Alain René Lesage
Gil Blas von Santillana
Alain René Lesage

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Sechstes Kapitel.

Gil Blas macht einen Versuch zu entfliehen; wie er abläuft.

Nachdem der Räuberhauptmann solchergestalt die Apologie seines Metjes gehalten hatte, begab er sich zu Bette, und ich mich nach dem Saale, wo ich abdeckte, und alles aufräumte. Hierauf ging ich in die Küche, wo Domingo (so hieß der alte Neger) und Sennora Leonarde ihr Abendbrot hielten, und auf mich warteten. Ob ich gleich keinen Appetit hatte, so setzt' ich mich doch zu ihnen hin. Essen konnt' ich nicht, und weil ich so niedergeschlagen aussah, als ich zu seyn Ursache hatte, so versuchten es diese beyde Figuren von gleichem Schrot und Korn, mich zu trösten. Sie nahmen sich aber dabey auf eine Art, die 46 vermögender war, mich in Verzweiflung zu stürzen, als meine Betrübniß zu lindern.

Warum so niedergeschlagen, mein Sohn? sagte die Alte zu mir. Er sollte Sich vielmehr freuen und fröhlich seyn, daß Er Sich hier bey uns befindet. Er ist, wie mir's scheint, ein recht gutwilliger Bursche. Seine junge Seele würd' in der Welt gar bald seyn verdorben worden. Da hätte Er lauter wüste Fliegen gefunden, die ihn zu allen möglichen Liederlichkeiten würden angeführet haben, anstatt, daß Er hier im sichern Hafen ist.

Wohl wahr, Jungfer Leonarde! sagte der alte Neger gar gravitätisch. Und man kann noch hinzusetzen, daß die Welt ein rechtes Jammerthal ist. Dank' Er Gott, mein Freund, daß er Ihn so mit Einem Mahle von den Gefahren, Mühseligkeiten und Plagen des menschlichen Lebens befreyet hat.

Ich schluckt' alle diese Reden geduldig hinter, weil Unwillen darüber zu verrathen mir doch zu nichts würde geholfen haben, außer daß sie etwa auf meine Kosten zu lachen gehabt hätten. Endlich begab sich Domingo, nachdem er reichlich gegessen und getrunken hatte, in seinen Stall. Alsbald nahm Leonarde eine Lampe, und führte mich nach einem Keller, der den natürlichen Todes gestorbenen Räubern zum Kirchhofe diente. Hier stand ein 47 Feldbett, das einem Grabe weit ähnlicher sahe.

Das ist Seine Kammer, mein liebes Mäuschen! sagte sie zu mir und grabbelte mir am Kinne. Der Bursche, an dessen Stelle Er zu kommen das Glück hat, ruhte hier bey seinen Lebszeiten, und auch nach seinem Tode ist hier sein Ruhekämmerlein. Er starb in der Blüthe seiner Jahre. Hör' Er, mach' Er ihm den dummen Streich ja nicht nach. Mit diesen Worten gab sie mir die Lampe, und ging wieder in ihre Küche.

Ich setzte die Lampe auf die Erde, und warf mich auf mein Lager, nicht sowohl um zu ruhen, als um gänzlich meinen Betrachtungen nachzuhängen. O Gott! rief ich, gibt es wohl ein gräßlicheres Schicksal, als das meinige! Ich soll das Licht der Sonne nicht mehr sehen! Noch nicht genug, daß ich im achtzehnten Jahre lebendig begraben bin, muß ich den Räubern dienen, den Tag bey Buschkleppern und die Nacht bey Todten zubringen.

Diese Vorstellungen, die mir höchst kränkend schienen und es auch wirklich waren, preßten mir bittere Thränen aus. Hundertmahl vermaledeyt' ich meines Oheims Eilfertigkeit, mich nach Salamanka zu schicken, bereute meine Furcht vor den Gerichten zu Cacabelos; wünschte lieber auf der Folter zu seyn. Doch als ich bedachte, daß ich mich in fruchtlosen 48 Klagen erschöpfte, sann ich auf Rettungsmittel.

Wie, sagt' ich, sollt' es denn nicht möglich seyn, hier herauszukommen? Die Räuber schlafen schon, die Köchinn und der Schwarze werden es auch bald. Sollt' ich nicht, wenn sie alle im festen Schlafe liegen, mit der Lampe den Gang finden können, wodurch ich in diese Höhle herabgestiegen bin? Freylich trau' ich mir nicht Kräfte genug zu, die Fallthür am Eingange aufzuheben. Indeß kommt's auf einen Versuch an. Wenigstens will ich mir nichts vorzuwerfen haben. Verzweiflung wird mir Kräfte verleihen, und so gelinget mir's vielleicht.

Schwanger mit diesem großen Vorhaben stand ich auf, als ich Leonarde'n und Domingo'n eingeschlummert glaubte, nahm die Lampe und verließ den Keller, nachdem ich mich allen Heiligen des Paradieses empfohlen hatte. Mir ward's sehr sauer, mich aus all' den Kreuz- und Quergängen dieses neuen Labyrinths herauszufinden. Endlich kam ich an die Stallthür und wurde den Gang gewahr, den ich suchte. Ich eile fort, nähere mich der Fallthür, eben so bang' als fröhlich, aber ach! mitten im Gange stoß' ich auf ein verdammtes eisernes Gitter, das fest verschlossen war. und dessen Stäbe so eng waren, daß man kaum mit der Hand durchkonnte. Bey Erblickung dieses neuen 49 Hindernisses, das ich beym Hereingehen nicht bemerken können, weil damahls das Gitter offen war, stand ich ganz verdutzt. Gleichwohl betastet' ich die Stäbe, untersuchte das Schloß, wollt' es sogar aufsprengen, als ich plötzlich meine Schultern mit fünf bis sechs Karbatschenhieben gar mächtiglich begrüßet fühlte. Ich stieß einen so durchdringenden Schrey aus, daß die Höhle davon wiederhallte, blickte sogleich um, und gewahrte den alten Neger im Hemde, der in der einen Hand eine Blendlatern' und in der andern das Werkzeug meiner Strafe hielt.

Haha! Bürschchen, hieß es, willst'u Reisaus nehmen? Ho? bild Dir nur nicht ein, mich überrumpeln zu können. Hab' Dich wohl herschleichen gehört. Gelt, Du dachtest, das Gitter stünde offen? Von nun an, guter Freund, soll's dicht' und feste zu seyn, merk Dir's. Wenn wir hier Jemanden einsperren, muß er pfiffiger seyn, wie Du, wofern er uns entwischen soll.

Indeß waren durch meinen Schrey zwey bis drey Räuber aus dem Schlaf aufgefahren; weil sie nun nicht wußten, ob nicht die heilige Hermandad sie überfallen habe, sprangen sie auf, und riefen ihren Spießgesellen mit lauter Stimme. In einem Augenblicke waren sie alle auf den Beinen und kamen mit Schwertern und Karabinern bewaffnet, fast halbnackt nach dem 50 Orte, wo ich mich mit Domingo'n befand. Kaum wußten sie die Ursache des vernommenen Getöses, so verwandelte sich ihre Besorgtheit in ein lautes Gelächter. Wie, Gil Blas? sagte der räuberische Klosterflüchtling zu mir, erst sechs Stunden bey uns, und willst schon wieder fort? Die Einsamkeit muß Dir doch was recht abscheuliches seyn! Was würdest'u wohl anfangen, wenn Du Karthäuser wärest? Geh' und leg' Dich zu Bette. Dießmahl soll's bey den Schlägen, die Dir Domingo gegeben, sein Bewenden haben, machst'u aber noch je den kleinsten Versuch zu entrinnen, beym heiligen Bartholomäus! so ziehen wir Dir lebendig die Haut über die Ohren.

Mit diesen Worten führt' er sich ab. Die übrigen Räuber gingen nach ihren Zimmern, nachdem sie über meinen Versuch, mich von ihnen wegzustehlen, herzlich gelachet hatten. Der alte Neger, seelenvergnügt mit seiner Verrichtung, begab sich in seinen Stall, und ich mich auf meinen Kirchhof, wo ich den Ueberrest der Nacht verseufzte und verweinte. 51

 


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