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Ewige Wiederkehr

Zuletzt drehten sich alle Rätsel Nietzsches um ein einziges Rätsel, um das Rätsel Zeit. Was ist Zeit? Das, was lebt, kann nicht nur innerhalb der Zeit sein. Schon darum nicht, weil man das lineare Zeitkontinuum messen, zählen und zerlegen kann; Lebendiges aber ebensowenig teilbar, d. h. analysierbar ist, als zusammensetzbar (synthetisierbar) aus Teilen. Man kann das Verhältnis der Zeit zum »Lebenselement« am besten erfassen durch einen Hinweis auf Musik; nämlich durch den Hinweis auf das Verhältnis des rhythmischen Melodiestroms zur Harmonie. Der rhythmische Strom wird erst dadurch faßbar, daß wir ihn in den Zahlenbann des Taktes schlagen, aber dieses Fesselwerk ist darum doch keineswegs das Rhythmische selber. So wie die Bewegungskurve, welche ein Schiff beschreibt, das ich einen Fluß entlang von Schleuse zu Schleuse schiebe, zwar das Bild der lebendig strömenden Wasser darstellt, keineswegs aber lebender Strom ist, so scheint mir sämtliche Bewegung, das Nacheinander in der Zeit wie das Nebeneinander im Raume, immer nur Gleichnis des Lebens zu sein. Leben aber braucht darum, weil wir es immer nur als Bewegung erfahren und erfassen können, keineswegs auch seinem Wesen nach bewegt zu sein. Das Lebendige kann (eben darum, weil es nicht in der Zeit und vielleicht nicht einmal bewegt ist) auch keine Geschichte haben. Daß wir aber alles Leben im denkenden Bewußtsein nur als Bewegung erfassen, ist für uns Menschen das »Mittel«, um das Lebenselement (an Hand einer normativen, logomathischen Vernunftsphäre) als Bewußtseinswirklichkeit, d. h. als Gegenstandswelt nachschaffen zu können. Wir denken uns alles Leben als zeitliche Bewegungsfolge, die wir in Differentiale zerlegen, aus Differentialen integrieren können. Aber ist denn die Gegenstandswelt (soweit sie nicht als Gestalt »geahmt« wird) überhaupt lebendig?

Der Grundgedanke aller meiner philosophischen Schriften war und ist immer wieder dieser: »Unsere Welt in Raum und Zeit, mitsamt Geschichte, Fortschritt, Entwicklung, ist – Mechanik« ... Nichts ist erstaunlicher, nichts schrecklicher als dies: daß die mechanistische Natur aller Bewußtseinswelt dem europäisch-amerikanisch-australischen Betriebsmenschengeschlechte bereits so ganz und gar entgeht, daß es unmöglich ward, diesem heutigen Wirklichkeitsmenschen noch fühlbar zu machen, daß er die gesamte »Welt« eben doppelt hat: »lebendig« als durch »Ahmung« (Einsfühlung) gelebten Bildtraumreigen (brâhma-vidya); »im Bewußtsein« als eine »Welt« von Gegenständen und Formen, welche durchaus menschliche Schöpfung, d. h. Artefakte (Kunsterzeugnisse) sind. Diese meine Erkenntnis fand noch kein Ohr. Und warum? Weil die gesamte gegenwärtige, als Idealismus, Kritizismus, Phänomenologie bezeichnete Philosophie zur bloßen Schulangelegenheit geworden ist. Nichts davon ging über in das tagtägliche Lebensgefühl, auch nicht in das Lebensgefühl derer, die diese Schulangelegenheiten betreiben. Denn mag der Logiker noch so scharf darlegen, daß Zeit die Anschauungsform empirischen Denkens sei, mag der Mathematiker noch so klar beweisen, daß Zeit ein Beziehungsbegriff sei, mag der Physiker noch so überzeugend künden, daß Newtons »absolute Zeit« für die neue Mechanik nicht mehr bestehe; im alltäglichen Leben leben sie alle, auch Logiker, Mathematiker, Physiker, genau so, als ob die große, abendländische Irrlehre: Weltgeschichte, Menschheitsentwicklung, Kulturprozeß, Fortschritt nicht die menschliche Sinngebung, sondern Tatbestand zeugender Natur wäre ...

Nun ist aber »Zeit« immer nur zu denken als ein Voranbewegen, ja der Gedanke des rückwärts fließenden Stroms dürfte wohl der unmöglichste aller Gedanken sein, und so liegt in dem Historismus des Zeitaberglaubens auch schon immer jene optimistische Hoffnungs- und Erwartungsseligkeit, welche den Aberglauben an die zeitliche Natur alles Lebens dem Abendlande so teuer macht. Es dürfte indessen klar sein, daß man die historische Entwicklung einer angenommenen Gesamtmenschheit auch noch unter anderen Gleichnisformen als unter den drei Dimensionen, der Linie, des Netzes oder des Baumes vorstellen kann. Man könnte die Bewegung der vermeintlichen »Weltgeschichte« auch als Wellenlinie, d. h. als unaufhörliches Auf und Ab derselben Zustände, man könnte sie ferner als eine Pyramide mit ganz breiter Naturbasis und ganz ätherischer Zielspitze sich vorstellen. Für Nietzsche aber wurde es zur Entdeckung, daß man das menschliche Geschichtsschicksal in der Zeit wohl auch als einen Ring, als unaufhörlichen Kreislauf sich ausmalen kann. Er faßte diesen Gedanken wahrscheinlich im Anschluß an bestimmte logische Darlegungen Eugen Dührings. Dieser hatte ein Gesetz für Erfahrungswissen aufgestellt, welches er als »Gesetz der endlichen Anzahl« bezeichnete. Dühring behauptete, daß das menschliche Denkvermögen Vorgangsfolgen immer nur erklären könne aus einer endlichen Anzahl zugrunde liegender Elemente. Man kann im Raum wohl übergreifen auf neue Räume; man kann zu einem geschlossenen System immer neue Quanten hinzunehmen, man kann jede Gattung Atome aufgebaut denken aus immer neuen Untergattungen; aber man kann doch immer nur mit endlichem Raum, endlicher Gesamtmasse, endlicher Anzahl rechnen, oder anders gesagt, die Vorstellung der zu Ende gelaufenen Unendlichkeit oder einer unendlichen Menge aller Mengen wäre Mißgedanke. Diese Darlegung nun über die unentrinnbare Endlichkeit des Weltinhalts verschmolz Nietzsches Genius mit dem Gedanken an die Unabsolvierbarkeit der Zeit; und so drängte sich ihm die Forderung auf, daß bei einem notgedrungen endlichen Inhalt in einer notgedrungen endlosen Zeit alle nur möglichen Verknüpfungen irgendwann schon einmal dagewesen sein müßten und irgendwann auch einmal wiederkehrten. Es ist schwer zu ergründen, warum bei Nietzsche grade dieser Gedanke, der dann schließlich zum Zusammenbruch seines kühngebauten Weltgefüges geführt hat, in seiner allerletzten Schaffenszeit von seinem ganzen Denken so zäh und fest Besitz ergriff. Zunächst drängte sich dieser Gedanke vielleicht darum so übergewaltig auf, weil ihm die Energie des Grauenhaften, ja des Widerwärtigen innewohnt. Sodann paßte die ungeheure Hoffnungslosigkeit des Kreislaufgedankens auch dem Immoralisten, welcher alle jenseitigen Ziele, das buddhistische Nirwana wie das christliche Himmelreich völlig verwarf und den Menschen festknebeln wollte an das unmittelbare Jetzt und Hier. Er ergriff somit die Verkündigung des ewigen Kreislaufs als Waffe gegen die Lehren von einem letzten Weltzweck und Weltziel und als das beste Mittel, den Menschen ein für allemal alles Gefrage nach einem Sinn jenseits ihres unmittelbaren Lebens und jenseits der unmittelbaren Bestgestaltung des Gegebenen abzugewöhnen. Damit aber geriet nun Nietzsche in eine ganz verhängnisvolle Sackgasse! Abgesehen davon, daß es für jeden Menschen schlechthin unerträglich sein dürfte, sich vorzustellen, daß er seinen persönlichen Lebenslauf zweimal, dreimal, nein unzählige Male ohne Aussicht auf irgendeine Abänderung, Erhöhung, Besserung, Erlösung immer wieder unverändert durchlaufen muß, abgesehen davon, daß für den leidenden, auch an sich selber, an seinen Grenzen und Schwächen leidenden Menschen dieser Gedanke doppelt unerträglich ist – wäre denn nicht auch mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen die ganze Predigt vom Übermenschen, ja alle sittenhohe Forderung und Wertung schlechthin nutzlos und überflüssig geworden? Wozu denn überhaupt das Reich des Übermenschen anstreben, wenn nach erreichter Gipfelblüte doch immer wieder das Absinken ins Überwundene und Verworfene erfolgt, und der ganze ziellose Zirkel von neuem anhebt? Nietzsche spürte deutlich, daß durch die neue Lehre die alte Verkündigung des Übermenschen eigentlich hinfällig geworden sei. Wir können seinen Seelenkampf in seinem Hauptwerk »Also sprach Zarathustra« deutlich wahrnehmen. Die beiden ersten Bücher sind durchaus auf die alte biologische Übermenschen- und Aufzuchtsethik eingestellt. Zwischen ihnen und den beiden letzten Büchern liegt aber offenbar eine Zeitspanne, in welcher Nietzsches Gedankenwelt sich um und um wandelte. Nur in gequälter, künstlicher Weise wird an der Übermenschenethik noch festgehalten, während das Evangelium der Wiederkehr nun der eigentliche Inhalt seiner neuen Lehre geworden ist. Zwischen diesen beiden ganz verschiedenen Teilen steht das Kapitel »Die stillste Stunde«: ein Niederschlag äußerster Seelenqual. Man kann aber nicht sagen, daß Zarathustra jemals mit seinem neuen Evangelium logisch fertig wird. Es ergeht ihm wie dem Hirten, dem im Schlafe eine Schlange in den Hals kroch. »Beiß zu, beiß zu«, schreit Zarathustra. Und der Hirt speit den Kopf der Schlange von sich und lacht, geschüttelt von Grauen, das Lachen des Davongekommenen. Aber das ist kein herzensfreies, kein seelenklares Lachen ...

Es kommt hier nicht darauf an, ob der Gedanke der Wiederkehr wahr ist. Er ist zweifellos wahr, wenn er nichts anderes besagt, als daß eine rhythmische Beständigkeit alles Leben durchpulst, mithin immer nur Gestaltenwandel, niemals aber ein Übergang ins Nichts möglich sei. Er ist zweifellos unwahr, wenn er besagen will, daß eine einmal dagewesene Weltlagerung und Sternenkunde als genau dieselbe wiederkehren könne; da ja, selbst dann, wenn die Zahl der Umwandlungen und Verlagerungen des Weltinhalts begrenzt wäre, in allem jeweils Gegenwärtigen auch alles jemals Gewesene mitgegenwärtig sein würde, mithin also auch schon durch bloße Vermehrung der Umlaufsanzahl jeder wiederkehrende Inhalt ein innerlich anderer geworden wäre; das »zweitemal« ist immer anders als das »erstemal«, bloß darum, weil es eben das »zweitemal« ist. Aber diese ganze Frage nach der Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit des Wiederkehrglaubens ist belanglos für seine Wirkung auf Nietzsches Sittenlehre und auf Nietzsche, den Sittenlehrer. Zarathustra wollte ja ursprünglich nicht eine neue Kosmogonik lehren, sondern eine neue Sittlichkeit, eine »Umwertung aller Werte«. Hier aber war er nun just auf den Punkt gestoßen, an welchem alle Sittlichkeit schlechthin unmöglich wird. Ich möchte hier nicht behaupten, daß Nietzsche an dem Gedanken der Ewigen Wiederkehr zugrunde gegangen sei; aber ich möchte behaupten, daß ein Geist wie dieser nicht an »übermäßigem Gebrauch von Chloralhydrat«, sondern von der Seele her erloschen ist. So viel ist gewiß: der letzte Gedanke Nietzsches ist die geistige Kehrseite seines Zusammenbruchs, jener Undeckbarkeit von Wissen und Leben, daran er strandete. Ihn ergriff ein Schauder ähnlich dem Entsetzen, das uns ergreifen müßte, wenn aus einem Spiegel plötzlich unser Spiegelbild starr, unwandelbar uns entgegenträte, oder wenn unser eigener Doppelgänger versteinert jede unsrer Taten uns vor Augen brächte. Dann fühlen wir uns festgeronnen im Gegebenen. Der Mensch lebt als Mensch einzig von der Spannung zwischen Leben und Wahrheit, von der Forderung, die aus dem Lebenselement herausgetretene Sphäre der Idee am Leben und ins Lebendige hinein als Bewußtseinswirklichkeit neu zu verwirklichen. Einheit wäre Tod!

Der gebundenste, züchtigste Mensch endet somit als Gedankenwüstling. Wie der indische Derwisch drehte sich die Gedankenekstase immer nur im Kreise und wieder im Kreise, bis der arme Menschenleib verbraucht war. Er hat sich zu Tode zergliedert. Nichts bleibt übrig aus den seltensten Entzückungen zartester Gefühlstöne, aus unermeßlichem Sprachreichtum, aus Formkleinodien und später Kunst der deutschen Laute als eine bodenlos plumpe Tatsachenwahrheit: dieser elende Verzicht auf Sinn, Zweck, Ziel, Ende und Wert, auf Helfen und Heldentum, auf jegliches Wollen. Denn die schlechthinnige Bejahung des Gegebenen und Wirklichen und seines ewigen Kreislaufes ist nichts anderes als Selbstmord. Alles das, was im Gefühl wahr und echt ist, das wird »objektiv« unwahr und ungerecht. Oder umgekehrt: das objektiv Seiende zerstört jede lebendige Schwebung und die Besonderheit jedes Eigenlebens. Wir sitzen in der Zwickmühle. Wenn mit der Vernichtung ihrer menschlich-ethischen Bedeutung auch die Welt in ihrem unfaßlichen, unzugänglichen Ansichsein nicht aufgehoben ist, unser Anteilnehmen an dem, was bleibt, ist sicherlich aufgehoben. Und damit unser Leben, unsre menschliche Lebenswelt. Es ist nun einmal so: der Mensch ist das »Bewußtseinstier«, das heißt ein auswertendes, urteilendes Geschöpf. Nehmt ihm Logik und Ethik, so nehmt ihr ihm zwar nicht das Leben (im Gegenteil! Ihr erweckt ihn damit erst wieder zum wahren Leben!), aber zerstört ist: der Mensch. Dumpf, versteint, ohne Lust und selbst ohne Fähigkeit zu einem Schmerze, beugen wir uns vor dem Ewigen: So ist es. So bleibt es. So soll es sein. »Ita est ergo ita sit.« Die neueste Philosophie nennt diesen ihren Untergang: Pragmatismus. Jeder hat recht, so lange er lebt, und ist er tot, dann ist er eben ausgemerzt. Nur Erfolg behält recht, und Held ist, wer sich erhält. Wollen und Ziele der Menschen arbeiten nun nicht mehr am Seienden, sondern sind das allein Seiende. Dieser Tod ist das unvermeidliche Ergebnis jeder Philosophie, welche die logisch-ethische Wertsphäre, d. h. die Sphäre reiner, schauender Vernunft wähnt »zurückführen« zu können auf etwas Biologisches oder auf etwas Psychologisches. Die bewußtseinswirkliche Welt, die äußere der Biologie, wie die innere der Psychologie, ist ja nur ein vermenschlichter Umbau des Lebenselements an Hand der niemals wirklichen, immer nur wahren, logomatischen Vernunftnorm. Es wäre ein großer Irrtum (der Irrtum der gegenwärtigen Wissenschaft), Biotisches mit Biologischem, Psychisches mit Psychologischem gleichzusetzen. Auch Nietzsche wurde ein Opfer der durch und durch irrtümlichen modernen Lebensmetaphysik (jener schiefen Metaphysik, die gegenwärtig durch Henri Bergson zu so weitem Einfluß gelangte), jener Lebensphilosophie mit ihrem doppelten Irrtum, einmal aus der bewußtseinswirklichen Welt, die ja doch selber nur in das Leben hineingebaut ist, etwas Lebendiges, Bewußtseinsjenseitiges denkend herleiten zu wollen, und sodann gar die Sphäre des Vernunftwahren, nach deren Norm eine Wirklichkeit zustande kommt, für etwas selber »Wirkliches«, ja gar »Lebendiges« zu halten.


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