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Der Präsident
Als der Innenminister Dr. Teodoro Rocha das Arbeitszimmer des Präsidenten Don Segundo Castellar de Oliveira betrat, fand er den alten Herrn über seinen Schreibtisch gebeugt. Vor ihm, über den Schreibtisch und einen herangeschobenen Tisch ausgebreitet, lag eine kleine, aber erlesene Sammlung indianischer Waffen und Kleidungsstücke: Pfeile, Blasrohre und Speerspitzen, bemalte Schilde, ein gefiederter Kopfputz, ein paar grinsende, grellfarbige Masken, geflochtene Matten und federnbesteckte Lendenschurze. Das Fenster stand offen, und der kühle, reine Gebirgswind wehte spielerisch herein. Hier oben, in fast 1500 Meter Höhe, war ewiger, fruchtbarer, duftender Mai. Unter den Fenstern des hochgelegenen Zimmers ragten Palmen und immergrüne Buchen. Am Hang aufwärts dehnte sich, gepflegt und schneeweiß, die schöne Stadt. In klarer, gezackter Linie standen die Bergkämme gegen den leuchtend blauen Himmel. Es war gut und lustvoll zu leben und zu atmen in San Isidro, der Hauptstadt von Nebrador.
Das vornehme Gesicht Don Segundos mit den vielen feinen Fältchen strahlte vor Freude; seine Hand streichelte, wie immer, wenn er guter Laune war, liebevoll den grauen Spitzbart.
»Du kommst gerade recht«, sagte er fröhlich.
»Natürlich«, antwortete der Innenminister. Es war das weniger ein Ausdruck übertriebenen Selbstbewußtseins als vielmehr eine auf unbewußter Gewöhnung beruhende Redewendung. Er ließ seine gepolsterten zwei Zentner aufseufzend in einen Klubsessel versinken und streckte die Beine von sich; seine starke Unterlippe war nachdenklich und übellaunig vorgeschoben.
»Sieh dir das an.« Der Präsident wies stolz auf die kleine Sammlung. »Eine prächtige Bereicherung für unser Museum. Der deutsche Professor – du erinnerst dich? – ist heute Morgen von seiner Expedition in den Urwald heil zurückgekehrt und hat reiche Beute mitgebracht. Er hat mir das da als Dank für unsere Unterstützung geschenkt. Ich meine, wir sollten ihm den Ehrendoktor unserer Universität verleihen. Du bist doch einverstanden?«
»Natürlich«, antwortete Rocha, der sich daran erinnert fühlte, daß er auch das Kultusministerium verwaltete. »Das ist eine Ehrung, die unser Ansehen fördert, ohne unseren Haushalt zu belasten. Ich werde das Nötige veranlassen.«
»Ich bin froh, daß er heil wieder da ist«, sagte Don Segundo. »Mit den Indianern im Quellgebiet des Rio Verde ist nicht zu spaßen.«
»Wenn du so besorgt um seine Sicherheit bist, so gib ihm nach Esperanza eine Schutzwache mit«, bemerkte Rocha. »Mit den Einwohnern am Mündungsdelta des Rio Verde ist auch nicht zu spaßen.«
Der Präsident überhörte den Einwurf. »Jedenfalls bin ich stolz darauf, daß er in gewissem Umfange meine alte Theorie bestätigt, die ja auch durch manche unserer Ortsnamen gestützt wird.« Er nahm einen der bemalten Schilde auf. »Nach seiner Meinung deuten diese Malereien auf gewisse Inka-Einflüsse hin, die durch Wanderung – –«
»Segundo«, sagte der Innenminister energisch, »ich bin in Staatsgeschäften gekommen.«
Ein Schatten flog über das Gesicht des Präsidenten; er legte den Schild aus der Hand und setzte sich. »Was gibt es denn?« fragte er mißtrauisch.
Rocha zog seufzend, mit spitzen Fingern, seine Beinkleider über den Knien hoch; er vermied es, seine Bügelfalten zu gefährden. »Ich habe verschiedene Gründe, anzunehmen, daß das Wirken des Generals Oronta demnächst in ein dramatisches Stadium treten wird.«
»Willst du damit sagen, daß du über besondere Informationen verfügst?« fragte der Präsident.
»Natürlich.« Rocha lächelte. »Sogar über ausgezeichnete Informationen. Schließlich will man wissen, woran man ist. Ich habe mir erlaubt, mir einen Nachrichtendienst aufzubauen, der pünktlich und zuverlässig arbeitet. Was man von unserem staatlichen Geheimdienst nicht behaupten kann.« Er zündete sich eine Zigarre an. »Natürlich«, fügte er gewissenhaft hinzu, als hätte er den Zusatz irrtümlich unterlassen.
»Und du findest es richtig, deine Informationen dem Ministerrat vorzuenthalten?« fragte der Präsident streng.
Rocha stieß mit einem zornigen Schnauben den Rauch durch die Nase. »Ich finde es richtig, mich persönlich auf dem laufenden zu halten, wenn ich auch leider nicht viel tun kann«, sagte er. »Und wenn ich etwas tun kann, so tue ich es auf eigene Faust und Verantwortung.« Die erwähnte wuchtige Faust fiel schwer auf sein Knie nieder. »Ich persönlich kann wenigstens dann und wann handeln. Das Strohgedresch im Ministerrat ist Zeitverschwendung.«
»Wenn du dieser Auffassung bist, so wundert es mich eigentlich, daß du deinen Posten nicht niederlegst«, sagte der Präsident zornig.
»Ein alter Maulesel wirft sein Geschirr nicht ab«, antwortete Rocha philosophisch. »Außerdem«, fügte er hinzu, »werden wir ohnehin bald ausgeschirrt.«
Der Präsident klopfte mit einem Bleistift auf die Tischkante; das helle Klicken tickte wie ein Uhrwerk durch den Raum. »General Esmeraldas hat mir versichert – –«
»Natürlich.« Diesmal kam das Wort mit offenem Spott. »Der Herr Kriegsminister und Oberste Befehlshaber des Heeres wird dir versichern, was du hören willst, wenn er Zeit gewinnen möchte, in den Anden auf seinen sagenhaften Zwerghirsch anzusitzen.«
Don Segundo sah aus dem Fenster. Von draußen tönte das regelmäßige Rollen eines Rasenmähers herein. Der indianische Gärtner arbeitete mit seinem Gehilfen im Park vor dem Regierungspalast. »Darf ich annehmen, daß du gekommen bist, um mich an deinen Informationen teilhaben zu lassen?« fragte der Präsident höflich.
»Natürlich.« Der Innenminister blickte prüfend auf den tadellosen Brand seiner Zigarre. »Es wird dir bekannt sein, daß Oronta im ›Grand Hotel Esperanza‹ so ziemlich ein ganzes Stockwerk für sich und seinen Stab belegt hat und dort Hof hält.«
»Das ist mir bekannt«, antwortete der Präsident. »Er wird sehen müssen, aus welchen Mitteln er seine Prachtliebe auf die Dauer finanziert – da es nachweislich nicht aus Staatsmitteln geschieht. Ich bin darüber nicht unterrichtet.«
»Aber ich«, sagte Rocha mit hörbarem Triumph. »Das Bankhaus Atkinson & Wineman hat ihm einen Kredit eröffnet.«
»So.« Der Präsident wandte sich. »Was bedeutet das nach deiner Meinung?«
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Rocha. »Wir haben im letzten Ministerrat vernommen, daß die Zahl der Arbeitslosen in Esperanza trotz der Wirtschaftskrise um dreitausend zurückgegangen ist. Ich kann dir verraten, wo sie geblieben sind: Oronta hat sie in das Heer eingestellt.«
Der Bleistift fiel hart auf die Tischplatte. »Das ist –«
»– – noch nicht alles, natürlich. Der Dampfer ›Presidente Dominguez‹ ist in den Hafen eingelaufen. Er hatte eine Ladung landwirtschaftlicher Maschinen an Bord.«
»Was hat denn das – –«
»Die Ladung wurde im Osthafen gelöscht und von einem Polizeikommando übernommen. Eine Nachfrage beim Polizeipräsidenten hat ergeben, daß ihm davon nichts bekannt ist. Natürlich.«
Der Präsident hatte sich erregt erhoben. »Die Ladung – –«
»– – wurde abends in die Nord-Kaserne geschafft. Vermutlich im Auftrage des Generals Oronta.«
»Aber was will er denn mit landwirtschaftlichen Maschinen?«
»Wahrscheinlich blaue Bohnen und Knallerbsen züchten.« Der Innenminister konnte sehr ironisch sein, wenn er wütend war. »Oberstleutnant Alejandro del Vecchio, Orontas Adjutant, hat die Ladung auf der Herreise begleitet. In Zivil, natürlich. Daraus ersiehst du, welches Ausmaß das landwirtschaftliche Interesse des Generals angenommen hat. Die Landwirtschaftliche Hochschule sollte ihn zum Ehrendoktor ernennen.«
Der Präsident hatte sich wieder gesetzt. »Weiter«, sagte er mit mühsam gewonnener Fassung.
Rocha schnaufte melancholisch; er strich sich nervös den dicken schwarzen Schnurrbart. »Es ist scheußlich, einen solchen Sack voll übler Nachrichten auspacken zu müssen«, sagte er.
»Mach dir deshalb keine Sorgen«, antwortete Don Segundo mit einer beschwichtigenden Handbewegung, und es klang, trotz aller Bedrücktheit, gütig und tröstend. »Ich muß jetzt alles wissen.«
»Der Kommandant des Korastaatenkreuzers ›Minnehaha‹ hat den Hafenbehörden mitgeteilt, daß die Maschinenreparatur seines Schiffes über den Voranschlag hinaus noch weitere acht bis zehn Tage beanspruchen wird.«
»Das wurde mir berichtet«, sagte der Präsident.
»Natürlich«, bemerkte Rocha. »Aber findest du es nicht merkwürdig? Mir kommt der Mann vor wie die alte Pe– – wie hieß sie doch gleich? – Penelope, die nachts das Gewand wieder auftrennte, das sie am Tage gewebt hatte. Jedenfalls« – er kam einem Einwurf des Präsidenten zuvor – »geht der Kommandant des Kreuzers bei General Oronta ein und aus.«
»Die Offiziere einer befreundeten Macht haben das Recht, mit unseren Offizieren kameradschaftlich zu verkehren«, sagte Don Segundo zurückhaltend.
»Natürlich«, antwortete der Innenminister. »Und sie haben so die Möglichkeit, sich mit ihnen ganz unauffällig über Dinge zu besprechen, von denen sie nicht wünschen, beziehungsweise wünschen dürfen, daß sie zur Kenntnis der Staatsführung gelangen.«
»Du mußt dich deutlicher erklären«, sagte der Präsident gereizt.
Rochas Blick war unverwandt auf seine Zigarre gerichtet. »Gern. Nehmen wir einmal an, es würden aus irgendeinem Grunde in der Stadt Unruhen ausbrechen. Bitte – ich sage: Nehmen wir es an. Was würde in diesem Fall der Kommandant des Kreuzers tun? Er würde eine Abteilung Marinesoldaten landen, um das Gebäude seiner diplomatischen Vertretung, also das Generalkonsulat, und die in der Stadt wohnenden Staatsangehörigen seines Landes zu schützen. Vielleicht wäre dazu sogar ein Anlaß gegeben; so etwas läßt sich arrangieren. Auf diese Art hätte man sozusagen eine Plattform, von der aus man eventuell wirtschaftliche Ambitionen wirksam unterstützen kann.
»Wenn ich dich recht verstehe«, sagte der Präsident nach einem Schweigen leise, »so bedeutet das alles nichts Geringeres, als daß du Oronta des Versuchs zum Hochverrat beschuldigst.«
»Beileibe nicht!« Die Antwort kam sehr rasch. »Ich will lediglich behaupten, daß er ausgezeichnete Gelegenheit hätte, das zu begehen, was du Hochverrat nennst – er seinerseits würde es vermutlich als staatspolitische Notwendigkeit und Vollstreckung des Volkswillens bezeichnen; und daß gewisse schwerwiegende Anzeichen auch auf seine Absichten in einer solchen Richtung hindeuten.«
»Ist damit nun die Reihe deiner Mitteilungen beendet?« fragte der Präsident nach einer Pause.
Rocha seufzte. »Leider noch nicht. Du entsinnst dich der Wirtschaftsabordnung, die über die Mineralkonzessionen verhandelte, und die du mit vollendeter Diplomatie seit drei Monaten durch die Arbeiten parlamentarischer Unterausschüsse hingehalten hast – so lange, bis der Leiter dieser Abordnung heimfuhr, um sich neue Anweisungen zu holen? Nun wohl, dieser Leiter ist ein stiller, aber einflußreicher Teilhaber des vorhin erwähnten Bankhauses Atkinson & Wineman. Er hat die Kommission selbst und seinen Sekretär in Esperanza zurückgelassen. Die Herren wohnen im ›Grand Hotel Esperanza‹.«
»Natürlich«, sagte der Präsident nicht ganz ohne Spott.
Der Pfeil prallte ab. »Außerdem«, fuhr Rocha fort, »habe ich mich für die Frage interessiert, weshalb der Hauptschriftleiter des ›Pueblo‹ seit wenigen Wochen in seinen Leitartikeln gegen die Regierung zu Felde zieht und dabei über vertrauliches statistisches Material verfügt. Die Frage ist verhältnismäßig einfach zu beantworten: Die Zeitung ist kürzlich durch einen Mittelsmann des Bankhauses Atkinson & Wineman aufgekauft worden. Seither konnte sie ihre Auflage verdoppeln.«
Der Präsident schwieg. Sein Gesicht war traurig und zerquält.
»Segundo« – Rocha neigte sich vor und sah in dieses kluge, vornehme, vertraute Gesicht – »willst du wirklich sagen, daß dir alle diese Dinge unbekannt waren?«
»Sie waren mir zum Teil bekannt«, antwortete der Präsident zögernd. »Wenngleich – – Aber du knüpfst daran Schlüsse, die auf Vermutungen und Hypothesen hinauslaufen.«
»Ich reihe Indizien zu einer Beweiskette zusammen«, antwortete der Innenminister. »Natürlich. Das ist die Gewohnheit des alten Advokaten.«
»Und zu welchem Schluß kommst du?«
»Ich komme zu dem Schluß, daß dem Lande Unheil droht. Oronta wird in naher Zukunft einen Putsch machen. Wenn er siegt, wird er eine Diktatur Oronta errichten. Der Mann hat das Draufgängertum eines Conquistadors und die Rücksichtslosigkeit eines Gauchos – der er ja auch einmal gewesen ist. Aber er ist im Grunde genommen weder ein Organisator mit schöpferischen Eigenschaften noch ein Staatsmann. Viel gefährlicher als er ist sein Adjutant.«
»Oberstleutnant del Vecchio?«
»Ja. Ich möchte wissen, was für geheime Pläne und Absichten in seinem Kopf gesponnen werden. Aber ich weiß nur, daß er seit einiger Zeit Fühlung mit dem geistlichen Zirkel um den Bischof von Esperanza gesucht und gefunden hat. Über Oronta selbst bin ich mir durchaus im klaren. Er will an die Macht. Und wenn er sie hat, wird er den Besitz und die Bodenschätze Nebradors an das ausländische Kapital ausliefern.«
»Dazu müßte er das Volk hinter sich haben«, sagte der Präsident.
»Caramba!« Der Innenminister fuhr auf, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Entschuldige. Das Volk –? Beim sogenannten gemeinen Mann und beim – verzeih – Hafenpöbel von Esperanza ist Oronta populär, weil er Pracht entfaltet, Paraden veranstaltet, Stiergefechte finanziert und Maisbier ausschenken läßt. Wenn es Krach gibt, wird Esperanza begeistert mitmachen. Die Pflanzer werden sich neutral verhalten. Die Abgeordnetenkammer wird abwarten und inzwischen unauffindbar sein. Die Indianer werden hinnehmen, was kommt; natürlich. Du weißt doch: Am stillsten und geduldigsten sind immer diejenigen, die am schwersten zu leiden haben. Und die vornehmen, stillen Bewohner von San Isidro werden – auf ihre Landgüter gehen. Das ist die Stellungnahme des ›Volkes‹.«
»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte der Präsident müde.
»Natürlich.« Rochas Stimme war sanft und freundschaftlich. »Du hast gerecht, vornehm und anständig regiert. Du warst ehrlich bemüht, jedem sein Recht zu lassen oder zu geben. Du hast beschwichtigt, vermittelt und ausgeglichen. Du hast wunderschöne Gesetze in der Abgeordnetenkammer durchgebracht. Aber du hast regiert, als ob die Bewohnerschaft unseres Landes aus lauter Leuten, wie sie in San Isidro wohnen, und aus lauter geduldigen, an ein Helotendasein gewöhnten Indianern bestünde. Und da sind verschiedene Fehler in deiner Rechnung; ich sage dir das nicht zum erstenmal. Du hast außer acht gelassen, daß niemand sich um deine schönen Gesetze kümmert, und daß die Korruption jede Reform zum Scheitern bringt, gar nicht zu reden von der Faulheit; du hast übersehen, daß deine Regierung aus lauter gemütlichen Illusionisten besteht, die alles mit dem Zauberwort ›mañana‹ lösen wollen. Ich bin kein Illusionist, aber ich bin gemütlich; frag meine Frau. Du hast nicht in Betracht gezogen, daß man gewisse ausländische Einflüsse nicht mit hinhaltender Taktik ausschalten kann. Du hast endlich vergessen, daß der aktivere Teil unseres Volkes ein explosives Gemisch von unberechenbaren Kräften ist. Das heißt – nein: vergessen hast du es nicht. In diesem Falle hast du sogar gehandelt. Aber du hast gemeint, du könntest dir diese Kräfte vom Halse schaffen, indem du General Oronta zum Hirten einsetztest. In Europa nennt man das ›den Bock zum Gärtner machen‹.«
Der Präsident hob den Kopf; ihm war ein Gedanke gekommen: »Würdest du es nicht doch richtig finden, mir deine Informationsquelle zu nennen – oder mir wenigstens etwas Näheres darüber zu sagen?«
»Das kann ich leider nicht«, versetzte Rocha. »Ich hatte das seltene Glück, eine – sagen wir: Persönlichkeit zu finden, die sich davon überzeugen ließ, daß sie die Pflicht und die Möglichkeit habe, dem Wohle unseres Landes zu dienen. Sie versieht ihren schweren und gefährlichen Dienst umsichtig, uneigennützig und ehrenamtlich. Jawohl: ehrenamtlich«, wiederholte er hitzig, als ein Lächeln über das Gesicht des Präsidenten glitt. »Du mußt verstehen, daß ich diese Persönlichkeit durch nichts gefährden darf, nicht einmal durch Nennung ihres Namens dir gegenüber.«
»Die Verschwiegenheit des alten Juristen«, sagte der Präsident vor sich hin. Er erhob sich und ging im Zimmer auf und ab; Rocha folgte ihm mit den Augen. Es gab eine lange Stille. »Ein Kampf«, sagte Don Segundo schließlich, »wäre ein schreckliches Unglück für das Land.«
»Natürlich«, bemerkte Rocha. »Besonders jetzt, und besonders für uns. Wir hätten ihn schon vor langer Zeit führen müssen. Das habe ich auch ohne meine jetzigen Kenntnisse gewußt. Aber ich bin nun einmal kein Staatsmann, und ich hätte in meiner Kanzlei bleiben sollen. Sie ging ausgezeichnet.«
»Was kann Oronta wagen?« sagte der Präsident aus tiefem Nachdenken heraus. »Die Kommandanten unserer Garnisonen haben mir noch in jüngster Vergangenheit Loyalitätserklärungen abgegeben.«
»Natürlich. Come no!« Rocha rieb sich erheitert die Knie. »Ich möchte den ausgemachten Esel sehen, der jetzt keine solchen Erklärungen abgibt, wenn es um die Freiheit des Handelns geht. Außerdem sind natürlich auch Gegenströmungen und Einzelgänger da, und Oronta wird wissen, daß er sich in acht nehmen muß. Aber darauf können wir keine Hoffnung setzen. Heute Morgen« – er hob die Stimme – »bekam ich absolut zuverlässige Berichte, daß die Offiziere in Salamanca, Tierra Ardiente und La Tacunga bei Zusammenkünften in den Kasinos orontistische Kokarden getragen und Hochrufe auf Oronta ausgebracht haben.«
Der Präsident blieb unvermittelt stehen; er blickte auf den Teppich nieder, sein Gesicht war plötzlich von hölzerner Ausdruckslosigkeit. Schließlich ging er mit schwerfällig schleppenden Schritten zum Schreibtisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Nach drei Jahren meiner Regierung«, sagte er vor sich hin. Schließlich hob er den Kopf. »Es muß etwas geschehen.«
»Natürlich«, antwortete der Innenminister. »Es wird auf jeden Fall etwas geschehen, darauf können wir uns verlassen. Was willst du tun? Willst du kämpfen?«
»Ich bitte dich«, sagte der Präsident, ohne den Einwurf zu beachten, »deine Informationen zu einem Bericht zusammenzufassen und mir zuzuleiten. Auf die Nennung deiner Quelle kannst du verzichten. Natürlich stehst du für ihre Zuverlässigkeit ein.« Er griff zum Hörer seines Tischfernsprechers und drückte auf einen Knopf. »Basurto soll sofort zu mir kommen«, befahl er. Dann, als der Hörer wieder auf der Gabel lag, wandte er sich erneut dem Innenminister zu: »Richte dich bitte so ein, daß du dein Material bis heute Abend zusammengestellt und möglichst noch ergänzt hast. Ich will es dann nachts« – Rocha seufzte hörbar – »mit dir durcharbeiten. Morgen früh findet ein außerordentlicher Ministerrat statt.«
»Natürlich«, sagte Rocha und erhob sich. Er warf einen Blick in das Gesicht des Präsidenten, wollte noch etwas sagen, räusperte sich und ging. Die gepolsterte Tür glitt geräuschlos hinter ihm zu.
Der Präsident ging ans Fenster und sah hinaus. Der Gärtner drunten hatte die Arbeit eingestellt, und seine Gehilfen waren in schuldiger Ehrerbietung seinem Beispiel gefolgt. Sie alle standen, auf ihre Arbeitsgeräte gestützt, und blickten zu den Bergen hinüber. Ihre roten Ponchos leuchteten in der Sonne; ihre bronzenen Gesichter waren reglos und ohne Ausdruck, aber der Präsident wußte, daß in ihren Augen eine unauslöschliche Erinnerung, eine ungestillte und ewig unstillbare Sehnsucht brannte. Diese Sehnsucht, dachte der Präsident droben am Fenster, sie verbindet uns – mich, den Nachfahren der alten spanischen Eroberer, die sich des Landes bis zu den Ausläufern der Berge bemächtigt haben und es noch heute zu beherrschen wähnen; und euch da unten, die Nachfahren des indianischen Volkes, das einst dieses Land in wilder Freiheit besaß. Unsere Sehnsucht geht, bewußt die meine, unbewußt und von Knechtschaft und Weihrauch erstickt die eure, zu verschiedenen Zielen; aber beide Ziele haben ein Gemeinsames: Sie sind unerreichbar. Was wird aus dem Lande, das euch nicht mehr gehört und uns nicht mehr gehören soll?
Der Präsident seufzte und wandte sich dem Sekretär Basurto zu, der mit glattem, geschmeidigem, beflissenem Lächeln das Zimmer betrat.