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Wer streute die Saat? Wer segnete die Scholle? Irgendwo war ihm aufgestoßen der Name Arthur Schopenhauer. Wahrscheinlich in Albert Langes »Geschichte des Materialismus«, einem Buch, aus welchem grüblerische Jünglinge jener Tage gern ihre ersten Weltformeln zu schöpfen pflegten. Dort hatte er die Grundbegriffe der sogenannten kritischen oder idealistischen Philosophie kennengelernt. Und in diese Philosophie fand er auch eingereiht jenen einsamen Frankfurter Weisen – eigenwillig, abweisend, unzugänglich –, welchen zwei Menschenalter als Vollender Kants ehren lernten, bis endlich unser Geschlecht ihn als Erlöser von Kant, ja von der gesamten deutschen Begriffsphilosophie richtiger schauen lernte; als Befreier vom Formalismus des Geistes, als den ersten, der zurückführte ins alte Paradies vorbuddhistischer Urwelt ... Es waren keineswegs Gedanken, die den jungen Philologen umwarfen. Ihn überraschte der Anblick des nicht zünftigen Genius. Zum erstenmal sah er den Denker, der mehr als nur Denker ist. Der aus eigenster Naturquelle treuherzig schöpfend alles das vermied, ja alles das verwarf, was Nietzsches Jugend als Wissenschaft und Kultur war angepriesen worden. Indem der Werdende eintrat in den klar besonnten Äther dieses Denkens, indem die Ruhe, Reife, Milde dieses väterlichen Äthers ihn umfing, da tastete er sich heim zur eigensten Seele; da entdeckte er endlich ... Sich. Dieser Schopenhauer war ja kein Philosoph wie die berühmten Akademiker, kein Begriffsmeister, Besserwisser, Richtigsteller (denn die Größe des Menschen wird nicht nur bestimmt von Umfang oder Richtigkeit seiner Erkenntnis, nein, auch von seiner Grenze und von der Tiefe seines Irrtums). Dies war ein Mensch! Ein Mensch ohne »philosophische Probleme«. Aber voller Lebensach und -weh, mit dem er rang auf Tod und Leben. Sich selber darbietend, Richter zugleich und Opfer. Und mitten in aller Hingegebenheit an das Schauen des Lebendigen, dennoch befähigt, die Glutströme des Herzens gerinnen zu lassen zu starren Eiskristallen des Begriffs, gerinnen zu lassen unter dem Strahl der Besonnenheit. Schopenhauers Philosophie war für Nietzsche nicht etwa nur eine neue Welterläuterung neben anderen. Er trat vor ein Schicksal. Er begriff, daß auch Philosophie Schicksal sein kann. Denn um dies Weltbild zu schaffen, dazu war es nicht nötig, zwanzig Jahre lang an deutschen Universitäten Begriffe zu ackern. Nein! Man mußte dazu als dieser Mensch geboren sein. Und so kam es auch für die Jünger nicht darauf an, gleicher Meinung zu werden. Von der ersten Stunde seiner Bekanntschaft mit Schopenhauer las Nietzsche »Die Welt als Wille und Vorstellung« kritisch. Ja, er verfertigte Verzeichnisse, in die er alle Widersprüche des Lehrers eintrug. Aber – obwohl somit das Weltbild seines eigenen Geistes sich fortentwickelte in beständiger Reibung und in Widerspruch gegen Schopenhauers herrische Dogmatik (bis die neue Lehre just der Gegenpol der Schopenhauerschen geworden war), ... die Ehrfurcht vor dem Genius, die Bewunderung seiner Eigenheit und Ehrlichkeit erstarb in Nietzsche nie. Fragt doch auch Liebe nicht danach, ob derjenige den wir lieben, recht hat oder unrecht ...
Schon vor zwanzig Jahren, in meinem Jugendwerk: »Schopenhauer – Wagner – Nietzsche«, führte ich den Nachweis, daß Nietzsches wesentliche Kerngedanken (der Gedanke des »Willen zur Macht«, die Psychologie des »ressentiment«, der Gedanke der »Ewigen Wiederkehr«, das Ideal des »Übermenschen«, ja sogar das Wort »Übermensch«) ursprünglich hafteten an Schopenhauers Gestalt und dann allmählich erst, im Fortschreiten zu krasser, oft krampfhafter Selbstbewertung sich mit genau entgegengesetzten Inhalten erfüllten: widerchristlich, gegenbuddhistisch, antischopenhauerisch. Und doch blieb Schopenhauers Person die Liebe seines Lebens und der Trost seiner Einsamkeit. Denn jede schöpferische Seele muß untertauchen in Liebe, bevor ihr eigenster Dämon sich verkörpern kann. Dieser Hingabe ist es nicht wesentlich, ob die Persönlichkeit, die wir erhöhend begreifen, in der Erfahrungswirklichkeit das ist, was wir uns daraus machen. So ergriff Plato den Sokrates. So Schopenhauer den Kant. So Nietzsche den Schopenhauer. Das ist Schöpfer- und Künstlertum. Wer liebt, liebt niemals den in Zeit und Raum beschränkten, immerbedürftigen Menschen. Er liebt ihn hin auf das göttliche Ideal, darauf gerade dieser angelegt ist. Er liebt aus ihm heraus die Idee, welche unter den Hemmungen der Stofflichkeit immer nur teilweise und mangelhaft hervortritt. Dies also war die erste große Liebe, die der junge Nietzsche erfuhr. Was aber war sie gegen die zweite? Als neben den verstorbenen philosophischen Genius der noch im Leben wandelnde Prophet der künstlerischen Romantik trat, als Richard Wagner ihm begegnete?! Von der ersten Stunde an, wo der junge Student mit dem Neuschöpfer der Oper zusammentraf und musizieren durfte (es geschah in Leipzig, im Hause der Schwester Wagners), da verfiel er dem verzaubernden Bann, dem wohl alle verfallen, die mit Wagners Person oder Werk je ernstlich bekannt werden. Alles was Jugend ersehnen kann, schien in Wagner verkörpert. Denn Wagner war unendliche Lebenskraft, unendliche Möglichkeit, unendliche Melodie. Dieser unbegrenzte Mensch, ungeheuer eigenbezüglich, ungeheuer siegeswillig, ungeheuer aufsaugend, warf um durch sein bloßes Dasein. Daß der junge Nietzsche ihm gegenüber nicht wählerisch sein konnte, war ebenso sicher wie das andere: daß, falls einmal Enttäuschung ihn anwehte, er sich für die kritiklose Hingabe und schrankenlose Verschreibung seiner Jugend rächen mußte, ebenso maßlos und ungerecht, wie er Wagners Erscheinung zum Gipfel der gesamten deutschen Geschichte vergottete. Nietzsche war ein noch völlig unirdischer, vom Himmel kommender, in Wolken schwebender Jüngling; Wagner war der Mann, der wohl irgendwie in dunkler Erde Wurzel hatte, seinerseits aber sich losreißen und zur Unermeßlichkeit des Geistes emporschweben wollte. So begegneten sich damals Mann und Jüngling auf halbem Wege und glaubten, sie stünden im selben Punkt. Erst als sie weiterschritten, als Nietzsche vom Abstrakten und Romantischen hinweg zu fester, oft überscharfer Klarheit fortstrebte, Wagner dagegen von aller bestimmten Tatsachenwirklichkeit hinfort ins Nebulose verirrte, da wurde grausam der Irrtum klar, und gewiß: der Gegensatz der Naturen. Aber sehr lange dauerte es, bis die Erkenntnis durchbrach. Das Auf und Ab dieser Freundschaft wurde Nietzsches erziehende Offenbarung. Anbetung und Ernüchterung, das waren die bestimmenden Pole. Indem der wirkliche Wagner mit all seiner bodenlosen Selbstüberredung rücksichtslos und nachdrücklich in Nietzsches stilles Leben trat und ihm Weggenosse wurde, erwachte in dem treu hingegebenen, ehrfürchtigen Schwärmer zum ersten Male langsam, langsam der prüfende Zergliederer. Der Widerspruch seines ungeheuren jugendlichen Seelenrauschs mit dem, was er am wirklichen Wagner und seinen Jüngern erlebte, dieses Ernüchtertwerden mitten im Bacchanal, brachte die erste große Erschütterung in Nietzsches bis dahin völlig leidloses Leben. Aus ihr ging der spätere Nietzsche hervor, der alles zersetzende ... Durch Schopenhauer und Wagner also kam er langsam zu sich selber. Der Höhe des dreißigsten Jahrs entgegen reifend, kannte er somit drei Elemente: die angestammte Wissenschaft vom geträumten Griechenland, das Wagnersche Musikdrama und die Schopenhauersche Metaphysik. Aus diesen drei Wurzeln wuchs ihm nun sein erstes Lebenswerk zu. Noch nicht Notausgang leidender Erfahrung. Noch naiver Ausdruck jünglinghaften Überschwangs. Und somit wohl das schönste Schwärmerbuch aller Zeiten. Es führt den langatmigen Titel: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Er schrieb es als Professor der klassischen Philologie in Basel. Im benachbarten Luzern, in Triebschen, unter den Gipfeln am Vierwaldstätter See hielt damals Richard Wagner Hof. An festlichen Tagen sammelte sich dort zu Frohgelagen der Gottheit der adeligste Kreis hochgesinnter Menschen. Sie ehrten Schopenhauer als Privatheiligen und seinen Geburtstag feierten sie mit rotem Wein. Die Gläser, daraus sie tranken, schleuderten sie gegen den Stein. Damals stand Nietzsche auf der Höhe der Fahrt. Selbstlos, anschmiegsam, vornehm, zart. Hingegeben an das Männlich-Heroische, weil er auf der Hut stand vor dem Empfindsamen der eigenen Seele. Dabei fortdauernd betreut und wohl auch ein wenig bemuttert von kluglächelnden, ahnenden und verliebten Frauen.