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9

Es ist Mittagessenszeit für das Personal. Nicht alle essen gleichzeitig und freilich auch nicht alle im gleichen Raum.

Nein, es gibt sehr viele und verschiedenartig eingerichtete Räume. Rein äußerlich wird so schon die besondere Stellung des Personals stufenweise zum Ausdruck gebracht. Die Trennung erfolgt aber nicht nur nach der Stellung, sondern auch nach den Geschlechtern und der Rasse: Männer und Frauen essen in getrennten Räumen, die Neger werden nicht mit den Weißen vermischt.

Die erste Stufe der verschiedenen Kategorien nimmt die Direktion ein. Sie kann man allerdings kaum zum eigentlichen Personal zählen; sie ißt auch nicht, sie speist. Hier geht es zu, als handele es sich um Gäste: weiche Teppiche, die jedes Geräusch ersticken, vornehme und lautlose Kellner, feinstes, blendendweißes Linnen, bestes Porzellan, Kristallgläser und vollständigste Auswahl nach der Speisekarte.

Die zweite Kategorie bilden die höheren Angestellten, die »Offiziere«. Sie werden von weißgekleideten Kellnerinnen bedient – weiße Uniformen, weiße Strümpfe, weiße Schuhe. Die Kellnerinnen bedienen höflich, sie wahren einen gewissen Abstand zwischen sich und den »Offizieren«. Aber doch nicht in dem Maße, als wären es erstklassige Gäste. Überhaupt ist hier wohl alles sauber und appetitlich, doch nichts erstklassig. Die Linnen sind schon etwas verwaschen, das Silber weist stellenweise winzige Kratzer auf, das Porzellan ist billigeres Fabrikat.

Die mittleren Angestellten bedienen sich schon selbst. Auf glänzend polierten Tabletts suchen sie sich Speisen aus, die allerdings nicht mehr in so großer Auswahl zur Verfügung stehen. Das gebrauchte Geschirr, das schon kleine Defekte aufweist, wird von jungen Mädchen abgeräumt, die sich hier für den Kellnerinnenberuf einüben. Das Linnen weist kleinere Flecken auf, die von dem gestrigen Mahl der höheren Angestellten stammen.

Die niedrigeren Angestellten, die Haushälterinnen, Telefonistinnen, Stenotypistinnen, die Kellnerinnen der Teeräume und Sodaquellen haben ihren Raum für sich. Auch sie bedienen sich selbst, natürlich schon ohne Auswahl, sie nehmen das, was man ihnen zuweist. Die Tischtücher sind schon gehörig bekleckst; sie zeigen auch schon die Spuren der Mahlzeiten der mittleren Angestellten. Das Geschirr und das Silber, das kein Silber mehr ist, zeigen allerlei Defekte.

Trotzdem atmet auch dieser Saal noch eine gewisse Vornehmheit im Vergleich zu dem folgenden, der Speiseanstalt für die Angestellten der niedrigsten Stufe.

Hier essen die Scheuerfrauen, die Stubenmädchen, die Wäscherinnen, die Wäschereimädchen, natürlich nur die weißen. Die Negerinnen essen in einem kleineren Nebenraum. Man hört bis hierher ihr lautes Lachen und Kreischen.

Dieser Riesenraum für das niedrigste weiße weibliche Personal ist durch ein Holzgitter in zwei ungleiche Hälften geteilt.

Die kleinere umfaßt die Küche, den Abwasch und die Speiseausgabe.

In riesigen Blechkesseln werden hier die Mahlzeiten gekocht und dann in heißes Wasser gestellt, wo sie der Verteilung harren.

Der Abwasch befindet sich in der Nähe der Speiseausgabe. Er weist keinerlei neuere Errungenschaften auf. Vor ihm stehen vollkommen stumpf-müde Einwanderer, die noch kaum ein englisches Wort kennen. Hier fangen viele an, beim Abwasch. Die Gesichter wechseln oft, aber nicht die trostlosen Mienen. Die Füße stehen im Wasser, es sind keine Vorkehrungen getroffen, sie gegen Nässe zu schützen. Beim Abwasch stellt man immer Fremde nebeneinander, keine Landsleute. Hier braucht ja auch einer den anderen nichts zu lehren.

Immer die gleichen Bewegungen. Die Speisereste werden mit der Hand vom Teller in den Mülleimer abgewischt, der in der Nähe steht und von Stunde zu Stunde einen scheußlicheren Gestank verbreitet. Es gibt viele Speisereste. Die hier Essenden bringen selbst ihre Teller zum Abwasch, oft geben sie dem vollkommen unschuldigen Geschirrwäscher von ihrer Unzufriedenheit mit dem Essen Kenntnis:

»Das sollte man Schweinen vorsetzen, nicht uns. Puh, was für ein Fraß.«

Die Geschirrwäscher verziehen dann aber nicht ihr Gesicht, um so weniger, weil sie ja kaum ein Wort verstehen.

Dann werfen sie die Teller in das heiße Wasser, ziehen sie wieder heraus und stellen sie hin – zu neuem Gebrauch.

Die größere Hälfte des Raumes dient als Speisesaal. Hier stehen in kaum übersehbarer Reihe lange, schmale Holztische und lehnenlose Bänke.

Auf diesen Tischen bilden sich gleich nach den ersten Essenden Suppenlachen und Speiserestehügel, die dann im Laufe der Mahlzeit den ganzen Tisch überschwemmen.

Der große Raum ist erfüllt von einem undefinierbaren Geruch von Schweiß und Müll, Spülwasser und schlechten Lebensmitteln.

Auch hier bedient man sich selbst, nimmt ein Tablett aus Blech, das meist an irgendeiner Stelle verbogen ist, und ein Besteck, gleichfalls aus Blech, mit allerlei individuellen Zügen. Jede Gabel, jeder Löffel, sogar die Messer haben im Laufe der Zeit eine besondere Gestalt angenommen, als wären sie genauso vom Leben gezeichnet, wie jene Personen, die gezwungen sind, sie zu benutzen.

Die Teller lassen unter der abgeschabten Glasur ihre ursprünglich graue Farbe durchschimmern.

Die Speiseausgabe wird von einigen völlig erschöpften Kreolen besorgt, die immer wieder monoton und doch verzweifelt die Herandrängenden zur Geduld oder Schnelligkeit mahnen.

»Weiter!«

»Ja gleich, wir haben nur zwei Hände.«

»Weiter!«

Obgleich das Personal der niedersten Stufe immer erklärt, keine Suppe hier mehr anzurühren, so drängen doch alle jeden Tag aufs neue mit ihren Tellern zu den Suppenverteilern, immer in der Hoffnung, der Fraß könnte einmal unerwartet einen angenehmen und kräftigen Geschmack haben.

Im Speiseraum stehen mächtige Kübel, angehäuft mit Pellkartoffeln. Diese bilden das wichtigste Nahrungsmittel vieler, besonders aller irischen Scheuerfrauen. Jeden Tag bekommt man sie zweimal, und es sind diese Kübel, die am schnellsten leer werden.

Die Frauen nehmen die Pellkartoffeln in ihre Schürzen oder in ihre Röcke, die sie ein bißchen hochschürzen, wie es Bäuerinnen tun. Manche nehmen von den Pellkartoffeln bis zu einem Dutzend, es ist alles, was sie essen. Es gibt auch einige ganz verhutzelte alte Weiber, die in einem Blechgefäß, wie man sie bei Bettlern sieht, manche noch aufheben und mit viel Vorsichtsmaßregeln hinausschmuggeln, vielleicht als Geschenk für Verwandte.

Man ißt auf wenig zeremonielle Art. Die Kartoffelschalen häufen sich auf den Holztischen, oder man wirft sie einfach auf die Erde.

Nanny, die älteste Scheuerfrau, die einer Holzstatue gleicht, gehört zu denen, die meist als erste den Speiseraum betreten. Sie holt sich jedesmal einen Teller Suppe und einige Pellkartoffeln. Nachdem sie zwei Löffel voll von der Suppe gegessen hat, schiebt sie den Teller weit von sich und widmet sich den Kartoffeln. Sie arbeitet im Hotel Amerika, seitdem es erbaut wurde, und kann sich noch an die allerersten Anfänge des Hotels erinnern. Sie hat mit eigenen Augen die ganze ungeheuere Entwicklung des »dear old little New York«, des »lieben alten kleinen New Yorks« mit angesehen. Alles hat sich geändert, nur nicht die Suppe. Immer versucht sie ihr Glück, aber nie gelingt es ihr, mehr als zwei Löffel voll hinunterzuwürgen.

Seitdem sie keine Zähne mehr hat, ißt sie im Speiseraum hauptsächlich nur noch die Kartoffeln. Sie kratzt die Pelle, dann bricht sie ein Stück von der Kartoffel, zerdrückt es zwischen zwei Fingern und schiebt es in den zahnlosen Mund.

Heute aber, nachdem sie den ersten Bissen verschluckt hat, läßt sie die Kartoffel auf den Tisch fallen und wendet sich gleich einer anderen zu. Aber die ist innen bläulich, es lohnt sich nicht, sie erst zu versuchen. An der dritten riecht sie aufmerksam, auch die ist schlecht.

Sie ist die erste, die es feststellt: die Kartoffeln sind faul.

Inzwischen wird der Raum immer voller, die Frauen kommen mit ihren Kartoffeln. Man schält sie, während die immer gleichen Witze, die bei dieser Gelegenheit üblich sind, die Runde machen.

»Das ist doch das einzige Gericht, das unsere Köche zuzubereiten verstehen.«

»Wißt ihr, warum man die Haut der Kartoffel abziehen kann?«

Die Fragenden warten meist auf keine Antwort und sagen gleich lachend:

»Damit auch die Armen jemandem die Haut abziehen können, das ist doch klar.«

Aber die Witze hören auf, sobald sie in die Kartoffeln beißen.

»Heute schmeckt ja nicht mal dieses Zeug.«

»Das sind keine Kartoffeln, das sind Stinkbomben.«

»Man verwechselt uns mit Schweinen.«

»Wieso? Die haben wahrscheinlich uns diese Kartoffeln übriggelassen.«

Der Lärm wird immer größer. Es ist ein anderer als sonst, nicht das allgemeine Gesumme, das gewöhnlich menschenvolle Räume erfüllt. Heute ist er schärfer, schriller und lockt auch die Leute aus anderen Sälen herbei.

Es kommen die Negerinnen und halten gleichfalls Kartoffeln in den Händen. Auch sie haben keine besseren bekommen.

Es kommen einige Haushälterinnen, die wie aufgescheuchte Hühner von einer Gruppe zur anderen hüpfen und zu beschwichtigen versuchen. Sie wissen selbst nicht, ob es besser sei, den aufgeregten Frauen recht zu geben, oder die Tatsache, die Kartoffeln seien faul, zu leugnen.

So sagen sie unverbindliche Worte mit freundlicher Miene, wie:

»Freilich, freilich.«

»Immer nur die Ruhe.«

»Das beste ist, sich nicht aufzuregen.«

Sogar Männer erscheinen jetzt im Speiseraum der weiblichen Angestellten.

Diese Männer gehören gleichfalls zu den Angestellten der untersten Stufe, und auch sie haben Pellkartoffeln erhalten, die ihnen wenig schmackhaft erschienen. Nur hatten sie anfangs diese Tatsache gleichgültiger als die Frauen aufgenommen. Erst als sie von der Aufregung bei den Frauen erfuhren, wurden auch sie widerspenstig, begannen Krach zu schlagen und machten sich, reich mit den schlechten Kartoffeln ausgestattet, auf den Weg zu dem Speiseraum des weiblichen Personals.

Der des männlichen Personals unterster Stufe ist noch weniger angenehm als der der Frauen, denn in Amerika genießt ja die Frau eine Vorzugsstellung. Sie wird im Hotel Amerika auf diese Weise dokumentiert.

Der Speiseraum des niedersten männlichen Personals befindet sich drei Stock tief unter der Erde. Es stinkt hier wie in einem Schiffsraum, in den nie Luft, Licht und Sonne dringt.

Hier essen alle Schwerarbeiter des Hotels, die Hausmänner, die die Korridore reinigen und die schweren Staubsauger handhaben, die Männer, die die Wände in den Zimmern abwaschen, die Fensterputzer, die Kammerjäger, die »nützlichen Männer«, wie man jene nennt, die die Marmorböden und Steinfliesen aufzuwaschen haben, die Heizer, auch die Träger, die Pagen und die Küchenjungen.

Fritz soll hier heute zum erstenmal essen. Es flimmert vor seinen Augen, seine Hände zittern, die Füße brennen wie Feuer; die Krankheit und die lange Arbeitslosigkeit haben ihn schlapp gemacht, er ist den körperlichen Anstrengungen nicht genügend gewachsen.

Doch er hat Hunger. Der Aufenthalt in der Küche, zwischen all den Leckerbissen, hat seine Magennerven angeregt. Er hatte sich ordentlich gefreut, als er in einem Nebenraum der Küche einen nett gedeckten Tisch erblickt hatte. Wenn man in der Küche arbeitet, dachte er, bekommt man wenigstens etwas Anständiges in den Magen.

Aber er sollte eine schlimme Enttäuschung erleben. Der nett gedeckte Tisch war ausschließlich für die Köche bestimmt, und er, der Küchenjunge, mußte sich trollen.

Im Speiseraum ist es schon voll, die Leute sitzen dicht gedrängt nebeneinander. Die Männer schlürfen die Suppe, ohne viel darüber nachzudenken, was sie essen; sie sind, wenn sie Hunger haben, weniger wählerisch als die Frauen.

Fritz aber wird es ganz übel in der ungewohnten Luft, er wird hin und her geschoben und findet keinen Platz.

Er hält Umschau nach dem Gemüseträger, von dem August gesprochen hat. In dem Gewoge von Menschenkörpern und Köpfen ist es aber schwer, einen einzelnen zu entdecken.

Man weiß nicht, wie die Kunde von den Ereignissen im Speiseraum des weiblichen Personals nach unten gedrungen war. Wahrscheinlich erzählte davon einer der Speisenträger. Kaum ist die Nachricht bekannt geworden, lassen viele ihre Speisen stehen und ziehen nach oben.

Und hier, vor dem Eingang, trifft Fritz mit dem Gemüseträger, den er vorhin vergeblich gesucht hatte, zusammen.

Er erkennt ihn sofort und spricht ihn an. Fritz möchte einen Kameraden haben, der ihm in diesem Chaos einen Weg weisen könnte. Es ist nicht leicht, sich hier zurechtzufinden.

Der Gemüseträger gibt ihm gern Auskunft.

»Es ist bisher noch nicht viel geschehen, um die Leute einander näherzubringen. Die meisten würden noch nicht einmal zugeben, daß man sich zusammenschließen muß, um etwas zu erreichen.«

»Aber heute geht es ja ganz toll zu.«

»Toll geht es schon manchmal zu, aber es ist immer nur Strohfeuer. Wenn es darauf ankommt, ihnen begreiflich zu machen, daß nur durch Ausdauer und Organisation etwas zu erreichen ist, rücken sie einfach aus. Das kommt davon, weil wir hier alle so provisorisch leben, und wenn wir auch fünfzig Jahre ein und dasselbe tun. Alle glauben, morgen beginnen sie was anderes, fahren womöglich zurück in die Heimat oder eröffnen ein Geschäft und werden reich. Keiner will es wahrhaben, daß er doch gezwungen wird, denselben Dreh sein ganzes Leben lang zu machen.«

Der Speiseraum ist jetzt gedrängt voll. Man sieht fuchtelnde Arme, aufgerissene Münder, diskutierende Gruppen.

Fast niemand sitzt an den Tischen. Zu den wenigen gehört Patrizia. Ihr Dutt ist verrutscht; sie hat die Brille aufgesetzt und versucht nun mit großer Geduld, genießbare Kartoffeln herauszufinden. Sie prüft jede einzelne sehr aufmerksam, beriecht sie, bevor sie dann sehr vorsichtig eine kostet.

Die Stimmung wird immer lebhafter; es ist etwas Neues, daß hier im Speiseraum Frauen und Männer, Schwarze und Weiße zusammentreffen.

Besonders die Jugend findet es unterhaltend, so zusammenzustehen und zu schimpfen.

Fritz entdeckt auch Shirley, die zu jenen gehört, die am lautesten ihre Klagen vorbringen. Sie zählt, trotz ihrer Jugend, zu den »Alten«; so werden alle genannt, die schon seit einer Reihe von Jahren im Hotel arbeiten.

Sie war noch ein Kind, als sie hier zu arbeiten begann.

Shirley gefällt Fritz jetzt besser als vorhin in der Küche. Sie vergißt ganz, die Hochmütige zu spielen.

»Nun, siehst du, ich habe doch vorhin richtig geahnt, wir würden uns noch heute mittag treffen und wieder sprechen.«

Shirley erinnert sich sofort ihrer hochfliegenden Pläne und wendet sich von Fritz ab.

»Ich kann es nicht ändern, daß wir uns treffen, aber ob wir miteinander sprechen, ist meine Sache.«

Ingrid ist freundlicher. Salvatore ist neben ihr aufgetaucht, sie freut sich, daß sie mit jemandem über alles, was um sie herum geschieht, sprechen kann. Seitdem sie hier ist, hört sie nichts weiter als Klagen, aber sie wurden immer nur im Flüsterton und dann vorgebracht, wenn niemand von dem Aufsichtspersonal es hören konnte.

Und nun sprechen sie alle ohne Scheu. Ingrid findet das wunderbar.

»Ich mag hier eigentlich nur Eis essen; wenn es sehr heiß ist, bekommen wir es.«

»Die Männer bekommen gar kein Eis, siehst du, ihr Frauen habt es doch immer besser.«

»Das sagt ihr nur so. Du glaubst es doch nicht wirklich? Oder möchtest du mit mir tauschen?«

»Nein, nein, ich möchte kein Mädchen sein; außerdem kann ich zu Hause Eis essen, soviel ich will. Mein Vater hat eine kleine Konditorei.«

»So gut hast du es?«

Im Saal wächst die Aufregung, als auch der Aufzugsführer, der heute früh dem Lift durch zwanzig Stockwerke nachlief, von zwei Männern gestützt eintritt.

Er ist noch sehr blaß und kann nur mit Schwierigkeit sprechen.

Er selbst wollte nicht kommen, man hat ihn aber mitgeschleppt.

Seine einzige Sorge ist, daß niemand vom Aufsichtspersonal ein Wort über die Angelegenheit erfährt; aber sie lassen ihn nicht, die anderen, sie wollen, daß es bekannt wird. Sie schreien, daß man ihr Leben durch schlecht funktionierende Aufzüge gefährde. Der Führer weiß, daß man ihn keines Versäumnisses beschuldigen kann, und doch zweifelt er keinen Augenblick daran, daß, sollte man die Sache zur Sprache bringen, die Direktion nur ihn entlassen und erklären würde, die Aufzüge funktionierten vorschriftsmäßig.

Deshalb flüstert er in einem fort den Herumstehenden, die seinen Fall erzählen und auf ihn zeigen, zu: »Schweigt, schweigt doch.«

Im Raum taucht immer zahlreicher Aufsichtspersonal auf. Die schwarzen Seidenkleider der Haushälterinnen sind vollzählig hereingerauscht. Aus den Sälen der höheren Stufen kommen immer mehr, um sich den Sturm in der Unterwelt anzusehen. Manche sind peinlich berührt, andere finden das Gehabe wegen ein paar schlechter Kartoffeln nur komisch. Sie versuchen aber zu beschwichtigen, da ihnen rechtzeitig einfällt, wie oft schon auch höhere Angestellte niedrigste Arbeit verrichten mußten, wenn die hier unten ihren Pflichten nicht nachkommen wollten.

Aber die Beruhigungsversuche bleiben völlig erfolglos. Im Saal summt es immer lauter und drohender. Da betritt eine Persönlichkeit aus der höchsten Stufe des Hotelpersonals den Raum: der Personaldirektor, der sich nur selten zu zeigen pflegt.

Vorläufig wird er übersehen. Erst als er auf einen hohen Stuhl steigt und so über den Köpfen der Menge auftaucht und von einigen Leuten erkannt wird, die ihre Kenntnis den anderen weitergeben, beginnt es etwas ruhiger zu werden. Der Direktor ist von unübertrefflich jovialem Wesen. Seine Freundlichkeit ist im Hotel geradezu sprichwörtlich. Er hat genau berechnet, daß neu eingestellte Leute erst nach vier Wochen die Arbeitsleistung der »Alten« erreichen. Er hat auch genau berechnet, welche Verluste dem Hotel durch häufiges Wechseln des Personals entstehen. Er hat das alles genau in Ziffern, statistisch und prozentual, schwarz auf weiß, auf dem Papier. Haushälterinnen, deren Obhut Stubenmädchen und Scheuerfrauen in größerer Anzahl entfliehen, kommen bei ihm bald auf die schwarze Liste. Man muß aus den Leuten auf liebenswürdige Weise so viel herausholen, wie überhaupt möglich. Sie dürfen es selbst gar nicht merken, denn das Personal, das nicht wissenschaftlich und statistisch rechnet, wirft einfach alles hin und geht spazieren, wenn man ihm unfreundlich begegnet.

Die Stimme des Direktors, die vor lauter Freundlichkeit etwas zittert, dringt nur schwer durch.

Er muß einige Male den gleichen Satz wiederholen, bis er sich der Hoffnung hingeben kann, gehört zu werden.

»Nun, ihr Leute, was ist eure Beschwerde?«

Die Antworten aus allen Ecken des Saales tauchen im großen Lärm unverständlich unter.

Man hört nur wie einen Refrain die sich immer wiederholenden Sätze:

»Die Kartoffeln stinken!«

»Die Kartoffeln sind faul!«

Der Direktor sieht die Neger im Saal, er sieht die Männer im Saal, und er beginnt mit angenehmer Stimme, die aber weit trägt, sich an diese zu wenden.

»Unsere farbigen Freunde und Freundinnen werden die Freundlichkeit haben, in ihre Speiseräume zu gehen. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, ist dieser Raum auch nur für das weibliche Personal bestimmt, und ich möchte deshalb die Männer bitten, in ihren Speisesaal zu gehen.«

Aber nur sehr wenige folgen dieser Aufforderung. Die Zurufe werden lauter.

»Nee, mein Lieber, wir bleiben hier, man setzt uns den gleichen Fraß vor wie den Frauen, wir können ebensogut zusammenbleiben.«

»Ich spreche in eurem eigenen Interesse, wir kommen besser vorwärts, wenn wir die Ordnung aufrechterhalten.«

»Ordnung! – als ob das in Ordnung wäre, uns verdorbene Lebensmittel vorzusetzen.«

Der Direktor sieht die Stimmung und besteht vorläufig nicht weiter auf seinem Wunsch.

»Nun, wem haben die Kartoffeln nicht geschmeckt?«

Der ganze Saal braust auf, alles schreit und ruft durcheinander.

»Geschmeckt, das hat er gut gesagt! Keinem einzigen schmeckt es hier.«

»Man könnte es ganz gut bis zu den Direktionszimmern riechen, daß die Kartoffeln faul sind.«

»Du hast wohl Schnupfen, Oller, daß deine Nase nichts vom Gestank merkt.«

Der Direktor läßt sich nicht aus seiner Ruhe bringen. Väterlich spricht er weiter.

»Liebe Kinder, wenn ihr alle gleichzeitig auf mich einschreit, wie soll ich euch verstehen? Jeder einzelne kann mir seine Beschwerden sagen, und ich werde ihn anhören und für Abhilfe sorgen. Aber wenn ihr alle gleichzeitig schreit, verstehe ich nichts, ihr macht mich taub. Also bitte, es komme jeder einzeln zu mir.«

Einzeln, jeder einzeln! Die Masse ist plötzlich wie gelähmt. Man weiß, was es bedeutet, einzeln vorzutreten. Der Direktor weiß, was er will. Er kann auf diese Weise leicht die Unzufriedenen feststellen. Die Unzufriedenen, die es auch wagen, offen ihre Unzufriedenheit zu bekennen. Unter den »goldenen Regeln« des Hotels, deren Kenntnis jedem Angestellten ans Herz gelegt wird, befindet sich auch folgende:

»Das Hotel duldet unter dem Personal keine Unzufriedenen.«

Von verschiedenen Seiten ertönt der Ruf: »Einer kann für alle reden, wir haben alle die gleichen Beschwerden.«

Nein. Der Direktor geht darauf nicht ein, jeder kann nur für sich reden. Allgemeine Klagen anzuhören sei er nicht in der Lage – er wiederholt es noch einmal.

»Wem haben die Kartoffeln nicht geschmeckt? Der soll doch herkommen und sie mir zeigen.«

Es wird immer stiller im Raum.

Der Direktor hat durch Ziffern die genauen Verluste des Hotels durch Personalwechsel festgestellt. Das Personal braucht keine genauen Ziffern. Jeder weiß, was er verliert, wenn er Arbeit suchen muß. Die Verluste des Hotels werden mit Abertausenden multipliziert, und sie ergeben sicher eine recht stattliche Summe. Die Verluste des Personals, der Einzelwesen, sind im Grunde lächerlich gering; sie verlieren nur einige Dollars. Aber diese wenigen Dollars bedeuten für sie das Leben, die nackte Existenz. Alle denken jetzt schaudernd an die Tage der Arbeitssuche, an die Stellenvermittlungsbüros. Und dann: das Anstehen frühmorgens vor den Fabrikkontoren, das Studium der »Kleinen Anzeigen« in der »World«, die Hetze, die Angst vor dem Zuspätkommen, das Grauen vor dem Satz, der ihnen überall entgegengeschleudert wird: »Keine Arbeit mehr.« »Alle Stellungen schon besetzt« ...!

Besonders die Älteren, die am schwersten neue Arbeit finden können, überlegen sich, wie alles werden könnte, wenn sie wieder auf der Straße säßen.

»Meine Liebe, dieses grüne Gemüse macht hier einen Radau«, sagt eine alte Scheuerfrau zu der anderen, »das überlegt sich nicht, wie es noch weiter kommen könnte. Geht da meine Schwester vorige Woche auf eine Anzeige hin in das neue ›Luxusturm-Appartementhaus‹. Es wurden Scheuerfrauen gesucht. Der Portier fragte, wie sie heiße. Nun, Smith, und nicht anders. Warum er das wissen will? Nun, weil heute nur Frauen hereingelassen werden, deren Name mit ›F‹ anfängt, sonst wäre die Auswahl und das Gedränge zu groß.«

»Ja, man muß es sich zweimal überlegen, bevor man sich feuern läßt.«

Zwei Jüngere sprechen.

»Es ist wahrhaftig noch besser, als Dienstmädchen zu gehen, dann hat man wenigstens sein anständiges Essen und Zimmer und besseren Lohn.«

»Und du hast den ganzen Tag und den ganzen Abend keinen Augenblick deine Ruhe! Ich kann dir nur sagen, ich habe meinen eigenen Namen gehaßt. Immer das Rufen, das Herumkommandieren. Jetzt habe ich wenigstens meine Ruhe. Und wenn die Uhr vier schlägt, dann hat mir keiner mehr was zu sagen.«

»Nun, wem haben die Kartoffeln nicht geschmeckt?«

Der Direktor scheint winzig inmitten der hin und her wogenden Menge, aber er repräsentiert die Macht, und jeder kennt die Bedeutung seiner Worte.

»Wir wählen einen Vertrauensmann, der für uns alle spricht.«

Das ist Fritzens Stimme, die unbeachtet untergeht.

»Jeder komme einzeln, ich werde die Beschwerden prüfen.«

Der Direktor ändert nicht seine Taktik.

Es wirkt überraschend und befreiend, als endlich die alte Nanny hervortritt und sich zu dem Direktor einen Weg bahnt.

In ihrer Hand mit den fast fingerdicken Adern, dieser Hand, die aussieht, als wäre sie aus hartem, braunem Holz geschnitzt, hält sie eine glitschige, bläulich-schwarze Kartoffel, die Spuren ihrer Nägel aufweist. Diese Kartoffel streckt sie dem Direktor zu.

»Die Kartoffel ist faul, Herr, alle sind wie diese.«

Der Direktor nimmt die Kartoffel zwischen zwei Finger – zwei Finger, die weiß und glatt sind, gekrönt von glänzenden, rosigen Nägeln, die heute früh eine halbe Stunde lang von noch weißeren Mädchenfingern behandelt wurden. Mit diesen Fingern also nimmt er die Kartoffel und entkleidet sie völlig ihrer Schale.

Und beginnt zu essen! Aller Augen sind auf ihn gerichtet. Er ißt, als befände er sich auf einer Bühne, als führe er ein Schauspiel vor.

Beobachtete man nur sein Mienenspiel, so müßte man annehmen, er verzehre eine besondere Delikatesse. Seine Zunge prüft feinschmeckerisch jeden Bissen. Er begnügt sich keineswegs mit halber Arbeit. Die ganze Kartoffel verschwindet zwischen dem Zahngehege.

Die Leute beobachten ihn, als wäre er ein Zauberkünstler, der ihnen ein besonders schwieriges Kunststück vorführe.

Sie machen allerlei Zwischenbemerkungen, feuern ihn an und erleichtern ihre Wut durch boshafte Zurufe.

»Alterchen, du hast einen prima Magen, das kommt von der guten Pflege, die du dir angedeihen läßt.«

»Gib acht, daß dir die Stinkkartoffel nicht hochkommt, wenn du deine Bücklinge machst.«

Die jüngeren Männer, die einen Kartoffelvorrat mitgebracht haben, beginnen ihn sogar zu bombardieren.

Eine Kartoffel, die innen ganz schwarz ist und weich, fliegt dem Direktor zu, streift seine Schulter und klatscht dann zu Boden.

»Friß die!«

Am lautesten sind die ganz jungen.

Salvatore zielt mit Schwung, unter Ingrids bewundernden Blicken, eine ausgewachsene Kartoffel, die nur einige Millimeter weit die Nase des Direktors verfehlt.

Sie haben keine Angst mehr, sie sind wieder eine große Masse, in der man keinen einzelnen erkennen kann. Der Direktor findet, daß es notwendig sei, entgegenkommendere Töne anzuschlagen.

Er trocknet mit einem Taschentuch seine Finger und ruft dann mit gleichmäßig freundlicher Stimme, als habe er nichts von dem unbotmäßigen Betragen bemerkt, der Menge zu:

»Nun, Leute, ihr laßt mich kaum zu Worte kommen, ich will ja nicht behaupten, die Kartoffel sei gut. Es wäre aber auch unwahr, zu sagen, die Kartoffel sei ungenießbar. Nun, sie ist etwas angefroren, viele würden das wahrscheinlich gar nicht merken, zum Beispiel ich, wenn ihr mich nicht vorher aufmerksam gemacht hättet.«

»Ja, man muß so verwöhnte Gaumen haben wie wir, man verwöhnt uns zu sehr, Chef.«

»Wollt ihr mich vielleicht ausreden lassen? Ich werde natürlich sofort Abhilfe schaffen. Unsere Einkaufzentrale erhält genügend Mittel, um euch tadellose Nahrungsmittel vorsetzen zu können. Ich verspreche euch die genaueste Untersuchung; wenn ich Mißstände entdecken sollte, werde ich unnachgiebig vorgehen. Jetzt aber erwarte ich, daß jeder unverzüglich an seine Arbeit zurückgeht.«

»Und die Suppen, die wir bekommen, koste die mal, Chef.«

Der Direktor bleibt auf seinem Stuhl stehen und verlangt einen Teller Suppe.

»Gib ihm nicht zu knapp, Joe«, rufen mehrere dem Suppenverteiler zu.

»Er soll nicht Hunger bei uns leiden.«

Der Direktor beginnt, die Suppe zu löffeln; er ißt, ohne eine Miene zu verziehen. Er löffelt und löffelt.

Seine Lage ist nicht angenehm. Die vielen Augenpaare, die sich alle auf seinen Mund richten, sind nicht bequem. Aber er ißt und ißt, bis kein Tropfen übrigbleibt. Dann zeigt er den leeren Teller der Menge.

Der Direktor lacht.

»Kinder, ich komme mir vor wie ein Baby, das Angst hat, es bekommt Haue, wenn es nicht alles aufißt. Aber Spaß beiseite, ich finde die Suppe nicht schlecht.«

»Aha, man will uns nichts Besseres geben.«

»Man glaubt, man kann uns mit einem Komödienspiel satt machen.«

»Wir wollen richtige Abhilfe.«

»Bei der Untersuchung über die Einkäufe der Zentrale für die Personalküche soll auch von uns jemand zugegen sein.«

»Es gibt hier noch genügend andere Mißstände, alle sollen untersucht werden.«

Der Direktor überhört alle Zwischenrufe; seine Rede geht glatt und liebenswürdig weiter.

Er weiß wohl, worauf es jetzt ankommt: sich vor bindenden Zusagen und Verpflichtungen hüten! Mit vielen Worten macht er vage Versprechungen und läßt versteckte Drohungen durchklingen.

Inzwischen ist das gesamte Aufsichtspersonal des Hotels einschließlich der »Offiziere« und Detektive in dem Saal erschienen. Die Unzufriedenen werden stiller, man möchte nicht erkannt werden. Denn vor den höheren Angestellten mit dem gut trainierten Personengedächtnis löst sich die gesichtslose Masse in bestimmte Einzelwesen auf.

Andere, wie Fritz oder der Gemüseträger, die die Lage klar erkennen, sagen sich, daß die vollkommen unorganisierte, uneinheitliche Masse mit solchem spontanen Vorgehen keinen Erfolg davontragen kann.

Die Masse löst sich langsam auf, die Gruppen zerbröckeln, viele treten den Rückzug an und gehen zur Arbeit zurück, als wäre nichts geschehen.

Jetzt, in der faulsten Stimmung erhebt sich ganz unerwartet die heisere, junge Stimme Shirleys.

»Sag, Papachen, wenn es dir hier so schmeckt, warum ißt du nicht immer mit uns?«

Sie ist selbst erstaunt, als sie sich reden hört. Sie findet die anderen feige, sie kuschen sich gleich, wenn man ihnen mit einer Drohung kommt, aber sie, sie will nicht schweigen. Und dann: sie kann es sich ja erlauben zu reden, morgen wird sie als reicher Gast wiederkommen. Dann wird der Direktor noch Bücklinge vor ihr machen. Heute ist ohnehin der letzte Tag, er soll wenigstens ihre Meinung hören über diese Lausebude, in der sie ihre Jugend verbracht hat.

Viele, die sich schon der Tür genähert haben, bleiben stehen.

Man will noch hören, was dieses freche Gör weiter sagen wird.

Shirley spricht nicht verhüllt von der Masse; sie hat sich herausgezwängt, herausgeschält, sie steht in unmittelbarer Nähe vor dem erstaunten Direktor.

Er dachte schon, den ganzen Krawall abgewehrt zu haben, und nun gibt dieses kleine Wäschermädel keine Ruhe.

»Du meinst, ich würde mit euch nicht speisen, weil ihr zu schlechtes Essen bekommt?«

»Freilich meine ich das. Man setzt uns einen Fraß vor und tut noch, als ob wir es weiß Gott wie gut hätten. Schon der Gestank in unserem Speiseraum ist zum Kotzen.«

»Wie heißt du, Mädchen?«

»Ich heiße Shirley.«

»Nun, Shirley, sieh dich mal um.«

Der Direktor macht eine breite, ausladende Armbewegung und zeigt auf den Saal, der sich langsam zu lichten beginnt.

Shirleys Augen folgen den Bewegungen des Armes.

Es sieht wild aus im Saal. Die Tische sind noch nicht gereinigt, sie ertrinken fast in den Überresten des Mittagessens. Auch der Boden hat reichlich vom Abfall abbekommen. Neben den zerquetschten, verfaulten Kartoffeln liegen Brotkrusten, Schalen, schwimmt verschüttete Suppe.

»Nun, Shirley, meinst du, die Verwaltung ist schuld an dem Zustand des Saales? Wenn euch übel wird von der Luft hier, solltet ihr für Ordnung sorgen.«

»Ach, Chef, tun Sie doch nicht so, als ob wir schuld hätten. Ich weiß, Sie werfen die Kartoffelschalen nicht auf die Erde. Ich weiß sogar, daß Sie Ihre Kartoffeln nicht einmal zu schälen brauchen. Ich weiß ganz gut, wie die reichen Leute essen, das sehen wir ja, wir haben auch Augen. Ich habe schon genauso fein gegessen wie Sie, Chef, mit Fingerschalen und Spitzentüchern vor dem Dessert. Aber wenn man mir schweinisch zu essen gibt, esse ich auch schweinisch. Und wohin sollen wir mit den Kartoffelschalen? Wir haben ja keinen Platz, wir sitzen zusammengepfercht wie Heringe in unseren wunderbaren Fauteuils.«

Shirley macht die weit ausladende Handbewegung des Direktors nach und zeigt auf die schmalen, lehnenlosen Bänke. Im Saal lacht man.

Die Hiergebliebenen wollen jetzt noch nicht wieder an die Arbeit zurück.

»Ein verteufeltes Mädchen das.«

»Sie ist nicht auf den Mund gefallen, das ist einmal sicher.«

Der Direktor möchte dem Gespräch ein Ende machen, aber Shirley ist nicht so leicht einzuschüchtern. Wenn sie schon angefangen hat zu reden, will sie auch alles sagen, was seit Jahren sich bitter in ihr aufgestapelt hat.

»Warum sehen Sie sich, Chef, nicht unsere Zimmer an? Ein Stall ist ein Salon dagegen. Es ist fast so eng wie an unseren Tischen. Wenn ich aus dem Bett steigen will, stoße ich meine Nachbarin, und Dreck könnten Sie auch genug sehen. Auf unserem Korridor reinigt ein Stubenmädchen an einem Vormittag hundert Zimmer. Gut genug für uns. Faustdick liegen die Staubflocken unter unseren Betten.«

Der Direktor zeigt bewunderungswürdige Geduld. »Hör mal, Shirley, du scheinst doch ein kluges Mädchen zu sein. Wenn es dir zu schmutzig scheint in deinem Zimmer, warum nimmst du nicht einen Besen und fegst mal ordentlich?«

»Erstens müßte ich eine halbe Stunde nach einem Besen laufen, wenn ich überhaupt einen bekomme, und dann sehe ich nicht ein, warum ich meine freie Zeit damit verbringen soll. Unsere Zimmer sind doch angeblich gereinigt. Und sehen Sie sich, Chef, mal unsere Wäsche an. Alle Fetzen, die man nicht mehr ausbessern kann, die auseinanderfallen, wenn man sie nur anrührt, gibt man uns. Oder sollten wir unsere freie Zeit damit verbringen, sie versuchen zusammenzunähen? So dumm, wie Sie meinen, sind wir noch lange nicht.«

Der Direktor versucht, die Ausbrüche Shirleys ins Humoristische zu biegen.

»Nun, Mädchen, es wundert mich nicht, daß du keine Muße hast, dein Zimmer in Ordnung zu bringen; ich glaube eher, du verbringst deine freie Zeit als Volksrednerin und stehst nachts am Columbus Circle auf einer Seifenkiste.«

Aber Shirley ist auch jetzt nicht um Antwort verlegen.

»Ja, das wäre schlauer, als versuchen zu ruhen. Man muß schon todmüde sein, um in den überfüllten Räumen schlafen zu können. Wenn das Schnarchen und Beten der Kolleginnen nicht stört, dann hat man die Wanzen. Jawohl, es wimmelt bei uns von Ungeziefer. Die Schaben spazieren am hellichten Tag im Trakt des Personals umher. Sie können selbst sehen, ob ich genug zerstochen bin.«

Das Lächeln des Direktors bringt Shirley in Wut. Sie öffnet den weißen Kragen ihrer Uniform und zeigt auf ihre halbentblößte Brust, auf der einige Insektenstiche zu sehen sind.

»Komm, Puppe, die Wanzen haben dich sicher auch sonst nicht geschont, zeig uns nur, wo sie dich überall gestochen haben.«

Aber solche Zurufe aus der Menge ärgern Shirley weniger als die spöttische Miene des Direktors. Er sagt nichts, läßt sie ausreden, obgleich er ihr das weitere Sprechen verbieten könnte. Aber wahrscheinlich hat er doch Angst, ein Verbot könnte noch schlechter und aufreizender wirken als ihre Worte.

»Ja, zu uns schickt man die Kammerjäger alle Jahre einmal, obgleich man ganz genau wissen könnte, wie es da aussieht. Aber in die Gästezimmer gehen sie alle Tage.«

Der Direktor beginnt jetzt die Geduld zu verlieren.

»Genug, Mädchen, du gehst jetzt zurück an die Arbeit. Ich habe eure Beschwerden angehört. Ich werde mich dafür einsetzen, daß Untersuchungen vorgenommen und wirkliche Mißstände abgeschafft werden.«

»Das sind doch alles nur leere Versprechungen.«

»So leicht lassen wir uns nicht beschwichtigen.«

Aber diese Zwischenrufe gehen unter in dem mechanisch sich wiederholenden Satz, der von dem Aufsichtspersonal ohne Pause in den Saal gerufen wird: »Zurück zur Arbeit, zurück zur Arbeit.«

Aber Shirley ist noch nicht fertig. Ihre Stimme ist schon ganz heiser, sie muß sich anstrengen, um dieses »zurück zur Arbeit« zu überschreien.

Der Direktor ist von dem Stuhl gestiegen. Jetzt, wo er dem Ausgang zustrebt, von den »Offizieren« des Hotels umringt, sieht man, daß er während der ganzen Zeit von einer Leibgarde umgeben war.

Shirley aber verfolgt ihn.

»Und unsere Aufzüge funktionieren auch nicht! Man kümmert sich nicht darum, wenn da etwas nicht in Ordnung ist. Keine Klingel geht, wir müssen uns heiser schreien, wenn die Aufzugführer uns hören sollen.«

»Muß an zuständiger Stelle gemeldet werden.«

»Heute ist fast ein Unglücksfall geschehen, ein Aufzug ist von selbst losgefahren. Der Führer rannte zwanzig Stockwerke dem Aufzug nach, er ist ganz krank geworden.«

»Hat er dich aufgefordert zu reden, Mädchen?«

»Niemand hat mich aufgefordert, ich wollte einmal sagen, was ich denke.«

»Wie heißt du eigentlich, Mädchen?«

»Ich habe es schon einmal gesagt, ich heiße Shirley.«

»Und dein Familienname?«

»Ich heiße Shirley O'Brien. Es ist schön, daß ich auch einmal meinen ganzen Namen sagen darf. Ich arbeite hier schon seit sechs Jahren, aber man hat mich selten nach ihm gefragt. Genügt es nicht, wenn man meine Arbeitsnummer weiß? Ich bin Nummer 2122.«

»Shirley O'Brien, du hast anfangs von Fingerschalen und Spitzendecken, die du in feinen Restaurants gesehen hast, erzählt. Konntest du von deinem Lohn dahin gehen?«

Shirley lacht mit Augen, die voll Haß den Direktor anfunkeln, aber sie lacht.

»Nein, nicht von meinem Lohn, Papachen, das hast du richtig erraten, aber bezahlt habe ich trotzdem, jawohl, Chef. Sie wissen das ganz gut, wie es hier zugeht. Die Mädchen, die hier für einen Dollar den Tag arbeiten, möchten außer den faulen Kartoffeln auch noch was anderes vom Leben haben.«

»Shirley O'Brien, wenn es so zugeht, wie du es sagst, soll es geändert werden. Wir geben unserem Personal, jedem Mädchen, das bei uns arbeitet, genügend Schutz. Wir verzichten auf die Mitarbeit solcher, die moralisch haltlos sind.«

»Ja, Schutz gebt ihr, nur kein Geld und kein anständiges Essen.«

Shirley wird still. Sie fühlt sich plötzlich müde. Der Direktor ist verschwunden, und sie steht da, verloren in der Menge.

Die Rufe »zurück zur Arbeit« werden immer dringender. Ja, das Aufsichtspersonal beginnt Notizen zu machen. Gut, man weiß, heute würde man den kürzeren ziehen, aber alle wissen, das letzte Wort wurde noch nicht gesprochen.

Der Saal beginnt sich langsam zu leeren, nur Shirley wird umringt, trotz des Aufsichtspersonals und trotz der dringenden Rufe.

Ingrid findet, man hätte ihr das nie zugetraut. Woher nahm sie nur soviel Mut?

»Du wirst gefeuert werden«, versichert Salvatore Shirley.

»Ich bin ›moralisch haltlos‹, das hat er ganz schlau eingefädelt, der Direktor, nur deswegen wird man mich wegschicken; aber ich will ja gefeuert werden, mir liegt ja längst nichts mehr an dieser Lausebude.«

Celestina hält Shirleys Hand, sie blickt zu ihr auf, als sehe sie die Tochter zum erstenmal. Sie hatte also auch anderes im Kopf als ihre Vergnügungen. Sie dachte nicht nur an sich selbst, sie hatte sich Gedanken gemacht über das Leben, das sie hier alle führten. Nun braucht Celestina keine Angst mehr um sie zu haben, nicht mehr ihr nachzuspionieren. Sie würde schon selbst wissen, was sie zu tun hätte, wie sie den richtigen Weg finden müsse. Zum erstenmal merkt die Mutter, daß Shirley kein Kind mehr ist, sondern ein Wesen, das selbständig handeln kann.

Es gibt aber auch Mißvergnügte, die sich nicht genug über Shirleys Auftreten empören können. Sie schimpfen besonders laut und vernehmlich über die Verderbtheit der heutigen Jugend, wenn eine der Haushälterinnen vorbeigeht.

Patrizia ist es vor allem, die einiges über Shirley zu erzählen weiß.

»Sie klagt, daß sie nicht schlafen kann, und kommt dabei gegen Morgen nach Hause. Wenn man tanzt, kann man auch nicht schlafen.«

»Ich hätte all die Frechheiten nicht angehört, wenn ich der Direktor wäre.«

»Mit diesem Großmaul wohne ich nun in einem Zimmer!«

Shirley will hingehen und ihnen die richtige Antwort geben, aber Fritz kommt jetzt auf sie zu.

»Ich hätte dich kaum wiedererkannt, so anders hast du gesprochen als am Vormittag in der Küche. Wenn du lernen wolltest, könntest du viel für die Arbeitenden tun. Du könntest mithelfen, die Welt umzuwandeln. Es genügt noch nicht, zu wissen, daß es uns dreckig geht, wir müssen auch den Weg finden, es zu ändern. Ich möchte mit dir noch vieles reden – wollen wir uns nach der Arbeit treffen?«

Die Rufe »zur Arbeit, zur Arbeit« werden jetzt so dringlich, daß alle, sogar Shirley, dem Ausgang zustreben.

Jetzt hat sie wieder ihre hochmütige Miene aufgesetzt.

»Wenn du es unbedingt wissen willst, kann ich es dir ja sagen: ich habe nur gesprochen, weil ich weiß, daß ich Geld haben und reich sein werde, daß ich nicht mehr wie ein Tier werde leben müssen und die ewig gleiche Arbeit verrichten, daß ich ohnehin heute allem den Rücken drehen werde, daß ich keine Angst mehr zu haben brauche, vor keinem Direktor!«

»Wir können trotzdem noch einmal miteinander sprechen. Paß auf, wir werden uns noch treffen, du hast ja auch nicht geglaubt, daß wir uns heute mittag sehen würden.«


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