Gustav Leutelt
Schilderungen aus dem Isergebirge
Gustav Leutelt

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Herbst.

Zu den nachhältigsten Erinnerungen aus ferner Jugendzeit gehört jenes Bild, das immer in meiner Seele aufsteigt, sobald das Wort »Herbst« an mein Ohr klingt. – Im Weiten brauende Nebel über regenfeuchtem, düsterem Fichtenwalde, und auf der nahen Moorheide ausgebleichte Grasbüschel zwischen blattlosem, tropfenbeschwertem Heidelgestrüpp: so stellt sich – auf die Auslösung durch jenes Wort hin – der Eindruck wieder her, den der Knabe einmal irgendwo empfangen hat. Die Erfahrung der zunehmenden Jahre gerät umsonst in Gegensatz zu diesem Eindrucke; das Bild bleibt unverwischbar in der Seele ruhen. Und doch bietet auch der Herbst nach Nebeln die höchste Klarheit und es sind in ihm sonnige Tage voll einer großen, erhabenen Ruhe, wie sie der Sommer nicht kennt. 36

Wenn in den folgenden Zeilen der Versuch gemacht werden soll, einseitige Jugendeindrücke zu berichtigen, so mag dabei der Gedanke die Feder leiten, daß auch in den Tagen des langsamen Absterbens der Natur ungeahnte Schönheit waltet, und oft plötzlich die Freude neben uns schreitet, wenn wir über welkem Laub einhergehen.

. . . Frühherbst: Nadelduft der Reisigfeuer und kräftiger Geruch schwelenden Kartoffelkrautes liegen dann in der Luft. Der »Kierte« treibt noch immer die Herde aus und ein »Feuerle« ist beim »Hüten« seine höchste Lust. Dürres Gras oder Laub zum Unterzünden, Zweige von den nächsten Fichten darauf, und ein Feuer ist fertig, wie es schöner nicht qualmen kann. Wenn die Flammen dann prasselnd durch die Nadeln hervorbrechen, so vom neuen grünes Reisig darauf, und munter weht wieder der weißliche Rauch über die Wiesen. Der Anziehungskraft eines »Kiertefeuers« widersteht auch der bravste Hätscheljunge nicht. Er weiß aus Erfahrung, daß der Rauchgeruch den Kleidern anhaftet und daheim zum Verräter wird; aber er riskiert Prügel und Schelte, um mit den anderen Jungen durch den Qualm springen zu können. Ist das Feuer niedergebrannt, so werden mitunter in der heißen Asche »Ardäppl gebrott«. Halbroh und ohne Salz und Schmalz aus freier Hand genossen, dünkt dem Jungen die angekohlte Kartoffel ein köstlicheres Gericht, als eines aus der Mutter Küche. Wohl bekomm' es ihm, wenn die Hackfrucht nicht irgendwo gestohlen worden ist. Unverbürgtem Hörensagen zufolge soll dieser Umstand mitunter eintreten zum hellen Ärger des Feldgärtners, der auf dem »Ardäpplacker« oft ganze Reihen seiner vielgeliebten Knollengewächse ausgerauft findet. Dann wettert er wohl und macht seinem Grimme gehörig Luft, wenn nicht etwa Erinnerungen aus der eigenen Kinderzeit sänftigend einwirken, und er endlich schmunzelnd 37 jenes Zwischenfalles gedenkt, da er selbst beinahe beim »Ardäpplmausen« erwischt worden wäre.

Noch steht das Kraut der Kartoffelfelder aufrecht; aber seine Blätter bräunen sich bereits und schrumpfen zusammen. Später färben sich auch die Stengel gelblich, sinken zu Boden und verdorren. Das »Ardäpplhacken« kann beginnen. Vergnüglich ist es zu sehen, wie unter der Haue die blaßgelben Knollen aus dem braunen Erdreich hervorpurzeln. Die Kinder sammeln diese in Körbe, oder sie tragen das dürre Kartoffelkraut in Haufen zusammen, um es zu verbrennen. Solch ein Feuer glimmt langsam und entwickelt wenig Rauch; umso durchdringender ist der dabei entstehende Geruch. Spät in der Nacht noch, wenn die geernteten Früchte längst in der »Ardäpplbude« des Kellers verwahrt sind, zucken die Flämmchen aus dem glosenden Haufen und der Morgenwind wirbelt darauf die zarte, weiße Asche über die zerwühlten Furchen hin, so dem Boden wieder einen Teil der entrissenen Stoffe zuführend. Der Ertrag der Kartoffelernte ist im Isergebirge von großer Bedeutung, da diese Hackfrucht ein Hauptnahrungsmittel der dortigen Bevölkerung bildet. Wenn in nassen Jahren die »Fäule« unter den Knollen stark auftritt, dann ist wintersüber in manchen Gebirgshäuschen Schmalhans der Küchenmeister.

Die Pflanzenwelt ist ihres Blütenschmuckes nun großenteils entkleidet. Das Heidekraut verblüht eben; längs der Waldränder leuchten noch die hellgelben Fünklein des Fingerkrautes, und hie und da schwingt sich ein ausgebleichtes Glockenblümlein auf und nieder. An den abgestorbenen Stengeln des Weidenröschens hängt das krause Ringelwerk der aufgesprungenen Schoten. Seine weißen Wollsamen bleiben wie Schneeflöckchen an den Kleidern hängen, wenn man über die Schläge schreitet. Aus dem Laubgefieder der Ebereschen blicken 38 die roten Büschel der Beeren gar anmutig hervor. Die Kinder sammeln jetzt die nützlichen »Hohnbuttn« und »Kathlbeeren«, und zur Kurzweil auch die Kastanien, die aus ihren Schalen herabfallen.

Die Herbstflur zeitigt mancherlei Sonderlinge; da ist zunächst die Eberwurz, deren große, weißstrahlige Blütenköpfe ohne jeden Stengel auf der Wiesenfläche aufsitzen; da ist ferner an feuchten Stellen die Herbstzeitlose mit ihren rosenfarben angehauchten Glocken, die sich so seltsam von den kahlen Breiten abheben; da ist endlich der Flockenstäubling, der, nunmehr zur Reife gekommen, die Millionen seiner Samensporen bei der leisesten Berührung als braunes Wölklein entsendet.

Blätterfärbung und Laubfall, diese augenfälligsten Erscheinungen der Jahreszeit, reichen schon in den Mittelherbst hinein. Der Unterwuchs der Hänge zeigt zuerst Neigung zum Verfärben, sodann folgen in Zwischenräumen Birke und Buche, die in das Grün ihrer Wipfel vereinzeltes Gelb mischen. In rascherem Zeitmaße schließen sich hierauf Pappeln, Ebereschen und Erlen an, während Ahorne, Ulmen und Eschen ihr Laubgrün am längsten behalten. Im allgemeinen ist zu bemerken, daß in den Schattenschluchten der Bergbäche die Laubfärbung später eintritt, als auf steilen, trockenen Hängen. In dieser Zeit bietet der Wald einen wahrhaft überschwenglichen Farbenreichtum. Vom Hellgelb der Birken und dem Goldtone des Ahornlaubes bis zum kräftigen Braun der Buchen und dem Grau der Pappeln ist eine Stufenleiter von Farbtönen, wie sie gleich reichhaltig auch auf den Gemälden der kundigsten Landschafter nicht wiedergegeben ist. Auch die bodennahen Gewächse legen reichen Farbenschmuck an; so erscheinen an freien Stellen die Blättlein der Heidelbeere weithin blaßrötlich gefärbt, während das Blättermosaik der Brombeerranken in tiefpurpurnen Tönen prangt. 39

Der Laubfall ist anfangs gering. Nur hie und da sieht man ein welkes Blatt herniedertaumeln, oder es wird ein windgelöstes durch die Lüfte entführt. Bald aber mehren sich diese Zeugen der Vergänglichkeit, und wenn nach den ersten Reifnächten die Frühsonne auf die Wipfel scheint, so ist unter letzteren ein förmliches Schneien von abgestorbenem Blattwerke. Nun leuchtet der mit fahlem Laub bestreute Waldgrund wieder hell zwischen den Stämmen hervor. Er lockt alsbald den Streusammler an, der die Blätterleichen mit dem Rechen zusammenharkt und im Korbe heimwärts trägt, um sie als Unterstreu für das Vieh zu benützen. Er muß 40 fleißig Umschau halten, der Streusammler, damit nicht plötzlich der Jägersmann hinter ihm steht und ihm unter etlichen Kernflüchen bedeutet, daß Streu . . . . doch eigentlich streng verboten sei. Merkwürdig ist dabei auch der Umstand, daß die Volksseele in solch' heimlicher Aneignung keinen Diebstahl erblicken mag.

An den Laubfall knüpft der Aberglaube die Vorherdeutung, daß ein strenger Winter bevorstehe, wenn die Bäume das welke Blattwerk lange nicht abstoßen. Daß jedoch manche Buchen alljährlich einen Teil ihrer Blätter den Winter über festhalten und erst im Frühlinge abwerfen, entgeht natürlich derlei Weisheitsspendern vollständig. Bäume und Gesträuche stehen nun entlaubt da. Man sieht durch ihr Gezweige hindurch wieder die jenseitigen Hänge und Häuschen, die während der Sommerszeit wie hinter einem grünen Vorhange versteckt lagen; aber auch der Aufbau dieser Gewächse tritt in seiner hohen Zweckmäßigkeit und unendlichen Mannigfaltigkeit dem sinnenden Beschauer jetzt klar vor das Auge, und manch' Vogelnestlein, nach dem man in früheren Tagen vergebens spähte, hängt in seiner Zweiggabel, schon dem flüchtigsten Blicke ersichtlich, da. Es ist noch nicht lange her, daß die Bewohner diese ihre luftige Wohnung verließen, um linderen Lüften entgegen zu fliegen; doch haben die Herbstwinde den Bau schon in Unordnung gebracht und Halme und Moosfetzen hängen von ihm herab.

Außer der Vagabundenwelt der Spatzen sind es besonders Meisen und Zeisige, die jetzt in ganzen Schwärmen beisammen fliegen. Letztere haben durch die Vogelsteller hart zu leiden, die ihnen mit allerlei Fanggerät zuleibe gehen. Die vielzackige Waldgrenze, in deren unmittelbarer Nähe die Gebirgshäuschen oft liegen, macht es begreiflich, daß jung und alt dem Fang ergeben ist. Die mißartete Vogelliebhaberei geht so weit, daß im Isergebirge selten ein Stübchen 41 anzutreffen ist, in dem nicht mindestens ein »Zeis'gl« in drangvoll engem Käfig umherhüpft. Meist hängen diese Marterkästen noch möglichst nahe an der Decke, damit die armen Geschöpfe, die in der Freiheit sich nur in den reinsten Lüften wiegten, von der aufwärts strömenden Wärme und den Ausdünstungen der Stubenbewohner recht baldigem Siechtum entgegengeführt werden. Tierquälerei ohne Ende! . . .

Der Fang geschieht möglichst unauffällig. Da hat der Nachbar in den alten Kirschenbaum vor seinen Fenstern eine Stange gelehnt. Kein Unkundiger vermutet Besonderes dabei; nur der Eingeweihte bemerkt das kleine Büschelchen an der Stangenspitze. Das ist ein »Perschl«, ans dünnen Ruten zusammengebunden und mit Vogelleim dick bestrichen. Die schwachen Gesangslaute, die zu uns herübertönen, rühren von den »Lockern« (Lockvögeln) her, die in winzigen Käfigen um die Fangvorrichtung angebracht sind. So einfach letztere aussieht, so gefährlich ist sie den kleinen Luftbewohnern. Soeben huscht ein Zeisigschwarm vom Waldrande her und will schon über das Hausdach hinüberschwenken, da klingt es: »tschidd! tschidd!« und die ganze Schar schlägt einen Haken gegen den Kirschbaum. Nur einen Augenblick verweilt sie dort, um sogleich unter zornigem Gezwitscher zu enteilen. Am Perschl aber flattert es, und kreischt eine Vogelstimme in höchster Angst. Uns ist es selbst entgangen, wie der Bube aus dem Hause gekommen und den Stamm hinaufgerutscht ist, aber da sitzt er schon auf dem Aste und streckt die Hände nach dem Tierchen aus, das nur noch matt fledert. Der höchste Ausdruck des Entsetzens, dessen eine Vogelstimme fähig ist, dringt noch an unser Ohr, dann nimmt der Junge ein vom Taschentuche umhülltes Bündelchen zwischen die Zähne, gleitet an dem Stamme herunter und verschwindet im Hause. So wird's gemacht. 42

Andere Fangarten sind jene mittelst des Meisekastens und des Schlagnetzes, oder man fängt die Vögel an der Tränke, wobei wiederum Leimruten verwendet werden. Quäker (Bergfinken) werden wohl auch auf eigenen Vogelherden in Menge gefangen, getötet und nach dem Schock verkauft. Leider!!

Auf den Wiesen ist allerlei zu sehen. Der jenseitige Hang, der noch vor kurzer Zeit als eine grüne Tafel zum Fenster hereinlugte, hat sich in mißfarbiges Grau gekleidet, aus welchem es nur noch wie eine Ahnung von dem ehemaligen Grün hervorschimmert. Eines Tages gewahren wir auf dieser Fläche dunkle Häuschen, die in einer gewissen Ordnung auftreten und immer mehr werden, bis die ganze Wiese mit schwarzen Tupfen gesprenkelt ist. Darauf scheinen die Punkte auseinanderzufließen und sie überdecken bald die Wiese mit einem dunkelbraunen Farbtone, der dem Auge das Bild eines Sturzackers vortäuscht. Die Häuschen hat der Wiesenbesitzer mit der »Raper« hinaufbefördern und sodann als gediegenen Dünger ausstreuen lassen, falls er nicht selbst sein eigener Knecht gewesen sein sollte. Auf steile Hänge hinauf schafft man den Dünger mit Hilfe eines Klobens, den man am oberen Rande der Wiese an einem dort stehenden Baum oder einem eingerammten Pfahl befestigt. Über den Kloben läuft ein Seil, an dem zwei Rapern befestigt sind. Der Führer des leeren Schubkarrens geht stark vornübergebeugt zu Tale und zieht durch sein Körpergewicht den gefüllten Karren empor, dessen Lenker somit nur die Richtung anzugeben braucht. Außer dem Stalldünger und der durch die Heizung gewonnenen Asche dürften den Gebirgswiesen übrigens nur in seltenen Fällen künstliche Düngemittel zugeführt werden.

Geht man nun zwischen den Bergwiesen hin, so kann man wohl hie und da ein pickendes Geräusch vernehmen, das sich 43 anhört, als ob jemand mit Stahl und Stein Feuer schlage. Im Näherschreiten gewahrt man bald den Steinspalter, wie er sich bemüht, mit dem Zweispitze Fugen in einen Felsblock zu hauen. Er bringt die Vertiefungen in der gewünschten Bruchrichtung auf dem Steine an, treibt sodann Eisenkeile in diese, um schließlich, wenn sich der Spalt bereits geöffnet hat, mit der starken, eisernen Brechstange die Abtrennung vollends herbeizuführen. Der Mann ist nicht immer ein Steinbrecher von Beruf; weit öfter ist es ein Kleinbauer, der einige freie Tage dazu benützt, um von seiner Wiese lästiges Gestein zu entfernen, allerdings auch in Hinsicht darauf, aus den gewonnenen Schocksteinen einen Erlös zu erzielen. Steinspalten und Holzschlagen verstanden im Isergebirge früher die meisten Leute. die bei sonstigem Arbeitsmangel häufig zu diesen Beschäftigungen greifen mußten. Heute hat die Ausbreitung der Glas-Industrie auch hierin einigen Wandel geschaffen.

Der Mittherbst ist noch nicht zur Hälfte vorüber, als schon die »Kaiserkirmst« (Kirchweihfest) heranrückt, und mit ihr eine der fröhlichsten Zeitläufte im Isergebirge. Küche und Keller müssen an diesen Tagen das Allermöglichste leisten und alte, fast vergessene Volksspiele, wie das Ritterstechen, Hahnschlagen und Preisrennen leben sodann wieder auf. Gegen das Ende des mittleren Herbstes fällt das Fest Allerheiligen. Schon einige Tage vorher führen Frauen und Kinder einen wahren Vernichtungskrieg gegen das Kraut der Preißelbeere, das seiner immergrünen Blättlein wegen auf Holzschlägen und an Waldrändern aufgesucht und zur Anfertigung von Grabkränzen verwendet wird. Am Festabende nämlich, als am Vorabende des Allerseelentages, ehrt der Isergebirgler seine Toten durch Ausschmückung und Beleuchtung der Gräber. Es ist ein stimmungsvolles Bild, wenn die verschiedenfarbigen Lämplein in der beginnenden 44 Dunkelheit aufzucken und mit ihrem Flackerlichte Hügel und Grabkreuze, Blumen und Kränze, wie die schweigsam zwischen den Gräbern sich bewegenden Gestalten übergießen. Vor Jahren war die Gräberzier noch einfach und würdig. Schönes, grünes Waldmoos, selbstangefertigte Papierblumen sowie Kränze aus Tannen- und Preißelbeerzweigen genügten damals zur Ausschmückung der Hügel; heute freilich tun es nur Lorbeerkränze und Palmwedel und prunkvolle Kandelaber. Mir ist es um die Herzenseinfalt des früheren schlichten Prunkes leid.

Der Spätherbst ist im Isergebirge oft sehr kurz. Im günstigsten Falle wenige Wochen dauernd, macht ihm oft schon nach Tagen frühzeitiger Schneefall ein Ende. Nun brauen die Berge ihre Nebelmassen Tag um Tag, und selten nur gewahrt man um die Mittagszeit die Sonne als eine mondblasse Scheibe durch die weißgrauen Dunstmassen. Der mit dem Gebirge vertraute Naturfreund ersteigt dann wohl einen hervorragenden Aussichtspunkt, denn er weiß aus Erfahrung, daß ihn dort ein eigenartiges Schauspiel erwartet. Je höher der Pfad führt, desto mehr lichtet es sich um den Wanderer; noch aber webt der Nebel lustig zwischen den triefenden Fichtenästen und betaut die dürren Halme der Grasbüschel und manch' Spinnennetzlein mit den feinsten Tröpfchen. Endlich sind es nur mehr Nebelfetzen, die vorüberhuschen, und bald scheint die Sonne freundlich auf uns herab. Von der Gewalt der Nachtfröste, die auf solcher Höhe sich schon mittherbsts einzustellen pflegen, erzählen die verschrumpften, braunen Leichen der Farrenkräuter, und nur mitunter ist an geschützten Stellen ein Wedel derselben erhalten; aber auch er ist ausgebleicht und ohne Leben. Ist das Ziel der Wanderung erreicht, so überfliegt das Auge ein ungewohntes, fremdartiges Bild: An Stelle der wohlbekannten Täler ziehen sich Nebelstreifen wie Gletscherzüge dahin und nur 45 die höheren Kämme ragen düster zwischen ihnen empor; oder es sind eines anderen Tages auch die Vorberge vom Nebelmeere eingeschluckt, und dem Beschauer zeigt sich eine bis zum Horizonte reichende, im Goldglanze der Sonne widerstrahlende Nebelfläche, deren gewellte Oberseite starr daliegt, wie ein urplötzlich gefrorenes Meer. Nur scheinbar ist die Ruhe; denn bald bemerken wir, wie weit drüben, am fernen Jeschkenzuge, der Nebel sich aufbäumt und wie eine riesenhafte Brandung emporzieht, von einer Luftströmung aufwärtsgetragen. Stundenlang kann man dies Schauspiel beobachten, ohne seiner müde zu werden, und erst wenn die Sonne wie in eine feurige Esse von Abendrot hinabgesunken ist, schwindet die Herrlichkeit dahin und nur eine graue Nebelbank bleibt zurück.

An den hölzernen Gebirgshäuschen werden nun die Schutzvorkehrungen für den Winter angebracht. Gewöhnlich schichtet man an der Wetterseite eine Lage Fichtenreisig hinter eingerammten Pfählen auf; mitunter verwendet man dazu auch »Schmeelen«, wie man das dürrgewordene, langhalmige Gras der Holzschläge benennt. Der Innenraum zwischen den Doppelfenstern wird in manchem Häuschen mit Moos oder Sägespänen bis zur halben Höhe ausgefüllt, eine Maßregel, die besonders auf Höhen wegen der winterlichen Schneestürme getroffen wird. Freilich wird dadurch die Lüftung erschwert; aber von ihr ist der Gebirgler ohnedies kein sonderlicher Freund, und er trachtet mehr darauf, die Stubenwärme beisammen zu halten. Ist ein Schöpfbrunnen beim Hause, so erhält dieser ein Schutzdach aus Fichtenreisig und der Wintervorrat an Holz wird in unmittelbarer Nähe der Wohnstätte gern zu einem Schober oder Kegel zusammengeschichtet. Solcherart hat der Isergebirgler nun sein Haus für den Winter bestellt und ist sodann auch die Sauerkrauttonne gefüllt, so mag der eisige Gast nur kommen. 46

Immer mehr vereinsamt die Natur. Der Zug der Vögel ist längst vorüber, und nun beginnt auch das Kleingetier sich häuslich für den Winter einzurichten. Hinter schützende Baumrinden, unter Moos und Waldstreu, selbst in die Erde fliehen die Kerfe, da sie die Nähe des Winters empfinden. Dieser sendet bereits seine Vorboten in die Täler: Reif und Anreim (Rauhreif), von denen der letztere besondere Reize dadurch schafft, indem er jeden Halm und jedes Zweiglein mit Eiskristallen derart überkleidet, daß die Naturdinge aussehen, als seien sie überzuckert. Wenn dann die unzünftigen Wetterpropheten von baldigem Schneefalle orakeln, weil schon gar so eine Schneeluft gehe, so meint wohl irgend ein Alter: »Noch nicht, Leute, noch nicht; Laubschwemme und Altweibersommer sind noch nicht vorüber.«

Diese Naturereignisse treten in der Regel gegen den Ausgang des Herbstes ein. Die Laubschwemme geht vor sich, wenn nach mehrtägigen Regengüssen die Gebirgsbäche anschwellen und die von den Waldhängen herabgeschwemmte Laubstreu fortführen; der Altweibersommer aber mit seinen letzten schönen Herbsttagen gibt dem schon zur Entsagung gestimmten Naturfreunde nochmals Anlaß zu aufrichtigem Entzücken. Es scheint, als biete in diesen Tagen die Sonne noch einmal ihren größten Glanz auf, und das Luftall seinen gelindesten Hauch, und schöner wäre kein Sommertag, wenn nicht die welken Blätter am Boden und die kahlen Äste als ebensoviele Mementos sich in unsere Freude drängen möchten. Und durch die Luft gleiten langsam die Herbstfäden und heften sich da und dort an und legen sich an unsere Wangen, so daß wir sie hastig fortstreichen; und von den Stämmen des Waldrandes her wehen sie tausend- und tausendfach, und die auf ihnen spielenden Sonnenlichter sind rastlos hin und her schießenden Blitzen zu vergleichen. Treten wir in 47 den Vorwald ein, so ist über den Häuptern ein buntes Gewoge, ein Zittern, Glitzern und Zucken des Lichtes, und alle Regenbogenfarben gleiten durch die Luft, wie der Sonnenstrahl die unscheinbaren Spinnenfäden trifft. Übrigens sind es im Walde nicht allein die Fäden luftreisender Spinnen (Krabbenspinne), welche dies zarte, glänzende Tauwerk zwischen den Stämmen webten. Zahlreiche Arten von Wicklerlarven lassen sich an selbstgesponnenen Fäden von den Bäumen herab, um in dem Waldboden zu überwintern. Hier scheint eine vergilbte Fichtennadel an einem Faden zu hängen. Bei näherem Zusehen aber bemerken wir, wie die vermeintliche Nadel sich heftig windet und tiefer und tiefer sinkt. Sie ist solch' ein winziges, grünes Räupchen, das eben seinen Fadenweg zur Erde spinnt. Die kleinen, weißen Flöckchen endlich, die man hie und da herabsinken sieht, sind zusammengeballte Herbstfäden und in ihrem Innern sitzen die kleinen Spinnlein, die ihren Flugapparat einfach zu einem Knäuel wickelten, als sie auf ihrer Luftfahrt wieder zur Erde hinabwollten. Nicht immer treten die Herbstfäden massenhaft auf; denn zu ihrem häufigen Vorkommen ist andauernd schönes Herbstwetter erforderlich.

In schattenkühler Waldestiefe sind die Wirkungen der Nachtfröste noch tagsüber ersichtlich, trotz des hellen Sonnenscheines, der über den Wipfeln oben liegt. Wo die zahlreichen, kleinen Waldquellen entspringen, dort überziehen den Boden Miniaturgletscherchen, die aus dem zu klarstem Eis gewordenen Sickerwasser entstanden sind. Im Erdreich der Wegböschungen ist das Wasser in Millionen von Säulchen und Nadeln zusammengefroren und betreibt solcherart die Zerklüftung des Bodens. Da und dort hängen bereits winzige Eiszäpfchen von den Steinen herab und reifbedeckte Stellen des Waldgrundes zeigen die Plätze an, wohin tagsüber sich noch kein 48 Sonnenstrahl verirrt hat. Wir streben die Höhe zu gewinnen. um vom dortigen Holzschlage aus noch einmal das heimatliche Tal zu überblicken, ehe der Winter in dasselbe hinabsteigt. Es ist eine so große Ruhe dort oben; das Himmelsgewölbe spannt sich in wolkenlosem, leichtverschleiertem Blau von Waldschneide zu Waldschneide, und die wohltuende Sonnenwärme sinkt zwischen die Baumstümpfe hernieder. Der behaglich Rastende versinkt dort leicht in Träumereien. Er meint zu empfinden, daß irgendwo in der Nähe Meister Tod sitzt und nur noch mitleidig seine Hand zurückhält, mit der er das Leichentuch über die seiner harrende Natur breiten wird. Die Spannung der Nerven löst sich erst, als ein verspäteter Falter nähergaukelt und, scheinbar zwecklos einhertändelnd, die Augen nach sich zieht. In immer höheren Kreisen scheint er halb schlaftrunken in den Himmel hineinzutaumeln und dem rastenden Wanderer ist, als flöge seine Seele davon, weit fort aus dem Bereiche des winterlichen Todes, dessen Nähe er empfindet. 49

 


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