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Philosophie des Vormittags

Wenn der Knabe aus edlem Hause, vertrauend und ehrfürchtig auferblüht in edler Bindung und Zucht, eines Tages hinaustritt in die große Welt und nun alles Angelernte abstreifend, die millionenfältigen, allfältigen, millionenstufigen, allstufigen Reize des Lebens erfährt: unermeßliche Abenteuer, unbegreifliche Möglichkeiten – er liebt und flößt Liebe ein; er sieht: »Alles ist ganz anders«; er merkt: »Jeder Tag ist erster Tag« – ja, dann überkommt ihn ein ungeheurer Frühlingssturm, und je züchtiger und gebundener er sich fühlt, um so berauschender ist auch die Lust, über die Stränge zu schlagen. Und jeder gute Jüngling macht nun wieder neu die Erfahrung, die (er weiß das noch nicht) eben auch schon jede frühere Geschlechtsfolge gemacht hatte: »Mit mir fängt die Welt an! Jetzt wird alles richtig!« Durch diesen Frühlingssturm muß die Seele hindurch. Es ist die unumgängliche Lenzzeit des alles um- und neuwertenden und (vermeintlich) nichts und niemand glaubenden, alles selber prüfenden Jugendkraftwahns. In dieser Zeit wird jeder Mensch zum Zyniker. Denn Enttäuschung ist unausbleiblich. Zynismus aber ist die Stimmung des enttäuschten Höhenwillens. Erst das Alter gelangt allmählich zu einem ganz andersartigen, alles wieder billigenden und geltenlassenden (weil eigentlich gleichgültig gewordenem) Zweifel. »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt«; dieser von Nietzsche aufgegriffene Wahlspruch der Assassinen malt die Stimmung der Jugend. Das Alter kehrt ihn um und denkt: »Alles ist wahr, nichts (eigentlich) ist erlaubt.« – – Vorerst lacht nun sein Leben unter steigender Sonne. Die Weltweisheit dieser Jahre nennt er: Philosophie des Vormittags. Sie ist überglänzt von dem Sonnenrausch des Entsprungenen, der aus vergoldetem Käfig ausbrach und hineingeriet in die schöne weite Welt und der nun spürt: »Ich bin stark. Das Leben ist nicht schwer. Das Element trägt mich.« Die Schriften dieser mittleren Lebensstrecke Nietzsches sind die folgenden: »Menschliches – Allzumenschliches« (1878), »Vermischte Meinungen und Sprüche« (1879), »Der Wanderer und sein Schatten« (1880), »Morgenröte« (1881), »Die fröhliche Wissenschaft« (1882). Sie führen unmerklich hinein in die Zarathustrazeit, wo der allmählich tiefer Vereinsamte und schwerer Leidende sich einen neuen Glauben und zu dessen Verkündigung ein wunderliches Zweites Ich schafft. – Das Ideal der Philosophie des Vormittags ist: der freie Geist. Ungebunden, vorurteilslos, ein vornehmer Fremdling durchwandert er die Welt. Daheim ist er überall und doch nur im Reiche der Götter. Er sieht alles Menschliche in einem guten, wissenden Spiegel, er verzeiht und liebt; aber er spielt selber nicht mit, sondern verhält sich betrachtend und spricht zu den Menschen wie herab vom Äther. Jeden Tag pflückt er, jede Stunde kostet er wie eine Frucht vom übervollen Pfirsichbaum, der in »schenkender Tugend« spricht: »Nimm mich! Ich leide unter meinem Reichtum.« ... 1878 ist das entscheidende Jahr.

In diesem Jahr löst er sich endgültig aus Fachwissenschaft und Amtspflicht und beginnt das Leben des weltdurchwandernden Allbetrachters. In diesem Jahre vollzieht sich auch seine endgültige Loslösung aus dem Banne Wagners. Er ist unabhängig. Sein kleines Ruhegehalt als ausgedienter Professor gestattet bei mäßigen Bedürfnissen ein sicheres, sorgenfreies Leben. Er ist kränklich; das zwingt ihn zum einsamen Grübeln, verbietet Ausschweifung, hält ihn ab, sich an die Werke anderer und an fremde Schicksale zu verlieren. Sein Ziel wird: das eigenste Innere völlig auszugraben und in Worte zu münzen, so wie ein Musiker in Tönen, ein Maler in Farben seines Lebens Niederschlag und Überschwang der Nachwelt hinterlegt. Die lange Zucht der Jugend, das strenge Fachstudium hat ihm so viel Bildungsstoffe mitgegeben, daß er fortan nicht mehr zu lesen braucht. Nietzsche hat gewiß keine fünf gelehrten Werke mehr gelesen; von den großen deutschen Philosophen, von Leibniz, Hegel, Kant hat er kein einziges Werk je im Urtext bis zu Ende gelesen. Dagegen trat nun der unmittelbar gelebte Tag, traten Landschaft, Meer, Himmel und Berge in seine Bücher hinein. Seine Gedanken wurden Abbild der Natur, in der sie reiften und aufblühten; denn während für die großen spekulativen Denker wie Kant oder Hegel, da sie im Äther der reinen Abstraktion leben, eine Überfülle sinnfälliger Eindrücke und Erlebnisse nur störend sein kann, ja es im Grunde ganz gleichgültig ist, an welchem Orte der Erde und in welchem Zeitalter sie daheim sind, liegt das ganz anders für die reflektierenden Denker, wie Schopenhauer und Nietzsche: deren Schriften sind ein fortlaufendes Tagebuch ihres Lebens, und wo immer sie sind, was immer der Tag ihnen zuträgt, das geht sogleich über in die Einheit ihres geistigen Wesens. Das zeigt sich auch darin, daß man spekulative Philosophen planmäßig lesen muß; sie bauen wie ein Baukünstler Häuser baut, und wer ihren Werken nachdenken will, der muß in bestimmter Reihenfolge vorgehn und darf nicht beim Dache anfangen; reflektierende Naturen aber prägen sich bildhaft aus in allem, was sie ergreifen; man mag zu lesen beginnen, wo man will, man ist immer gleich im Mittelpunkt. Nietzsches Landschaft war das Engadin. Sodann die französische Riviera, zumal Nizza. Zuletzt die Städte Oberitaliens, Genua und Turin. Am liebsten und am längsten verweilte er in dem damals noch kleinen und idyllischen Dorf Sils Maria. Die Seligkeit des schönen Südens floß in seine Bücher. Diese südliche Landschaft ist voller Klarheit und eben darum voller Traum. Es ist merkwürdig, daß das Licht die Gegenstandswelt zugleich überdeutlich und ganz unwahrscheinlich macht. Gemälde, welche die Welt in weißes Licht tauchen (wie die Landschaften von Gygis oder Lugo) sehen aus, als ob sie geträumt sind: überklar und unwirklich. Nietzsches Bücher besitzen diese Helle und Schwerelosigkeit. Die reine Grenzlinie der hohen Alpen, ihre ruhig sichere Umschlossenheit und die blaue Kühle und abgedämpfte Farbenpracht der mittelländischen See, das ging ihm in Nerven und Worte über und gab der Sprache Schmelz und Glanz, wie noch kein philosophisches Schrifttum sie besessen hat. Denn erst mit Schopenhauer fängt unsre Philosophie an, erträgliches Deutsch zu schreiben. Bis zu Leibniz schrieb sie nur erträgliches Latein, seit Leibniz' Zeit gut Französisch. Aber in Kant, Hegel, Fichte, Schelling tiefsinnelte unsre Philosophie eine oft urbarbarische Sprache. So ist das schriftstellerische Werk aus Nietzsches Reifejahren unendlich beglückend. Es quillt freilich nicht aus der Heimat, nicht aus der sächsischen Scholle, auf der er groß wuchs und in die er schlafen ging. Lateinische, romanische, hellenische Sprachquellen rauschen aus der Tiefe. So etwa wie der harte Ibsen am französischen Theater sich glättete, so wurde Nietzsches Sprache geschliffen und europäisch in der Schule der französischen Aphoristiker, wie Montaigne, La Rochefoucauld, Vauvenargues, Pascal. Der Gehalt der Gedanken aber ist auch nicht deutsch. Er kommt aus England. Aus der Schule der beiden Mill und Humes. Nichts erinnert an Kant und die deutsche Metaphysik. So gewann unsere Sprache eine Leichtigkeit, die sie nie zuvor besessen hatte. Dennoch blieb sie kräftig und körnig. Noch war für Nietzsche das Erkennen beglückend, und die Wahrheit keine Erkrankung. Noch freute er sich der Fremde und fühlte sich Deutschland und seinen großen Lärmmachern, den veralteten Freunden, der Familie und dem Amte entsprungen. Es kam die Zeit, wo er in neuer Sehnsucht zurückrief alle alte Liebe, die er in sich getötet hatte. Es kam die Zeit, wo ihn die Scholle, aus der er geboren ward, zurückforderte. Da kam er sich denn nicht mehr vor als »Prinz Vogelfrei«, der aus dem deutschen Kerker entsprungene, als der kühne »Konquistador der Erkenntnis«, der rücksichtslosen, ja lasterhaften, als der »Tänzer«, der Flieger, der Befreite. Nein! da fühlte er sich wie Vergil oder Dante abgedrängt und verbannt, ein Märtyrer der intellektuellen Redlichkeit, ein windverwehter Flüchtling und sehnsuchtsvoll nach rückwärts blickender Ahasver. Denn erst, als alle die alten Bindungen abgestreift waren, und keinerlei verstehender Rückklang, kein günstiges Vogelzeichen mehr zu ihm kam, weder von der Mutter, der Schwester, den Freunden noch von Fachgenossen, oder aus deutscher Leserwelt, da zeigte es sich, wie deutsch und heimatbedingt Nietzsche eigentlich doch war und wie wenig eine Pflanze fähig ist, den Erdboden zu verleugnen, in den nun einmal ihr Keim fiel. Eigentlich wollte ja Nietzsche das Unmögliche: den Beifall derer, denen er tief ins Fleisch schnitt. Als er aber zusammengebrochen und ungefährlich geworden war, da fielen zuletzt die ihm die Fremdesten geworden waren, seine Nächsten, liebend über ihn her, und diejenigen, von denen loszukommen der Inhalt seines kurzen Lebens gewesen war, führten den Wehrlosen in die Heimat zurück, wo er verlosch. Dann begann die Komödie der Nachwelt ...

Mit seiner zunehmenden Verfremdung und Vereinsamung wuchs Nietzsches Ausdrucksübersteigerung. Sein Stil wurde immer weniger naiv; sein Tonfall allzu stark, seine Kunst zu absichtsvoll, sein Tempo übertrieben, bis er schließlich, etwa von der Zeit des Auftauchens Zarathustras ab, gar nichts mehr erklärt und begründet, sondern seine Gedanken nur noch hinausschreit: schmerzhaft eindringlich, rednerisch, an allen Strängen reißend. Man redet in solchen Fällen gern von »Verbitterung«. Nun, ich erinnere an ein Wort Strindbergs aus einem Briefe an Schering. »In jedem Menschen, er mag vom Leben geduckt sein oder nicht, liegt ein dunkles Gefühl der Unwürdigkeit, die seine Stellung falsch macht im Augenblicke der Huldigung. Wenn man aber mit auffallender Ungerechtigkeit behandelt wird, muß man ja zur Selbstverteidigung gereizt werden, und in der Selbstverteidigung muß man ja seine Verdienste hervorheben. Deshalb ist man hochmütig im Mißerfolg, während man sich demütig und unwürdig im Erfolge fühlt. So manchem wird das Selbstvertrauen geraubt durch dieses systematische Unterschätzen; wenn man aber gegen diese Schwäche reagiert, kommt man leicht in Versuchung, hart gegen hart zu setzen. Er ist der wirklich Verkannte, der in der Kneipe sitzt und prahlt. Er will doch einen Augenblick die Illusion haben, der zu sein, der ... er ist.«


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