und ebenso enthält die Form jedes Landstrichs, die Gestalt seiner Sandhügel und Felsen, mit natürlicher Schrift die Geschichte der Erde, ja jeder abgerundete Kiesel, den das Weltmeer auswirft, würde sie einer Seele erzählen, die so an ihn angekettet würde, wie die unsrige an unser Gehirn. Auch lag vermutlich das Schicksal Roms in dem Eingeweide des geschlachteten Tieres, aber der Betrüger, der es darin zu lesen vorgab, sah es nicht darin. Also wird ja wohl der innere Mensch auf dem äußern abgedruckt sein? Auf dem Gesicht, von dem wir hier hauptsächlich reden wollen, werden Zeichen und Spuren unserer Gedanken, Neigungen und Fähigkeiten anzutreffen sein. Wie deutlich sind nicht die Zeichen, die Klima und Hantierung dem Körper eindrucken? Und was ist Klima und Hantierung gegen eine immer wirkende Seele, die in jeder Fiber lebt und schafft? An dieser absoluten Lesbarkeit von allem in allem zweifelt niemand. Auch ist es nicht nötig, zum Beweis, daß es eine Physiognomik gebe, Exempel in Menge beizubringen, wo man aus dem Äußern eines Dinges auf das Innere zu schließen pflegt, wie einige Schriftsteller getan haben. Der Beweis wird sehr kurz, wenn man sagt: unsere Sinne zeigen uns nur Oberflächen, und alles andere sind Schlüsse daraus. Besonderes Tröstliches folgt hieraus für Physiognomik, ohne nähere Bestimmung, nichts, da eben dieses Leben auf der Oberfläche die Quelle unserer Irrtümer, und in manchen Dingen unserer gänzlichen Unwissenheit ist. Wenn das Innere auf dem Äußern abgedruckt ist, steht es deswegen für unsere Augen da? und können nicht Spuren von Wirkungen, die wir nicht suchen, die bedecken und verwirren, die wir suchen? So wird nicht verstandene Ordnung endlich Unordnung, Wirkung nicht zu erkennender Ursachen Zufall, und wo zu viel zu sehen ist, sehen wir nichts. Das Gegenwärtige, sagt ein großer Weltweiser, von dem Vergangenen geschwängert, gebiert das Künftige. Sehr schön. Aber was für eiteles, elendes Stückwerk ist nicht gleich unsere Wetterweisheit? Und nun gar unsere prophetische Kunst! Trotz den Bänden meteorologischer Beobachtungen ganzer Akademien ist es noch immer so schwer vorher zu sagen, ob übermorgen die Sonne scheinen wird, als es vor einigen Jahrhunderten gewesen sein muß, den Glanz des Hohenzollerischen Hauses voraus zu sehen. Und doch ist der Gegenstand der Meteorologie, soviel ich weiß, eine bloße Maschine, deren Triebwerk wir mit der Zeit näher kommen können. Es steckt kein freies Wesen hinter unsern Wetterveränderungen, kein eigensinniges, eifersüchtiges, verliebtes Geschöpf, das um einer Geliebten willen einmal im Winter die Sonne wieder in den Krebs führte. Entwickelten sich unsere Körper in der reinsten Himmelsluft, bloß durch die Bewegungen ihrer Seelen modifiziert und durch keine äußeren Kräfte gestört, und bequemte sich die Seele wiederum rückwärts mit analogischer Biegsamkeit nach den Gesetzen, denen der Körper unterworfen ist: so würde die herrschende Leidenschaft und das vorzügliche Talent, ich leugne es nicht, bei verschiedenen Graden und Mischungen verschiedene Gesichtsformen hervorbringen, so wie verschiedene Salze in verschiedene Formen anschießen, wenn sie nicht gestört werden. Allein gehört denn unser Körper der Seele allein zu, oder ist er nicht ein gemeinschaftliches Glied sich in ihm durchkreuzender Reihen, deren jeder Gesetz er befolgen, und deren jeder er Genüge leisten muß? So hat jede einfache Steinart im reinsten Zustand ihre eigne Form, allein die Anomalien, die die Verbindung mit andern hervorbringt, und die Zufälle, denen sie ausgesetzt sind, macht, daß sich auch oft der Geübteste irrt, der sie nach dem Gesicht unterscheiden will. So steht unser Körper zwischen Seele und der übrigen Welt in der Mitte, Spiegel der Wirkungen von beiden; erzählt nicht allein unsere Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Klima, Krankheit, Nahrung und tausend Ungemach, dem uns nicht immer unser eigener böser Entschluß, sondern oft Zufall und oft Pflicht aussetzen. Sind die Fehler, die ich in einem Wachsbilde bemerke, alle Fehler des Künstlers, oder nicht auch Wirkungen ungeschickter Betaster, der Sonnenhitze oder einer warmen Stube? Äußerste Biegsamkeit des Körpers, Perfektibilität und Korruptibilität desselben, deren Grenze man nicht kennt, kommt hierin dem Zufall zu statten. Die Falte, die sich bei dem einen erst nach tausendfacher Wiederholung derselben Bewegung bricht, zeigt sich bei dem andern noch weniger; was bei dem einen eine Verzerrung und Auswuchs verursachte, den selbst die Hunde bemerken, geht dem andern unbezeichnet, oder doch menschlichen Augen unmerkbar hin. Dieses zeigt, wie biegsam alles ist, und wie ein kleiner Funke das Ganze in dem auffliegen macht, der in dem andern kaum einen versengten Punkt zurückläßt. Bezieht sich denn alles im Gesicht auf Kopf und Herz? Warum deutet ihr nicht den Monat der Geburt, kalten Winter, faule Windeln, leichtfertige Wärterinnen, feuchte Schlafkammern, Krankheiten der Kindheit aus den Nasen? Was bei dem Mann Farbe wirkt, wirkte bei dem Kind Form, grünes Holz wirft sich bei dem Feuer, an dem ein trocknes bloß braun wird. Daher vermutlich die regelmäßigeren Gesichtszüge der Vornehmen und Großen, die sicherlich weder an Geist noch Herz Vorzüge besitzen, die wir nicht auch erreichen könnten. Oder ist Versehen der Seele und der Amme einerlei, und wird die erstere nach der Verdrehung ihres Körpers ebenfalls verdreht, daß sie nun gerade einen solchen Körper bauen würde, wenn sie wieder einen zu bauen kriegte? Wie? Oder füllt die Seele den Körper etwa wie ein elastisches Flüssiges, das allezeit die Form des Gefäßes annimmt: so daß, wenn eine platte Nase Schadenfreude bedeutet, der schadenfroh wird, dem man die Nase platt drückt? Ein rohes Beispiel, aber mit Fleiß gewählt. In unserm Körper selbst und den Säften desselben liegen hundert Quellen von gleich merklichen, aber minder gewaltsamen Veränderungen. Ferner, ihr leugnet nicht, daß lange nach Formierung der festen Teile des Körpers der Mensch einer Verbesserung und Verschlimmerung fähig ist. Aber überzieht sich die blanke Stirne mit Fleisch, oder stürzt die konvexe ein, wenn das Gedächtnis verschwindet? Mancher kluge Kerl fiel auf seinen Kopf und wurde ein Narr, und ich erinnere mich, in den Memoiren der Pariser Akademie gelesen zu haben, daß dort einmal ein Narr auf den Kopf stürzte und klug wurde. In beiden Fällen wünschte ich das Schattenbild des Antecessors neben dem Schattenbild seines Successors zu sehen, und die Lippen und Augenknochen beider zu vergleichen. Die Beispiele sind freilich gesucht. Allein wollt ihr denn bestimmen, wo Gewalttätigkeit anfängt und Krankheit aufhört? Die Brücke, die zwei Ideenreihen verbindet, kann so gut einstürzen, wenn ich mich erkälte, als wenn ich auf den Kopf falle, und am Ende wäre wohl gar Mensch sein so viel als krank sein. Ich habe in meinem Leben etwa acht Sektionen vom menschlichen Gehirn beigewohnt, und aus wenigstens fünfen wurden die falschen Schlüsse wie rote Fäden herausgezogen und die lapsus memoriae wie Sandkörner. Also schon hieraus (unten wird mehres vorkommen) sieht man, wie unvorsichtig es ist, aus Ähnlichkeit der Gesichter auf Ähnlichkeit der Charaktere zu schließen, auch wenn diese Ähnlichkeit vollkommen wäre; allein wer ist denn der Richter über sie? Ein hinfälliger Sinn, dessen Eindruck durch vorgreifende Schlüsse und assoziierte Vorstellungen so leicht geschwächt und verdreht wird, daß es noch in weit einfacheren Fällen als dieser, wo keine Leidenschaften mitwirken, und selbst nach erwiesenem Irrtum fast unmöglich ist, Urteil von Empfindung zu trennen.

Wäre man einmal so weit, daß man mit Zuverlässigkeit sagen könnte, unter 10 Bösewichtern etc. sah immer einer so aus, so könnte man Charaktere so berechnen, wie Mortalität. Allein hier zeigen sich gleich unübersteigliche Schwierigkeiten, völlig von dem Schlag derer, denen die Prophetik ihre Zuverlässigkeit zu danken hat. Denn obgleich im gemeinen Leben, unter dem geschriebenen Gesetz und vor dem menschlichen Richter die Entscheidung über den Charakter leicht sein mag, so ist es doch, wo nicht eine einzige Tat gerichtet, sondern auf einen ganzen Charakter geschlossen werden soll, sehr schwer und vielleicht unmöglich in einem besondern Fall zu sagen, was ein Bösewicht sei; und an Wahnsinn grenzende Vermessenheit zu sagen, derjenige, der aussieht wie der Kerl, den dieses oder jenes Städtchen für einen Bösewicht hält, ist auch einer. Es ist eine kurrente Wahrheit: daß es wenig böse Taten gibt, die nicht aus Leidenschaften verübt worden wären, die, bei einem andern System von Umständen, der Grund großer und lobenswürdiger hätten werden können. So abgeschmackt freilich eine solche Entschuldigung nach vollbrachter Übeltat wäre, so sehr verdient sie bei dem noch unbescholtenen oder wenigstens unbekannten Mann erwogen zu werden, der eine Voraussetzung von meiner Vernunft von Gott und Rechts wegen fordern kann, die jener meiner Menschenliebe abbettelte. Was wollt ihr also aus Ähnlichkeit der Gesichter, zumal seiner festen Teile, schließen, wenn derselbe Kerl, der gehenkt worden ist, mit allen seinen Anlagen unter andern Umständen statt des Stricks den Lorbeer hätte empfangen können? Gelegenheit macht nicht Diebe allein, sie macht auch große Männer. Hier hilft sich der Physiognome leicht, er sucht ein Prädikat, das vom großen Mann und vom Spitzbuben zugleich gilt: sie hatten beide große Anlage. Eine herrliche Ausflucht! Wer mir noch hundert solcher delphischen Wörter gibt, dem will ich den Ausgang des amerikanischen KriegsGemeint ist der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, der erst 1783 mit dem Sieg der Kolonien über die engl. Krone endete. voraus sagen. Um aller Welt willen, was ist für uns in praxi eine verdorbene gute Anlage? nichts weiter als eine gerade Linie, die man krumm gebogen hat; eine krumme. Niemand kennt seine guten und bösen Fähigkeiten alle. Es wäre eine Art von psychologischem Schachspiel und ein unerschöpfliches Feld von lehrreicher Beschäftigung für die dramatischen Dichter und Romanenschreiber, zu gewissen gegebenen Graden von Fähigkeiten und Leidenschaften Umstände und Vorfälle zu erfinden, um den Knaben, der sie besitzt, nach jedem gegebenen Auftritt durch wahrscheinliche Schritte hinzuleiten. Ich glaube, wenn wir den Menschen genau kennten, so würden wir finden, daß die Auflösung selten unmöglich werden würde, und daß, wenn wir diejenigen meiden wollten, die unter einem gewissen System von Umständen gefährlich werden können, wir neunundneunzig in hundert meiden müßten. Und diese Perfektibilität oder Korruptibilität, die weiter nichts ist, als erstere in entgegengesetzter Richtung wirkend, ist es eben, was den Menschen macht, und was ihn von dem Sprengel der Physiognomik auf ewig ausschließen wird. Er steht allein auf dieser Kugel, wie Gott, der ihn nach seinem Bilde geschaffen hat, allein in der Natur. Gesetzt der Physiognome haschte den Menschen einmal, so käme es nur auf einen braven Entschluß an, sich wieder auf Jahrhunderte unbegreiflich zu machen. Das Vertrauen auf Physiognomik mußte also allerdings in einem Lande zunehmen, wie Deutschland, in welchem, aus den Schriften abzunehmen, worin sie sich zeigen könnte, die Selbstbeobachtung und Kenntnis des Menschen in einem fast schimpflichen Verfall liegt und in einer Entnervung schmachtet, aus welcher sie allein nur, sollte man denken, der stärkende Winterschlaf einer neuen Barbarei zu ziehen imstande ist. Es ist hier der Ort nicht, es zu beweisen. Ich bin aber überzeugt, daß die besten Köpfe meines Vaterlandes mit mir stimmen werden, und es wird sich hoffentlich bald die lang gewünschte Gelegenheit finden, es auch den Schwächeren durch Beispiele aus den Schriften ihrer Götzen begreiflich zu machen.

Eine nicht genügsame Beherzigung einiger dieser Wahrheiten, verbunden mit ungewöhnlicher Unbekanntschaft mit der Welt und dem Menschen und einem eben daher entspringenden, Unheil stiftenden Bestreben, Heil zu stiften, dem ein Teil unseres Publikums frommschwärmend da glaubt, wo es höchstens verzeihen sollte, haben, als wäre alles andere schon außer Streit, nun gar den äußerst unüberlegten und niederschlagenden Gedanken erzeugt, die schönste Seele bewohne den schönsten Körper und die häßlichste den häßlichsten. Also mit einer bloßen Veränderung der Metapher, vielleicht auch die größte Seele den größten und die gesundeste den gesundesten? Gütiger Himmel! was hat Schönheit des Leibes, deren ganzes Maß ursprünglich vielleicht verfeinerte und unter Nebenideen ihre Grobheit versteckende sinnliche Lust ist, und deren Zweck hier erreicht wird, mit Schönheit der Seele zu tun, die mit dieser Lust so sehr streitet und sich in die Ewigkeit erstreckt? Soll das Fleisch Richter sein vom Geist? Der Verfasser glaubt, und wird am Ende alles dahin zusammenziehen, daß Tugend, und zumal die himmlische Aufrichtigkeit und Bewußtsein der Unschuld, einem Gesicht in den Augen ihres Kenners große und unaussprechliche Reize mitteilen. Allein es ist Unerfahrenheit und antiquarische Pedanterei zu glauben, diese Schönheit sei das, was Winckelmann Schönheit nennt. Der Verfasser hat einiges erworbene Gefühl auch für die letztere, muß aber aufrichtig bekennen, daß er in Gesichtern redlicher Personen beiderlei Geschlechts, die von Leuten, die ihre Tugend nicht kannten, für häßlich gehalten wurden, Ausdrücke gesehen hat, die er gegen alle die uns eingepredigten Reize und oft mehr aus Gefälligkeit als Gefühl gerühmten Gesichter des Landes, wo die Banditen schön sind, nicht vermißt haben wollte. Der obige Gedanke, der hier keine förmliche Widerlegung erhalten kann und überhaupt kaum einer ernstlichen würdig ist, hat noch einen andern erzeugt, nämlich durch Verschönerung der Seele endlich den Körper zu Idealen griechischer Künstler hinauf zu formen. Tugend und Aufrichtigkeit möchten hierbei wenigstens allein nicht hinlänglich sein, sonst könnten wir leicht den Weg verfehlen und für alle unsere Mühe mit den Affengesichtern der Einwohner von Mallicolo belohnt werden, die der Hauptmann Cook auf seiner letzten Reise besucht hat, und deren Redlichkeit und Häßlichkeit gleich merkwürdig und fast unerhört war. Hingegen möchte der kürzeste Weg, unsere deutschen Gesichter jenen griechischen zu nähern, wobei aber unsere Tugend vielleicht nicht viel gewinnen würde, wohl der sein, auf welchem die Engländer ihre Schafe und Pferde spanischen und arabischen Idealen genähert haben. Wie ein solcher Satz, der nicht erwiesen, sondern bloß exklamiert worden ist, der nie erwiesen werden wird und nie erwiesen werden kann, noch hier und da hat Eingang finden können, ist kaum, und nur in dem jetzigen Deutschland begreiflich. Denn sind nicht die Geschichtsbücher und alle großen Städte voll von schönen Lasterhaften? Freilich, wer schöne Spitzbuben, glatte Betrüger und reizende Waisenschinder sehen will, muß sie nicht gerade immer hinter den Hecken und in Dorfkerkern suchen. Er muß hingehen, wo sie aus Silber speisen, wo sie Gesichterkenntnis und Macht über ihre Muskeln haben, wo sie mit einem Achselzucken Familien unglücklich machen und ehrliche Namen und Kredit über den Haufen wispern, oder mit affektierter Unschlüssigkeit wegstottern. Die Anlage war da, antwortet alsdann der Physiognome, aber der korruptible Mensch hat sich selbst verdorben. Die Anlage? Wozu? Zu dem was erfolgte, oder dem was nicht erfolgte? Lehrst du weiter nichts, möchte ich antworten, so ist dein Buch des Aufmachens nicht wert. Was der Mensch könnte geworden sein, will ich nicht wissen. Was hätte nicht jeder werden können? Sondern ich will wissen, was er ist. Und doch auch von der Seite wieder genommen, wenn (um ein abgenutztes Beispiel noch einmal zu nutzen) Zopyrus dem Sokrates seine böse Anlage im Gesicht sah, warum sah er denn die stärkere Kraft nicht, jene zu verbessern, und sein eigener Schöpfer zu werden? Denn wenn die erstere in einem Faunskopf stecken mußte, so verdiente die letztere fürwahr ein Familiengesicht des Jupiter. So geht jetzt, da ich dieses schreibe, der Verbrecher ohnegleichen, (und das ist er gewiß) der NachtmahlvergifterDie Herausgeber von L.'s »Vermischten Schriften« merkten dazu an: »Dieser (erwiesenen?) am 12. Sept. 1776 in der Großmünster- oder Hauptkirche [der Stadt Zürich] geschehenen Nachtmahlsvergiftung wurde von vielen der vormalige Pfarrer Joh. Heinrich Waser, zu Kreuz bei Zürich, für schuldig gehalten . . .«, selbst in Zürich, unerkannt herum, also doch wohl mit einem Gesicht, das seinesgleichen hat. Der Schauspieler Macklin in London, von dessen Gesicht Quin den bekannten Ausspruch tat: Wenn dieser nicht ein Schelm ist, so schreibt Gott keine leserliche Hand, erhielt im Jahre 1775, von Lord Mansfield, vor einer großen Versammlung in Kings Bench öffentliches Lob, wegen seines höchst edlen und großmütigen Verfahrens gegen seine nichtswürdigen und zum Teil reizend gebildeten Feinde. Diese hatten gesucht, ihn seiner Verdienste wegen um Brot und Kredit zu bringen, und er erließ ihnen eine schwere Genugtuung, zu der sie verdammt worden waren, mit einer Art, die selbst diese Schelmen rührte. Dieser Zug aus dem Leben dieses ehrlichen und berühmten Mannes verdiente wenigstens eben so bekannt zu werden, als jener Ausspruch des liederlichen Quin. Macklin lebt jetzt ruhig, von seinen Feinden selbst verehrt, da D. DoddDr. William Dodd, Hofprediger in London, wurde wegen betrügerischer Machenschaften 1777 gehängt., dem seine seichten Deklamationen nicht den Zulauf würden verschafft haben, wenn er nicht der einnehmende Mann gewesen wäre, am Galgen gestorben ist. Ich kenne einen denkenden Kopf, der sich den Teufel als die schönste Person denkt, als einen Engel ohne Flügel. Ich weiß keine Ursache anzugeben, als daß er ein fleißiger Leser des Milton ist, und aus dem Lande ist, in welchem die meisten, die an den Bettelstab oder den Galgen kommen, durch Engel ohne Flügel dahin gebracht werden. Freilich müssen wir das schöne Gesicht nicht oft bei seinen Teufelstaten antreffen, sonst wird es sich bald in unsern Augen verteufeln; und wir werden bald einen vorher unbemerkten Zug abscheulich finden. So verhäßlicht uns das Gesicht eines Feindes tausend andere Gesichter, sowie hingegen die Miene einer Geliebten wiederum Reiz über Tausende verbreitet. So fanden Cartesius und Swift, und vermutlich unzählige Unbekannte, das Schielen reizend; und so hat eine lispelnde Zunge, die in einem Juden, der uns um unsere Louisdors bringt, abscheulich ist, vermutlich manchen meiner Leser um sein Herz gebracht. Ideenassoziation erklärt eine Menge von Erscheinungen in der Physiognomik, ohne daß man nötig hätte, zu Schmälerung der Rechte der Vernunft, neue Sinne anzunehmen, mit denen falsche, bequeme Philosophie und Neuerungsgeist seit jeher sehr freigebig gewesen sind.

Allein, ruft der Physiognome, was? Newtons Seele sollte in dem Kopf eines Negers sitzen können? Eine Engelsseele in einem scheußlichen Körper? der Schöpfer sollte die Tugend und das Verdienst so zeichnen? Das ist unmöglich. Diesen seichten Strom jugendlicher Deklamation kann man mit einem einzigen Und warum nicht? auf immer hemmen. Bist du, Elender, denn der Richter von Gottes Werken? Sage mir erst, warum der Tugendhafte so oft sein ganzes Leben in einem siechen Körper jammert, oder ist immerwährendes Kränkeln vielleicht erträglicher als gesunde Häßlichkeit? Willst du entscheiden, ob nicht ein verzerrter Körper, so gut als ein kränklicher, (und was ist Kränklichkeit anders als eine innere Verzerrung?) mit unter die Leiden gehört, denen der Gerechte hier, der bloßen Vernunft unerklärlich, ausgesetzt ist? Sage mir, warum Tausende mit Gebrechen geboren werden, einige Jahre durchwinseln und dann wegsterben? Warum das hoffnungsvolle Kind, die Freude seiner Eltern, dahinstirbt, wenn sie anfangen, seiner Hilfe zu bedürfen? warum andere gleich nach ihrem Eintritt in die Welt wieder hinaus müssen und nur geboren werden, um zu sterben? Löse du mir diese Aufgaben auf, so will ich dir die deinigen auflösen. Wenn du einmal eine Welt schaffst oder malst, so schaffe und male das Laster häßlich und alle giftigen Tiere scheußlich, so kannst du es besser übersehen, aber beurteile Gottes Welt nicht nach der deinigen. Beschneide du deinen Buchsbaum wie du willst, und pflanze deine Blumen nach dir verständlichen Schattierungen, aber beurteile nicht den Garten der Natur nach deinem Blumengärtchen. Hieraus lassen sich die Beweise widerlegen, die man für die Physiognomik aus Christusköpfen hat herleiten wollen. Und doch auch, dem Physiognomen nicht mit bloßem Räsonnement zu begegnen, ließe sich, wenn hier der Ort dazu wäre, leicht zeigen, wie wenig Trost er aus den Physiognomien der Wilden für sein System zu hoffen hat. Ich will nur etwas Weniges für den Neger sagen, dessen Profil man recht zum Ideal von Dummheit und Hartnäckigkeit und gleichsam zur Asymptote der europäischen Dummheits- und Bosheitslinie ausgestochen hat. Was Wunder? da man Sklaven, Matrosen und Pauker, die Sklaven waren, einem Candidat en belles lettres gegenüberstellt. Wenn sie jung in gute Hände kommen, wo sie geachtet werden wie Menschen, so werden sie auch Menschen; ich habe sie bei Buchhändlern in London über Büchertitel sogar mit Zusammenhang plaudern hören, und mehr fürwahr verlangt man ja kaum in Deutschland von einem Bel-Esprit. Sie sind äußerst listig, dabei entschlossen und zu manchen Künsten außerordentlich aufgelegt, und sollten daher, da der Versuche mit ihnen noch so wenige sind, gar nicht von Leuten verachtet werden, die immer von Anlage ohne Bestimmung und Kraft ohne Richtung plaudern. Gegen ihre westindischen Schinder sind sie nicht treulos, denn sie haben ihren Schindern keine Treue versprochen. Der weiße, dünnlippige Zuckerkrämer ist der Nichtswürdige im Handel. Jeder brave Deutsche, mit dem sein Nebenmensch gleichen Viehhandel treiben wollte, würde gleiche Unbiegsamkeit beweisen. Vergeht sich irgend einer einmal auch gegen einen guten Herrn, so bedenke man, was bei uns, im Licht der wahren Religion, Vorurteil, Auferziehung und Aufhetzung nicht vermocht hat; bloß die Wörtchen es ist und es bedeutet; dort gilt's die Wörter Freiheit und geschunden werden. Wo aber der Funke aus dem Lichtmeer der Gottheit, Vernunft einmal glimmt, da kann auch eine Flamme entstehen, wenn man sie anzufachen weiß, und gewiß ist die Hälfte von dem, was uns Krämer und unphilosophische Reisebeschreiber, die immer nur bestätigen oder zusetzen, von ihnen sagen, nicht wahr. Das ruhige Durchschauen durch verjährte Vorurteile; die Scharfsichtigkeit, durch das verwilderte Gebüsch den geraden Stamm zu erkennen; die philosophische Selbstverleugnung, zu gestehen, man habe nichts Wunderbares gesehen, wo alles von Wundern wimmeln soll, und die von Durst nach lauterer Wahrheit und von Menschenliebe begleitete Unparteilichkeit ohne Menschenfurcht ist ein kostbarer Apparatus, der selten mit an Bord genommen wird, wenn man nach entfernten Ländern segelt; im Reich der Körper so gut, als der Gedanken. Doch, alles dieses weggeschmissen, wäre es nicht Unsinn zu sagen, weil der Mohr dumm und tückisch ist, so ist es der Deutsche ebenfalls, dessen Nase und Lippe sich der Lippe und Nase des Schwarzen nähern, oder ähnlicht ihm mit dem Verhältnis im Charakter, nach welchem sich Nase und Lippe ähnlich sind, da der eine eines sanften Himmels genoß, während der andere von dem seinigen bis in den Sitz der Seele geröstet und gekocht wird? Anderer Umstände zu geschweigen. Was ist Unsinn, wenn dieses keiner ist?

Die Seele baut aber doch ihren Körper, und kann man nicht aus dem Gebäude auf den Baumeister schließen? Dieses unnütze Lieblingssätzchen der Physiognomen kann man ohne Anstand zugeben, wenn man sich vorläufig über den Begriff von bauen vereinigt und die kleine Einschränkung macht, daß man, um dieses Urteil richtig zu fällen, auch die ganze Absicht des Gebäudes kennen müsse. Offenbar bauen wir unsere Körper nicht so, wie wir Backöfen bauen, und ohne die Einschränkung könnte ein Grönländer, der etwa ein Gradier-HausBalkengerüst, zwischen dem durch eine hochgelegene Rinnenleitung über Reiserwände Salzsole fließt und verdunstet. sähe, auch schließen: der diese Wohnung baute, war sicherlich ein Tor, erst läßt er den Wind durch die Wände streichen, und dann sorgt er obendrein dafür, daß es auch bei heiterem Himmel nicht an Regenwetter fehlt. Diesem guten Tropf würde ich antworten: lerne erst das Land kennen, in welchem dieses Gebäude steht, so wirst du, wenn du je so weit kommst, die Weisheit bewundern müssen, womit es aufgeführt ist.

Wenn man sich ein wenig umsieht, so wird man finden, es fehlt dem Physiognomen in dieser Art zu schließen nicht an Gesellschaft, die ihm auf alle Art Ehre macht. Der, der zuerst dem unendlich guten Wesen ein unendlich böses zugesellte, und die klugen Köpfe, die noch jetzt den Teufel anbeten, haben vermutlich, durch Schmerz, Erdbeben, Pestilenz und Krieg verleitet, ihre ähnlichen Schlüsse gezogen. Ein trauriges Beispiel, wohin Vernunft ohne Offenbarung führen kann, und desto trauriger, je verzeihlicher. Der Schluß aus den Werken der Natur auf einen allmächtigen, allgütigen und allweisen Schöpfer ist mehr ein Sprung der instruierten Andacht, als ein Schritt der Vernunft. Die Natur zeigt ihrem eingeschränkten Beobachter nichts als einen Urheber, der ihn weit übertrifft. Wie weit? das sagt sie ihm nicht. Die Offenbarung versichert, es sei unendlich weit, und nach dem jetzigen Anschein zu urteilen, werden auch Tausende von Jahrhunderten dem unendlichen Beobachter keinen Grund an die Hand geben, an jener Versicherung mit Vernunft zu zweifeln. Ja, es macht dem menschlichen Geist nicht wenig Ehre, daß er bereits tief genug in jene Weisheit hineinschaut, zu vermuten, das, was er übersieht, sei gegen das Ganze ein Nichts. Also du, der du glaubst, die Seele schaffe ihren Körper, horche auch du auf das, was sie dir auf einem andern Wege, als dem ihres Geschöpfs offenbart: halte den für weise, der weise handelt, und den für rechtschaffen, der Rechtschaffenheit übt, und laß dich nicht durch Unregelmäßigkeiten in der Oberfläche irren, die in einen Plan gehören, den du nicht übersiehst, in den Plan desjenigen, nach dessen Vorschrift die Seele wenigstens ihren Körper bauen mußte, wenn sie ihn gebaut hat. Rede, sagte Sokrates zum Charmides, damit ich dich sehe, und an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, steht in einem Buch, das wenig mehr gelesen wird, und, merkwürdig, in einer Rede zweimal hintereinander, von welcher gleichwohl jedes Wort vor Gott gewogen ist.

Allein auf diese Art könnte man die ganze Physik verdächtig machen, antwortet man; wir wissen zwar nicht, wie Dummheit und dicke Lippen zusammenkommen, und brauchen es auch nicht zu wissen, genug, wir sehen sie beisammen, und das ist hinreichend. Die Antwort hierauf ist schon längst in allen Logiken gegeben: das ist es eben, worüber wir streiten. Wir geben dem Physiognomen gerne zu, sich unter die Naturlehrer zu zählen, nur muß er keinen größeren Rang unter ihnen behaupten wollen, als der Prophet unter den Staatsklugen. Den eigentlichen Physiker und den Physiognomen kann man schlechterdings nicht zusammenstellen. Der erstere irrt oft menschlich, der andere irrte seit jeher eminent. Der erstere geht mit seinen Schlüssen nie aus der Maschine, deren Gang er kennen lernen will, und deren Räder einförmig und treibende Kräfte scharf bestimmt und unveränderlich sind, heraus; er beobachtet nicht bloß den natürlichen Gang des Uhrwerks, sondern versucht auch, und zwingt Erscheinungen, welche, bloß leidend abzuwarten, ein tausendjähriges Leben voll Aufmerksamkeit erfordert hätten, in einen Tag zusammen; und was hundert Jahre von Versuchen wiederum nicht hätten lehren können, lehrt in einer Stunde Rechnung, und monatelange Rechnung wird vielleicht am Ende in ein Blättern von fünf Minuten verwandelt. Jeder Körper, möcht ich sagen, den der Physiker mit der Hand umfaßt, ist ihm ein Modell der Schöpfung, mit dem er machen kann, was er will. So ist es freilich kein Wunder, wenn, durch solche Maschinen gehoben, der Mensch eine Höhe erreicht, die ihn schwindeln macht.

Nun betrachte man einmal den Physiognomen, wie hilflos, und doch wie verwegen er dasteht. Er schließt nicht etwa von langem Unterkinn auf Form der Schienbeine, oder aus schönen Armen auf schöne Waden, oder wie der Arzt aus Puls, Gesichts- und Zungenfarbe auf Krankheit, sondern er springt und stolpert von gleichen Nasen auf gleiche Anlage des Geistes, und, welches unverzeihliche Vermessenheit ist, aus gewissen Abweichungen der äußern Form von der Regel auf analogische Veränderung der Seele. Ein Sprung, der meines Erachtens nicht kleiner ist, als der von Kometenschwänzen auf Krieg. Wenn ich in einer kurzen Sentenz die Bedeutung jedes Wortes nur um einen Zoll verschiebe, so kann sich der Sinn um Meilen ändern. Wohin haben nicht unbestimmte Wörter geführt? Was in der Haushaltung wenig schadete, leitete in Wissenschaften gerade nach entgegengesetzten Richtungen. Ferner ist es dem Physiognomen schon unendlich schwer, den ersten festen Punkt zu finden; die erste unleugbare Erfahrung. Ein dummes Fältchen hinter den Mundwinkeln, oder ein Zahn, den man erst beim seltenen Lachen entdeckte, könnten Newtons Nase zur Lügnerin machen, und so von zwei bis ins Unendliche. Die innere Verzerrung nicht einmal gerechnet, die, so unmerklich sie auch dem Auge sein könnte, Folgen haben kann, die dem Geist nur allzu merklich sind. Können doch unmerkliche Veränderungen im Gehirn den Tod verursachen, wie viel leichter Sinnesänderung? Wie sind Sinnesunterricht und Geisteserleuchtung abgewogen? Ein Zusatz von eins im Sinn könnte eine Erleuchtung von tausend bewirken. Die Veränderung des Gehirns immer in dem Verhältnis zu sehen, in welchem sich die Veränderung im Geist zeigt, dazu haben wir keinen Sinn. Wir sehen nur Farbe und Figur, und diese kann vom begleitenden Gedanken für einen fremden Sinn so gut um eins abweichen, als um tausend. Das ist einerlei. Eine große Veränderung im Gehirn für unser Auge könnte eine sehr kleine für die Seele sein, von der es bewohnt wird, und umgekehrt. Und ihr wollt gar aus dem Gewölbe über dieses Gehirn schließen? Doch ich will Worte sparen und werde unverständlich. Was ist nun die Folge aus obigen Betrachtungen? Diese: die Physiognomik wird in ihrem eigenen Fett ersticken. In einem zentnerschweren physiognomischen Atlas entwickelt, läge der Mensch nicht um ein Haar deutlicher als jetzt in seinem Leibe. Ein weitläufiges Werk, und zwar eines, welchem Weitläufigkeit wesentlich ist, zusammen zu denken, ist fürchterlich, da den Menschen aus der ersten Hand zu studieren uns tausendfaches Interesse des Leibes und der Seele anlockt und antreibt. Endlich ist auch der Physiognome noch von dem Weg, durch Versuche zur Wahrheit zu gelangen, fast gänzlich abgeschnitten: alles dieses zusammen macht seine Sache desperat. Der Semiotiker wird doch noch bald gewahr, ob ihn seine Zeichendeutung trügt. Also von der einen Seite unendlich mehr Schwierigkeit als in der Naturlehre, und von der andern sehr viel weniger Hilfe. Was kann daraus werden? Die Achsel zucken und stille schweigen wäre freilich alles, was der gesunde Mensch tun könnte; dem verblendeten Stolz fehlt es nie an Worten. Aber es ist doch gut zu versuchen, was man auch hierin vermag? Antwort: nicht ganz, weil das Leiden einer einzigen unschuldigen Seele, während des Versuchs, mehr Rücksicht verdient, als die arme leere Schwärmerei wert ist. Und ist es nicht schon seit jeher vergeblich versucht, ohne sich ernstlich zu fragen: Warum? Gut könnte es am Ende allemal sein, aber mich dünkt, Eichen pflanzen ist besser.

Ist denn aber Physiognomik ganz unsicher? Wir schließen ja täglich aus den Gesichtern, jedermann tut es, selbst die, die wider Physiognomik streiten, tun es in der nächsten Minute, und strafen ihre eigenen Grundsätze Lügen. Diese Einwürfe wollen wir nun näher beleuchten.

Unstreitig gibt es eine unwillkürliche Gebärdensprache, die von den Leidenschaften in allen ihren Gradationen über die ganze Erde geredet wird. Verstehen lernt sie der Mensch gemeiniglich vor seinem fünfundzwanzigsten Jahre in großer Vollkommenheit. Sprechen lehrt sie ihn die Natur, und zwar mit solchem Nachdruck, daß Fehler darin zu machen zur Kunst ist erhoben worden. Sie ist so reich, daß bloß die süßen und sauren Gesichter ein Buch füllen würden, und so deutlich, daß die Elefanten und die Hunde den Menschen verstehen lernen. Dieses hat noch niemand geleugnet, und ihre Kenntnis ist, was wir oben Pathognomik genannt haben. Was wäre Pantomime und alle Schauspielkunst ohne sie? Die Sprachen aller Zeiten und aller Völker sind voll von pathognomischen Bemerkungen, und zum Teil unzertrennlich mit ihnen verwebt. Man hat sich die Mühe nicht genommen, sie heraus zu suchen, und für die Haushaltung besonders vorzutragen, weil man um die Zeit, da man diese Bücher verstehen würde, die Sache schon gemeiniglich besser versteht, als sie gelehrt werden kann. Sie ist so unnötig, als eine Kunst zu lieben. Sie nach Regeln auszuüben, die die eigene Beobachtung nicht schon gelehrt hätte, würde, in einer wie in der andern, in Irrtum verleiten und lächerlich machen. Hingegen sind unsere Sprachen höchst arm an eigentlich physiognomischen Beobachtungen. Wäre etwas Wahres darin, die Völker hätten es gewiß ebenfalls in diese Archive ihrer Weisheit gelegt. Wo man Spuren antrifft, so sind sie immer verdächtig und scheinen aus einer einzigen Beobachtung gemacht zu sein, wie Spitzkopf im Deutschen, so können selbst Nomina Propria endlich in Volksschimpfwörter übergehen. Laster im Deutschen heißt ursprünglich Verstümmelung, und nicht Gebrechen, gehört also zu Poltron. Auch stammt häßlich nicht von hassen. Die Nase kommt in hundert Sprichwörtern und Redensarten vor, aber immer pathognomisch, als Zeichen vorübergehender Handlung, und niemals physiognomisch oder als Zeichen stehenden Charakters oder Anlage. Es fehlt ihm über der Nase, sagt man im gemeinen Leben von einem, der nicht viel Verstand hat; nach der neuern Physiognomik müßte man sagen, es fehlt ihm an der Nase. Es gibt allerdings Sprichwörter, die der Physiognomik das Wort reden, aber was läßt sich mit Sprichwörtern erweisen? Hüte dich vor den Gezeichneten, ist ein Schimpfwort, dem die Gezeichneten von einer gewissen Klasse der nicht Gezeichneten in der Welt seit jeher ausgesetzt gewesen sind. Mit größerem Recht könnten also die Gezeichneten sagen: hüte dich vor den Nichtgezeichneten. In einem schönen Leibe wohnt eine schöne Seele, gehört auch hieher. Auch Fronti nulla fides(Lat.): Auf Aussehen ist kein Verlaß.. Die Sprichwörter leben in ewigem Krieg, wie alle Regeln, die nicht der Untersuchungsgeist, sondern die Laune gibt. Phädrus antwortet den eben angeführten in der simpeln Sprache der gesunden Vernunft:

Ridicule magis hoc dictum, quam vere aestimo,
Quando et formosos saepe inveni pessimos
Et turpi facie multos cognovi optimos.(Lat.): Mir scheint diese Äußerung eher lächerlich als wahr, da ich sowohl übelste Menschen oft wohlgestaltet fand als auch viele ausgezeichnete kennengelernt habe mit häßlichem Gesicht.

Shakespeare, der die entferntesten Begriffe, und die sich vielleicht nie in einem Menschenkopf vorher begegnet sind, zu seiner Absicht zu verbinden weiß, der imstande war, die Welt ein O, und endlich gar die Schaubühne ein hölzernes O zu nennen; der über das mehr Bemerkungsgeist und Gabe besitzt, von klaren Dingen mit Deutlichkeit zu reden, als vielleicht noch ein Schriftsteller besessen hat, dieser Shakespeare ist sehr arm an eigentlich physiognomischen Bemerkungen. Es könnte sein, daß hier und da etwas in ihm steckte; der Verfasser hat ihn nie in der Absicht ganz durchgelesen, aber in acht seiner Stücke, die er deswegen durchgegangen hat, hat er nichts gefunden, was Aufmerksamkeit verdient. Hingegen ist er voll der herrlichsten pathognomischen Beobachtungen, auf die glücklichste Weise ausgedrückt. Unter diesen finden sich sogar manche, die noch nicht so kurrent sind, als sie zu sein verdienten, z. E. seine immer lächelnden, musikscheuen Bösewichter und seine Lügner von polierter Lebensart, wenn man solche Bemerkungen hierher rechnen darf. Seine Schimpfwörter, die nur die Oberfläche treffen, und deren ganzer Zweck ist, Mangel an Schönheit aufzurücken, gehören nicht hierher. Seinem durchschauenden Auge wäre die dicklippige Dummheit, der horizontal und dünnlippige Verstand mit seinen eckigen Augenknochen sicherlich nicht entgangen. Aber in dem großen steinernen O, worin er lebte und schrieb, konnte er sich sehr bald von dem Satz überzeugen: Es gibt keine Physiognomik von einem Volk zum andern, von einem Stamm zum andern und von einem Jahrhundert zum andern.

Shakespeares Pathognomik verdiente eine eigene Behandlung, von einem Mann, der einen stehenden Fond von Philosophie hätte, damit er nicht nach verübter Tat unvermerkt das Gesetz gäbe, nach welchem er sich richtet, oder es mit der Vernunft so hielte, daß er es nicht mit der Unvernunft verdürbe. Er müßte mit einem Herzen voll Menschenliebe arbeiten, aber ja um Himmels willen! voll Menschenliebe, die ein heller Kopf leitet. Tätige Menschenliebe ohne Verstand verfehlt so gut ihren Zweck als Menschenhaß ohne Macht: so wie dieser oft mehr Gutes stiftet als Böses, so stiftet jene nur allzu oft Böses als Gutes. Nur mit dem traurigen Unterschiede, daß ich den, der in der Absicht, mir zu schaden, mein Glück befördert, am Ende mit Lächeln bestrafen, hingegen den, der mich aus Menschenliebe unglücklich macht, auch nicht einmal mit gutem Gewissen verklagen kann. Ferner müßte der Mann tiefe Kenntnis der englischen Sprache, hauptsächlich der Nation, des Menschen und seiner selbst besitzen. Ohne einen hohen Grad von allen vieren läßt sich zwar Shakespeare noch immer mit Vergnügen lesen, aber man wird gerade das verlieren, was ihn zu einem so ungewöhnlichen Mann macht. Dieses erklärt die Verschiedenheit der Urteile über diesen Schriftsteller, wovon wir in diesen Tagen wieder merkwürdige Beispiele gehabt haben. Mich wundert es nicht. Die Menschen sind geneigt zu glauben, daß sie jedes Buch, worin nichts von krummen Linien und algebraischen Formeln vorkommt, lesen könnten, sobald sie die Sprache verstünden, worin es geschrieben ist. Es ist aber grundfalsch. Es könnte jemand so wenig von den obigen Erfordernissen zur Lesung des Shakespeare mitbringen, und so wenig Begierde haben, in sich selbst zu erwachen, daß er am Ende wohl nichts verstünde, als seine Zoten, seine Flüche und einige seiner ausschweifendsten Metaphern. So wird es aber bis an jenen Tag allen großen Geistern ergehen, die mit tiefer Einsicht über den Menschen schreiben. Solche Werke sind Spiegel; wenn ein Affe hineinguckt, kann kein Apostel heraussehen. Ich lenke nun von dieser kleinen Ausschweifung wieder ein. Ich sagte oben, Shakespeare sei sehr arm an eigentlich physiognomischen Bemerkungen, wenigstens in den Stücken, die ich in der Absicht, sie zu suchen, durchgelesen habe. Unparteiische Leser werden sehen, daß dieses nicht sagen will, er enthalte ganz und gar keine. Shakespeare schildert Menschen, und die Menschen haben wohl seit jeher physiognomisiert und geirrt, auch irren sich Shakespeares Physiognomen. Ich verstand vielmehr darunter solche Bemerkungen, die unter andere Erklärungen gleichbedeutend hingeworfen, zugleich die Sache bezeichneten und den Ernst sehen ließen, womit er es meint. Z. E. wenn er Leuten, deren Geist und Herz er aus der Geschichte kannte, ohne ihre Figur zu kennen, eine Bildung beigelegt hätte, die ihm nach seiner Empfindung sprechend gedünkt hätte. Sein broadfronted Caesar wäre eine solche Bemerkung, aber zum Unglück lesen andere Ausgaben baldfronted. Die foolish hanging netherlip, die in einem dieser Stücke vorkommt, beweiset noch weniger. Der Physiognome, der sich den Shakespeare durch Wörterbücher aufklärt, muß ja nicht, durch Systemsgeist verleitet, glauben, daß er hier eine Entdeckung gemacht habe. Der Engländer nennt alles foolish, was er nicht leiden kann. Auch muß man bei einem Schriftsteller, der den Menschen mit solcher Anschauung schildert, genau erwägen, wem er die Bemerkung in den Mund legt. Sage mir, was hat Octavia für ein Gesicht, fragt beim Shakespeare die eifersüchtige Kleopatra den Kurier, ist's länglich oder rund? – Bis zum Fehler rund, ist die Antwort. Das sind gemeiniglich Närrinnen, die so aussehen, sagt Kleopatra. Wer sieht hier nicht, daß dieses ein tiefer Blick ins Herz der Kleopatra ist, der uns über die innere Beschaffenheit des Kopfs der Octavia völlig beim alten läßt?

Nun weiter. Die pathognomischen Zeichen, oft wiederholt, verschwinden nicht allemal völlig wieder, und lassen physiognomische Eindrücke zurück. Daher entsteht zuweilen das Torheitsfältchen durch alles bewundern und nichts verstehen; das scheinheilige Betrügerfältchen, die Grübchen in den Wangen, das Eigensinnfältchen, und der Himmel weiß, was für Fältchen mehr. Pathognomische Verzerrung, die die Ausübung des Lasters begleitet, wird noch überdas oft durch Krankheiten, die jenem folgen, deutlicher und scheußlicher, und so kann pathognomischer Ausdruck von Freundlichkeit, Zärtlichkeit, Aufrichtigkeit, Andacht und überhaupt moralische Schönheit in physische für den Kenner und Verehrer der moralischen übergehen. Dieses ist der Grund der Gellertschen Physiognomik, (wenn sich dieses Wort noch von einer Sammlung von Bemerkungen, die einen Grund zu wahrscheinlichen Schlüssen vom Charakter auf die Gesichtsbildung, aber nicht umgekehrt, enthalten, gebrauchen läßt) der einzigen wahren, wenn es eine wahre gibt, die für die Tugend allemal von unendlichem Nutzen ist, und die sich in wenig Worte fassen läßt: Tugend macht schöner, Laster häßlicher. Allein diese Züge beurteile man mit der größten Behutsamkeit, sie lügen zum Erstaunen oft, und zwar hauptsächlich aus folgenden Ursachen. Es ist schon oben erinnert worden, daß der eine gleich gezeichnet wird für etwas, was dem andern tausendmal unbezeichnet hingeht. Dem einen fällt nach einer durchgeschwärmten Nacht die Wange in die Zahnlücke, da den andern die aufgehende Sonne so jugendlich hinter der Bouteille und beim Mädchen sieht, als ihn die untergehende gesehen hat. Die Bedeutung jedes Zugs ist also in einem zusammengesetzten Verhältnis aus der Brüchigkeit der Fibern und der Zahl der Wiederholungen. Ferner, (und dieses kann sich der voreilige Physiognome nicht genug merken) ist denn der, der bei ruhendem Gesicht aussieht, wie mein Freund oder ich, wenn ich spotte, deswegen ein Spötter, oder der bei hellem Wachen aussieht, wie ich, wenn ich schläfrig bin, deswegen ein Schläfriger? Keine Urteile sind gemeiner als diese, und keine können falscher sein. Denn einmal können jene Züge auch durch andere Ursachen dahin gekommen sein, als durch Spottübung und Schläfrigkeit oder Schuld, und auch noch selbst durch Schuld, aber nicht durch Spottübung und Schläfrigkeit. Und darin ist freilich der Mensch von allen bekannten erschaffenen Wesen unterschieden. Ich meine: Nachäffung und Bestreben, seine Oberfläche der Oberfläche berühmter, bewunderter und beliebter Menschen ähnlich zu machen, ihre Fehler und lächerlichen, ja bösen Angewohnheiten nachzuahmen, bringt erstaunliche Revolutionen auf dem Gesicht hervor, die sich gar nicht bis in das Herz oder den Kopf erstrecken. So werden Kopfhängen, hochweises Stirnerunzeln, Lispeln, Stammeln, Gang, Stimme, die horchende Kopfhaltung, das kurzsichtige gelehrte Blinzeln, vornehmes Trübsehen, empfindsame Melancholie, leichtfertige Lebhaftigkeit, das bedeutende Augenwinken und die satirische Miene andern nachgetan, so gut als das Gähnen; von einigen vorsätzlich und vorm Spiegel studiert, von andern, ohne daß sie es wissen. Es gibt Leute, denen die Satire selbst aus den Augen zu winken und zu spötteln scheint, und die dabei so unschuldig sind, wie die Lämmer, und eben so stumpf. Der Verfasser hat einen jungen vortrefflichen Menschen gekannt, der sich in Gesellschaft eines berühmten Mannes ein dezisives Aufwerfen des Kopfes und verachtendes Herabziehen der Mundwinkel, bei allem was er sagte, angewöhnt hatte, das ihm gar nicht vom Herzen ging, und das er sich auch wieder abgewöhnte. Er würde sich gewiß damit an seinem Glück geschadet haben. Es gehört viel Weltkenntnis und Tugend dazu, die Rede, von einem solchen Gesicht begleitet, zu entschuldigen, und nicht das Gesicht in die Rede überzutragen. Doch bleiben pathognomische Ausdrücke in einem Gesicht allemal eine Sprache für die Augen; mit schlechten Worten unharmonisch verbunden, läßt sich so gut etwas Vernünftiges sagen, als mit den ausgesuchtesten und aller Macht des Numerus etwas sehr Unvernünftiges. Das erstere im Gleichnis haben einige unserer älteren Schriftsteller durch ihr Beispiel gezeigt, und von dem letztern haben unsere Tage größere Proben aufzuweisen, als Rom und Griechenland zusammen genommen.

Fast lächerlich ist der Beweis für die Zuverlässigkeit der Physiognomik, den man aus der täglichen, fast stündlichen Ausübung derselben herleiten will. Sobald wir einen Menschen erblicken, so ist es allerdings dem Gesetz unsers Denkens und Empfindens gemäß, daß uns die nächstähnliche Figur, die wir gekannt haben, sogleich in den Sinn kommt und gemeiniglich auch unser Urteil sogleich bestimmt. Wir urteilen stündlich aus dem Gesicht und irren stündlich. So weissagt der Mensch von Zeitläuften, Erbprinzen und Witterung; der Bauer hat seine Tage, die die Witterung des ganzen Jahres bestimmen, gemeiniglich Festtage, weil er da müßig genug ist, zu physiognomisieren. Jeder Mensch ist des Tages einmal ein Prophet. Ja, die angehenden Physiognomen schließen sogar aus den Namen, und die Balthasare scheinen ihnen den Friedrichen nachzustehen. Ich glaube, es sind wenig Menschen, die nicht irgend einmal etwas diesem Ähnliches getan und gedacht haben, so lächerlich es auch klingen mag. Die angenommenen Namen satirischer Schriftsteller werden nach solchen Regeln zusammengesetzt. Wollten wir die Leute, von denen wir nach dem ersten Anblick urteilen, alle durch jahrelangen, genauen Umgang prüfen, ich glaube, es würde der Physiognomik ärger ergehen als der Astrologie. Einbildungskraft und Witz kommen hierbei gefährlich zu statten, daher sind die tiefsten Denker gemeiniglich die schlechtesten Physiognomen. Sie sind mit einer flüchtigen Ähnlichkeit nicht so leicht befriedigt, da der flüchtige Physiognome in jedem Tintenfleck ein Gesicht und in jedem Gesicht eine Bedeutung findet. Alles dieses ist aus Ideenassoziation begreiflich. Vergnügen gewähren diese Hypothesen allemal. Wer des Nachts auf einer Postkutsche gereiset ist und im Dunkeln Bekanntschaft mit Leuten gemacht hat, die er nie gesehen hat, wird die Nacht über sich ein Bild von ihnen formiert haben und sich am Morgen so betrogen finden, als sich der Physiognome an jenem großen, feierlichen Morgen betrogen finden wird, an dem sich unsere Seelen zum erstenmal von Angesicht schauen werden. Der Verfasser hat lange, ehe Physiognomik Mode geworden ist, auf eine Art in Physiognomik ausgeschweift, die er nun, da ihn Erfahrung zurückgebracht hat, dem Leser nicht vorenthalten kann: Er hat einen Nachtwächter, der ihn einige Jahre durch aus dem Schlaf hornte und brüllte, um ihm zu sagen, wie viel Uhr es sei, nach der Stimme zu zeichnen versucht. Man höre den Erfolg. Seine Stimme erweckte in ihm das Bild eines langen, hagern, übrigens aber gesunden Mannes, mit länglichem Gesicht, in die Länge heruntergezogener Nase, starkem ungebundenem Haar, und langsamem, säendem, gravitätischem Tritt. Er ward nach dieser Vorstellung begierig, den Mann am Tage zu sehen, wozu er bald Gelegenheit bekam. Die Abweichung der Zeichnung vom Original war unerhört groß, schlechterdings nichts war getroffen. Der Mann war der Statur nach unter den Mittelmäßigen, munter und geschwind, selbst sein Haar hatte er in ein wegstehendes Zöpfchen zusammengedreht, worin mehr Bindfaden als Haar war. Es ist hierbei eine angenehme Beschäftigung, die dem Psychologen wichtig werden kann, jene Ideen wieder zu dissoziieren. Der Verfasser hat seinem Nachtwächter oft nachgespürt, und endlich gefunden, daß er die lange Figur der durchdringenden Baßstimme zu danken hatte, die er in seiner Kindheit einigemal beisammen gesehen; hingegen war das Bedächtige, Hagere, Schleichende, nach genauer Untersuchung, von weit edlerer Abkunft, denn es verlor sich in dichterische Ideen von der Göttin der Nacht, und einiger Gespenster männlichen Geschlechts, mit denen der Verfasser in seiner Jugend bekannt geworden war. Auf der Schule in D. befand sich mit mir zugleich ein Mensch von sehr lebhaftem Witz und nicht gemeinen Talenten, aus dem etwas hätte werden können, wenn er dieses wilde Feuer durch ernste Wissenschaft zu zweckmäßiger Erwärmung zusammenzuhalten früh genug wäre gezwungen worden. Dieser rühmte sich im Ernst, daß er den Leuten ansehen könnte, wenn sie Kaspar hießen. Er irrte sich nicht wenig, wie man mir gerne glauben wird, allein er blieb, kleine Abänderungen nicht gerechnet, (recht physiognomisch) im ganzen bei seiner Meinung, und Kaspar war ein Name, womit er einen sehr zusammengesetzten Charakter bezeichnete. Da ich einige von den Leuten, die er mit diesem Namen belegte, gekannt habe, so würde ich sie dem Leser gerne nach Vermögen hinzeichnen, wenn ich nicht fürchtete, mich verdrießlichen Deutungen auszusetzen. Ein anderer, weit älter und auf einer höheren Schule, fand es seltsam, und hätte bei dickerem Blut in seinem Glauben dadurch irre gemacht werden können, daß von drei großen christlichen Gelehrten, die er fast zur Anbetung verehrte, der eine Abraham, der andere Isaak und der dritte Jakob hieß. Dabei war er doch ein großer Bewunderer von Gellert; als er mir daher einmal seine Bemerkung klagte, so antwortete ich ihm, Gellert hätte Fürchtegott geheißen, und daran sollte er sich halten. Allein es gibt noch weit schmeichelhaftere und subtilere Feinde der Physiognomik, die man erst nach Bearbeitung eines noch sehr verwilderten Feldes, der Philosophie, ganz kennen lernen wird. Ein Wort kann in uns zu einem Gesicht werden, und ein Gesicht zu einem Wort, durch Assoziation. Wir sehen die Helden der Romane, die wir lesen, alle wie vor uns, auch die Pläne der Städte. Lange vorher, ehe ich das Porträt des Generals der amerikanischen Rebellen, Lee, gesehen hatte, habe ich mir ein Bild von ihm gemacht, das aus Deserteur und doppeltem e so wunderbar zusammengesetzt ist, daß ich nie ohne Vergnügen daran denke. Wer über den Ursprung der Wörter nachgedacht hat, wird diese Bemerkung nicht unwichtig finden, und sie leicht an andere anzuketten wissen, die schon mehr ins reine gebracht sind. Diese subtilen Feinde der Wahrheit, deren eine unzählige Menge in uns liegt, entfliehen bei helltagender Vernunft, einzeln, bei den meisten, aller Beobachtung. Kaum hat sich aber auch jener Tag in den Zwischenräumen eines unruhigen Schlafs, in einer Fieberhitze oder schwärmerischen Aussicht auf Restaurator-Ehre zur Dämmerung geneigt, so steigen sie oft zu einem hohen Grad von Klarheit vergrößert hervor; ich habe davon einige mit großem Vergnügen gehascht und zu künftigem psychologischen Gebrauch in meinem Kabinett aufbewahrt. Jene Frau, die glaubte, der Papst müßte ein Drache, oder ein Berg oder eine Kanone sein, verdient mehr Aufmerksamkeit als Spott. Es geht uns allen so, wenn wir träumen, und wer will die Grenze zwischen Wachen und Träumen angeben; so wie nicht jeder träumt, der schläft, so schläft auch nicht jeder, der träumt.

Die Physiognomen irren sich, wenn sie aus Schattenrissen oder Porträten von Personen urteilen, die sie gar nicht kennen, so entsetzlich, daß, wenn man die Treffer mit den Fehlern verglichen sähe, das Glückspiel gleich in die Augen fallen würde. Sie machen es aber wie die Lottospieler, publizieren Blättchen voll glücklicher Nummern, und behalten die Quartanten, die man mit unglücklichen anfüllen könnte, für sich. Auch die getroffenen sind es oft nur in Orakelwörtern, mit Spielraum für den Sinn; und oft sieht der Physiognome Forschungsgeist in den Augenknochen, oder poetisches Genie in den Lippen des Mannes, weil er sie in dessen Schriften aus Mangel an Kenntnissen und Geschmack, oder durch Journale verführt, zu finden glaubt. Dem Denker, der jene Schriften leer findet, wird dadurch die ganze Kunst verdächtig.

Wache, nüchterne Vernunft sieht wohl, woher dieses Irren entspringt, und gibt sich nicht mit Untersuchungen ab, die nicht für sie sind; wagt sie sich je ohne Plan in solche Felder, welches freilich zuweilen sehr großen Leuten begegnen kann, so geschieht es gemeiniglich nur in den Stunden, wo sie in der Gesellschaft des muntern Witzes und der verführerischen Einbildungskraft einen kleinen Hieb hat. Man untersuche daher einmal die Physiognomen, und man wird finden, es sind gemeiniglich Personen, deren lebhafte Einbildungskraft ihnen beim Anblick der meisten Gesichter die verwandten Züge anderer und mit ihnen ganze Lebensläufe und Privatgeschichten vorstellt, und die dieses bei jeder Gelegenheit der Gesellschaft darlegen. Gemeiniglich mit vielem Witz, weil so sehen und so sprechen einerlei Ursprungs sind. Auch richtet die Gesellschaft solche Bemerkungen nicht als bare Philosophie, sondern als Witz, dessen Reiz wohl gar durch den Strich von verwegner Leichtfertigkeit noch gewinnt, der die erstere geschändet hätte. Oft sind sie unschuldiger und sehen den Leuten nur das an, was sie schon von ihnen wissen. Die Prüfung der Bemerkung ist in den meisten Fällen so flüchtig, als die Bemerkung selbst. Man esse einmal den Scheffel Salz, welchen schon Aristoteles verlangt, mit dem Mann, über dessen Herz und Kopf man so flüchtig urteilte, und man wird finden, was alsdann werden wird. Aber Irren ist menschlich; nicht immer, es ist zuweilen . . . weit weniger.

Was aber unserm Urteil aus Gesichtern noch so oft einige Richtigkeit gibt, sind die, weder physiognomischen noch pathognomischen, untrüglichen Spuren ehemaliger Handlungen, ohne die kein Mensch auf der Straße oder in Gesellschaft erscheinen kann. Die Liederlichkeit, der Geiz, die Bettelei usw. haben ihre eigene Livree, woran sie so kenntlich sind, als der Soldat an seiner Uniform, oder der Kaminfeger an der seinigen. Eine einzige Partikel verrät eine schlechte Erziehung, und die Form unseres Hutes und Art ihn zu setzen, unsern ganzen Umgang und Grad von Geckerei. Selbst die Rasenden würden öfters unkenntlich sein, wenn sie nicht handelten. Es wird mehr aus Kleidung, Anstand, Kompliment beim ersten Besuch, und Aufführung in der ersten Viertelstunde, in ein Gesicht hinein erklärt, als die ganze übrige Zeit aus demselben wieder heraus. Reine Wäsche und ein simpler Anzug bedecken auch die Züge des Gesichts.

Physiognomik ist also äußerst trüglich. Die wirkenden Leidenschaften haben zwar ihre Zeichen und lassen oft merkliche Spuren zurück, das ist unleugbar, und daher rührt das, was die Physiognomik Wahres hat. Es ist aber auch dieses bei dem größten Teil des menschlichen Geschlechts so unsicher und schwankend, daß wir, wenn wir die Köpfe ohne Hut und Perücke, ohne Pflaster, Schminke, Schmarren, Kupfer, Finnen und Bewegung sähen, den Charakter mit eben so vieler Sicherheit herauswürfeln, als aus den Zügen erraten würden. In den Bewegungen der Gesichtsmuskeln und der Augen liegt das meiste, jeder Mensch, der in der Welt lebt, lernt es finden; es lehren, heißt den Sand zählen wollen.

Nützlicher wäre ein anderer Weg, den Charakter der Menschen zu erforschen, und der sich vielleicht wissenschaftlich behandeln ließe, nämlich aus bekannten Handlungen eines Menschen, und die zu verbergen er keine Ursache zu haben glaubt, andere nicht eingestandene zu finden. Eine Wissenschaft, welche Leute von Welt in einem höheren Grad besitzen, als die armen Tröpfe glauben können, die ihr Opfer täglich werden. So schließt man von Ordnung in der Wohnstube auf Ordnung im Kopf, von scharfem Augenmaß auf richtigen Verstand, von Farben und Schnitt der Kleider in gewissen Jahren auf den ganzen Charakter mit größerer Gewißheit, als aus hundert Silhouetten von hundert Seiten von eben demselben Kopf. Wer sagt, ich bin ein hitziger Kopf, wenn ich anfange, ist ein gutes Lamm; und der fromme Schwärmer, der jeden Augenblick ausruft, ich bin ein schwaches Werkzeug, würde sich unversöhnlich beleidigt glauben, wenn man ihm antwortete: das haben wir längst gedacht. Verschwiegenheit hat unzertrennlich verschwisterte Tugenden. Aus der Maitresse schließt man auf den Mann, wenigstens auf viele seiner Verhältnisse gegen uns. Wer gegen sein Gesinde gut ist, ist meistens im Grunde gut: man verstellt sich nicht gern gegen Leute, die man für ihre Dienste bezahlt, und die von einem abhängen, die man der Ehre der Verstellung gegen sie nicht würdig achtet, und die man nicht fürchtet. Die guten Romanen- und Schauspieldichter, Le Sage und Shakespeare enthalten solche Züge, wie weggeworfen. Der letztere in Menge, aber ohne alle prahlhafte Hinweisung, daher man sie oft übersieht. Aber was hilft das alles bei der schlauesten und gefährlichsten Klasse von Menschen? Nichts. Jede neue Attacke erzeugt eine neue Befestigungskunst, die dem perfektibelsten und korruptibelsten Geschöpf immer einschlägt.

Allein was auch sophistische Sinnlichkeit eine Zeitlang dagegen einwenden mag, so ist wohl der Satz gewiß, es ist kein dauernder Reiz ohne unverfälschte Tugend möglich, und die auffallendste Häßlichkeit, so lange sie nur nicht ekelhaft ist, vermag sich dadurch Reize zu geben, die irgend jemand unwiderstehlich sind. Die Beispiele dieser Art unter Personen beiderlei Geschlechts sind freilich selten, allein nicht seltener als die Tugenden, die jenen Reiz hervorbringen. Ich meine hier vorzüglich die himmlische Aufrichtigkeit, das bescheidene Nachgeben ohne Wegwerfung seiner selbst, das allgemeine Wohlwollen ohne dankverdienerische Geschäftigkeit, die sorgfältige Schonung der Delikatesse anderer Personen auch in Kleinigkeiten, Bestreben jedem in Gesellschaft unvermerkt Gelegenheit zu geben sich zu zeigen, ferner Ordnungsliebe ohne kleinliches Putzen und Reinlichkeit ohne Geckerei im Anzug. Dem Verfasser sind Beispiele hiervon von Frauenzimmern bekannt, die, wenn er sie hersetzen könnte, auch die Häßlichsten mit Mut erfüllen würden. Was diese Tugenden wirken, wenn sie sich zur Schönheit gesellen, wird jeder Leser leichter finden, wenn er in die Geschichte seines eigenen Herzens sehen will, als ich es hier beschreiben könnte. Ebenso kann das Laster, wo es biegsamen Stoff findet, in einem hohen Grade verzerren, zumal wenn dazu, bei roher Erziehung und gänzlichem Mangel an Kenntnis sittsamer Falten, oder gar an Willen, sie anzunehmen, es nicht ein einziges Mal des Tages, in irgend einer Stunde der bezahlten Pflicht, Zeit findet, die Risse auszuflicken. Diese Betrachtungen haben den Verfasser längst begierig gemacht, von einem gebornen Beobachter des Menschen, der dabei ein großer Zeichner wäre, und in einer großen Stadt gelebt hätte, denselben Knaben und dasselbe Mädchen auf zwei verschiedenen Pfaden des Lebens vorgestellt zu sehen; und zwar sollte ihre Geschichte mehr durch Züge des Gesichts als Handlung gezeigt werden. Er glaubte damals schon, und der Beifall einiger Gelehrten, die lange vor ihm über diese Materien gedacht haben, hat ihn nachher in diesem Glauben bestärkt, daß die Ausführung dieses Gedankens des größten Künstlers nicht unwürdig wäre. Alles, was der Künstler je über Schönheit und Häßlichkeit bemerkt, und alle übrigen Beobachtungen, die er über den Menschen angestellt hätte, könnte er hier zeigen, und mit wie vielem Vorteil für die Tugend!   PH

 

177. Meine Absicht war gar nicht, ein bekanntes weitläufiges Werk zu widerlegen. Ich wollte vielmehr einigen gefährlichen Folgerungen begegnen, die schon hier und da von Jünglingen und Matronen aus jenem Werk gezogen zu werden anfingen; ich wollte hindern, daß man nicht zu Beförderung von Menschenliebe physiognomisierte, so wie man ehemals zu Beförderung der Liebe Gottes sengte und brennte; ich wollte Behutsamkeit bei Untersuchung eines Gegenstandes lehren, bei welchem Irrtum leichter ist und gefährlicher werden kann, als bei irgend einem andern, Religion ausgenommen; ich wollte Mißtrauen erwecken gegen jene transzendente Ventriloquenz, wodurch mancher glauben gemacht wird, etwas, das auf Erden gesprochen ist, käme vom Himmel; ich wollte hindern, daß, da grober Aberglaube aus der feinern Welt verbannt ist, sich nicht ein klügelnder an dessen Statt einschliche, der eben durch die Maske der Vernunft, die er trägt, gefährlicher wird, als der grobe. Wir denken feiner, reden feiner und faseln feiner. Jetzt sind es Zeichen an der Stirne, die man deuten will, ehemals waren es Zeichen am Himmel; ich wollte endlich zeigen, daß man, durch ein paar armselige Beispiele von Hunden, Pferden, Dreigroschenstücken und Obst, die man allenfalls noch (nicht immer) aus dem Äußern beurteilt, verleitet, noch nicht vom Leib auf ein Wesen schließen könne, dessen Verbindungsart mit ihm uns unbekannt ist, und überhaupt nicht auf den Menschen schließen kann; auf diese Welt von Chamäleonism mit Freiheit; auf das Tier, das selbst den Galgen auf der Stirne Lügen strafen und Leidenschaften ermorden könnte, so gut wie sich selbst, wenn es wollte; das, von Ehr- oder Geldgeiz oder Liebe angeflammt, alles vermag, oder doch sehr viel mehr, als der bisherige Sklave der Gebräuche seiner Väter noch weiß. Was für ein unermeßlicher Sprung von der Oberfläche des Leibes zum Innern der Seele! Hätten wir einen Sinn, die innere Beschaffenheit der Körper zu erkennen, so wäre jener Sprung noch immer gewagt. Es ist eine ganz bekannte Sache, daß die Instrumente nicht den Künstler machen und mancher mit der Gabel und einem Gänsekiel bessere Risse macht, als ein anderer mit einem englischen Besteck. Der gerade Menschenverstand sieht auch dieses bald; es ist nur der Neuerungsgeist, der es nicht sehen will, und die sich in falschen Hoffnungen wiegende müßige Klügelei, die es nicht sieht. Wenn ein Schiffskapitän einem Kerl, der sich ihm mit Enthusiasmus zum Dienst anbietet, antwortet: dein Wille ist gut, allein du taugst dessenungeachtet nicht für mich, deine Schultern sind zu schmal und du überhaupt zu dünne und aufgeschossen, so muß der gute Kerl die Hand vielleicht auf den Mund legen. Aber wenn jemand sagte: du handelst zwar wie ein ehrlicher Mann, ich sehe aber aus deiner Figur, du zwingst dich und bist ein Schelm im Herzen; fürwahr eine solche Anrede wird bis ans Ende der Welt von jedem braven Kerl mit einer Ohrfeige erwidert werden. Dieses waren meine Absichten. Zum Teil habe ich sie gewiß hier und da erreicht. Wenn nicht ganz, was schadet's? Diese Schrift soll, wenn mir der Himmel Gesundheit gewährt, weder die einzige, noch die kleinste, noch auch die freimütigste sein, womit ich sie zu erreichen wenigstens suchen will. Habe ich die Warnungslinie hier und da allzu weit vom Abgrund gezogen, so muß ein solcher Fehler bei einer Absicht gewiß verzeihlich sein, bei welcher selbst Sophisterei verzeihlich wäre. Die Wahrheit gewänne auch alsdann noch. Sie steht nie aufrechter, als wenn sie, dem kräftigen pro gegenüber, von einem kräftigen contra gestützt wird.

Wäre die schnelle Ausbreitung der Physiognomik in unserm Vaterlande die Frucht eines sich über alles erstreckenden Beobachtungsgeistes, gut, so könnte man einer solchen Ausschweifung desselben einmal desto gelassener zusehen, je früher er alsdann davon zurückkommen würde. Allein wer unserm Zeitalter herrschenden Beobachtungsgeist zuschreibt, der muß nicht wissen, was Beobachtungsgeist ist, oder kennt unser Vaterland nicht. Diese schnelle Ausbreitung wird weit leichter und natürlicher aus dem so gemein gewordenen Bestreben erklärt, sich mit den wenigstmöglichen Kenntnissen den größtmöglichen Anschein davon zu geben; eine Aufgabe aus einer Mathematik, die unsere sonoren Philosophen und Aristarchen verstehen und ausüben, ut apes geometriam(Lat.): wie die Bienen die Geometrie.. Denn wo ist es leichter, sich das Ansehen eines denkenden Kopfes zu geben als in Untersuchungen, wo Schwierigkeit, etwas Zusammenhängendes und Bleibendes zu sagen, an physische Unmöglichkeit grenzt, und wo folglich der graubärtige Untersucher immer Verwirrung und Ungewißheit genug antreffen muß, auch die Beobachtung des jüngsten Plunderkopfs wichtig zu finden? Überdies erwirbt die vermeintliche Einweihung in die Mysterien der Physiognomik in der Gesellschaft, zumal der schwachen, jene Art heimlichen, und daher schmeichelhaften Zutrauens, welches gutherzige Geschöpfe und Mädchen nie denen versagen, die die natürlichen Schwachheiten ihres Herzens näher kennen als die Menge. Es ist ein Mittel zwischen Freundschaft und Liebe, und ähnlich darin einem gewissen Kredit der Hebammen, denen, wie man mir gesagt hat, auch die ledigen, unschuldigen Mädchen gewogen sein sollen.   PH

 

178. Von allem, was ich über Physiognomik geschrieben habe, wünschte ich bloß, daß zwei Bemerkungen auf die Nachwelt kämen. Es sind ganz einfältige Gedanken, und niemand wird mich darum beneiden. Der eine, daß ich die Ähnlichkeit zwischen Physiognomik und Prophetik erkannt habe; der andere, daß ich überzeugt gewesen bin, die Physiognomik werde in ihrem eigenen Fette ersticken.   B

 


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