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Der General und der Adjutant
Manuel tauchte aus der Tiefe der Bewußtlosigkeit wie in taumelnden Kreisen empor und durchstieß die Grenze zum Bewußtsein wie die Oberfläche des Meeres. Er hatte in blauen Tiefen geweilt, die von verzerrten, gespenstisch andrängenden Schatten erfüllt waren; nun begann er blinzelnd, mit schwindelndem Hirn und schmerzenden Schläfen, die sogenannte wirkliche Welt wieder in sich aufzunehmen.
Sie erschien ihm zunächst unwirklich genug. Über ihm – er war auf einer weichen, bequemen Liegestatt ausgestreckt – leuchtete eine milde Ampel; die gelbe Seide, die das Licht umkleidete, war mit schwarzen Drachen bestickt. Dann sah Manuel ein Gesicht, das mit einem freundlichen, aber besorgten Lächeln über ihn gebeugt war. Er kannte das Gesicht nicht; es war gelblich braun und gefurcht, hatte zwei runde, schwarze Augen, die wie kugelförmige Knöpfe glänzten, und war am Kinn durch einen überaus gepflegten, allzu schwarzen Spitzbart verlängert. Das Lächeln ließ zwischen starken roten Lippen zwei Reihen allzu weißer Zähne sehen. Merkwürdigerweise ging von dem Gesicht ein schwacher, aber deutlicher Karbolgeruch aus. Manuel kannte das Gesicht nicht; es gehörte, wie sich später ergab, Herrn Doktor Affonso Mazzini, der als Arzt in Esperanza wirkte, vielseitige Kenntnisse besaß und sich in ausgezeichneten Verhältnissen befand, da er durchaus unvoreingenommen war und Aufträge jeder Art umsichtig, verschwiegen und wissenschaftlich einwandfrei ausführte, wenn ihm gestattet wurde, bei der Ausstellung der Rechnungen nach eigenem Ermessen zu verfahren.
Dagegen kannte Manuel das zweite Gesicht, das nun aus dem gelblichen Dämmerlicht auf ihn zukam. Es war leicht zu erkennen – das flimmernde Einglas schloß sogleich jeden Zweifel aus. Manuel riß krampfhaft die Augen auf; es kam ihm vor, als schwanke das Zimmer um ihn wie die Kabine auf dem »Presidente Dominguez«, und es war, so schien es, von bräunlich wogenden Dunstschleiern erfüllt.
»Was ist los?« fragte Manuel. Es klang undeutlich, denn die Zunge lag ihm dick, trocken und unbeholfen im Munde. »Wer sind Sie?«
»Excelente«, sagte das lächelnde, spitzbärtige Gesicht. Die Stimme war samtweich und fast zärtlich beruhigend; Herr Dr. Mazzini hatte in Paris und Berlin studiert und verstand sich auf den sachten nervenärztlichen Ton, der Vertrauen weckt, Leiden und Schmerzen zur alltäglichen, ganz natürlichen Bagatelle zusammenschrumpfen läßt und gewissermaßen Optimismus in die Luft zaubert. »Wir kehren ins Bewußtsein zurück, wir gewinnen Interesse an der Umgebung. In einer Viertelstunde wird alles überwunden sein.« Schlanke, geübte Hände griffen nach Manuels Schläfen, lange, kühle Finger zogen mit kaum merklichem Druck seine Lider hoch, er fühlte den prüfenden Blick der schwarzen Augen; dann wurde seine Hand gehoben, und der kundige Griff suchte und fand den Puls. »Excelente«, wiederholte die sanfte Stimme. »Der Anfall ist vorüber.«
»Was für ein Anfall?« fragte Manuel schwach.
Diesmal gab der Oberstleutnant die Antwort. Sein Blick war mit schärfster Aufmerksamkeit auf Manuel gerichtet. »Exzellenz haben uns in Sorge versetzt«, sagte er. »Eine schwere Ohnmacht.«
»Exzellenz?« dachte Manuel. »Verrückt!«
»Kein Grund zur Beunruhigung«, lächelte der Arzt. »Ein kleiner Rückfall des leidigen alten Tropenfiebers – die außergewöhnliche Hitze – die viele Arbeit – vielleicht auch eine geringe Unvorsichtigkeit mit kalten Getränken – man kennt das. Aber da man es kennt, wird man auch damit fertig. Exzellenz bekommen jetzt eine angenehme leichte Spritze – dann werden bald die letzten Nachwirkungen verschwunden sein.« Die schlanken Hände handhabten eine winzige Ampulle; eine kleine silberne Spritze sog eine glashelle Flüssigkeit auf, ein starkriechender Wattebausch berührte Manuels Unterarm; dann der flüchtige Schmerz eines Einstiches und das merkwürdige taube Druckgefühl, wenn die Spritze sich entleert. Herr Dr. Mazzini erledigte das alles mit spielerischer, fast künstlerischer Eleganz.
Manuels starrer Blick war auf der eigenen Hand haften geblieben, die der Arzt losgelassen hatte. Sie schien ihm fremd; er spürte das unsinnige Verlangen, den Herren mitzuteilen, daß dies nicht seine Hand sei. Die Nägel zeigten die unverkennbaren Merkmale einer sachkundigen Pflege; den Ringfinger schmückte ein schwerer goldener Siegelring. Manuels Blick wanderte den Arm aufwärts. Der umgeschlagene Ärmel des Hemdes war offenbar aus Seide. Und nun ergaben sich weitere erstaunliche Feststellungen. Die Beine – eine unwillkürliche Bewegung bestätigte ihre Zugehörigkeit zum eigenen Körper – waren mit einer scharfgebügelten weißen Hose bekleidet, die an den Seiten mit aufgesetzten scharlachroten Biesen verziert war. Die Füße staken in glänzenden Lackstiefeln. Und nun, mit einem Male, spürte Manuel die Wirkung der Spritze, eine belebende, anfeuernde, aufjagende Wirkung. Er fuhr mit einem Ruck auf und stand mitten im Zimmer.
»Ich möchte jetzt endlich wissen, was das alles bedeutet«, sagte er entschieden. Seine eigene Stimme klang ihm wie aus einer gewissen Ferne – aus dem Nebenzimmer etwa –, aber sehr klar und deutlich.
Der Oberstleutnant wollte antworten, aber Dr. Mazzini schüttelte abwehrend den Kopf. Manuel folgte einer weisenden Bewegung der schlanken Hand und trat vor einen großen Stehspiegel. An Spiegeln war in diesem Hause offenbar kein Mangel.
Er zwang seinen Blick zur Festigkeit. Der Nebel klärte sich zu der Gestalt eines fremden – nein, nicht fremden: seltsam bekannten Herrn, der sich den Scherz erlaubte, an Manuels Stelle dazustehen. Zunächst das Gesicht. Da war anfänglich das wunderlich traumhafte Gefühl wie in dem Augenblick, als Manuel über die Balustrade hinunterblickte und das Empfinden hatte, als sähe er ein verwandeltes Selbst. Jetzt aber ließ das Gesicht sich betrachten. Es war kräftig, kühn und imponierend. Die Haut glänzte in einem tiefen Braun. Die Wangen waren ausrasiert, der kurze, dunkle Kinnbart eckig gestutzt. Über dem dunklen, glatt zurückgestrichenen Haar lag, wie ein Gespinst, ein grauer Schimmer, und an den Schläfen verstärkte sich unverkennbar das Grau zum beginnenden Weiß. Über dem linken Auge war eine tiefe rote Narbe scharf in die Stirn gekerbt: Nun erklärte sich also das merkwürdige Spannen und Brennen, das Manuel seit seinem Erwachen auf der Stirn gefühlt hatte. Ein Traum natürlich, das Ganze, dachte er, während er stumm in den Spiegel sah. Sonderbar, daß man so deutlich und plastisch träumen kann. Wie war das doch gewesen? Der alte Chinese hatte – – Manuels Gedanken verwirrten sich, eine jähe Schwäche fiel ihn an. Er griff unwillkürlich nach dem kleinen Glase, das der Arzt ihm reichte, und trank. Kein Zweifel: das war ein ausgezeichneter schottischer Whisky. Er ließ sich von dem Arzt in den weißen Waffenrock helfen und schloß die Knöpfe. Schnallen leuchteten, Sterne funkelten auf seiner Brust. Der Degen schnappte ins Gehenke. Nun noch die weiße Mütze – die weißen Handschuhe.
In diesem Augenblick wußte Manuel, daß er nicht träumte. Vor ihm, im Spiegelglase, stand der General Oronta, Maximine Oronta, Militärgouverneur des Hafens und der Provinz Esperanza. Man hatte Manuel mit Oronta vertauscht. Eine Ähnlichkeit – die Arbeit eines teuflisch geschickten Maskenkünstlers. Das war alles. Manuel, immer in den Spiegel sehend, fing den Blick des Oberstleutnants del Vecchio auf, und diese Sekunde entschied über seinen Entschluß. Er hatte auffahren, Lärm schlagen, Protest erheben, den Maskenplunder hinschmeißen wollen. Der Ausdruck des schmalen, kühlen Gesichtes hinter ihm schleuderte ihn gleichsam herum und trieb ihn in die entgegengesetzte Richtung. Sein Instinkt sagte ihm, daß hinter der starren Maske, die das unbewegliche braune Gesicht trug, das Geheimnis verborgen war. Hinter dieser hohen, glatten Stirn war der Plan geboren. Spannung, Neugier, Abenteuerlust durchrieselten ihn wie fieberndes Prickeln. Er machte mit. Er wollte doch einmal sehen, wie weit und zu welchem Ziel die Komödie getrieben wurde.
Und im gleichen Augenblick, da er dies beschloß, wurde Manuel, unbewußt noch, zum Gegenspieler des Mannes, der die Regie in dieser Komödie führte. Sein Gesicht entspannte sich; seine Augen blickten müde und hilflos. Die beiden Herren, die ihn beobachteten, waren zufrieden. Die kritischen Sekunden waren überstanden. Das freundschaftliche Schicksal hatte ihnen eine Schachfigur in die Hand gegeben, die sich ohne eigenen Willen und ohne Widerspruch auf ihren Platz im Spiel schieben ließ. Nun konnte man weitersehen.
Vor allem kam es jetzt darauf an, den Figuranten vor äußeren Einwirkungen in Sicherheit zu bringen. Der Adjutant rückte die Hacken zusammen und übernahm mit höflich entschuldigender Verbeugung die Führung. Manuel folgte. Dr. Affonso Mazzini, dessen Aufgabe durchaus noch nicht beendet war, bildete die Nachhut.
Nun behaupten wir keineswegs, daß Manuel den Weg ins Abenteuer gestrafft und heiter antrat. Ihm war regelrecht erbärmlich zumute. Ohne die Spritze und den Whisky des umsichtigen Doktors wäre er zusammengeklappt und wie ein Klotz liegengeblieben. Wäre er jetzt über ein Hindernis gestolpert, so hätte er sich aus eigener Kraft nicht wieder auf die Beine gestellt. Auch der gewiegteste Spezialist für die menschlichen Innenvorgänge kann aus einem halbverhungerten, heruntergeschundenen Landstreicher nicht in wenigen Stunden einen vollendeten Darsteller für einen Revolutionsgeneral machen. Aber Herr Dr. Mazzini kannte sich mit der Wirkung einer Ampulle nach Umfang und Dauer trefflich aus. Und zur Not hatte er in seiner Instrumententasche noch eine zweite Dosis.
Sie schritten durch lange, winklige, staubige, mattenbelegte Flure, die von trübbrennenden Lampen erleuchtet waren. Der Oberstleutnant öffnete eine Tür, und kühle, feuchte Abendluft schlug ihnen entgegen. Sie traten in einen Hof hinaus – Manuel erfuhr später, daß hier ein Hinterausgang, oder vielmehr einer der umsichtig angelegten Hinterausgänge, von Mr. Johnsons vielseitigem Unternehmen war. Ein großer Kraftwagen stand im Hof; das Licht seiner Lampen fiel grell auf bröckelnde Mauern und einen verwahrlosten Schuppen. Große Pfützen, die der abendliche Platzregen hinterlassen hatte, glänzten wie ein schwarzblanker Spiegel. Eine herzuspringende Ordonnanz riß den Schlag auf, das Innere der großen Limousine wurde hell. Manuel ließ sich in die Polster fallen. Es gab einen kleinen Kampf, bis der ungewohnte Degen zwischen seinen Knien stand. Der Oberstleutnant setzte sich ihm zur Linken, der Arzt auf einen heruntergeklappten Vordersitz.
Der Wagen glitt in weichem, weitem Bogen aus dem Hof, durch ein paar enge, finstere Gassen, überquerte die erleuchtete, menschenwimmelnde Calle de la Paz, steuerte die lichtstrahlende Fassade des »Grand Hotel Esperanza« an. Manuel erinnerte sich später dunkel an die tiefe Verneigung des Direktors, an das leise, summende Mahagonigehäuse eines Fahrstuhls, an einen prunkvollen Salon, der sich hellerleuchtet vor ihm öffnete, an eine Ordonnanz, die ihm Mütze, Handschuhe und Säbel abnahm. Der weiße Waffenrock wurde mit einer leichten Litewka vertauscht.
»Gestatten mir Exzellenz jetzt ein paar ärztliche Verordnungen«, sagte die samtene Stimme des Herrn Doktor Mazzini. »Ein warmes Bad und anschließend eine lauwarme Dusche; dann eine leichte Mahlzeit – ein wenig Wein ist gestattet – und ein Schlaftrunk, den der Bursche Ew. Exzellenz nach meiner Vorschrift bereiten wird. Und nun bitte ich mich gütigst zu beurlauben. Ich bin während der ganzen Nacht telephonisch erreichbar und werde mir erlauben, morgen früh vorzusprechen. Gute Nacht, Exzellenz.«
Der Adjutant neigte höflich den schmalen Kopf; das Einglas flimmerte.
»Ich bin beglückt, die sichtliche Besserung im Befinden Ew. Exzellenz feststellen zu können. Der Bursche schläft nach meiner Anordnung im Vorzimmer und hat den Befehl, mich beim geringsten Anlaß zu wecken. Exzellenz beurlauben mich jetzt –? Gute Nacht, Exzellenz.« Hacken schlugen mit leisem silbernen Klirren zusammen, die Tür schloß sich.
Nun, Manuel hatte allen Grund, das nun Folgende widerspruchslos über sich ergehen zu lassen. Er kennt das alles noch nicht aus eigener Erfahrung, aber er hat es im Film gesehen: das gekachelte Bad, den geschickt und geräuschlos hantierenden Burschen, den seidenen Schlafanzug und den dazugehörigen seidenen Frisiermantel; die beiden weißbefrackten Kellner, die eine Mahlzeit – eine von einem genialen Künstler gedichtete Mahlzeit! – servieren. Es kann Manuel nur recht sein, daß der Herr General Maximine Oronta zu Lasten künftiger Herrlichkeit und auf Kosten gewitzter Kreditgeber zu leben versteht, und daß Mr. Edgar Eastham die Wünsche solcher Gäste verständnisvoll zu erfüllen weiß. Es ist alles so bereitet und vorgerichtet, daß sich mit den Eßgeräten keinerlei Schwierigkeiten ergeben, und der Herr General wird vermutlich in seinen Tischsitten auch nicht immer den Ansprüchen eines im Ritz Carlton geschulten Oberkellners gerecht. Dem Essen folgt ein kühler Trunk, den die Ordonnanz nach Vorschrift bereitet hat, und Manuel weiß nur noch, daß er einem sehr breiten und sehr weißen Bett anvertraut wird. Die Sphärenklänge des eingebauten Lautsprechers in der Zimmerecke verstummen, und nur die Ventilatoren summen noch. Weiter weiß Manuel gar nichts mehr.
Der Dienst des Oberstleutnants del Vecchio, der nun zwei äußerlich gleichen, innerlich aber gründlich verschiedenen Herren zu dienen hat, ist freilich noch lange nicht beendet. Aber da kann man ihm nicht helfen, und er beklagt sich auch nicht; denn es war vorauszusehen.
Als Manuel unter einer seidenen Decke erwachte und sich mit einiger Mühe zurechtgefunden hatte; als dann der Bursche ihm eine Tasse Tee gereicht und das Bad bereitet hatte; und als Mr. Johnson sich einfand, um lächelnd die Rasur der Wangen zu vervollkommnen und das von ihm hergestellte Antlitz des Generals Oronta zu überholen und zur letzten Vollendung zu bringen, stellte Manuel nachdenklich fest, daß alles dies einem wirklichen Märchen glich. Nur im Märchen kann der armselige Wanderbursche in wenigen Stunden den Aufstieg zum offenbar allmächtigen General vollbringen. Aber wenn auch Manuels Gehirn, des raschen und sozusagen schlagfertigen Denkens seit langem entwöhnt, Bedeutung und Zweck des ganzen Vorganges noch nicht faßte, so sagte er sich doch, daß das alles nicht in der menschenfreundlichen Absicht veranstaltet war, ihm eine Freude zu machen. In der dämmerigen, gekühlten Luft der Räume knisterte eine Drohung, eine unsichtbare, aber für die Sinne spürbare Gefahr.
Das erste Anzeichen war das beharrliche Schweigen Mr. Johnsons, der auf alle Bemerkungen und Fragen nur lächelnde Verneigungen und einen listigen Blick durch schräge Augenschlitze als Antwort hatte: ein exemplarischer alter Schurke. Das zweite war die Entdeckung, daß der gewandte und beflissene Indio, der Manuel als Bursche bediente, zwar vortrefflich hörte und gehorchte, aber mit einem schweren Sprachfehler behaftet war, so daß er nur ein unverständliches Gurgeln und Zischen zustandebrachte. Man hatte den Mann mit erstaunlicher Umsicht gewählt. Das dritte und äußerst deutliche Anzeichen aber war, nach dem ausgezeichneten Frühstück, der ärztliche Besuch des Herrn Dr. Affonso Mazzini.
»Wir sind zufrieden, Exzellenz«, sagte der tüchtige Arzt mit seiner sanft streichelnden Stimme. »Ich gestatte mir einen Glückwunsch. Noch ein paar Tage möglichster Schonung, und die letzten Spuren des Anfalls sind verschwunden. Der Puls ist normal, der Appetit, wie ich sehe, vorzüglich, das Aussehen« – hier knisterte es wie leise Ironie in der samtenen Stimme – »befriedigt mich weit mehr als gestern Abend. Auf diätetische Vorschriften darf ich nunmehr verzichten.«
Manuel beschloß, einen Vorstoß zu wagen.
»Was bedeutet das alles, Doktor?« fragte er. »Ich kann mich nicht erinnern – –«
Herr Dr. Mazzini verstand die Kunst, leise zu sprechen und dennoch den Satz eines anderen wirksam zu unterbrechen. »Das Aussetzen der Erinnerung an gewisse Dinge«, sagte er, »ist eine nicht häufige, aber wissenschaftlich beobachtete Begleiterscheinung gewisser Fieberanfälle. Es gibt da große und kleine Lücken, aber auch die zeitweilige Auslöschung ganzer Komplexe. Das Symptom pflegt, wenn im übrigen Besserung eintritt, nach kurzer Zeit zu verschwinden. Ich habe diese Vorgänge verschiedentlich in Fachzeitschriften behandelt.« Er legte die Spitzen seiner langen Finger gegeneinander und betrachtete mit gerunzelter Stirn die Nägel; die dunkle Färbung der Halbmonde an den Nagelwurzeln war ihm ein Kummer, den er weder menschlich überwinden, noch wissenschaftlich beseitigen konnte. »Es kommen sogar Fälle vor«, sagte er langsam und jedes Wort wägend, »in denen sich falsche oder verschobene Erinnerungsbilder und fixe Ideen verschiedener Art in das Bewußtsein des Patienten eindrängen. Davon werden Exzellenz hoffentlich auch in Zukunft verschont bleiben. Im übrigen besteht kein Grund zur Beunruhigung.« Manuel verhörte sich nicht: In der sanften Stimme war jetzt ein leises drohendes Surren – es erinnerte an das Schnurren des Rädchens, mit dem ein Zahnarzt sich an den zum Opfer erkorenen zuckenden Nerv heranbohrt. »Ich verfüge über ausreichendes wissenschaftliches Rüstzeug, um derartigen Erscheinungen äußerst wirksam zu begegnen, wann immer ich sie bemerke.«
»Gracias«, sagte Manuel mit leisem Schauder. Er wußte, woran er war. Man mußte abwarten. Noch war er müde und seinen neuen Freunden nicht gewachsen. Und außerdem war er auf die weitere Entwicklung viel zu gespannt, um sie vorzeitig zu unterbrechen. Er winkte kurz, mit der gnädigen Zerstreutheit, mit der, nach seiner Vorstellung, ein Fürst seinen Leibarzt zu verabschieden pflegt. Herr Dr. Mazzini empfahl sich sofort und mit untadeliger Verbeugung. »Al diablo la recompensa!« sagte Manuel halblaut und herzlich hinter ihm her.
Wer war der Besucher, der das letzte und sozusagen abschließende bedrohliche Anzeichen lieferte? Selbstverständlich Herr Oberstleutnant Alejandro del Vecchio, der Adjutant Seiner gedoppelten Exzellenz. Er sah ein wenig abgespannt aus, und man durfte annehmen, daß er in dieser Nacht mit seinem Bett nur in sozusagen flüchtige Berührung gekommen war. Um seinen Mund waren zwei scharfe Falten gekerbt, und die schmale, braune Hand strich zuweilen etwas nervös den weltmännisch schmalrasierten Schnurrbart. (Man müßte für diese Barttracht einen anderen, weniger hausbackenen und biederen Namen finden.) Aber seine Haltung war straff wie immer und sein Gesicht von undurchdringlicher dienstlicher Korrektheit.
»Herr Dr. Mazzini hat mich über das Befinden Ew. Exzellenz völlig beruhigt«, sagte er. »Dennoch hält er einstweilen eine gewisse Schonung für angebracht. Ich habe mir daher erlaubt, die für heute angesetzten Besichtigungen zum Teil, die Arbeiten und Empfänge ganz abzusagen und die Fernsprechzentrale davon zu verständigen, daß Exzellenz nach Möglichkeit nicht gestört werden sollen. Die Herren des Stabes sind unterrichtet. Die schwebenden Angelegenheiten« – kaum merklich war der Unterton der Ironie – »gehen natürlich trotzdem ihren Gang.«
Manuel nickte. Dazu war nichts zu sagen. Und eine Überraschung war es auch nicht.
»Haben Exzellenz Befehle für mich?« fragte der Adjutant. Er nahm sein Einglas heraus, putzte es sorgfältig und setzte es wieder ein.
»Zeitungen möchte ich haben – alle wichtigen Zeitungen«, antwortete Manuel.
»Der Bursche wird sie bringen.« Der Oberstleutnant machte eine kleine Pause und blätterte in den Papieren, die er seiner Juchtenmappe entnahm. Manuel sah, daß es Meldungen, Berechnungen und Karten waren. »Ich halte es für zweckmäßig, daß Exzellenz sich heute gegen Abend kurz in der Öffentlichkeit zeigen, damit etwaige falsche Gerüchte über den – äh – Gesundheitszustand Ew. Exzellenz nicht erst aufkommen. Auf dem heutigen Programm stand eine Besichtigung der neueingekleideten Rekruten in der Nord-Kaserne und eine Inspektion am Bau der Militärstraße bei Icuahua.« Er klappte die Mappe zu. »Fühlen Exzellenz sich einer solchen Aufgabe bereits gewachsen?«
Manuel zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Er begriff. Es war eine entscheidende Wendung. Man wollte erproben, ob man den geeigneten Darsteller gefunden hatte. Einen Augenblick lang packte ihn würgende Angst; einen Augenblick lang war er versucht, alledem ein Ende zu machen, die Maskerade abzureißen, sich aus dieser unheimlichen und unerklärlichen Verstrickung um jeden Preis zu befreien. Plötzlich aber schüttelte es ihn wie ein lautloses Gelächter. War das alles nicht ein ungeheuerlicher Spaß: Der Landstreicher, gestern noch ein zerlumpter und verachteter Tramp, sollte heute den General spielen und gnädigst Dinge begutachten, von denen er soviel verstand wie der elegante Herr da vor ihm vom Dreckdasein des Vagabunden? Manuels Hand fuhr vorsichtig prüfend über die Schienbeinnarbe, die ihm die Munitionskiste auf dem »Presidente Dominguez« geschlagen hatte. Ja, sie war noch da, und alles dies war närrische, erstaunliche, unwahrscheinliche Wirklichkeit.
»In meiner merkwürdigen Laufbahn,« sagte Manuel halblaut und wie beiläufig, »habe ich einmal in Culver City das Double eines Generals in dem Film ›Die große Attacke‹ gespielt. Man war sehr mit mir zufrieden.«
Er blickte den Adjutanten harmlos lächelnd an; so überzeugend harmlos, daß das mißtrauische Gesicht des Oberstleutnants sich entspannte.
»Ich werde nach Kräften helfen und die Sache so einzurichten wissen, daß die Kräfte Ew. Exzellenz nicht über Gebühr beansprucht werden«, sagte er.
Auch dazu erübrigte sich eine Bemerkung. Schweigen war eine ausgezeichnete Waffe.
Eine Ordonnanz trat ein und brachte eine Karte auf einem silbernen Tablett. Der Adjutant griff danach und las sie. Manuel äußerte sich nicht dazu. Schließlich – wofür hat man einen Adjutanten? Der hat ja gefälligst genau zu wissen, wann er sich einmischen muß und wann nicht.
»Die Baronesa Juana Pereira de Carvalho – Exzellenz entsinnen sich der angenehmen Bekanntschaft aus der Hotelhalle? – hat von der Erkrankung Ew. Exzellenz gehört und wünscht baldige Genesung«, sagte er.
Ja, Manuel entsann sich. Die Dame, die mit dem General am Tisch gesessen hatte – – Er sah ein klares, strenges Profil und einen auf die Lehne des Sessels gestützten, nackten, schlanken Arm; blauschwarzes Haar, das im Nacken zu einem schweren Knoten geschlungen war – – Eine seltsame Erregung spannte plötzlich seine Nerven. Der General Oronta konnte in die Halle hinuntergehen und mit einer solchen Frau nach dem Recht des Gleichgestellten plaudern. Das war ein neuer, ein zugleich verlockender und beklemmender Gedanke.
»Wer hat die Karte gebracht?« fragte er und wunderte sich zugleich selbst über seinen Vorstoß.
»Die Gesellschaftsdame der Baronesa, Exzellenz«, antwortete der Soldat.
Hier griff der Oberstleutnant ein, bevor Manuel weiterfragen konnte.
»Melden Sie: Exzellenz lassen verbindlichst danken für die gütige Aufmerksamkeit. Ein kleiner Fieberanfall, dessen Folgen in einigen Tagen überwunden sein werden. Aber Exzellenz bedürfen vorläufig noch sehr der Schonung. Verstanden?«
»Jawohl, Herr Oberstleutnant«, sagte der Mann und trat ab.
»Was muß ich über die Dame wissen?« fragte Manuel. Es klang, wie es klingen sollte – neugierig und ein wenig einfältig. Manuel merkte gar nicht, daß er sich zum Schauspieler entwickelte.
Der Adjutant zuckte leicht die Achseln. »Exzellenz haben offenbar über den größeren Angelegenheiten vergessen, daß Sie der Baronesa einige Aufmerksamkeit gewidmet haben«, antwortete er. »Eine Dame aus der begüterten Aristokratie.« Er sprach weiter, mit leichter Ironie, die wohl mehr ein Selbstgespräch als eine Auskunft war. »Die Baronesa hat nach dem Tode ihres Vaters einige Jahre in Europa geweilt und ist nun heimgekehrt, um sich der Verwaltung ihrer Güter zu widmen. Bis zur Instandsetzung ihres Hauses in San Isidro wohnt sie mit ihrer Gesellschaftsdame hier im Hotel – vermutlich, um nach dem Leben in den freieren Sitten Europas einen gewissen Übergang zu den strengen Formen der hauptstädtischen Gesellschaft und zur Eintönigkeit des Landlebens zu haben. Moderne junge Damen haben es nicht ganz leicht in den Zirkeln unserer Hauptstadt.« Er besann sich. »Exzellenz werden vermutlich bald Gelegenheit haben, festzustellen, daß die Baronesa angenehm zu plaudern weiß.«
»Hoffentlich«, sagte Manuel naiv.
»Ich werde mir erlauben, Exzellenz heute nachmittag abzuholen.« Man mußte es dem Oberstleutnant lassen: Er wahrte in jedem Augenblick genau und tadellos die Form. Sporenklingelndes Zusammenrücken der Hacken, eine dienstliche Verneigung. Manuel war allein.
Das war die rechte Gelegenheit, eine Entdeckungsreise durch die Räume anzutreten. Man kennt das Vorzimmer, das Badezimmer, das Ankleidezimmer, das Schlafzimmer und den Salon. Nun ist da noch das große Arbeitszimmer des Generals. Ein kostbarer Teppich, Klubmöbel, eine Rauchecke, ein gewaltiger Schreibtisch. Aber dieser Schreibtisch ist leer; General Oronta hat alles Persönliche und Dienstliche gründlich abräumen lassen. In den Schubladen – nichts, außer Schreibpapier. Auf der mit grünem Tuch bespannten Platte eine kostbare, in gepreßtes Leder gebundene Schreibmappe. Auch sie enthält nichts Bemerkenswertes; doch – zwischen zwei Löschblättern ein vergessener weißer Bogen, und darauf ein Namenszug: Oronta. Der General hat wohl eine neue Feder erprobt und damit seinen Namen geschrieben. Manuel betrachtet nachdenklich die Schrift. Sie ist grob, stark und kühn; die Hand eines Mannes, der gewohnt ist, alle Dinge anzupacken und entschlossen zu handhaben – sogar die widerspenstige Schreibfeder. Das ist ein Fund, den man sich aufheben muß; man wird ihn vielleicht einmal brauchen können. Weiter. Ein Bücherschrank. Werke über die verschiedenen Staaten des südlichen Kontinents, und eine ganze Anzahl davon über Nebrador, seine Geschichte, seine Wirtschaft, seine Bevölkerung, seine Bodenschätze. Auch eine Mappe mit eingeklebten Zeitungsausschnitten. Es sieht alles nicht sehr nach emsiger Benutzung aus, aber hier kann man sich unterrichten über das Land, in dem man eine Rolle spielt, wenn auch nur als Bauer im Schachspiel, in dem ein Anderer König ist. Oder sein will.
Hier brachte man das zweite Frühstück – im Hotel des Mr. Eastham ›Lunch‹ genannt und nach englischer Sitte behandelt. Aber vortrefflich. Und dann kamen auch die Zeitungen. Manuel, sehr angenehm gesättigt, streckte sich auf einer Ottomane aus. Nachdenken, Manuel! Wo stehen wir?
Man ist satt; man spürt schon, wie das durch langes Darben gerissene Loch sich ein wenig zu füllen beginnt. Das macht natürlich müde, und die Glieder sind schwer und schmerzen; aber man kann sie bequem ausstrecken und braucht nichts zu tun, denn man führt ja einstweilen das elegante Leben eines großen Herrn und hat alles, was man dazu braucht, oder kann es herbeikommandieren. Das hat man sich im Kohlenbunker des »Presidente Dominguez« nicht träumen lassen. Nachdenken, Manuel.
Man ist natürlich eingesperrt, man ist ganz auf sich allein angewiesen, man sieht genau so aus wie der bekannteste Mann des Landes und kann außerhalb dieses Zimmers keinen Schritt tun, der nicht beobachtet, registriert und gemeldet wird. Man hat ›A‹ gesagt und wird nun vielleicht durch das ganze Alphabet gejagt werden. Am Ende kann man weggeworfen werden wie ein ausgedientes Werkzeug; man kann vom Getriebe zermalmt werden; oder man kann – – Aber diesen Gedanken wagt man heute noch nicht zu Ende zu denken. Man wird, wenn nicht alles trügt, allerlei Zeit für sich selbst haben. Was also wird man tun? Nett und gelehrig ausführen, was der undurchdringliche Oberstleutnant verlangt, und höllisch aufpassen, was von ihm und dem unsichtbar gewordenen Herrn General gespielt wird. Man hat ja schließlich immer noch ein Gehirn, und so ganz und gar fertig, wie man annahm, ist man wohl doch nicht gewesen. Man läßt sich wieder heranfüttern.
Richtig – die Zeitungen.
Von Europa und der übrigen Welt wissen sie wenig zu berichten. Die üblichen Drahtmeldungen der amtlichen Nachrichtenbüros. Alles kleines Format, schlechtes Papier, schlechter Druck. Aber aus dem Lande mußte man doch – – Ja, da gibt es allerhand. Polizeiberichte, Handels- und Börsennotizen, Vergnügungsanzeigen. Einiges aus der Wirtschaft. Und einen Leitartikel. Es hat eine Zeit gegeben, in der Manuel mit Leidenschaft politische Aufsätze las. Also los; es wird schon gehen. Hat er nicht mal – vor Jahren – sogar als Reporter gearbeitet?
Der ›Diario‹, erscheinend in der Hauptstadt San Isidro, gießt offenbar notwendiges Öl auf die Wogen einer heftigen inneren Krise. Man gibt in vorsichtigen Worten zu, daß eine wirtschaftliche Depression und eine damit verbundene innere Unruhe bestehen, aber man verweist auf das große gesetzgeberische Werk und die planvolle Arbeit der Regierung, insbesondere des klugen und maßvollen Präsidenten, und ermahnt zu Ruhe, Besonnenheit und Vertrauen, wie das Wohl des Vaterlandes sie fordert. Alles Notwendige wird zur rechten Zeit geschehen. Lebhafter geht es schon im ›Pueblo‹ zu. Da erklingt in heftiger Sprache die Frage, wie lange noch die Regierung und die Kammer da oben in ihren kühlen Bergen dem allgemeinen Abstieg, der Korruption, der Faulheit, dem Wirrwarr untätig zusehen wollen? Gedenkt man nicht endlich die natürlichen Kraftquellen des Landes zu erschließen? Will man nicht gefälligst die im Gange befindlichen Arbeiten an den Verkehrsmitteln und industriellen Anlagen beschleunigen, das Bauwesen und die Gesundheitspflege fördern, Kredit in die Wirtschaft pumpen? Wenn man das alles nicht kann: Wann wird man sich endlich der angebotenen Hilfe ausländischer Fachleute und Geldgeber bedienen? Schließlich wird laut und deutlich der Ruf nach dem starken Mann ausgestoßen. Man hat ihn ja; soll man ihm doch freie Hand geben, und wenn dabei die ganze liebe Gemütlichkeit in Fetzen geht! So im ›Pueblo‹, wo offenbar das Geld der Firma Atkinson & Wineman einen richtigen Strudel im Tintenfaß erzeugt hat. Und schließlich ist da noch der ›Trabajador‹, ein winziges, vierseitiges Blatt, das den Mangel an Umfang und Leserschaft durch antikapitalistischen Lärm zu ersetzen sucht. Es wettert grob und mit reichem Wortschatz, aber mangelhafter Rechtschreibung gegen alles und jedes und kommt zu dem Wunsch, daß die Proletarier aller Länder sich schleunigst vereinigen sollen; wobei freilich nicht verschwiegen werden kann, daß in Nebrador bisher noch nicht einmal die größte proletarische Gruppe, die versklavte indianische Bevölkerung, zur Vereinigung zu bringen war. Schon streckt der ausländische Kapitalismus seine raffgierige, bluttriefende Faust auch nach Nebrador aus, er hat Helfershelfer im Lande, und er wird das Volk noch erbarmungsloser knechten, als es die inländischen Machthaber jetzt schon tun. Bildet Gewerkschaften und laßt die bestehenden lauwarmen Vereine schönrednerischer Kapitalistenknechte an ihrer eigenen Vermoderung krepieren! brüllt der ›Trabajador‹.
So, das wäre alles. Und man kann doch schon allerlei daraus entnehmen. Hier mulmt etwas unter der Oberfläche, das über den landesüblichen und überlieferungsgemäßen Krach beträchtlich hinausgeht. Halt, da ist noch etwas: Alle drei Blätter bringen eine gleichlautende Notiz, daß der Militärgouverneur General Maximine Oronta infolge einer leichten Erkrankung sich einige Tage von seinen Amtsgeschäften fernhalten müsse. Der ›Diario‹ bringt die Meldung ohne Kommentar; im ›Pueblo‹ gibt man der Hoffnung Ausdruck, daß der wegen seiner großen Tatkraft hochgeschätzte General bald völlig wiederhergestellt sein möge; der ›Trabajador‹ gestattet sich eine bissige Glosse: Es werde offenbar, heißt es da, angenommen, daß das werktätige Volk den Gesundheitszustand der kapitalistisch-militärischen Machthaber mit besonderer Anteilnahme verfolge; man dürfe aber ja beruhigt annehmen, daß der Herr General, der übrigens das schärfste Mißtrauen des Volkes verdiene, sehr bald gesunden werde, da ihm, im Gegensatz zu den verelendeten Massen, alle Mittel für seine persönliche Pflege zur Verfügung stünden. Da haben sie recht, dachte Manuel behaglich; und augenblicklich bin ich es, der über diese Mittel verfügt. Ob mein zweites Ich es jetzt ebenso gut hat?
Die drei Blätter flatterten einträchtig zu Boden. Manuel schlief ein.
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Der dicke Major, der vor Manuel auf dem Klappsitz saß, ein mürrischer, immer irgendwie beleidigter Herr, war dem Stabe als Sachverständiger in Ausrüstungs- und Versorgungsfragen zugeteilt. Zur Linken Manuels saß der Adjutant. Die Fahrt ging durch die Calle de la Paz und die Avenida de la Virgen, dann durch die Puerta Mayor. Der große offene Wagen hatte es schwer im Gewimmel der Autos, der schrillklingelnd dahinsausenden knallgelben Straßenbahnwagen – Esperanza besaß sechs Linien, von denen vier betriebsfähig waren – der Pferde- und Eselgespanne, der Lastträger und Karren, der weißen, gelben, braunen und schwarzen Menschen. Aber dem Indio am Steuer machte es Spaß, zu zeigen, wie knapp man sich mit herumgewirbeltem Steuer, Gas und Bremse um beräderte, zwei- und vierbeinige Hindernisse, um große und kleine Katastrophen herumkurven kann, und daß eine richtig gehandhabte Hupe jeden anderen Lärm zu übertönen vermag. Einmal gab es fast ein Unglück, als der Wagen über den Inhalt eines umgekippten Obstkarrens hinwegglitschte; aber es fand niemand etwas dabei. Braunhäutige Polizisten in weißen Uniformen wirbelten weißbehandschuhte Hände durch die Luft und machten Gesichter, als wäre es ihr Verdienst, daß die Unfallziffer sich in tragbaren Grenzen bewegte. Manuels Augen hielten reiche Ernte. Da gab es glänzende Läden neben schmutzigen Baracken, Bauplätze, prachtvolle Kirchen und Kapellen, Lichtspielhäuser, deren säulengeschmückte Prunkfassaden mit kreischenden Plakaten beklebt waren, Trödlerbuden, Maisbierschenken, offene Märkte und zwei riesige Hochhäuser mit den Büros ausländischer Firmen: ein tolles Gemisch aus allen Stilen aller Erdteile, aus Dreck, Protzerei, Eleganz, Kunstsinn, Schlamperei und findiger Spekulation. Der Wagen des Generals Oronta wurde hier nicht sehr beachtet. Anders auf der Avenida de la Virgen. Da sah man schon villenartige Häuser in leidlich gepflegten Parks; in den Straßengärten der Kaffeehäuser saß um diese Stunde zwischen den Ausländern die männliche und weibliche Jugend Esperanzas und gab zu erkennen, daß sie die strengen Sitten der mehr oder weniger hispanischen Vorfahren entschlossen überwunden hatte. Auf dem breiten Reitweg zur Rechten der Straße spielte sich so etwas wie ein Korso ab: Hier pflegte sich das, was sich in Esperanza als die Gesellschaft bezeichnete, zu Pferde zu tummeln, und die Offiziere aller Waffengattungen verkörperten mit allem ihnen zu Gebote stehenden Glanz die bewaffnete Macht. Manuel hatte viele Grüße zu erwidern, und er tat es, wie der beobachtende Seitenblick des Adjutanten beruhigt feststellte, mit zurückhaltendem Anstand, wie es einem erkrankten, aber trotzdem auf seinem Posten befindlichen General geziemt.
Am Tor der Nord-Kaserne trat die Wache mit bemerkenswertem und offenbar vorbereitetem Schwung ins Gewehr. Was dann folgte, war nicht aufregend. Die erste Kompanie eines neu aufgestellten Infanterieregiments stand mit ihrer Ausrüstung auf dem Kasernenhof und sollte betrachtet werden; ein aufgeregter kleiner Hauptmann erstattete die Meldung. Manuel schritt mit seinen Begleitern die ausgerichtete Front ab und musterte die zum guten Teil wenig vertrauenerweckenden Gestalten: das war ja hoffentlich keine Mustersammlung der nebradorianischen Armee. Dann äußerte er, daß die Ausrüstung befriedigend sei und die wahre militärische Haltung durch scharfe Zucht erreicht werden müsse. Sehr scharfe Zucht! Oberstleutnant del Vecchio lächelte mit beifälliger Ironie; etwas anderes hätte kein Mensch sagen können. Der dicke Major knurrte etwas Unverständliches. Zwei Minuten darauf saßen sie wieder im Wagen.
Die ansteigende Straße nach Icuahua war gut und neu. Sie kamen durch eine kahle Vorstadt mit armseligen Häusern, durch eine dorfähnliche Siedlung, durch Eukalyptuswälder. Manuel sah weder die dicken, tratschenden Weiber noch die nackten, schmutzigen Kinder; er blickte zu den grünen Pflanzungen und den schroffen, klar und scharf aufragenden Bergen hinüber, seine Augen folgten den kühn kletternden Windungen der Bahnstrecke nach San Isidro.
Kurz vor Tierra Ardiente kamen sie an die Baustelle. Was vermag ein Laie an einem Straßenbau zu sehen? Manuel hatte halbnackte, schuftende braune und schwarze Arbeiter erwartet – und er fand sie. Dagegen übertraf der Wortschatz des spanisch, indianisch und englisch fluchenden Ingenieurs bei weitem seine Erwartungen. Er hörte einen Bericht über den Stand der Arbeiten, blickte auf eine Karte, nickte dazu. Bueno. Gracias. Abfahrt.
Er war müde und sehnte sich nach seinem Hotelzimmer. Wozu das alles – diese wunderliche Komödie, dieser lächerliche Mummenschanz?
Die Antwort kam rascher, als er ahnte. Aus einem dichten Gebüsch zur Seite der Straße peitschten zwei Schüsse; die Windscheibe zersplitterte. Der Indio am Steuer trat mit heftigem Ruck auf den Gashebel: der Wagen tat einen federnden Satz, schleuderte ein paar Sekunden und raste dann mit heulendem Motor auf der Straße nach Esperanza dahin.
Manuel sah den Major an: der hatte nicht einmal seine Haltung verändert. Er sah den Adjutanten an: der betupfte mit einem seidenen Taschentuch eine winzige Schramme, die ihm ein Glassplitter über die Wange gerissen hatte.
»Ach so –!« sagte Manuel halblaut.
Oberstleutnant del Vecchio sah starr geradeaus. Er sprach kein Wort.