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8. Kapitel

Ein Agent tritt auf. – Ein Gedanke und ein Entschluß. – Das Unwahrscheinliche ist möglich. – Ausritt und Aussprache. – Es knallt zweimal. – Sehr bedeutsame Begebenheiten

Josèphe-Marie Prat d'Hermenonville, Inhaber von Personalausweisen, die sich bisher als wasserdicht erwiesen hatten, polizeilich gemeldet unter der weiträumigen Berufsbezeichnung ›Kaufmann‹, war ein weitgereister, unvoreingenommener Mann mit vielseitigen Gaben. Ein freundlicher Zufall – die lohnende Verwertung eines Postens verhältnismäßig moderner Handfeuerwaffen, die durch einen geschickten und friedlich gesinnten Mittelsmann dem Einsatz in einem Grenzstreit entzogen wurden und somit im Markt waren – hatte ihn nach Nebrador geführt; seine untrügliche Witterung für die geschäftliche Keimkraft des Landes hatte ihn dort festgehalten. Er gehörte zu jener gehobenen Klasse von Abenteurern, die zwar das Recht für sich in Anspruch nehmen, die Mittel für ihren Unterhalt und ihre Neigungen aus der Tasche anderer in ihre eigene zu zaubern, die aber aus Vorsicht und ästhetischer Hemmung es vermeiden, die eigene Hand hineinzustecken. Kurz gesagt: Josèphe-Marie war ein Spieler und Spekulant, aber er hatte eine Vorliebe für Vermittlergeschäfte, die es ihm erlaubten, auf der Seite des mutmaßlichen Gewinners einzusteigen. Er war ein Makler mit dem Instinkt für gute Gelegenheiten. Im Spielsaal des »Grand Hotel Esperanza« war er ein regelmäßiger Gast, aber er spielte mehr aus Liebhaberei und ohne halsbrecherisches Risiko, da die etwa vorhandenen Möglichkeiten, nach klassischem Beispiel das Glück zu korrigieren, hier nicht auf seiner Seite lagen; so waren ihm diese Stunden im Spielsaal in der Hauptsache eine Gelegenheit, Menschen zu beobachten und kennenzulernen. Es möge genügen, zu sagen, daß er jederzeit bereit war, alles zu vermitteln, zu kaufen und zu verkaufen – auch Informationen, wenn sich dafür ein Käufer fand. Seine sachverständige Erfahrung auf erlaubten wie unerlaubten Gebieten kam ihm dabei sehr zugute. Diese Kennzeichnung sei erläutert durch die Mitteilung, daß er, obwohl ursprünglich Selbstrasierer, in letzter Zeit dazu übergegangen war, seinen sehr gepflegten Kopf bei Mr. Johnson in Behandlung zu geben, weil er dadurch die Möglichkeit bekam, die Verbindung mit diesem rührigen Geschäftsmann unauffällig zu vertiefen und auszubauen.

Verschiedentlich war Josèphe-Marie bemüht gewesen, an Mr. Wineman heranzukommen. Es waren ihm auch einige kleinere Transaktionen gelungen, aber im ganzen blieb Mr. Wineman persönlich zurückhaltend, da es ihm an Maklern und Agenten nicht fehlte. Er hatte eine ganz besondere Art von zerstreuter Höflichkeit bereit für Leute, die zwar nicht ohne Aussichten waren, aber bei seiner Bank noch kein Konto besaßen. Zwielichtexistenzen wie dieser Monsieur d'Hermenonville fesselten seine Aufmerksamkeit nur dann, wenn hinter ihrer Bereitwilligkeit zum vorurteilslosen Geschäft Wirklichkeitswerte von Format steckten. Gerade damit aber hatte der Franzose bisher nicht dienen können. Es war ihm demnach klar, daß er, wie die Sportsleute sagen, seinen Stil verbessern mußte.

Über die Pläne des Generals Oronta und das Drum und Dran war er, dank seiner Fähigkeit, »zwei und zwei zusammenzuzählen«, wie die Engländer sagen, so gut unterrichtet, daß seine Schlüsse der Wahrheit ziemlich nahekamen. Auch das Kursspiel an der Börse von Esperanza deutete er richtig; es war offenbar eine großzügig gelenkte Aktion, in enger Zweckverbindung mit den politischen Ereignissen, und das Tempo der Bewegung ließ auf eine nahe Entscheidung schließen. Aber es fehlte ihm an Barmitteln wie am Kredit, um mitzumachen. Er mußte also, so sehr ihn das schmerzte, wieder einmal auf die große Spekulation verzichten und zunächst auf die Niederjagd nach Informationen gehen. Nun sagte ihm schon seit einigen Tagen seine bewährte Witterung, daß in der Umgebung des Generals Oronta entscheidende und unübersichtliche Dinge vorgingen. Es konnte nicht nur die Stimmung vor dem nahen Gewittersturm sein; Josèphe-Marie roch irgendeine Krise, ohne daß er einstweilen zu sagen vermochte, worin die Anzeichen bestanden. Schon bei der Nachricht von der Erkrankung des Generals hatte er den unbestimmten Verdacht gehabt, daß es sich da um eine Vernebelung handelte. Das gelegentliche müßige Umherschlendern des Generals, die geheimnisvolle Geschäftigkeit des Adjutanten bestärkten ihn in diesem Verdacht. Er faßte den Entschluß, sich eine höhere Spesensumme zu bewilligen und einen Beobachtungsposten in unmittelbarer Nähe Orontas zu beziehen – mit anderen Worten: er gab sein Zimmer in einer nicht sehr kostspieligen Pension auf und zog ins »Grand Hotel Esperanza«. Von seiner derzeitigen Freundin trennte er sich, um ganz unbelastet zu sein. Aufmerksam und ruhelos strich er durch das Haus – zunächst ohne greifbaren Erfolg. Er begann allmählich an eine Pechsträhne zu glauben.

Bis ihm eines Morgens, zu einer Zeit, da handelnde und beobachtende Mitspieler noch schliefen, der große Schlag gelang.

*

Mr. Johnson, schweigsam und lächelnd wie immer, kam zum Morgenbesuch und mußte warten, denn Manuel war noch in der Badewanne – nachdem er im Bett gefrühstückt hatte – und als er schließlich vor dem Ankleidespiegel Platz nahm, schien seine Laune nicht die beste.

»Gehen Sie vorsichtig mit meinem Kopf um, Stiefsohn des Himmels«, sagte er. »Ich habe schlecht geschlafen.«

Mr. Johnson wiegte mit bedauerndem Lächeln den Kopf und schwieg. Zart wie ein Mailüftchen fächelte sein Rasiermesser über die Wangen des Generals.

Manuel versuchte vergeblich, den Blick der Schlitzaugen im Spiegel zu fangen.

»Sind Sie bei der Behandlung meines großen Ebenbildes auch so schweigsam?« fragte Manuel.

»Schweigen ist gut«, versetzte Mr. Johnson in seinem sonderbaren Spanisch. »General ist großer Mann und schweigt, weil er will; Barbier ist kleiner Mann und schweigt, weil er muß. Großer Mann und kleiner Mann kommen gut miteinander aus.«

Er legte seine Sachen zusammen, verneigte sich höflich und verschwand auf geräuschlosen Sohlen aus dem Zimmer.

Als der Adjutant erschien – die Stunde der Morgenbesuche war offenbar unabänderlich festgesetzt –, lag Manuel, immer noch im Frisiermantel, auf dem Divan und starrte zur Decke.

»Exzellenz haben schlecht geschlafen –?« Die straffe Stimme verriet nichts als höfliche Teilnahme; die Ironie der Frage war bestenfalls am Flimmern des Einglases abzulesen.

»Irgendein verdammter Esel hat mir wilde Tiere ins Zimmer gelassen«, sagte Manuel brummig. »Wenn man hier die Mosquitos auf mich hetzt, werde ich bald wieder meinen Fieberanfall haben.«

»Ich werde das gebührend rügen«, versicherte del Vecchio. »Wünschen Exzellenz den Besuch des Arztes?«

»Lieber den des Teufels in Person«, antwortete Manuel wahrheitsgemäß.

»Dann bitte ich Exzellenz, sich völlige Ruhe zu gönnen. Es liegt heute nichts vor. Ich werde alle Störungen fernhalten.«

»Innigen Dank.«

Manuel wälzte sich auf die andere Seite; kaum aber war er allein, als er auch schon mit einem Satz auffuhr. Er holte die in der Nacht gemachten Aufzeichnungen unter dem Kissen hervor, breitete sie auf dem Tisch aus und verglich sie mit seiner Erinnerung. Bis in den Schlaf hatten ihn die Linien und Pfeile, die Namen und Zahlen verfolgt. Jawohl, er wußte alles noch; jawohl, er hatte alles begriffen.

Sein grübelnder Blick ging über die Blätter hinweg ins Leere. In der rauschhaften Spannung dieser Nacht hatte er schon gemeint, die Waffen in der Hand zu halten, mit denen er zum Kampf antreten konnte. Oronta gegen Oronta. Stand die Partie nicht aussichtsvoll?

Nein. Sie war sogar weit entfernt davon. Da war dieser geschmeidige, undurchdringliche Adjutant, an dessen Kühle jede Auflehnung, jeder Angriff abglitt wie an glattem Stahl. Da war dieser rücksichtslose Eroberer von einem General, der irgendwo im Verborgenen saß und zur gegebenen Stunde – zwei Tage waren es noch bis dahin – seinen machtlosen Stellvertreter – –

»Dreimal vernagelter Esel!« Damit meinte Manuel sich selbst, und er hatte es so laut gesagt, daß er sich erschrocken umsah, ob ihn jemand belauscht hatte. Irgendwo im Verborgenen –? Unwillkürlich wanderte sein Blick zur Tür, durch die vor einer halben Stunde Mr. Johnson verschwunden war. Wo sollte der echte Oronta sitzen? In dem Dachsbau Mr. Johnsons, irgendwo in einem verborgenen Trakt des chinesischen Irrgartens. Deutlich sah Manuel die dämmerigen, teppichbelegten Flure, die Ampeln, die winkeligen Gänge, die vielen Türen, die Schuppen und Höfe, deutlich spürte er den scharfen Geruch von gewürzten Speisen, Essenzen und Räucherwerk. Es war alles ganz klar. Man hatte den General aus dem Hotel mit dem Tramp im Chinesenladen vertauscht, man würde sie wieder vertauschen, wenn man den Tramp nicht mehr brauchte und ihn in das Nichts zurückstoßen konnte. Es war unwahrscheinlich einfach. Und darum war es so – mußte es so sein. Das Unwahrscheinlichste ist immer das einfachste und sicherste, wenn man nur den Mut hat, es zu wagen. Die Phantasie des Alltagsmenschen reicht nicht aus, es zu erdenken. So ist man fast sicher vor Entdeckung.

Galt dieser Satz nicht auch für ihn – für Manuel? Würde den Urhebern dieses Planes je auch nur der Schatten eines Verdachtes kommen, daß der namenlose Figurant, der buchstäblich im Schlaf aus seinen Lumpen in den Generalsrock geschlüpft war, den Versuch wagen würde, das Spiel umzukehren? Wenn jemand eine solche Möglichkeit auch nur andeutete – die Herren würden ein schallendes Gelächter angestimmt haben, wie über einen kapitalen Witz.

Manuel verwahrte die zusammengefalteten Papiere in der Brusttasche seines Waffenrockes; dann ging er ein paarmal durch die Räume; dann warf er den Morgenmantel irgendwo in die Ecke – ihm war heiß. Und endlich streckte er sich wieder auf dem Divan aus.

Zwei Tage noch – nein, nicht einmal mehr zwei Tage. Ihm mußte eine Lösung einfallen, und das sofort. Eine verblüffende, eine völlig unwahrscheinliche Lösung. Dann stand die Partie gleich.

Manuel lag lange und grübelte. Seine Stirn war zu dichten Falten zusammengezogen. Plötzlich aber entspannte sich sein Gesicht. Er hob die geballte Faust und ließ sie auf das Polster fallen. Der Gedanke war geboren, und Manuel setzte, ein wenig schwindlig, aber mit zusammengebissenen Zähnen, zum Sprung an über den Abgrund zwischen dem Gedanken und dem Entschluß.

 

Wenn die Schilderung der Ereignisse beim Staatsstreich in Nebrador nicht unvollständig sein soll, so darf nicht verschwiegen werden, daß der Manuel, der nach dem Lunch, äußerlich ganz General, beim Kaffee saß, ein anderer war als der Manuel vor der Mahlzeit. Man kann den bis fast zur Verausgabung heruntergewirtschafteten Tramp nicht mit den Landstreicherlumpen ausziehen und mit einem ganz neuen Ich vertauschen, noch dazu wenn dieses Ich sich in einer fremden Körperhülle heimisch machen muß. Das armselige verschüttete alte Ich meldet sich immer noch einmal wieder, und dazu ist es nicht einmal nötig, daß die Narbe der Wunde aus dem Laderaum des »Presidente Dominguez« sich mit mahnendem Jucken bemerkbar macht. Man wächst nicht in ein paar Tagen völlig in die Haut und das – äußere – Wesen eines Generalleutnants hinein, der zu seinem Aufbau Jahre benötigt hat; auch dann nicht, wenn dieser Generalleutnant im Grunde nichts weiter ist als ein bullenhaftes Exemplar von einem Abenteurer. Man kann nicht obendrein mit der berühmten idealistischen deutschen Gründlichkeit und der nicht minder berühmten spanischen Abenteuer- und Unternehmungslust Pläne spinnen, die ein Normalhirn selbst in tropischen Breiten für nackten Irrsinn halten mußte. Manuel hatte nichts von seiner harten tatbereiten Spannung verloren; aber er wog mit der grinsenden Schonungslosigkeit des Tramps, der jeden Augenblick auf den letzten verzweifelten Kampf gegen das Versacken gefaßt sein muß, das Unwahrscheinliche gegen das Mögliche ab.

Bewiesen ist, sagte er sich auf Grund seiner im Eiltempo gewonnenen Erfahrung, daß das Unwahrscheinliche möglich ist.

Unwahrscheinlich ist, daß ich, ein buchstäblich angeschwemmtes, stark havariertes Menschenexemplar, dem Prätendenten von Nebrador ähnle wie ein längliches Ei einem runden. Unwahrscheinlich ist, daß der Adjutant des Prätendenten mich aufgreift und für einen ebenso phantastischen wie raffiniert einfachen Plan benutzt. Unwahrscheinlich ist, daß ich in diese Rolle hineinwachsen, mich unauffällig hineindenken kann. Unwahrscheinlich ist, daß mir das Schicksal eine lange Serie von Trümpfen in die Hand spielt – Ratgeber, Werkzeuge, Kenntnisse, Schlüsse, Freunde, Geld und Dokumente. Unwahrscheinlich ist, daß ich aus irgendwelchen geheimen Reserven die Kräfte schöpfe, mir das alles nutzbar zu machen. Woraus hervorgeht: Das Unwahrscheinliche wahr zu machen. Woraus hervorgeht: Das Unwahrscheinliche ist möglich. Daß es mir hingegen glücken soll, mich nun durch einen Staatsstreich im Staatsstreich an die Stelle des Präsidenten zu setzen, ist zwar möglich – denn wir sind in Nebrador – aber es ist unwahrscheinlich.

Wahrscheinlich hingegen ist, daß die Herren mich beim Kragen nehmen und mit völlig liebloser Gründlichkeit in den ehemaligen Zustand zurückversetzen. Und das ist ihnen verdammt leicht möglich.

Daß ich dann mein geliebtes Leben und noch dazu mein Geld in eine neue Existenz hinüberretten kann, ist unwahrscheinlich. Aber es ist möglich: siehe oben. Immerhin dürfte es sich empfehlen, dem Schicksal ein bißchen unter die Arme zu greifen, wenn es diese unwahrscheinliche Rettungstat ermöglichen soll.

Womit greift man in Nebrador dem Schicksal unter die Arme? Mit Geld, das zu sichern und zu behalten freilich ein hartes Stück Arbeit sein wird. Davon haben wir einen ganz hübschen Batzen im Spind: aber man kann nie genug und ganz gewiß nie zuviel haben. Im heutigen Nebrador kann man damit alles kaufen, vielleicht sogar den eigenen Hals. Also verschaffen wir uns mehr. Und zwar durch einen Streich von ausgemachter Unverschämtheit. Es ist sozusagen eine kleine Probe auf die Gewogenheit des Schicksals, und also eine Vorbedeutung. Und zugleich zeigt es, ob der Apparat in Esperanza dem einstweilen noch falschen General gehorcht.

Manuel nahm einen Leinenbogen aus der Schreibmappe und schrieb mit den klotzigen Zügen des Generals:

 

»An das Bankhaus Atkinson & Wineman

Esperanza

Ich bitte Sie, mir sogleich durch Boten zu meinen Lasten die Summe von 10 000 (zehntausend) Peseten ins Hotel zu schicken.«

Ort und Datum.

Und die breit hingeknallte Unterschrift: Oronta.

 

Sodann ein zweites Blatt:

»Verehrte Baronesa! Haben Sie Zeit und Lust heute nachmittag wieder mit mir auszureiten? Damit würden Sie sehr beglücken

Ihren Oronta.«

 

Manuel schlug zweimal auf die Schreibtischglocke; die beiden Ordonnanzen traten ein und nahmen Haltung an: Ein lederbraun gebrannter alter Korporal und ein kindlich vergnügter kleiner Gefreiter von der Infanterie. Demnach war die Rollenverteilung klar.

»Sie«, sagte Manuel zu dem Korporal, »bringen diesen Brief in das Bankhaus Atkinson & Wineman und geben ihn am Kassenschalter ab. Auf Antwort brauchen Sie nicht zu warten. – Sie« – zum Gefreiten – »lassen in meinem Auftrage in dem großen Blumenladen an der Ecke gegenüber dem Hotel einen schönen Strauß zusammenstellen und geben ihn mit diesem Brief bei der Baronesa Pereira da Carvalho ab. Hier im Hause. Die Zimmernummer erfahren Sie beim Portier. Wenn die Dame anwesend ist, warten Sie auf Antwort. Hier ist Geld. Wegtreten.« Die Beiden schlugen die Hacken zusammen, machten kehrt und zogen ab.

Sieh an, sagte Manuel zu sich selber, der Marschbefehl des Generals ist stärker als der Stillsitzbefehl des Adjutanten. Es ist nützlich, das zu wissen. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke: Wenn ich jetzt nicht in dieser Generalsmaske gefangen säße, stünde mir der Weg nach draußen offen. Ich könnte das viele Geld nehmen – – Was denn, Manuel? Ausreißen, bevor es richtig losgeht? Pfui Deibel. So etwas wie diese Begebenheit veranstaltet der Himmel dir zu Ehren nicht zum zweitenmal.

Also warten. Die Zeitungen. An der Wertpapierbörse setzte sich die Abwärtsbewegung auf allen Marktgebieten fort. Auch Industrie- und Handelswerte gedrückt und lustlos. Dem Angebot stand so gut wie keine Nachfrage gegenüber. Devisen- und Wechselkurse steigend: Kein nennenswertes Angebot. Im Warenterminhandel zunehmende Versteifung. Aus dem ›Diario‹ kann man, wenn man will, gute Lehren für eine besonnene Haltung in Krisenzeiten entnehmen. Im ›Pueblo‹ wird weiterhin Lärm geschlagen und die erwartungsvolle Unruhe nach Kräften geschürt. Man weist auf einen fühlbaren Rückgang der nebradorianischen Währung an den ausländischen Devisenbörsen hin. Vertrauenskrise. Der ›Trabajador‹ möchte im Trüben fischen und hat kein Netz. Proletarier aller Länder, vereinigt euch und gebt ihm eines!

Die Baronesa ließ danken und ausrichten, daß sie gerne mit Exzellenz ausreiten würde. Der Korporal hatte doch ganze Arbeit gemacht und den Angestellten der Bank sicherheitshalber gleich mitgebracht. Manuel empfing das Geld, unterschrieb die Empfangsbescheinigung und verwahrte es, als er wieder allein war, bei dem übrigen in der Schublade. War das nun eigentlich eine Urkundenfälschung gewesen? Ach was – die Herren wollten einen zweiten General haben, sollten sie ihn sich auch etwas kosten lassen. Das Schicksal schien zum Weiterlächeln entschlossen.

Manuel gestattete sich einen großen Whisky, zog sich aus und stellte sich unter die kalte Dusche. Während das Wasser über seinen geröteten Körper brauste, sang er aus Leibeskräften. Das hatte er schon als Kind getan, und es war ein Zeichen von gesunder und tapferer Lebenskraft. Aber es war doch gut, daß er auf die Hilfe der Ordonnanz verzichtet hatte, denn ein General ist eine Respektsperson, und eine Respektsperson brüllt nicht im Badezimmer. Wenigstens nicht so, daß die Untergebenen es hören.

 

Sie hielten – seltsam war die Selbstverständlichkeit, mit der sie wieder den gleichen Weg geritten waren – an derselben Stelle wie gestern. Jetzt aber war der Himmel über ihnen eine Kuppel aus glühendem Stahl, und die dampfende Hitze über dem sumpfigen Dschungel schwang und tönte vom Gesumm zahlloser geflügelter lebensgieriger Beutejäger. Es war kaum für die Menschen dieser Breiten erträglich: Bei jeder Bewegung bedeckte sich die Haut mit Schweiß. Die Pferde waren widerwillig, launisch und träge; sie verweigerten jede schnellere Gangart und warfen gereizt die Köpfe. Dennoch waren die beiden weitergeritten, dennoch verweilten sie hier.

Manuel hatte die weiße Kappe abgenommen, da sie hier im kargen Schatten standen. Sein dunkles Haar klebte fest am Kopfe, der graue Schimmer lag darauf wie ein silbriges Gespinst. Juana betrachtete ihn von der Seite und sann abermals dieser sonderbaren Verwandlung nach. Die Augen lagen tief in den Höhlen, über den Backenknochen spannte sich die gebräunte Haut, der Mund war hart zusammengepreßt. Er schien ein wenig müde, aber das Gesicht war von der gesammelten Kraft eines Entschlusses geprägt. Und es sah bei alledem jung aus, unerklärlich jung. Vergeblich suchte sie jetzt darin die grobe, zynische Rücksichtslosigkeit, von der sie sich früher so oft abgestoßen fühlte. Es war das kühne Gesicht eines Eroberers, von der Begierde nach dem Abenteuer fast wie von einem unsichtbaren, erwartungsvollen Lächeln belebt. Zugleich aber war darin der zähe Wille eines Menschen, der sich ein Ziel ausersehen hat und es unverwandt anblickt. Wie hatte sie ihn je für plump halten können? Er war breit und stark, aber nervig und von männlicher Geschmeidigkeit.

Juana wandte den Blick ab, ihr Gesicht verschattete sich. Sie wehrte sich gegen diesen neuen Eindruck, gegen dieses auf rätselhafte Art sich wandelnde Gefühl. Der Mann da neben ihr war Maximine Oronta, der Conquistador, der Plebejer, der Feind ihres Landes. Dennoch mußte sie an die kleine Begebenheit von vorhin denken, eine Straßenszene von geringfügiger Alltäglichkeit – und trotzdem in der Erinnerung wunderlich bedeutsam. Manuels Pferd hatte im Gedränge vor den Zugängen zu einem Markt ein altes taubes Indioweib gestreift, und die Alte war zu Boden getaumelt. Aber sie war, unerwartet gelenkig, sogleich wieder auf den Beinen und fing die Münze, die Manuel ihr mit einem freundlichen Zuruf hinwarf, mit der Geschicklichkeit langjähriger Übung auf. Dann drängte sie sich plötzlich dicht heran, ihre gespenstisch dürre Knochenhand griff in den Zügel, ihre schwarzen Augen flammten, sie schlug ein Kreuz. Was war es, das sie krächzte? Kein Fluch für den hohen Herrn, von dessen Pferd sie zu Boden gestoßen worden war; ein glühendes Gebet zur Heiligen Jungfrau um Glück und Segen für Señor Oronta, den großen General.

Als sie weitergeritten waren, hatte Manuel sich mit einem Lächeln zur Seite gewandt und gesagt:

»Sie müssen nämlich wissen, Baronesa: das eingeborene Volk von Esperanza sieht in mir eine Art von Heilsbringer. Es glaubt, daß ich Wunder wirken kann. Was wäre das wohl für ein Wunder? Kostenloser Ausschank von Maisbier, kostenloser Zutritt zu Kinos und Stiergefechten, satt zu essen und die Möglichkeit, die Arbeit beruhigt und endgültig auf das ›mañana‹ zu verschieben. Ein ergreifend bescheidener Traum, nicht wahr?« Dann hatte er, ernst geworden, hinzugefügt: »Und doch ist es nur ein letzter armseliger Abglanz des Paradieses, das die hellhäutigen Eindringlinge einst den Bewohnern des Landes geraubt haben; ein Paradies mit furchtbaren und freigebigen Göttern, mit dem ungebrochenen Walten der Natur und dem Glanz unermeßlicher Schätze. Die Götter sind tot, die Natur ist zerstört und unterdrückt, die Schätze sind verschleppt. Aus dem freien Volk sind Sklaven geworden, und die fremden Herren wissen mit der geraubten Macht nichts mehr anzufangen.«

Juana, im Nachsinnen über diese Worte, sah ihn nicht an; das vermehrte die überraschende Plötzlichkeit ihrer Frage:

»Woher stammen Sie eigentlich, Oronta?«

»Habe ich Ihnen das nicht erzählt?« Er lächelte. »Ach so, nein, das waren nicht Sie, das war der deutsche Professor, der aus dem dicksten Urwald jenseits der Berge kam. Mein Vater war ein spanischer Lehrer, der nach Chile eingewandert war. Meine Mutter stammte aus Deutschland, sie hatte als Erzieherin in Madrid gelebt. Sie wollten etwas Ordentliches aus mir machen, der Vater mit Strenge, die Mutter mit Güte, wie das so ist. Aber ich bin ihnen schon früh entlaufen, und ich habe in diesen Wochen oft daran denken müssen, ob das gut oder schlimm für mich gewesen ist. Wir werden ja sehen.«

»Gut oder schlimm für Nebrador, meinen Sie wohl.« Es klang feindseliger, als sie beabsichtigt hatte, und ihr schönes Gesicht sah sehr hochmütig aus.

»Vielleicht auch das.« Er nickte nachdenklich. »Wir sind wohl sehr weit voneinander entfernt, Baronesa, der Herkunft nach und in unseren Anschauungen. Glauben Sie nicht, daß ich das nicht spüre. Sie mißtrauen mir und meinen Absichten. Vielleicht sehen Sie in mir sogar einen Feind. Ich könnte mich fragen – und habe mich auch gefragt –, warum Sie sich überhaupt mit mir beschäftigen. Aus Sorge um Ihr Land, nicht wahr? Sie brauchen mir gar nicht zu antworten. Ihre Bemerkung hat es mir erst eben wieder verraten. Sehen Sie, und ich meine immer, es müßte eine Brücke zwischen unseren Anschauungen geben.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte sie schroff und wendete ihr Pferd zum Heimritt.

Er folgte ihr. »Für mich wäre das sehr schmerzlich«, sagte er.

»Wirklich?« Es sollte ironisch klingen, aber sie spürten beide, daß es ein wenig unsicher klang.

Juana dachte: Ist das Oronta, der da spricht? Kann sich ein Mensch so verstellen – und wenn es nicht Verstellung ist: Kann sich ein Mensch so verändern? Vor wenigen Tagen noch war es ein anderer. Welcher ist der wirkliche, der echte Oronta?

Manuel dachte: Einmal, und wenn es auch nur für eine Stunde wäre, nicht allein sein müssen vor der Entscheidung. Einmal sich aussprechen können, ohne die Furcht, verraten oder mißverstanden oder verlacht zu werden. Einmal ein Wort des Verständnisses, des Mitfühlens, der Bestätigung hören, und wenn es wie ein Funken aus felsharter Gegnerschaft herausgeschlagen werden müßte. Dann wäre alles leichter.

»Wollen Sie heute abend mit mir essen, Baronesa?« Es war gesagt, noch bevor er das Wagnis der Frage recht überlegt hatte.

Sie wandte sich, sah ihn einen Augenblick prüfend an, nickte.

»Ja«.

»Und – Señora Mastado?«

Nun mußte sie lachen. Es hatte vorsichtig und etwas besorgt geklungen.

»Da können Sie beruhigt sein. Wir haben uns heute mittag ein bißchen zerkracht, weil – weil manches nicht so geht, wie es nach ihrer Meinung gehen sollte. Nun liegt die Arme mit Migräne im Bett und ist böse. Vor morgen früh steht sie nicht mehr auf.«

»Hoffentlich. Ich meine: hoffentlich steht sie morgen früh wieder auf.«

Gemeinsames Lachen schafft zuweilen eine ebenso starke Verbundenheit wie gemeinsame Trauer.

 

In der Avenida Pedro Jimenez stießen sie auf den Demonstrationszug. Es war eine vorzüglich organisierte und glaubwürdig wirkende Angelegenheit. Sogar die Aufschriften der Schilder, die dem Zuge vorangetragen wurden, waren von einer umsichtig arbeitenden Propagandazentrale vorbereitet. Sie verlangten »Arbeit und Brot«, »Eine starke Regierung für Nebrador«, »Taten, nicht Worte«, ein »Recht auf Leben für Alle«, »Kredit und Arbeitsbeschaffung«, »Zeitgemäße Wirtschaftsführung«, »Stabile Währung und feste Preise«, ein »Heraus aus der Isolierung« – lauter allgemeine Dinge also, die sich entweder von selbst verstanden, oder unter denen sich das einfache Volk nichts vorstellen konnte. Verfängliche Formeln waren sorgfältig vermieden. Die Menge, die hinter diesen Schildern marschierte, war vielfältig zusammengesetzt. Man fand in Esperanza Leute genug, die gegen entsprechende Bezahlung eine begeistert johlende Anhäufung von Trinkgeldhungrigen, Neugierigen und Unzufriedenen auf die Beine bringen konnten. Der Rest lief ganz von selber zusammen – Schaulustige, Tagediebe, Mißvergnügte, hoffnungsfreudiger Mob aller Hautfarben aus den Hafengassen, dazu eine Menge von Richtungs- und Ratlosen, die das dumpfe Verlangen nach einem Ziel, einem leitenden Gedanken, einer aufwärtsweisenden Zukunft trieb. Die wenigen bisher vorhandenen Gewerkschaften hatten ihre Mitglieder eiligst zusammengetrommelt, um auch dabei zu sein und sich die ›Initiative‹ nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Die Polizei fand an der Sache nichts zu bemängeln und beschränkte sich darauf, den Zug mit sichtlichem Wohlwollen zu geleiten, allzu laute Schreier gutmütig zur Ruhe zu ermahnen und Eigentumsverletzungen nach Möglichkeit zu verhindern. Daß hier und da private Händel ausgefochten wurden, trug nur zur Belebung des Bildes bei. Für ein Überkochen der Volksseele war es noch zu früh am Tage und zu heiß, und bis zum Abend würde sich die Menge in ihre Bestandteile aufgelöst haben. Dauerbetätigung lag nicht im Wesen der Bewohner von Esperanza. Daß das Militär im Zuge fehlte, weil es in den Kasernen gehalten wurde, fiel niemandem auf; ebensowenig wie kaum einer ahnte, daß er, bezahlt oder unbezahlt, im Vorspiel zu einer Haupt- und Staatsaktion mitwirkte.

Manuel wurde erkannt und jubelnd begrüßt. Die Polizei richtete mit zuvorkommender Höflichkeit für ihn, seine Begleiterin und die beiden Burschen an der Mündung einer Seitenstraße einen abgesperrten Standplatz ein, und er tat, was der Augenblick vom General Oronta forderte: Er lächelte, winkte und dankte grüßend für die Zurufe. Juana beobachtete den Vorgang mit einem Gemisch von Überraschung, Neugier und Abneigung. Sie bekam, eigentlich zum erstenmal, einen unmittelbaren Begriff davon, daß hier geschickt gelenkte Kräfte am Werke waren, über die San Isidro mit seiner unentschlossen hinhaltenden Vermittlungstaktik keine Macht mehr besaß.

Und dann ereignete sich, als der Zug am »Grand Hotel Esperanza« vorüberkam, die Begebenheit mit den Sprengkörpern. Es knallte zweimal beträchtlich, blauer Qualm stieg auf, ein paar Fensterscheiben gingen in Trümmer. Der Menge »bemächtigte sich sogleich eine Panik«, wie die Presse in solchen Fällen schreibt; es gab ein wildes Gedränge und eine kopflose Flucht, einigen berittenen Polizisten gingen die Gäule durch, und Ärzte und Krankenhäuser hatten allerlei Leute zu behandeln, die in dem Durcheinander mehr oder weniger schwer verletzt worden waren. Die Regie hatte insofern nicht ganz geklappt, als der Anschlag dem Hotel gegolten hatte, in dem General Oronta wohnte, und der General nicht anwesend war. Dennoch ergab sich die beabsichtigte Wirkung. Der Polizeipräsident wußte sogleich nach, wenn nicht schon vor dem Attentat, daß es sich um ein paar harmlose Feuerwerkskörper gehandelt hatte. Aber das behielt er für sich. Er erließ unverweilt eine ungewöhnlich scharfe Kundmachung, die von einem »ruchlosen Anschlag gegen die Mächte der Ordnung« und von »verwundeten Patrioten« sprach und allen Ruhestörern schwerste Strafen androhte. Sodann wurde von der »im Gange befindlichen Untersuchung« geredet. Das Tragen von Waffen jeder Art wurde für Zivilpersonen verboten. Die ganze Polizei war auf den Beinen.

Als Manuel vor dem Hotel ankam, waren vor allen Eingängen bereits Schutzleute aufgestellt, die sämtlichen Ein- und Ausgehenden mit strenger Miene die Ausweise abverlangten. Es machte ihnen sichtlich Spaß, daß dadurch erhebliche Verwirrung und Verärgerung entstand. Man verzeichnete mit Genugtuung, daß der General Oronta lächelte – »kaltblütig und tapfer«, wie am anderen Tage im ›Pueblo‹ zu lesen stand. Niemand ahnte, daß der Mann, der so lächelte, Manuel hieß, und daß er auf Grund seiner besonderen Kenntnisse gute Ursache zum Lächeln hatte.

Der Leitartikler des ›Trabajador‹ war an diesem Abend besonders schlechter Laune, da er nichts wußte und wenig zu sagen wagte. Der Leitartikler des ›Pueblo‹ dagegen setzte sich strahlend an seinen Schreibtisch wie an eine reichgedeckte Tafel. Nun konnte er wieder einmal zeigen, was er wert war. Und es war ihm in jeder Hinsicht sehr wichtig, daß man das wußte.

 

»Mokka? Liköre?« fragte der Oberkellner, während er das Abräumen des Nachtisches überwacht, seine Hilfsgeister mit befehlshaberischer Geste zum geordneten Abzug veranlaßt und eigenhändig den letzten Sekt in die Gläser gegossen hatte. Dann reichte er mit eleganter Bewegung Feuer für die Zigaretten. Es waren das Auszeichnungen, die nur Gästen von hohem Stand und hoher Gebefreudigkeit zuteil wurden.

Juana und Manuel hatten während des Essens nur wenig gesprochen. Die Loge oberhalb des Speisesaales, in der sie saßen, war zwar gegen Blicke von unten her durch einen silbernen Schleiervorhang geschützt, so daß sie den Saal übersehen konnten, ohne selbst beobachtet zu werden. Aber die Musik, das Hin und Her der Kellner – und mehr noch die verwirrende Spannung zwischen ihnen hatten kein rechtes Gespräch aufkommen lassen. Nun waren sie beide unzufrieden und enttäuscht.

Juana fühlte Manuels Blick, fühlte ihn wie eine heiße körperliche Berührung. Aber es war nicht der Blick des Oronta von einst, das unverhüllte, räuberische Begehren, das sie mit aller Kraft ihres überlegenen Selbstbewußtseins zu Boden zwingen mußte. Es war ein Suchen darin, ein Werben, eine Glut, die man nicht nur mit den Sinnen spürte – die das Blut zu schnellerem Gang trieb, die verwirrte und unsicher zu machen drohte. Es war das Gesicht des Oronta von einst, ja – und doch war es, als blicke durch dieses Gesicht ein anderer sie an, ein Gewandelter, ein sehnsüchtig Bittender. Was war mit ihm vorgegangen? Ich muß ihn ergründen, dachte sie. Ich will ihn ergründen. Zugleich dachte sie: Um ihn zu verraten, wie es der Auftrag verlangt? Aber sie schob den Gedanken sogleich wieder hinweg. Erst mußte das Rätsel dieses Menschen gelöst werden.

»Ich denke, wir nehmen den Mokka in meinem Salon«, sagte sie. »Hier ist es mir zu laut.«

In Manuels Augen glommen Überraschung und Freude auf. Er nickte stumm. Er hätte in diesem Augenblick kein Wort sprechen können.

Das Gesicht des Oberkellners war eine mimische Meisterstudie vollkommener Ausdruckslosigkeit.

 

Der Zimmerkellner ließ den Kaffee in der gläsernen Zubereitungsmaschine brodeln und rückte die Likörflaschen zurecht. Dann entfernte er sich auf Juanas Wink.

Manuel sah sich in dem kleinen Salon um. Hier war alles in lichten, hellgetönten Farben gehalten: die Teppiche und Matten, die Seidentapete, die leichten, mit geblümtem Kretonne bezogenen Möbel, die Lampenschirme. Es leuchtete festlich und kühl. Auf einem Tischchen in der Ecke duftete ein kostbarer Strauß: Manuels Blumen.

Juana füllte die Tassen und die flachen Kristallschalen. Manuels Augen folgten den sicheren Bewegungen der schlanken, lichtbraunen Hände. Sie trug jetzt über dem Abendkleid ein dünnes, weißes, seidig glänzendes Gewebe, das Manuel kaum zu berühren gewagt hätte. Der Lautsprecher, zu hauchzartem Ton gedämpft, spann eine wiegende und schwebende Tanzmelodie durch den Raum. Mr. Eastham verstand die Kunst, für erlesene Gäste Zimmer voll erlesener Stimmung zu schaffen. Auf Juanas schwarzem Haar glänzte der Widerschein der seidenumkleideten Ampel.

»Glauben Sie eigentlich, Oronta, daß ich die Straßenkomödie von heute nachmittag nicht durchschaut habe?« Es klang spöttisch, es war ganz offenbar ein Angriff.

»Sie meinen den Demonstrationszug, Baronesa, und die Knallerei?« Manuel zuckte die Achseln. »Das ist die Art, wie man in Esperanza Aktionen vorbereitet.«

»Widerlich«, sagte sie verächtlich. »Und Sie dulden das? Sie veranlassen es wohl gar?«

»Ich benutze es«, antwortete Manuel.

»Wozu? Um das Volk zu betrügen und sich an die Macht zu bringen?«

»Um mich an die Macht zu bringen – ja; um das Volk zu betrügen, nein – wenn es nach meinem Willen geht.«

»Was soll denn daran nicht nach Ihrem Willen gehen?« fragte sie heftig. »Ist denn das alles nicht Ihr Wille und sogar Ihr Werk – die geheimen militärischen Vorbereitungen, die Verhetzung des Volkes, das unablässige Schüren einer Empörung, der Spektakel im ›Pueblo‹, die Straßentumulte, das Spiel an der Börse, die Verhandlungen mit den ausländischen Ausbeutern, die ›Kredit‹ sagen und ›Profit‹ meinen? Dient das alles etwa nicht dem Zweck, Ihnen die Macht und Ihren Hintermännern das Geschäft in die Hände zu spielen? Können Sie das mit schönen Worten aus der Welt weglügen?«

Er sah sie an, überrascht, ja erschreckt durch die Leidenschaftlichkeit des Angriffs. Zugleich fühlte er ein dumpfes Staunen darüber, daß sie als Frau eine so lückenlose Kenntnis der Vorgänge und Zusammenhänge hatte. Es dauerte geraume Zeit, bis er antwortete.

»Ich sehe nun wirklich ganz klar, weshalb Sie mir so viel Zeit und Aufmerksamkeit widmen«, sagte er schließlich. »Eigentlich dürfte ich nicht mehr daran zweifeln. Sie haben mich von jeher gehaßt und bekämpft.«

»Ja«, antwortete sie hart. »Ich habe Sie gehaßt –, und ich habe Sie auch bekämpft. Um meines Vaterlandes willen.«

Er nickte und streifte nachdenklich die Asche von seiner Zigarette. »Sie sind ehrlich, Baronesa, und Sie sollen eine ehrliche Antwort haben. Noch vor wenigen Tagen hätte ich sie Ihnen nicht geben können. Ich bin nicht so belesen, so gut erzogen und aus so guter Familie wie Sie. Ich bin nicht einmal in diesem Lande geboren, und ich kann ihm also auch nicht den schönen Namen geben wie Sie: Vaterland. Es war bisher mein Schicksal, ein Mann ohne Vaterland zu sein. Ich bin hierhergekommen als ein Fremder, aber mein Blut, Baronesa, ist dem Ihrigen verwandt, und ich habe hier einen schärferen, unbefangeneren Blick gewonnen, als Sie ihn haben können – und dazu den Willen zum Lernen und zum Helfen. Ich sehe klarer, was diesem Lande fehlt, was es fordern und was aus ihm gemacht werden kann. Ich habe deshalb hier gelernt, eine Verantwortung zu fühlen und den Entschluß zu fassen, sie zu tragen – wenn es mir vergönnt ist.«

»Und das alles in wenigen Tagen?« fragte sie mit angreiferischem Spott. »Welch eine Wandlung! Denn früher – –«

»In wenigen Tagen«, unterbrach er sie ruhig. »Und eine Wandlung, ja. Durch eine Kette von Fügungen, deren Seltsamkeit Sie nicht einmal ahnen können.«

»Und nun soll ich Ihnen plötzlich glauben und vertrauen?« Sie wehrte sich mit zornigem Trotz. »Wie kann ich das, da ich doch die Mittel sehe, deren Sie sich bedienen?«

»Es sind die Mittel, deren man sich bedienen muß, wenn man in Nebrador zur Macht kommen will. Es gibt keine anderen. Gewalt, List, Korruption, landfremde Habgier, Willenlosigkeit, Trägheit, das alles sind die Kräfte, die sich der Mann dienstbar machen muß, der sich in Nebrador in den Sattel schwingen will. Erst dann kann er die guten Kräfte freimachen und wirken lassen, die unerschlossen im Lande schlummern.« Er reckte sich, sein Blick ging in die Ferne, die Worte strömten wie durch Eingebung aus ihm hervor. »Es ist eine gewaltige Arbeit, und der Mann, der sie leisten will, muß alles wollen und alles wagen, am Anfang ganz allein im Kampf gegen Widerstand, Verderbtheit und Faulheit. Sie haben mir die Mittel vorgeworfen, deren ich mich bediene. Aber kennen Sie auch mein Ziel? Ich kann Ihnen keinen Vorwurf daraus machen, daß Sie es nicht kennen. Schließlich ist es mir selbst erst in den letzten Tagen ganz klargeworden, und ich habe alle Ursache, den Leuten dankbar zu sein, die mir in guter oder in böser Absicht den Blick dafür geöffnet haben.«

Sie sah ihn forschend, ungläubig staunend an. »Sie haben zwei Naturen, Oronta. Welche ist die wahre?«

»Soll ich Ihnen mit der alten Binsenwahrheit antworten, daß jeder Mensch zwei Naturen hat, und daß über ihn und seinen Wert nur entscheidet, welche von den beiden siegt? Sie wissen, daß ich als Abenteurer begonnen habe. Es gibt zwei Orontas; helfen Sie mir, daß von den beiden der siegt, der Nebrador retten kann.«

Sie schwieg, tief betroffen.

»Sie sprechen vom Volk Nebradors«, fing er nach einer Weile wieder an. »Welches Volk meinen Sie? Es gibt drei. Da ist die Einwohnerschaft der Küste, die Faulen, die Verarmten, die Verlotterten, der Hafenpöbel, die Mischlinge, die Glücksspieler aus allen Ländern, die zugewanderten Kaufleute und Geldverdiener, die Unternehmer und Sklavenhalter. Das alles untermischt mit einem unbekannten Hundertsatz wertvoller Kräfte, die sich nicht geltend machen können oder es noch nicht zu wollen gelernt haben. Da sind die Indianer, die längst kein Volk mehr sind und nie wieder eines werden können. Da sind endlich die Spanier droben in den Bergen, in Ihrer eigentlichen Heimat, Baronesa. Sie wohnen so fern, diese eigentlichen Eroberer und weltentrückten Herren, als hausten sie auf einem anderen Planeten. Sie regieren korrekt, sauber, voll bester Absicht, aber lebensfremd an der Wirklichkeit vorbei. Der Geist Simon Bolivars ist nicht mehr lebendig. Spüren Sie denn das nicht?«

»Dann helfen Sie ihnen doch, verbünden Sie sich doch mit ihnen!« rief sie heftig.

Er schüttelte den Kopf. »San Isidro hat eine gefährliche Einschmelzungskraft. Ich kann mich nicht einem unlebendigen Teil verschreiben, wenn ich dem lebendigen Ganzen dienen will.« Er stand auf, ging mit erregten Schritten auf und ab. »Man erkennt dort oben doch die Krise. Was hat man getan? Man hat den General Oronta nach Esperanza gesetzt, damit er an der Küste den Tierbändiger spielt. Man verhandelt, paktiert, verzögert, wartet und redet und läßt darüber das Land vor die Hunde gehen. Natürlich weiß man genau, was ich plane, und wie ich es machen will; man bespitzelt mich so gründlich, daß es ja wohl mit dem Teufel zugehen müßte, wenn man es nicht herausgekriegt hätte. Was tut man? Nichts. Man redet, beschwört und berät. Jetzt ist den Herren ein paar Tage lang das Guckfenster, durch das sie hereingeäugt haben, vor der Nase zugeschlagen worden – und schon lassen sie den General Oronta einen guten Mann sein und atmen auf, weil sie glauben, die Schlidderei geht nach bewährtem Muster weiter. Bloß weil sie nichts mehr sehen. Das ist Nebrador, Baronesa. Durch eine übermenschliche Anstrengung könnte daraus vielleicht ein freies, reiches, ein schaffendes, in der Welt etwas geltendes Land gemacht werden. Befreien Sie sich von dem Gedanken, daß hier nach der Überlieferung gehandelt werden muß. Das Land muß die lebendige Wirklichkeit an die Stelle der absterbenden Überlieferung setzen. So sehe ich meine Aufgabe. Harte Rücksichtslosigkeit gehört dazu, und Klugheit, Zielbewußtsein und Verschlagenheit, Humor und eine leichte Hand für eine schwere Aufgabe. Und freilich auch Glück. Mehr Glück, als Sie wissen können. Gewagt muß es werden, obwohl – nein, gerade weil es unmöglich scheint.«

Sie blickte starr vor sich nieder; ihr Gesicht zuckte vor Erregung, an ihren Schläfen klopften die Adern. »Ein Hasardspiel«, sagte sie.

Er blieb stehen. »Ein Hasardspiel, gewiß. Weiß der Himmel. Ein Spiel, das ich ganz allein spielen muß, von dem nicht einmal meine engste Umgebung etwas wissen darf. Sie würde sich sonst gegen mich wenden. Für mich beginnt die Gefahr erst, wenn sie überwunden scheint. Die Regierung wird unterliegen, das ist sicher. Scheitere ich, so bin ich der Verlierer, ich ganz allein. Denn das Land würde dann nur das Schicksal erleiden, das ihm die Untätigkeit San Isidros ohnehin bereitet hätte: Es würde unter die Herrschaft von Leuten kommen, die sich zu Statthaltern und Handlangern fremder Ausbeuter machen. Dieses Ende kann San Isidro nur verzögern, aber nicht verhindern. Nur bewußtes Schweigen, entschlossenes Handeln, ein kühner Gewaltstreich können es abwenden. Jedes andere Mittel würde hierzulande versagen, jeder andere Versuch verhindert, durchkreuzt, erstickt. Kann ich mehr tun, als mich bei diesem Spiel selbst in den Einsatz werfen?«

Nun erhob sie die Augen zu ihm, und langsam glomm in der dunklen Tiefe ein Funke auf, der sprühend wuchs und Flamme verhieß.

Manuel stand mitten im Zimmer, breit, stark und fest, die geballten Fäuste nach seiner Gewohnheit in die Taschen gestemmt. Sein braunes Gesicht leuchtete, der eckige dunkle Bart stieß kühn und kämpferisch vor. Juana mußte an ihre Freunde in San Isidro denken: Das waren Herren, klug, redlich, ein wenig überzüchtet, aus langsam müde werdendem Blut, dessen Leidenschaftlichkeit durch Zweifel und Bedenken gehemmt war. Hier stand ein Mann.

Manuel dachte: Wenn ich jetzt sagen könnte, wer ich in Wahrheit bin – – Aber ich muß schweigen. Sie würde in mir nur noch den anmaßenden Abenteurer sehen, der vor ein paar Tagen – wieviele sind es? – noch ein Landstreicher war. Sie darf die Wahrheit erst erfahren, wenn das Schicksal über mich entschieden hat. Das Spitzengewebe war von ihren Schultern geglitten. Er mußte den Blick von ihr losreißen, da sein Blut ihm die Augen verdunkelte. Mit zwei Schritten war er an der Tür und drückte auf den Klingelknopf. Der Zimmerkellner erschien so rasch, als ob er auf das Zeichen gewartet hätte.

»Bringen Sie Sekt«, befahl Manuel. »Und wenn ich Ihnen einen persönlichen Rat geben darf, so halten Sie sich nicht in der Nähe dieser Tür auf. Ich habe die unangenehme Gewohnheit, bei Mißverständnissen zuweilen etwas voreilig zu handeln.«

Der Kellner entfernte sich stumm und eilig; kam wieder und verschwand, so rasch es die Ausübung seines Amtes zuließ.

»Doppeltüren«, sagte Manuel lächelnd und hob das Glas, »sind eine praktische und vorsorgliche Erfindung.«

Juana stellte ihr Glas klirrend auf den Tisch. »Ihre Pläne, Oronta.« Es klang heiser vor Erregung. »Ich will Ihre Pläne wissen.« Diesmal kam ihr keinen Augenblick der Gedanke an die Rolle, die sie bisher gespielt hatte.

Manuel griff in die Brusttasche und holte seine Aufzeichnungen hervor; er schob die Gläser weg und breitete die Karten auf dem Tisch aus.

»Hier«, sagte er. »Sie sollen alles wissen. Gerade Sie. Denn Sie werden schärfer urteilen als jeder andere. Darum will ich Ihr Urteil und Ihren Rat hören.«

Juana beugte sich vor, sie glühte. Das Geheimnis, um dessen Enthüllung sie viele Wochen vergeblich gekämpft hatte, tat sich vor ihr auf. Ihre Blicke folgten der Hand Orontas, die mit raschen, weisenden Bewegungen über die Karte glitt. Sie vernahm Zahlen, Daten, Namen; seine knappen Worte enthüllten vor ihr das Bild der Aktion. Sie kannte jeden Ort, der genannt wurde, jede Straße, jeden Flußlauf, Berge und Täler, Bahnen und Brücken. Sie erkannte, daß die Truppen der Regierung von Anfang an in einer hoffnungslosen Lage waren. Sie staunte über die präzise Vollkommenheit dieser Vorbereitungen. Alles schien bis ins Letzte durchdacht und erwogen.

»Es kommen dann«, sagte Manuel, »die Aufzeichnungen über die sofortige politische Aktion und die Pläne für später. Als Dorrego alle diese Papiere als endgültig beschlossen erhielt, war in ihnen auch der Wille des Generals Oronta enthalten. Davon müssen Sie ausgehen, wenn Sie mich verstehen wollen. Für alle Beteiligten gelten diese Pläne noch heute – bis zur vollendeten Durchführung der militärischen Maßnahmen. Für mich selbst aber gelten sie von da ab nicht mehr. Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, daß nur ein anderer, ein entgegengesetzter Kurs das Land retten kann; und ich bin entschlossen, diesen Kurs zu steuern. Ich ganz allein: denn wenn man meine Absichten erkennt, wird man mich bekämpfen, mich vielleicht gar zu beseitigen versuchen. Bevor ich die Arbeit für das Land beginne, bevor ich die Nachfolge des Präsidenten Dominguez antrete, muß ich die Kräfte, deren ich mich bisher bediente, niederwerfen, fesseln, umwandeln oder mitreißen. Es ist vielleicht eine Aufgabe, die über die Kraft eines einzelnen Menschen geht. Aber ich habe den einen großen Vorteil für mich, daß diese Pläne« – er schlug mit der Hand auf die Blätter – »der Öffentlichkeit ebenso unbekannt sind wie meine wirklichen Absichten, die nicht einmal meine nächste Umgebung kennt. Niemand kennt sie – außer Ihnen, Baronesa. Verstehen Sie nun, daß ich schweigen mußte – und glauben Sie mir?«

»Warum sollten Sie mich belügen – gerade mich?« fragte sie leise. »Wenn Sie mich belügen wollten, hätte ja Schweigen genügt. Ich glaube Ihnen.«

»So hören Sie!« Er atmete tief und begann zu sprechen. In dieser Stunde wuchs Manuel ganz über sich selbst hinaus. Was er gehört, erfahren, gelesen, gedacht, beschlossen hatte, formte sich mit geheimnisvoller Macht zu klar gegliedertem und fest gefügtem Bau. Gegenwärtiges wurde deutlich, Künftiges gewann Gestalt. Kräfte der Erkenntnis und der Phantasie, die, ihm selbst unbewußt, in ihm geschlummert hatten, wurden wach und stark. Er wurde zum Dichter einer neuen Wirklichkeit. Man mag es ein Wunder nennen; aber ist nicht jede Entwicklung ein Wunder? – und wer vermag die Kraft zu ahnen, die sich aus ihr entfaltet? Das Schicksal entscheidet darüber, ob diese Kraft ein Ziel erreicht, ob sie unterwegs erlahmt, ob sie versinkt. Wir haben Manuels sonderbares und überaus eiliges Schicksal durch die Tage seines Wirkens miterlebt und wissen, daß nur ein zweites Wunder ihn über die Kluft zwischen Plan und Ziel hinwegtragen kann. Vernehmen wir weiter, wie es für ihn und in Nebrador mit diesem Wunder beschlossen und bestellt war.

»Ich weiß«, schloß Manuel, »daß ein langer, mühevoller und gefährlicher Weg vor mir liegt. Ich werde, wenn ich überhaupt die Führung gewinne, kämpfen, unendliche Schwierigkeiten überwinden, oft umkehren und Umwege gehen müssen. Aber Sie wissen nun, was ich will. Das Land wird Erschütterungen erleiden und Gefahren durchmachen und sie mit eigener moralischer, politischer und wirtschaftlicher Kraft überwinden müssen. Sein Kredit muß seine eigene Schöpfung sein; unter fremder Geistes- und Wirtschaftsherrschaft würde es verkümmern. Wenn ich sagte, daß ich ganz allein stehe, so muß ich das einschränken. Auf diesen Blättern« – er ließ sie durch die Finger gleiten – »stehen die Namen vieler, die nach dem Willen Mr. Winemans und seiner Helfer ausgeschaltet, abgesetzt oder verhaftet werden sollten, weil sie eine eigene Meinung haben. Unter ihnen werde ich die Männer finden, die mir helfen wollen und können. Aber ich brauche den Rat eines Menschen, der das Land und alle Zusammenhänge genau kennt, der Erfahrung, Klugheit und politisches Gefühl besitzt, der denken kann und sauber, ehrlich und gerade ist. Sie kennen die Regierungsmitglieder, Baronesa. Ist ein solcher Mensch darunter?«

»Rocha«, antwortete sie sofort. »Dr. Rocha, der Innenminister. Er hat alle die Eigenschaften, die Sie nennen. Er ist aufrichtig und liebt sein Land. Er besitzt die Geschicklichkeit und den durchdringenden Verstand des alten Advokaten. Aber er hat wohl nicht die Entschlußkraft, aus eigenem Willen folgerichtig zu handeln. Er muß angekurbelt und durch einen stärkeren Willen geführt werden, dann wird er der beste Mitarbeiter sein, den man finden kann. Ich kenne ihn sehr genau. Wenn er nicht mitgerissen wird, resigniert er.«

»Gut«, sagte Manuel. »Also werde ich ihn mitreißen.«

Sie sah vor sich nieder. »Oronta,« sagte sie nach einem Schweigen, »ich hätte es nie für möglich gehalten, daß Sie mich überzeugen und gewinnen würden.«

»Dann danke ich Ihnen.«

»Sie danken mir –? Wofür?«

»Dafür, daß Sie sich überzeugen und gewinnen ließen.«

Sie hatte sich erhoben und trat vor ihn hin. Antlitz in Antlitz standen sie, Auge in Auge. Nichts war mehr zwischen der Baronesa und Manuel, dem Abenteurer, als eine winzige Spanne Raum, die von brennenden Wellen und Strömen erfüllt schien. Aber sie standen reglos in diesem brennenden Bann.

»Es ist ein ungeheures Wagnis, Oronta.«

»Das weiß ich. Ein falscher Schritt, eine noch so geringe unglückliche Fügung, und alles ist verloren. Was, meinen Sie, soll ich tun?«

»Losschlagen«, sagte sie atemlos. »Es ist ja alles vorbereitet. Einen ganzen Tag vor der Zeit losschlagen. Allen zuvorkommen, alle überrennen und verwirren, Gegner wie Anhänger. Sie vor Tatsachen stellen, so rasch, daß sie nicht folgen können. Dann haben Sie einen Vorsprung, der nicht mehr einzuholen ist.«

Er blinzelte, als hätte ein Blitz ihn geblendet. Der gleichsam noch gestaltlose Gedanke, der in den letzten Stunden immer wieder aufgetaucht war, nach dem zu greifen, den Klarheit und Entschluß werden zu lassen er noch nicht gewagt hatte, der erschreckende und lockende Gedanke – sie hatte ihn ausgesprochen. Nun war er Gestalt geworden, nun stand er im Raum, als Entscheidung, als Forderung, vor der es kein Ausweichen gab.

Manuel ging durch das Zimmer, hin und her, mit gefurchter Stirn, die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt, blicklos auf den Teppich starrend. Sie folgte ihm mit den Augen, in fiebernder Erwartung, stumm. Die Glasscheiben in den Schränken klirrten leise unter der Erschütterung seiner starken Schritte. Plötzlich blieb er stehen, tat einen tiefen Atemzug.

»Morgen früh um fünf, genau vierundzwanzig Stunden vor dem festgesetzten Zeitpunkt, beginnt die Aktion. Nach dem Plan wird die Gefechtsmunition heute Abend ausgeteilt; dann ist alles bereit. Um halb vier steht für mich ein Wagen am Rückausgang des Hotels. Ich fahre zur Nord-Kaserne und gebe den Startschuß. Sind die Dinge erst einmal im Rollen, läuft alles programmgemäß ab.«

»Und del Vecchio?« fragte sie. »Er wird mißtrauisch werden. Sie wissen – er ist sehr klug.«

»Umso besser für ihn«, antwortete Manuel. »Er wird Gelegenheit bekommen, sich genau zu überlegen, wofür er sich entscheiden will. Dafür wollen wir ihm genügend Zeit lassen. Die anderen Herren des Stabes bleiben auf ihren Posten.«

»Aber Sie brauchen Ersatz für del Vecchio – einen fähigen Offizier, der Ihnen unbedingt ergeben ist.«

»de Souza«, sagte Manuel. »Major de Souza. Ein tüchtiger Mann, den ich mir verpflichtet habe, und auf den ich mich völlig verlassen kann. Ich nehme ihn mit zur Nord-Kaserne und lasse, wenn dort alles klar ist, die anderen Offiziere mit Ausnahme del Vecchios holen. Vorher hat er hier noch einige Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Vielleicht lasse ich ihn überhaupt in Esperanza, zur Sicherheit. Er hat eine alte Rechnung abzumachen und wird hart zugreifen.« Er sah auf die Uhr; Es war halb zwölf. »Ich schicke sofort in seine Wohnung, lasse ihn holen und gebe ihm die nötigen Aufklärungen und Vollmachten.« Er trat auf sie zu, seine starken, heißen Hände lagen auf ihren nackten Schultern, sein Gesicht war ganz nah vor dem ihren. Sie ließ es geschehen, mit geschlossenen Augen. Ihre Lider zitterten. Es strömte von ihm zu ihr, von ihr zu ihm. Nie hatte sie sich so in der Gewalt eines Menschen, nie auch mit einem Menschen so völlig eins gefühlt. Immer war sie kühl geblieben, immer stolz und lächelnd überlegen. Nun gab sie sich dem jähen, dem übermächtigen Erlebnis hin. Der Kreis war geschlossen, der Strom des Blutes lief durch beide im gleichen Schlag.

»Ich komme wieder, wenn de Souza fort ist«, sagte Manuel.

Sie öffnete die Augen, zu einem großen Blick, der wie dunkles Feuer war. Er sah in eine Welt, die er nicht kannte, die er dumpf und schmerzhaft ersehnt hatte, die sich ihm nun erschloß. Erschüttert sah er, daß Juanas Gesicht allen Hochmut, alle Strenge verlor, fühlte er, daß er sie bezwungen hatte. Er, Manuel, der Namenlose, in der Stunde seines Schicksals. Aber sie war nur noch stolzer und stärker in ihrer Bezwungenheit.

»Ja«, sagte sie.

Seine Hände glitten von ihren Schultern herab, schlossen sich einen Augenblick mit hartem Griff um ihre Arme. So standen sie, aneinandergepreßt, ein paar Herzschläge lang: Aber es schien ihm eine Ewigkeit.

Dann wandte er sich und ging.

 

In der bescheidenen Etagenwohnung des Majors de Souza herrschte gute Laune. Man hatte sich ein kleines Fest gegönnt, mit dem Aufwand von zwei Flaschen Wein. Die sieben Kinder waren zu Bett gebracht und somit außerstande, das Fest des Elternpaares zu stören. Die Majorin hatte ihren sorgenvollen, abgehetzten Gesichtsausdruck mit einem glücklichen und fast jungen Lächeln vertauscht, der Major qualmte behaglich eine dicke schwarze Zigarre. Man war ja aller Sorgen ledig; die Schulden waren bezahlt, den neuen Gläubiger brauchte man nicht zu fürchten, und der Major hatte Aussicht, daß seine Fähigkeiten nun endlich nach Gebühr gewürdigt wurden. Er hatte einen richtigen, männlich redlichen Trinkspruch auf den General Oronta ausgebracht, sein grobes Gesicht war von Herzlichkeit und Wein gerötet. Nun wollte man sich schlafen legen, ohne gewisser bitterer Folgerungen zu gedenken, die sich bei sieben früheren Gelegenheiten aus solchen festlichen Abenden ergeben hatten.

In diesem Augenblick brachte die Ordonnanz den Brief. Kein Befehl, auf Antwort zu warten.

»Lieber Major de Souza,« stand in dem Brief, »ich bitte Sie, sich so rasch wie möglich in einer sehr dringenden dienstlichen Angelegenheit zu mir ins Hotel zu bemühen. Bitte achten Sie darauf, daß Ihr Besuch möglichst unauffällig bleibt. Oronta.«

Der Major gab seine anderweitigen Pläne sogleich und ohne unfreundliche Randbemerkungen auf. Sein General erinnerte sich an ihn, ja: er brauchte ihn, seine Hilfe, seine Mitarbeit, seinen Rat, vielleicht sogar seine Tatkraft; sein General bevorzugte ihn und wollte ihm Vertrauen schenken. Unauffällig sollte das geschehen. Er hatte ein Geheimnis mit seinem General. Das grobe Gesicht glühte noch mehr, denn nun kam noch der Stolz hinzu. Der Säbel klirrte kriegerisch, und tatbereite Entschlossenheit dröhnte in den Schritten, mit denen der Major die Treppe hinunterstapfte.

 

Major de Souza stand am Tisch, sehr dienstlich, die Hände um den Säbelgriff geschlossen, ein stämmiger Paladin, ehrlich, unerschütterlich und zuverlässig. Es war der bisher größte Tag seines schlichten Lebens. Er war in eine höhere Ebene versetzt, er war mit einem Ruck herausgehoben aus den Niederungen seines freudlosen Dienstes. Man hatte ihn den anderen, den Eleganten, den Erfolgreichen, den Hochmütigen vorgezogen. Er kannte nun alle Einzelheiten des Planes, er hatte Einblick in die geheimen Papiere bekommen, er wußte auch um die wahren politischen Ziele des Generals Oronta, seines Chefs und aufrichtigen Freundes, des künftigen Erretters des Landes Nebrador. Er stand da wie eine massive Verkörperung bedrohlicher Entschlossenheit. Für ihn und um ihn hatte sich alles gewandelt, aber ihn schwindelte nicht. Er war doch, caramba, ein Kerl. Wenn sein Chef in diesem Augenblick von ihm verlangt hätte, er solle eine Abteilung Soldaten nehmen und die Gegner der großen Sache erbarmungslos beseitigen – er hätte ohne Gnade und Wimperzucken erschreckende Verheerungen angerichtet. Denn er war ein einfaches Gemüt, und darum war für ihn jetzt alles ganz einfach.

»Wir wollen uns setzen, Major de Souza«, schloß Manuel. »Nehmen Sie eine Zigarre –? Bitte. Ich habe Ihnen nun wohl alles gesagt. Jetzt kommen wir zu Ihren besonderen Aufgaben. Ich kann mich unbedingt auf Sie verlassen?«

»Unbedingt, Exzellenz«, antwortete der Major ehern.

»Gut. Sie fahren um halb vier – veranlassen Sie bitte bei der Fahrbereitschaft die Bereitstellung des Wagens – mit mir zur Nord-Kaserne. Sobald wir uns überzeugt haben, daß dort alles klar ist, kehren Sie auf dem schnellsten Wege ins Hotel zurück. Hier ist eine schriftliche Order, die den Herren des Stabes den Befehl erteilt, sich zur Durchführung einer Felddienstübung sogleich in der Nord-Kaserne einzufinden. Allen Herren – mit Ausnahme des Oberstleutnants del Vecchio. Um fünf Uhr müssen sie zur Stelle sein. Es ist ja keine große Entfernung. Zwei Wagen der Fahrbereitschaft genügen. Gleichzeitig überreichen Sie dem General Dorrego diese schriftliche Order, die den Befehl enthält, die in seinem Befehlsbereich beschlossenen Maßnahmen bereits heute früh in vollem Umfange durchzuführen. Notfalls sorgen Sie für das erforderliche Tempo. Hier ist ein Ausweis, der Ihnen unumschränkte Vollmacht gibt. Wenn die Aktion erst im Rollen ist, wird sie ja durch ihr eigenes Gewicht alles mitreißen. Sie bleiben dann an der Seite des General Dorrego und bürgen mir dafür, daß alles in meinem Sinne geregelt wird. Notfalls machen Sie Dorrego darauf aufmerksam, daß Sie mein unbedingtes Vertrauen haben, er hingegen aus bestimmten Gründen nicht. Werden Sie rücksichtslos deutlich. Können Sie das?«

»Das kann ich, Exzellenz«, versicherte de Souza glaubwürdig. »Es steht ja auch alles in der Niederschrift.«

»Nicht alles«, sagte Manuel. »Aber das holen wir später nach. Zweierlei notieren Sie bitte noch zur Ergänzung: Die beiden hiesigen Zeitungen erscheinen einstweilen nicht, halten sich aber zum Druck von Sonderausgaben bereit. Die Wertpapier- und Devisenbörse wird bis auf weiteres geschlossen, jeder Handel mit Wertpapieren und Devisen, auch von Büro zu Büro, wird bei Strafe verboten. Die Banken dürfen keinerlei Aufträge annehmen. Sorgen Sie dafür, daß auch die Polizei und die Guardia Nacional ohne Schlamperei funktionieren.«

»Jawohl, Exzellenz. Nur – Verzeihung – was ist mit Herrn Oberstleutnant del Vecchio?«

Manuel lehnte sich zurück. »Der Adjutant,« sagte er, »ist ebenso stark politisch wie militärisch interessiert. Die anderen Herren sind lediglich Soldaten und sehen ihre Aufgabe nur auf diesem Gebiet. Bei ihm ist es etwas anderes. Ich habe – Sie kennen ja die Zustände in Nebrador – meine wirklichen politischen Absichten verborgen, ich habe sogar andere vortäuschen müssen. Ein Risiko kann ich mir nicht leisten. Es besteht die Möglichkeit, daß del Vecchio mich beargwöhnt, und es ist sogar wahrscheinlich, daß er sich gegen mich wendet, wenn ich nach Abschluß der militärischen Aktion das Steuer herumlege. Also muß ich mich sichern, bis ich vollendete Tatsachen geschaffen und eine neue Regierung gebildet habe. Oberstleutnant del Vecchio hat bis dahin Zimmerarrest. Sie bürgen mir dafür, daß er seine Räume nicht verläßt und auf keine Weise, weder mündlich noch schriftlich noch telefonisch, mit der Außenwelt in Verbindung tritt. Sie bürgen mir aber auch dafür, daß er ranggemäß behandelt und versorgt wird. Später wird er Gelegenheit erhalten, sich zu entscheiden. Auf persönliche Gespräche mit ihm lassen Sie sich nicht ein. Seine Schußwaffen nehmen Sie ihm ab. Wenn er laut wird, sorgen Sie für Ruhe.«

»Wird gemacht, Exzellenz,« versetzte der Major mit sichtlichem Behagen. Seine Menschenliebe erstreckte sich offenbar nicht auf den Adjutanten.

»Und nun, lieber Major,« sagte Manuel, »kommt der schwierigste Punkt. Der eigentliche Grund, weshalb ich vor der Zeit losschlage, liegt darin, daß ich Kenntnis von einer Verschwörung erhalten habe. Es ist eine tolle Sache; aber Sie wissen ja: Nebrador.«

Der Major richtete sich im Stuhl auf, seine Augen funkelten. Das war etwas für ihn.

»Ich habe Kenntnis davon erhalten,« fuhr Manuel fort, »daß eine Gruppe kapitalistischer Interessenten, deren Mißtrauen ich trotz aller Vorsicht erregt habe, mich zu beseitigen plant. Offenbar habe ich mich irgendwie verraten. Da der General Oronta volkstümlich und im Augenblick noch unersetzlich ist, hält man einen Strohmann, einen Doppelgänger, einen Ersatz-Oronta bereit. Ihn will man vorschieben, bis man damit rechnen kann, alle Macht im Staate zu haben.«

»Hölle, Tod und Teufel«, sagte der Major ehrfürchtig.

»Sie werden verstehen, daß ich mit diesen Leuten erst dann reinen Tisch machen kann, wenn ich selbst die Macht besitze. Der Strohmann, ein ausländischer Abenteurer, sitzt aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Unternehmen Mr. Johnsons gegenüber dem Hotel. Ich habe Ihnen den Termitenbau hier so ungefähr aufgezeichnet. Sie werden, sobald del Vecchio ausgeschaltet ist, das Gebäude, alle Seitengassen, Hinterhöfe und rückwärtigen Ausgänge besetzen und sich des Mannes versichern. Natürlich wird er toben und behaupten, Oronta zu sein.«

»Natürlich«, nickte der Major mit menschenfresserischem Humor.

»Schön. Sie halten ihn, wenn Sie ihn im Gebäude finden, oder wenn er sonstwo in der Stadt auftaucht, in schärfstem Gewahrsam. Es muß mit allen – hören Sie: mit allen – Mitteln verhindert werden, daß er in Freiheit kommt. Natürlich darf das Volk ihn nicht zu sehen bekommen. Für die Durchführung der Aufgabe suchen Sie sich unbedingt sichere Leute aus, die Sie natürlich aufklären müssen.«

Das Lächeln, das Major de Souzas Antlitz in die Breite zog, hatte keine Ähnlichkeit mit der Sonne – wenn man nicht etwa an die Mitternachtssonne dachte. »Exzellenz können sich auch darin völlig auf mich verlassen,« sagte er, »Caramba, das ist ein tolles Stück. Da ist der schlitzäugige Satan wohl mit im Komplott?«

»Zweifellos.«

»Bueno. Dann kann er sich gleich nützlich machen, indem er dem Herrn den Bart abnimmt.«

»Vortrefflich«, lachte Manuel. Er stand auf. »Geben Sie mir die Hand, Major. Ich bin glücklich, in Ihnen den Mann gefunden zu haben, dem ich Vertrauen schenken konnte, der mich versteht, und auf den ich felsenfest bauen kann. Von Ihnen hängt vieles, wenn nicht alles ab. Meine Erkenntlichkeit ist Ihnen gewiß. Und nun bereiten Sie alles vor. Ich danke Ihnen.«

Der Major nahm seine Mütze, schlug krachend die Hacken zusammen, sah Manuel mit einem treuen Berserkerblick in die Augen, machte kehrt und dröhnte hinaus.

 

»Geld und Blumen«, sagte der Korporal im Vorzimmer, und sein braunes Ledergesicht verzog sich zu einem welterfahrenen Grinsen. »Seit seiner Krankheit hat er sich sehr verändert. Geld hat er immer gebraucht, aber mit Blumen hat er sich nie abgegeben. Früher hatte er andere Methoden. Weniger fein, aber schneller. Los und ran, und dann erledigt. Komisch.«

»Ja, es ist eine sehr schöne Dame«, sagte der Gefreite und sah verklärt aus. »Und vornehm. Sie hat mir zehn Peseten gegeben.«

»Damen, die nicht vornehm sind, geben manchmal noch mehr«, sagte der welterfahrene Korporal. »Und schön – was verstehst du überhaupt davon? Was nennst du schön?«

»Nun ja, ich kann das nicht so genau sagen, aber ich weiß, wie es ist«, antwortete der Gefreite. »Schön ist nicht dasselbe wie vornehm, aber wenn eine vornehme Dame schön ist, dann ist sie eben besonders – schön.« Er machte ein sehr tiefsinniges Gesicht.

»Das ist gar nicht mal so verkehrt, du Grünschnabel«, sagte der Korporal.

»Wirklich?«, versetzte der Gefreite beglückt. Es war ein stolzes Gefühl, aus so erfahrenem Munde gelobt zu werden.

»Trotzdem – wenn er auch in den letzten Tagen nicht gearbeitet hat – es geht was vor«, fing der Korporal nachdenklich wieder an. Er sah auf die Tür, durch die Major de Souza verschwunden war. »Es geht was vor, sag' ich dir.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Gefreite neugierig.

»Unsereins hat zu schweigen über das, was er erfährt«, versetzte der Korporal streng. »Wohin kämen wir denn da, wenn die Mannschaften alles wüßten?«

»Natürlich«, sagte der Gefreite ehrfürchtig.

»Und obendrein«, bemerkte der Korporal, »riecht es nach Pulver. Ich merke das immer sofort, meistens schon vorher. Außerdem lese ich Zeitungen.«

»Meinen Sie denn wirklich, daß richtig geschossen wird?« fragte der Gefreite mit lüsternem Schauder.

»Zu meiner Zeit ist in Nebrador schon mehrmals richtig geschossen worden, und ich weiß sogar von Leuten, die getroffen worden sind. Was glaubst du Esel denn, wofür der Staat die viele Munition kauft? Jedesmal aber, wo Er dabei ist«, – er deutete mit dem Kopf zur Salontür, – »gibt es sogar einen zünftigen Krieg. Hast du etwa Angst?«

»Zu Befehl, nein«, versicherte der Gefreite mit leichtem Bibber.

»Das rate ich dir auch, du Säugling«, sagte der Korporal grimmig. »Wenn ich sehe, daß du Angst hast, zieh ich dir die Hosen runter und halte dich mit dem bloßen Hintern ins feindliche Feuer. Verstanden?«

 

»Na also«, sagte Manuel laut, als der Major de Souza gegangen war. »Toll«, fügte er nach einer Weile hinzu und schüttelte langsam den Kopf.

Wie sahen Manuels Gedanken aus? Wir müssen befürchten, daß er es selber nicht wußte; ja, wir müssen vermuten, daß es nicht einmal richtige klare Gedanken waren. Vielmehr war es ein wirrer, greller Wirbel von Empfindungen, voll der beklemmenden Spukhaftigkeit eines Traumes und zugleich voll der atemberaubenden Gewalt unerhörter Wirklichkeit. Manuels Faust umklammerte eine Stuhllehne, so fest, daß die Knöchel auf der braunen Haut weiß hervortraten. Nun war alles entschieden. Der Absprung war getan, er schwebte über dem Abgrund. Stolz flammte in ihm über die eigene Kühnheit, in die taumelnde Lust des Schwebens mischte sich die Angst, ob sein Fuß drüben Halt finden konnte, ob der Anstieg zum Gipfel gelang, oder ob ein Sturz ihn niederschleudern würde in die Tiefe.

»Ich komme wieder«, hatte er gesagt; und sie hatte geantwortet: »Ja.«

Er ging. Es war ihm kaum bewußt, daß er die Füße bewegte; er fand den Weg, ohne ihn zu sehen. Eine wilde Sehnsucht riß ihn vorwärts, ein schmerzhaftes Verlangen, vor dem Morgen einmal noch die letzte und höchste Erfüllung zu erfahren, die hüllenlose Nähe eines Menschen zu spüren, sich zu verströmen und zu bestätigen.

Als er eintrat, stand Juana mitten im Zimmer. Es war, als hätte sie seit seinem Fortgehen immer so dagestanden und gewartet.

»Ich habe es gewagt«, sagte er überlaut und ahnte nicht, daß er damit die geschichtlich beglaubigten Worte eines Größeren wiederholte, »de Souza tut alles, was ich ihm befohlen habe.«

Sie nickte.

Dann lag plötzlich sein Mund auf der glatten duftenden Haut ihrer Schulter, dann suchte er ihre Lippen und fand sie, dann wurden diese Lippen, die zuerst hart und abwehrend waren, weich und heiß und durstig unter seinem Kuß. Er spürte ihren straffen Körper in seinem Arm, das feste kühle Rund ihrer Brust in seiner Hand. Sie taumelten, sie versanken und schwangen sich auf. Im Zimmer war die feuchte Glut der Tropennacht.

 

Als die alte Señora Mastado dem Nachtportier den Auftrag gab, eine Droschke herbeiholen zu lassen – eine Droschke, um halb ein Uhr nachts! –, hob der äußerlich sehr würdige Mann um den Bruchteil eines Zolles die Brauen. Mehr als dieses kaum merkliche Zeichen der Verwunderung äußerte er nicht.

Diese Zurückhaltung hatte ihren Grund nicht etwa in irgendwelcher Angst vor der fanatischen Entschlossenheit in dem gelbbraunen Runzelgesicht der alten Señora, sondern in der mit vielen Säuren gegerbten Erfahrung, die einen Nachtportier im »Grand Hotel Esperanza« zum abgebrühten Zuschauer machte.

Der Lenker der überaus geräuschvollen Droschke nickte. Er hatte schon mehrfach das anfechtbare Vergnügen gehabt, die hagere und dementsprechend knickerige alte Dame in seinem hartgeprüften Fahrzeug zu befördern.

Befehlsgemäß hielt er an einer Straßenecke in der Calle del Estado und zündete sich zur Verkürzung der Wartezeit die dreiundfünfzigste Zigarette dieses Tages an. Die Straßenbeleuchtung und das Licht seiner Lampen genügten, um ihm zu zeigen, daß die alte Dame den Fahrdamm überquerte und drüben, gegenüber der Iglesia Espiritu Santo, sich die Tür eines kleinen Eckladens aufschloß, der sich mit dem Verkauf feiner Handarbeiten und der zu ihrer Verfertigung erforderlichen Bedarfsgegenstände befaßte.

Als sie nach geraumer Weile zurückkam und er zuvorkommend die Wagenbeleuchtung anknipste – denn er war, auch ohne ausreichende Gegenleistung, in gewissen Grenzen ein Caballero –, stellte er mit mildem Erstaunen fest, daß das gelbbraune Runzelgesicht zu einem gespenstischen Lächeln verzogen war und die schwarzen Augen in wildem Triumph glühten. Sie sah aus wie die Märchenhexe, die das verirrte Kind in den Stall gesperrt hat, um es zu gegebener Zeit zu schlachten.

»Zum Hotel zurück«, sagte sie mit ihrer harten Stimme, die das Rattern der hartgeprüften Maschine mühelos übertönte.

Wir wollen uns den Namen des Fahrers merken, da wir ihm später noch begegnen werden. Er führte den unangemessenen Vornamen Candido und den alltäglichen Familiennamen Hernandez.


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