Thomas Edward Lawrence
Aufstand in der Wüste
Thomas Edward Lawrence

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36. Stürmische Regierungsbildung

Endlich gelang es uns, wieder nach dem Rathaus zu entwischen, denn wir mußten jetzt mit Abd el Kader abrechnen; er war aber noch nicht zurückgekehrt. Ich schickte nach seinem Hause, um ihn, seinen Bruder und Nasir herbeizuholen, bekam jedoch nur den kurzen Bescheid, die hohen Herren schliefen. Das hätte ich gescheiterweise auch tun sollen; aber statt dessen saßen wir zu vier oder fünf bei einem hastig aufgetragenen Mahl in dem Prunksaal auf üppigen goldenen Schnörkelstühlen an einem goldenen Tisch mit gleichfalls wollüstig verschnörkelten Beinen.

Ich setzte dem Boten mit aller Deutlichkeit mein Begehren auseinander. Er verschwand, und wenige Minuten danach erschien, sehr aufgeregt, ein Vetter der Algerier und erklärte, sie wären bereits auf dem Wege hierher. Das war eine offenbare Lüge; ich erwiderte jedoch, es wäre gut, andernfalls hätte ich in einer halben Stunde englische Truppen herbeigeholt und gründlich nach ihnen gesucht. Er lief eilig davon; und Nuri Schaalan fragte gelassen, was ich zu tun beabsichtigte.

Ich erklärte, daß ich Abd el Kader und Mohammed Said absetzen und statt ihrer Schukhri einstweilen zum Gouverneur bis zum Eintreffen Faisals ernennen würde. Es müßte das auf möglichst milde Art geschehen, da es mir widerstrebte, die Empfindungen Nasirs zu verletzen, und außerdem hätte ich keine reale Macht hinter mir, wenn die Algerier Widerstand leisteten. Ob denn die Engländer nicht kommen wollten, fragte Nuri Schaalan. Ich erwiderte: Ganz gewiß! Nur wäre zu besorgen, daß sie nachher nicht wieder gingen. Er überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Du sollst meine Rualla haben, und zwar sofort, damit du alles tun kannst, was du willst.« Der alte Mann stand auf und ging hinaus, um seinen Stamm zusammenzurufen.

Die Algerier kamen zu der Begegnung in Begleitung ihrer Leibgarden; in ihren Augen lauerte Mord. Aber unterwegs sahen sie die in voller Stärke heranziehenden Rualla des Nuri Schaalan, auf dem Platz vor dem Rathaus stand Nuri Said mit seinen Regulären, und drinnen im Vorzimmer lungerten die verwegenen Kerls meines Gefolges. Das führte ihnen deutlich zu Gemüte, daß ihr Spiel verloren war. Aber es wurde dennoch eine recht stürmische Sitzung.

Ich erklärte in meiner Eigenschaft als Vertreter Faisals ihre Zivilregierung von Damaskus hiermit für aufgehoben und ernannte Schukhri Pascha Ayubi zum interimistischen Militärgouverneur. Nuri Said wurde Kommandant der Truppen, Azmi erster Vertreter des Gouverneurs, Djemil Befehlshaber der Polizei. Darauf erhob sich Mohammed Said, und in einer hämischen Erwiderung klagte er mich an als einen Christen und Engländer und ersuchte Nasir, ihm beizustehen.

Der arme Nasir, der jeden Boden unter den Füßen verloren hatte, konnte nur betrübt dasitzen und dem Sturz seiner Freunde untätig zusehen. Abd el Kader sprang auf, begann mich in wildesten Ausdrücken zu verfluchen und steigerte sich dabei in eine förmliche Weißglut der Leidenschaft. Die Gründe, die er vorbrachte, waren lediglich von blindwütigem Fanatismus eingegeben, nicht sachlicher Natur; daher nahm ich überhaupt keine Notiz von ihm. Das brachte ihn noch mehr aus der Fassung; und plötzlich stürzte er mit gezücktem Dolch vorwärts.

Wie der Blitz war Auda bei ihm; der alte Mann, schäumend noch von der entfesselten Wut von heute morgen, dürstete nach Kampf. Es wäre für ihn eine wahre Erlösung gewesen, sich hier gleich auf einen zu stürzen, um ihn mit seinen langen Krallenfingern zu zerreißen. Abd el Kader zog sich eingeschüchtert zurück. Nuri Schaalan schloß die Sitzung und erklärte dem Diwan (es war ein recht bunter und einigermaßen unbequemer Diwan), daß die Rualla auf meiner Seite ständen, und damit wäre die Frage erledigt. Die Algerier rauschten zornentbrannt aus der Halle. Man drängte mich, sie verhaften und erschießen zu lassen; doch erschienen mir die beiden Unheilstifter nicht mehr sonderlich gefährlich, und ich wollte auch den Arabern nicht das Beispiel eines Präventivmordes geben als eines Mittels der Politik.

Wir aber machten uns ans Werk. Als Ziel schwebte uns vor, eine einheimische arabische Regierung auf einer möglichst breiten Grundlage zu bilden, die es gestattete, den Schwung und den Opfergeist der Erhebung für das Werk des Friedens nutzbar zu machen. Etwas von dem Prophetentum der Führer mußte in das Neue mit hinübergenommen werden, damit es ein tragfähiger Untergrund würde für die neunzig Prozent der Bevölkerung, die allzu ehrbare Bürger gewesen waren, um den Aufstand mitzumachen, auf deren Ehrbarkeit aber gerade der neue Staat ruhen mußte.

Rebellen, im besonderen erfolgreiche Rebellen, sind schlechte Staatsbürger und noch schlechtere Staatsleiter. Faisal mußte sich der traurigen Pflicht unterziehen, sich von seinen Kriegsgenossen zu trennen und sie durch jene Elemente zu ersetzen, die auch unter der türkischen Regierung wertvolle Dienste geleistet hatten. Nasir hatte zu wenig politischen Sinn, um das einzusehen. Nuri Said erkannte die Notwendigkeit, ebenso Nuri Schaalan.

Rasch sammelten sie einen ersten kleinen Stab erfahrener Beamter um sich und stürzten sich kopfüber in die Geschäfte. Zuvörderst Schaffung einer zuverlässigen Polizei: Ein Kommandant wurde ernannt nebst den nötigen Unterkommandanten, Bezirke wurden eingeteilt und zugewiesen, der Pflichtenkreis festgesetzt, vorläufige Gehälter, Verträge, Uniformierung bestimmt. Der Apparat kam in Gang. Dann gab es Schwierigkeiten mit der Wasserzufuhr. Die Leitungen waren verstopft mit Menschen- und Tierleichen. Die Sache fand ihre Lösung durch Einsetzen einer Wasserinspektion mit den nötigen Arbeitertrupps; umfangreiche Regulierungen wurden vorgenommen.

Der Tag begann sich zu neigen, alle Welt war auf den Straßen, voller Aufruhr und Erregung. Wir bestimmten einen Ingenieur zur Inbetriebnahme der Kraftstation und befahlen ihm unter schweren Strafen, auf jeden Fall die Beleuchtung der Stadt während der Nacht in Gang zu bringen. Waren die Straßen wieder beleuchtet, so war das das sicherste Zeichen friedlicher Zustände. Es gelang auch; und die beruhigende Helligkeit trug ihr gutes Teil zur Ordnung bei an diesem ersten Abend nach dem Sieg, obwohl auch unsere neugeschaffene Polizei sich voller Eifer zeigte und die Obmänner der zahlreichen Stadtviertel ihre Patrouillen unterstützten.

Dann der Sanitätsdienst. Alle Straßen waren angefüllt mit den Trümmern der vernichteten Armeen: herrenlosen Karren, Wagen, Bagage, Ausrüstungsstücken, Leichen. In den türkischen Reihen waren Typhus, Ruhr, Fleckfieber epidemisch gewesen; und viele Kranke waren in jedem Fleckchen Schatten am Wege niedergesunken und dort verendet. Nuri organisierte Straßenkehrertrupps, um die verpesteten Gassen und Plätze zunächst vom gröbsten zu säubern; er verteilte seine Ärzte in die verschiedenen Hospitäler und versprach ihnen Medikamente und Verpflegung für den nächsten Tag, falls irgend etwas aufzutreiben wäre.

Ferner die Feuerwehr. Die Spritzen der Stadt waren von den Deutschen zerstört, und noch brannten die großen Vorratsschuppen der Armee und gefährdeten die Stadt. Mechaniker wurden angefordert, Sachkundige zum Dienst gepreßt und zu den brennenden Schuppen gesandt, um den Flammen beizukommen. Die Gefängnisse! Wächter und Gefangene waren gemeinsam entsprungen. Schukhri machte aus der Not eine Tugend und erließ eine allgemeine Amnestie, sowohl für politische und militärische, wie gewöhnliche Delikte.

Ferner die Versorgung der Stadt. Viele hatten seit Tagen kaum noch etwas zu essen gehabt. Was von Vorräten in den Armee-Proviantämtern nicht zerstört war, wurde zunächst unter die Hilfsbedürftigsten verteilt. Aber auch für die Allgemeinheit mußten Nahrungsmittel beschafft werden. Vorräte waren in Damaskus nicht vorhanden, und in zwei Tagen mußte die Stadt hungern. Um wenigstens vorläufig Zufuhren aus den umliegenden Dörfern zu bekommen, mußte das Vertrauen in die öffentliche Sicherheit wiederhergestellt, Bewachung der Straßen angeordnet und die von den Türken mitgeschleppten Tragtiere aus den eroberten Beständen ersetzt werden. Die Engländer wollten uns keine abgeben. Daher ergänzten wir die fehlenden Tiere aus unseren Transportkolonnen.

Zur ausreichenden und regelmäßigen Versorgung der Stadt mußte die Eisenbahn in Betrieb gesetzt werden. Lokomotivführer, Heizer, Weichensteller, Rangierer nebst dem nötigen Beamtenpersonal wurden herangezogen und sofort wieder zum Dienst verpflichtet. Dann die Telegraphen: Unterpersonal war vorhanden und willig; aber Betriebsleiter mußten gefunden und Streckenarbeiter abgesandt werden, um die Linie wieder herzustellen. Die Post konnte noch ein oder zwei Tage warten; aber dringend notwendig war die Beschaffung von Quartieren für unsere Truppen und die Engländer; ebenso dringend die Öffnung der Läden, die gesamte Wiederaufnahme von Handel und Wandel, und als Vorbedingung dazu eine gesunde Währung.

Der Geldkurs war völlig zerrüttet. Die Australier hatten Millionen von türkischen Noten erbeutet (nur Papiergeld war im Umlauf) und mit vollen Händen damit um sich geworfen, so daß sie fast wertlos waren. Ein Soldat hatte einem Jungen, der ihm drei Minuten das Pferd hielt, eine Fünfhundertpfundnote dafür gegeben. Young versuchte sich auch als Finanzminister und stützte den Kurs mit dem Rest unseres Akaba-Goldes. Aber neue Noten mußten ausgegeben werden, was die Druckerpressen in Anspruch nahm; und kaum war das in Gang gebracht, als dringend Zeitungen verlangt wurden. Auch mußten die Araber, als Erben der türkischen Verwaltung, die Einwohnerlisten, Grundbücher und Eigentumsurkunden übernehmen; doch die alten Beamten machten Feiertag.

Während die Stadt noch hungerte, wurden wir von Requisitionen bedrängt. General Chauvel hatte vierzigtausend Pferde und kein Korn Fourage. Wurde ihm das nötige Futter nicht geliefert, so trieb er es sicherlich gewaltsam ein, und das eben erst entzündete Licht der Freiheit mußte verlöschen wie ein Streichholz. Der Bestand des neugeborenen Staates Syrien hing daran, daß wir ihn zufriedenstellten, und besondere Rücksicht war nicht von ihm zu erwarten.

Alles in allem war es ein recht arbeitsreicher Abend; aber endlich machten wir für heute Schluß, indem wir das Personal fortschickten. Unsere Absicht war, mehr ein provisorisches Gerüst zu schaffen als einen fertigen Bau. Doch die Dinge ließen sich so überraschend gut an, daß, als ich am 4. Oktober Damaskus verließ, Syrien de facto eine fertige einheimische Regierung hatte. Und sie hielt sich zwei Jahre lang am Ruder, in einem eroberten, vom Krieg verwüsteten Lande, ohne fremde Hilfe und gegen den Willen einflußreicher Elemente unter den Alliierten.

Später saß ich dann allein in meinem Zimmer und versuchte nach diesem ereignisreichen Tage eben meine Gedanken ein wenig zu sammeln, als die Muezzin begannen, den abendlichen Gebetruf über die im hellen Licht strahlende und feiernde Stadt durch die feuchte Nacht zu schicken. Von einer Moschee ganz dicht bei meinem Fenster rief ein Muezzin mit besonders reicher, klangvoller Stimme. Unwillkürlich lauschte ich seinen Worten: »Gott allein ist groß. Ich bezeuge, es gibt keine Götter außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet. Kommt zum Beten, kommt zum Heil. Gott allein ist groß, es ist kein Gott – denn Gott!«

Zum Schluß senkte er seine Stimme um zwei Töne, fast wie zum Sprechen, und fügte leise hinzu: »Und Er hat uns viel Gnade erwiesen am heutigen Tag, o Volk von Damaskus!« Das Geschrei in den Straßen verstummte; und ein jeder schien dem Gebetruf zu gehorchen an diesem ersten Abend wahrer Freiheit.



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