Thomas Edward Lawrence
Aufstand in der Wüste
Thomas Edward Lawrence

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30. Unterbrechung der Hauptbahnen

Wie abgemacht, brachen wir vor Morgengrauen auf und folgten der Spur von Stirlings Wagen, bestrebt, so rasch wie möglich bei der vielleicht schon fechtenden Truppe zu sein. Doch der Weg war leider miserabel. Erst kam ein unangenehmer Abstieg, dann folgten einzelne mit Kalksteingeröll bedeckte Flächen, über die wir nur mit Schwierigkeiten hinwegkamen. Dann ging's über Hänge mit Ackerboden; durch die Sommerdürre hatte die Erde Risse und Spalten bekommen, oft ein Yard tief und zwei bis drei Zoll breit. Die Wagen liefen mit erstem Gang, kamen aber kaum vorwärts.

Gegen acht Uhr morgens erreichten wir die arabische Armee auf dem Kamm eines breiten, nach der Bahn hin abfallenden Hanges. Teile von ihr entwickelten sich gerade zum Angriff gegen einen Stützpunkt der Brückenwache, zwischen uns und dem Berge Tell Arar, dessen Gipfel das ganze Land bis nach Deráa hin überragte. Ruallareiter, geführt von Trad, strömten den langen Hang hinab und über das mit Süßholzgesträuch bewachsene Bett des Wasserlaufs gegen die Bahnlinie. Young knatterte in seinem Ford hinterdrein. Von der Höhe aus vermeinten wir bereits, die Bahn sei ohne einen Schuß genommen. Da aber wurde plötzlich von dem außer acht gelassenen türkischen Stützpunkt her ein unangenehmes Sprühfeuer eröffnet, und unsere tapferen Rualla, die sich bereits auf dem Bahndamm in heroischer Positur aufgestellt hatten (heimlich sehr im unklaren darüber, was in aller Welt wohl jetzt zu tun wäre), verschwanden schleunigst.

Nuri ließ die Batterie Pisani vorgehen, die einige Schüsse abgab. Dann wurde von den Rualla und anderen Truppen der Stützpunkt ohne Schwierigkeit genommen; wir hatten nur einen Toten. Damit waren um neun Uhr morgens die südlichen zehn Meilen der Damaskusbahn in unserer Hand. Es war die einzige Eisenbahn nach Palästina und dem Hedjas; ich konnte unser Glück kaum begreifen, konnte kaum glauben, daß unser Allenby gegebenes Wort so bald und so einfach eingelöst war.

Die Araber strömten in hellen Haufen zum runden Gipfel des Tell Arar hinan, um die Ebene zu überschauen, deren zerfurchtes Relief die Morgensonne mit ihren lang hingeworfenen Schatten deutlich hervorhob. Die Soldaten konnten mit bloßem Auge bis nach Deráa, Mezerib und Ghazala, den drei Bahnknotenpunkten, sehen.

Ich aber sah in Gedanken noch weiter: nordwärts nach Damaskus, der türkischen Operationsbasis, ihrer einzigen Verbindung nach Konstantinopel und Deutschland – nun abgeschnitten; südwärts nach Amman und Maan und Medina: ebenfalls abgeschnitten; westwärts zu Liman von Sanders, isoliert in Nazareth; dann weiter nach Nablus und dem Jordantal, der türkischen Hauptstellung. Heute war der 17. September, der verabredete Tag, achtundvierzig Stunden bevor Allenby mit voller Kraft nordwärts stoßen würde. In achtundvierzig Stunden hätten die Türken an sich Zeit genug gehabt, ihre Dispositionen zu ändern, um der neuen von uns drohenden Gefahr zu begegnen; aber da sie Allenbys Schlag nicht vorauswußten, konnten sie sie gar nicht ändern.

Meine Absicht war, unverzüglich die ganze Linie zu zerstören; doch schienen die Dinge zum Stillstand gekommen. Die Armee hatte ihr Teil getan. Nuri Said stellte rings um den Teil Arar Maschinengewehrposten auf, um etwaige Ausfälle von Deráa abzuwehren. Wieso aber war nirgendwo die Zerstörung im Gang? Ich eilte hinunter und fand Peakes Ägypter beim Frühstück. Ich war stumm vor Bewunderung.

Immerhin, eine Stunde später waren sie in die nötigen Gruppen eingeteilt und zu dem Vernichtungswerk bereit. Schon waren auch die französischen Kanoniere, die ebenfalls Sprengmaterial mitführten, heruntergekommen und machten sich an die nächstgelegene Brücke. Sie waren nicht sehr geschickt, aber beim zweiten Versuch brachten sie ihr doch einigen Schaden bei.

Von der Höhe des Tell Arar aus, ehe noch die vibrierende Luftspiegelung der steigenden Sonne die Sicht verschleierte, wurde durch ein scharfes Fernglas Deráa genau abgesucht, um herauszufinden, was die Türken dort heute auf der Pfanne hätten. Was man zunächst beobachten konnte, sah einigermaßen beunruhigend aus. Auf ihrem Flugplatz wimmelte es von kleinen Gruppen, die eine Maschine nach der andern aus dem Schuppen zogen. Man konnte bereits sieben oder acht in Linie gereiht erkennen. Was man sonst sah, entsprach den Erwartungen. Kleinere Infanterieabteilungen verstärkten die Besatzung der Verteidigungsstellung; ihre Geschütze feuerten gegen uns, aber wir waren vier Meilen weit entfernt. Lokomotiven standen unter Dampf, aber die Züge waren nicht gepanzert. Hinter uns, nach Damaskus zu, lag das Land still wie eine Karte. Auch von Mezerib her, zu unserer Rechten, war keinerlei Bewegung zu entdecken. Die Initiative lag in unserer Hand.

Wir hofften sechshundert Sprengladungen nach der Tulpenmethode abfeuern zu können, um dadurch sechs Kilometer der Bahn außer Betrieb zu setzen. Diese »Tulpen« waren von Peake und mir eigens für diese Gelegenheit erfunden worden. Bei jedem der zehn Meter weit liegenden Schienenstöße wurde unter der Mitte der Hauptschwelle eine Ladung von dreißig Unzen Schießbaumwolle angebracht. Die Schwellen waren aus Stahl, nach unten gekantet, wodurch ein Hohlraum frei blieb, so daß sich darin Gase ausbreiten und die Mitte der Schwelle hochtreiben konnten. War die Mine richtig gelegt, so zerbarst der Stahl nicht, sondern wölbte sich, gleichsam wie eine Tulpe, zwei Fuß hoch. Die Aufwölbung trieb die Schienen drei Zoll auf, zog sie gegeneinander und verkrümmte sie zugleich stark nach innen. Diese dreifache Verzerrung machte eine unmittelbare Ausbesserung unmöglich. Durch eine einzige solche Mine wurden meist drei bis fünf Schwellen verbogen oder aus ihrer Lage geschoben und außerdem ein tiefes Loch in die Bettung geschlagen.

Sechshundert derartiger Ladungen mußten die Türken eine gute Woche Wiederherstellungsarbeiten kosten. Als ich mich eben umwandte, um wieder zu den Truppen zurückzukehren, ereignete sich zweierlei. Peake feuerte die erste Sprengladung ab: eine schmale Rauchsäule stieg wie eine Pappel hoch, und ein dumpf hallender Klang folgte. Und zweitens stieg das erste türkische Flugzeug hoch und steuerte gerade auf uns zu. Nuri Said und ich hockten uns unter einen überhängenden Felsen auf dem zerklüfteten Südhang des Berges. Dort warteten wir in Gemütsruhe auf die Bombe; aber es war nur ein Beobachter, der uns auskundschaftete und dann nach Deráa zur Meldung zurückflog.

Die Nachrichten mußten ziemlich beunruhigend gewesen sein. Denn gleich darauf gingen drei Doppeldecker, vier Jagdflieger und ein alter gelbbäuchiger Albatros in rascher Folge hoch, überkreisten uns und warfen Bomben ab oder tauchten mit Maschinengewehrfeuer auf und nieder. Nuri ließ die Hotchkiss-Maschinengewehre in den Felsspalten in Stellung gehen, die dann auch gegen den Feind losratterten. Pisani steilte seine vier Gebirgsgeschütze und ließ einige gutgemeinte Schrapnells los. Der Feind, beunruhigt, schlug einen Bogen und kam in größerer Höhe zurück. Doch inzwischen hatten wir unsere Maßnahmen getroffen.

Truppen und Kamele wurden über das ganze Gelände verteilt; die Irregulären machten das schon von selbst. Möglichst kleine und weithin zerstreute Ziele zu bieten, war unsere einzige Rettung. Denn das flache Gelände gab von oben her nicht mal Deckung für ein Kaninchen, und uns schwante nichts Gutes, als wir da unten die Ebene mit Tausenden von unsern Leuten befleckt sahen. Es war ein seltsamer Anblick, vom Berggipfel aus die zwei offenen Meilen im Geviert zu überschauen: förmlich bestreut mit Menschen und Tieren, während hie und da von aufschlagenden Bomben dicke, träge Rauchballen aufstiegen (scheinbar ganz gesondert vom Knall) oder der Staub in breiten Garben aufspritzte, wo Maschinengewehre herunterknatterten.

Das Ganze sah und hörte sich recht bedenklich an. Währenddessen fuhren die Ägypter mit ihrer Arbeit an der Eisenbahn ebenso ruhig und methodisch fort, wie sie vorhin gefrühstückt hatten. Vier Gruppen gruben die »Tulpen« ein, während Peake und ein zweiter Offizier die Minen, sobald sie gelegt waren, in Brand setzten. Die Explosionen waren nicht stark genug, um weithin sichtbar zu sein, und die feindlichen Flugzeuge schienen nicht zu bemerken, was vor sich ging; jedenfalls warfen sie keine Bomben dorthin. Mit dem Fortschreiten der Zerstörung zog sich die Abteilung Peakes nach und nach aus der Gefahrzone in das stille Gelände nach Norden zu. Wir konnten den Fortschritt der Arbeit an dem Hinschwinden der Telegraphenleitung verfolgen. An der noch unberührten Strecke standen die Reihen der Stangen mit straff gespannten Drähten; hinter Peake jedoch hingen sie schwankend mit zerrissenem Draht oder lagen am Boden.

Nuri Said, Joyce und ich hielten Rat und überlegten, auf welche Weise wir zum Yarmuk-Abschnitt der Palästina-Bahn gelangen könnten, um die Unterbrechung der Damaskus- und Hedjaslinie zu vollenden. In Rücksicht auf die dort gemeldete starke Besatzung mußten wir unsere gesamten Truppen mitnehmen, was aber unter dieser ständigen Fliegerbeobachtung kaum ratsam erschien. Denn erstens konnten uns auf dem Marsch über die offene Ebene die Bomben schweren Schaden zufügen; und zweitens war dann die Zerstörungsabteilung Peakes schutzlos Deráa preisgegeben, falls die Türken von dort einen Ausfall wagten. Bis jetzt schienen sie ja noch wenig Mut dazu zu haben, aber das konnte mit der Zeit schon kommen.

Während wir noch zögernd überlegten, löste sich die Sachlage aufs herrlichste. Junor, der Pilot von B.E. 12, hatte Nachricht erhalten, daß Murphys Maschine bei Deráa kampfunfähig geworden war, und sich selbständig entschlossen, die Stelle des Bristol-Kampfflugzeuges zu übernehmen und dessen Aufgaben auszuführen. Und gerade als es bei uns am schlimmsten stand, kam er in den Zirkus hineingesegelt.

Wir beobachteten das mit gemischten Gefühlen; denn mit seiner hoffnungslos veralteten Maschine war er ein leichtes Fressen für die feindlichen Jagdflieger und Doppeldecker. Doch zunächst verblüffte er sie, indem er mit Maschinengewehrgeknatter zwischen sie fuhr. Sie glitten auseinander, um zunächst einmal nach dem jäh aufgetauchten Gegner genauer Ausschau zu halten. Junor flog nach Westen davon die Bahn entlang, und die feindlichen Maschinen nahmen die Verfolgung auf; wie denn nun einmal jeder Flieger die liebenswürdige Schwäche hat, sich sofort auf einen Gegner in der Luft zu stürzen, ungeachtet noch so wichtiger Erdziele.

Wir blieben in tiefem Frieden zurück. Nuri benutzte die kurze Zwischenpause, um rasch dreihundertfünfzig Reguläre mit zwei von Pisanis Geschützen zusammenzuraffen und sie über den Sattel hinter dem Tell Arar hinweg auf Mezerib am Yarmuk in Marsch zu setzen. Ließen uns die feindlichen Flugzeuge nur eine halbe Stunde Vorsprung, so war anzunehmen, daß sie weder die Verminderung unserer Kräfte am Tell Arar noch die Kolonne selbst bemerken würden, die in Gruppen zerstreut und sich jeder Bodenfalte anschmiegend westwärts zog. Das leichthügelige Land hier war bebaut und nahm sich von hoch oben aus wie eine bunte Steppdecke; der Boden war zudem mit hohen Maiskulturen bedeckt, und Distelfelder, bis zum Sattel reichend, breiteten sich dazwischen.

Die arabischen Bauern wurden den Soldaten nachgesandt. Und eben war ich dabei, meine Leibgarde zu sammeln, um mit ihr noch vor den Truppen Mezerib zu erreichen, als wir – es war gerade eine halbe Stunde später – von neuem das Rattern von Motoren hörten. Zu unserem Erstaunen erschien Junor wieder, noch lebendig, indessen auf drei Seiten von kugelspuckenden Flugzeugen begleitet. Er flog geschickte Kurven, feuerte zurück und entwich immer wieder; aber gegenüber dieser überlegenen Zahl des Feindes war der Ausgang natürlich nicht zweifelhaft.

In der schwachen Hoffnung, Junor könnte vielleicht noch unversehrt niedergehen, eilten wir der Eisenbahn zu, wo ein Streifen Boden, nicht allzusehr mit Geröll bedeckt, zum Landen sich eignen mochte. Alle halfen mit, um den Grund noch rasch von Steinen ein wenig zu säubern, indes Junor tiefer und tiefer getrieben wurde. Er warf uns eine Botschaft ab, um mitzuteilen, daß er mit seinem Benzin zu Ende sei. Wir arbeiteten fünf Minuten fieberhaft und gaben ihm dann das Signal zum Landen. Er kam nieder, aber im gleichen Augenblick setzte spitz von der Seite her ein scharfer Wind ein. Der Landungsstreifen war in jedem Fall zu klein. Er kam gut auf den Boden, doch ein neuer Windstoß trieb ihn weiter, und, gegen Steingeröll anprallend, überschlug sich die Maschine.

Wir eilten zur Hilfe herbei, aber Junor war schon aus den Trümmern hervorgekrabbelt, unverletzt bis auf einen Schnitt am Kinn. Er montierte die Maschinengewehre ab; wir warfen sie samt der Munition in Youngs Fordwagen und fuhren rasch davon. Ein feindliches Flugzeug kam tieffliegend heran und warf eine Bombe auf das Wrack.

Fünf Minuten darauf bat Junor um eine neue Aufgabe. Joyce gab ihm einen Ford, in dem er längs der Bahn bis nahe an Deráa heranfuhr. Ehe ihn die Türken noch bemerkten, hatte er schon ein Stück der Geleise weggesprengt. Solchen Eifer fanden sie denn doch etwas übertrieben und eröffneten Maschinengewehrfeuer gegen ihn. Doch er ratterte mit seinem Ford davon, zum dritten Male unverletzt.

Ich brach mit meiner Leibgarde auf, um sobald wie möglich Mezerib zu erreichen, während Joyce mit hundert von Nuri Saids Berittenen, den Rualla, den Ghurkas und den Panzerautos am Tell Arar als Deckungstruppe verblieb. Meine Leute sahen wie Beduinen aus, so konnten wir uns offen zeigen und den kürzesten Weg nehmen. Aber der Feind bemerkte unsern Abmarsch. Ein Flugzeug strich über uns hin und warf Bomben: eine, zwei, drei – daneben; die vierte schlug mitten zwischen uns. Zwei Mann stürzten. Ihre Kamele, eine blutige Masse, wanden sich am Boden. Sie selbst hatten keine Schramme abbekommen und sprangen hinten bei Freunden auf.

Wir zogen uns auseinander und legten ein scharfes Tempo an; den jungen Bauern, die wir unterwegs trafen, riefen wir zu, daß es jetzt in Mezerib Arbeit gäbe. Auf allen Feldwegen strömten sie aus den Dörfern herbei, um uns zu helfen. Sie waren voll guten Willens; aber unsere Augen waren allzusehr an die braune Schlankheit der Wüstensöhne gewöhnt, so daß uns diese vergnügten Dorfburschen mit ihren geröteten Gesichtern, dem wuschligen Haar und den fleischigen, weißlichen Gliedern wie Mädchen vorkamen. Um besser voranzukommen, hatten sie ihre langen Kleider bis über die Knie geschürzt; und die Eifrigsten trabten neben uns her durch die Felder und gaben die Neckereien meiner Veteranen mundfertig zurück.

In Mezerib angekommen, berichtete uns Durzi ibn Dughmi, daß Nuri Saids Truppen nur noch zwei Meilen zurück wären. Wir gaben den Kamelen Wasser und tranken selbst reichlich, denn der Tag war lang und heiß gewesen, und noch war kein Ende. Hinter dem alten Kastell gedeckt, hielten wir dann Ausschau über den See hinweg und bemerkten Bewegung in der kleinen Station der einst von den Franzosen gebauten Zweigbahn.

Einige der weißbeinigen Burschen berichteten uns, daß die Station von Türken stark besetzt sei. Aber wir konnten gedeckt herankommen, und die Verlockung war zu groß. Abdulla führte den Angriff; für mich waren die Tage der Abenteuer vorbei, ich gebrauchte die faule Ausrede, daß ich mein Fell für den dringendsten Notfall schonen müßte. In Wahrheit wollte ich unbedingt den Einzug in Damaskus miterleben. Das Geschäft ging glatt vonstatten. Abdulla fand Korn, auch Mehl und eine kleine Beute an Waffen, Pferden und Kriegsdekorationen. Das vermehrte den Schwanz unserer Anhänger. Von allen Seiten kamen sie, quer durch das Gras laufend, herbeigeströmt wie Fliegen zum Honig. Tallal erschien, wie stets in vollem Galopp. Wir setzten zusammen über den Fluß, stiegen den breiten Uferhang hinan, knietief in Unkraut, bis wir die türkische Station der Bahnlinie, dreihundert Yard vor uns, sehen konnten. Wir mußten sie nehmen, ehe wir uns an die große Brücke unterhalb Tell el Schehab machen konnten. Unbekümmert ging Tallal vor. Rechts und links zeigten sich Türken. »Alles in Ordnung«, rief er, »ich kenne den Stationsvorsteher.« Doch als wir auf zweihundert Yard heran waren, prasselte uns eine Salve aus zwanzig Gewehren entgegen. Unverletzt drückten wir uns in das Unkraut (fast lauter Disteln) und krochen behutsam zurück. Tallal fluchte laut.

Meine Leute hörten ihn oder die Schüsse und kamen vom Fluß heraufgeströmt. Aber wir schickten sie zurück in der Besorgnis, auf der Station könnte ein Maschinengewehr sein. Nuri Said traf ein, ebenso Nasir, und wir überlegten die Sache. Nuri wies darauf hin, daß ein Aufenthalt bei Mezerib uns die Brücke kosten könnte, das wertvollere Objekt. Ich stimmte dem zu, meinte aber, der Spatz in der Hand genüge mir vorläufig, zumal Peakes Zerstörung der Hauptlinie für eine Woche langen und wir dann sowieso vor einer neuen Lage stehen würden.

Also ging die Batterie Pisani in Stellung und funkte einige Runden Volltreffer in die Station. Unsere zwanzig Maschinengewehre machten noch obendrein eine Feuerglocke, und unter solchem Schutz spazierte Nuri, in Handschuhen und mit umgegürtetem Säbel, vor, um dann die sich ergebenden Türken – vierzig waren noch am Leben – in Empfang zu nehmen.

Darauf stürzten Hunderte von Hauran-Bauern mit fanatischem Geheul über die reich ausgestattete Station her und begannen die Plünderung. Männer, Frauen, Kinder kämpften wie die Hunde um jeden Brocken. Türen und Fenster, Tür- und Fensterrahmen, ja selbst Treppenstufen wurden davongetragen. Ein ganz Schlauer knackte den Geldschrank auf und fand Briefmarken darin. Andere brachen die lange Reihe der Waggons auf dem Rangiergleis auf, um darin allerlei Begehrenswertes zu finden. Tonnenweise wurde fortgeschleppt. Mehr noch lag zertrümmert und zertrampelt über den Boden verstreut.

Young und ich durchschnitten den Telegraph, hier ein weitverzweigtes Netz von Haupt- und Nebenlinien, in der Tat die Hauptverbindung der Palästina-Armee mit ihrem Heimatland. Es bereitete ein gewisses Vergnügen, sich bei jeder neu durchschnittenen Linie die Flüche Liman von Sanders' in Nazareth vorzustellen. Wir machten es langsam und mit Feierlichkeit, um die Entrüstung recht in die Länge zu ziehen. Danach zerstörten wir die Weichenzungen und pflanzten »Tulpen«, nicht viele, doch genug, um die Neuaufnahme des Betriebs zu verhindern. Während wir an der Arbeit waren, kam auf der Linie von Deráa eine leichte Lokomotive heran zur Erkundung. Die Schläge und Rauchwolken unserer Tulpen beunruhigten sie; sie zog sich diskret zurück. Später besuchte uns ein Flugzeug.

Einer der Güterwagen aus dem Betriebsmaterial enthielt allerlei leckere Dinge für eine deutsche Kantine. Die Araber, die Konservenbüchsen und Flaschen grundsätzlich mißtrauen, hatten fast alles kaputt geschlagen. Doch ergatterten wir noch etwas Suppe und Fleisch, später brachte uns Nuri Said noch Büchsenspargel. Nuri hatte gesehen, wie ein Araber eine der Dosen mit Stangenspargel prüfend öffnete, und hatte, als der Inhalt zutage kam, ihm entsetzt zugerufen: »Schweineknochen!« Der Bauer spuckte aus und warf die Dose weg. Nuri stopfte rasch, was an Büchsen noch da war, in seine Satteltaschen.

Auf der Station standen auch Waggons mit Benzintanks und dicht daneben einige mit Holz beladene Wagen. Als dann die Plünderung beendet war und Truppen wie Stämme sich in das weiche Gras beim Ausfluß des Sees gelagert hatten, wurde das Ganze in Brand gesteckt.

Der längs der Wagenreihe lodernde Schein erleuchtete unsere Abendmahlzeit. Das Holz brannte in stetig hellen Flammen, dazwischen stiegen die gewaltigen Feuerzungen der explodierenden Tanks hoch auf, höher als der Wasserturm. Wir gaben den Leuten Zeit zum Brotbacken, Suppekochen und Ausruhen, bevor wir den nächtlichen Versuch gegen die Schehab-Brücke unternahmen, die drei Meilen nach Westen zu lag. Eigentlich hatten wir schon mit Dunkelwerden aufbrechen wollen; aber die Eßbegier hielt uns auf, und zudem schwärmte es in unserm Lager von Besuchern aus der Umgegend. Unser helloderndes Signalfeuer in der Station verriet unsere Anwesenheit über den halben Hauran hin.

Einwohner zu Fuß, zu Pferde und auf Kamelen kamen von Norden herabgeströmt. Hunderte und aber Hunderte trafen ein in beängstigender Begeisterung, denn sie glaubten, nun bliebe ihr Land endgültig besetzt und Nuri werde seinen Sieg durch die Einnahme von Deráa noch diese Nacht krönen. Sogar der Magistrat von Deráa erschien, bereit, uns die Tore seiner Stadt zu öffnen. Nahmen wir es an, so konnten wir fraglos der wichtigen Eisenbahnstation dort die Wasserzufuhr abschneiden, und sie mußte sich unweigerlich ergeben. Doch wir konnten genötigt sein, falls der Zusammenbruch der türkischen Armee sich nur langsam vollzog, die Stadt wieder zu räumen, und mußten dann die Bewohner der Ebene zwischen Deráa und Damaskus, in deren Händen doch letzthin unser Sieg lag, im Stich lassen. So verlockend es war, sprachen dennoch gewichtige Gründe auch jetzt noch gegen eine Besetzung von Deráa. Und wiederum mußten wir unsere Freunde vertrösten unter Vorwänden, die ihrem Vorstellungsbereich zugänglich waren.

Langwierige Arbeit; und als wir dann endlich zum Aufbruch bereit waren, erschien ein neuer Besucher: das jugendliche Oberhaupt von Tell el Schehab. Sein Dorf war der Schlüsselpunkt zur Brücke. Er beschrieb uns ihre Lage, berichtete von der starken Besatzung und wie sie verteilt war. Offenbar lag der Fall doch schwieriger, als wir geglaubt hatten, falls seine Erzählungen der Wahrheit entsprachen. Wir hegten darüber unsere Zweifel, denn sein jüngst verstorbener Vater war uns feindlich gewesen, und der Junge zeigte sich denn doch zu schnell bei der Hand mit seiner Ergebenheit für unsere Sache, als daß wir ihm ganz trauen konnten. Jedoch schlug er zuletzt vor, er wollte in einer Stunde mit dem Kommandanten der Besatzung, einem Freund von ihm, wieder zu uns zurückkehren. Wir schickten ihn fort, seinen Türken zu holen, und wiesen unsere wartenden Leute an, sich nochmals zu kurzer Rast niederzulegen.

Bald erschien auch wieder der junge Bursche in Begleitung eines Hauptmanns, eines aufgeregten kleinen Armeniers, voll Eifer, seine Regierung, wo er nur konnte, zu schädigen. Die ihm unterstellten Offiziere, so erklärte er, und auch ein Teil der Unteroffiziere, wären treue Türken. Er machte uns nun den Vorschlag, wir sollten mit den Truppen bis dicht an das Dorf rücken und uns dort verborgen halten, indes er drei oder vier unserer kräftigsten Leute in seinem Zimmer verstecken würde. Dann wollte er seine Untergebenen einzeln zu sich bestellen, und jeder, der bei ihm eintrat, sollte von unseren im Hinterhalt liegenden Leuten überwältigt und gefesselt werden.

Das klang ja schlechthin wie aus einem Abenteurerroman, und wir stimmten begeistert zu. Es war jetzt neun Uhr abends; Punkt elf Uhr wollten wir mit den Truppen das Dorf umzingeln und den jungen Scheikh abwarten, der unsere Goliaths zum Hause des Kommandanten geleiten sollte. Die beiden Verschwörer zogen hochbefriedigt von dannen; wir indessen weckten unsere Truppen, die neben den beladenen Kamelen den Schlaf der Erschöpfung schliefen. Die Nacht war pechrabenschwarz.

Meine Leibgarde machte Sprengladungen für Brücken fertig; ich stopfte mir Zündkapseln in die Taschen. Nasir sandte Offiziere zu jeder Abteilung des Kamelreiterkorps, um die Leute von dem bevorstehenden Abenteuer zu unterrichten und sie zu ermahnen, sich der Höhe der Aufgabe gewachsen zu zeigen: größte Stille müßte herrschen und namentlich das unglückselige Brüllen der Kamele vermieden werden. Alles war mit Feuereifer bei der Sache. In zwei langen Reihen schlich sich unsere Truppe einen gewundenen Pfad hinab, hart zu Seiten eines Bewässerungskanals. Der Weg war schmal, stark geschlängelt, schlüpfrig vom durchsickernden Kanalwasser, ohne Entwicklungsmöglichkeit nach rechts oder links; und war etwa Verrat im Spiel, so saßen wir rettungslos in der Falle. Nasir und ich gingen voraus mit unseren Leuten, ihre geübten Ohren gespitzt auf jeden Laut, ihre Augen wachsam die Dunkelheit durchdringend. Vor uns lag der Wasserfall, dessen schweres Dröhnen schon die Begleitung abgegeben hatte zur wilden Musik jener unvergleichlichen Nacht mit Ali ibn el Hussein, damals, als wir eben diese Brücke von der andern Seite der Schlucht aus zu überfallen versucht hatten. Nur waren wir ihm heute näher, und sein Getöse schlug ohrenbetäubend über uns zusammen.

Sehr langsam und vorsichtig schlichen wir weiter, geräuschlos auf nackten Füßen. Hinter uns schlängelte sich, mit angehaltenem Atem, die schwerfälligere Masse der Truppe; auch sie nahezu geräuschlos, da Kamele meist schweigsam wandern bei Nacht und man Vorsorge getroffen hatte, daß kein Sattel knarrte, kein Ausrüstungsstück klapperte. Die Stille ließ die Dunkelheit noch dunkler, die Drohung der raunenden Täler rechts und links noch drohender erscheinen. Schon strichen uns Wogen feuchter Luft vom Flußtal her kühl übers Gesicht; da glitt Rahail von links an mich heran, faßte mich am Arm und wies stumm auf eine weiße Rauchsäule, die langsam aus dem Tal aufstieg.

Wir ritten vor zum Rande des Abhangs und blickten aufmerksam hinunter; doch in der Tiefe brauten die vom Fluß aufsteigenden Nebel, und in der grauen Trübe war nichts zu sehen als der fahle Dampf, der sich wirbelnd aus der Nebelbank löste. Irgendwo da unten lag die Eisenbahn. Wir hielten die Truppe an, in der Besorgnis, dies könnte die befürchtete Falle sein. Unserer drei kletterten wir Schritt für Schritt den schlüpfrigen Hang hinunter, bis wir Stimmen hörten. Dann plötzlich quoll der Dampf stärker auf und schob sich vor, zugleich keuchte eine Lokomotive. Gleich darauf hörte man das Quietschen von Bremsen, wie von einer anhaltenden Maschine. Dort mußte ein langer Zug auf die Einfahrt warten. Etwas beruhigt setzten wir den Marsch zur verabredeten Stelle jenseits des Dorfes fort.

Dort wurde die Truppe gedeckt bereitgestellt, die Ortschaft von der einen Seite umzingelnd, und wir warteten – fünf Minuten, zehn Minuten. Sie vergingen sehr langsam. Man hörte das warnende Anschlagen von Hunden und von der Brücke her von Zeit zu Zeit den hallenden Anruf der Posten. Schließlich ließen wir die Truppe möglichst geräuschlos absitzen; und dann hockten wir wartend beieinander, einigermaßen beunruhigt durch die Verzögerung und die ungewohnte Wachsamkeit der Türken und den schweigsamen Zug dort unten im Tal. Unsere wollnen Mäntel wurden steif und schwer vom feuchten Nebel, und Frösteln überkam uns.

Endlich nach einer langen Zeit des Harrens zeigte sich in der schwarzen Nacht vor uns ein hellerer Flecken, der sich rasch näherte. Es war der junge Scheikh; er hielt den braunen Mantel weit ausgebreitet, uns die weiße Unterkleidung wie eine Flagge weisend. Er flüsterte, der Plan wäre mißlungen. Vor kurzem wäre ein Zug (eben jener unten in der Schlucht) angekommen mit einem deutschen Obersten und deutschen wie türkischen Reserven aus Afuleh, von Liman von Sanders heraufgesandt zur Verstärkung des bedrohten Deráa.

Die Deutschen hätten den kleinen Armenier in Arrest gesetzt wegen Pflichtversäumnis. Überall wären Maschinengewehre aufgestellt, und mit rastloser Energie wären sofort alle Zugangswege mit Wachen besetzt worden und würden ständig abpatrouilliert. Gerade vor uns auf dem Wege, keine hundert Yard von der Stelle entfernt, wo wir saßen, stünde eine starke Feldwache.

Nuri Said schlug sofort vor, den Platz mit Gewalt zu nehmen. Wir hätten genügend Handgranaten und Leuchtpistolen, wir wären an Zahl überlegen und hätten den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite. Gewiß, die Gelegenheit war günstig; aber ich berechnete im stillen den Wert des Objektes im Verhältnis zu den Menschenleben, die es uns kosten würde, und wie meist, fand ich den Preis zu hoch. Gewiß, im Kriege ist das meiste zu teuer erkauft, und wir hätten, gutem Beispiel folgend, einfach drauflosgehen und die Sache zu Ende führen sollen. Doch ich war im geheimen und ohne es recht wahr haben zu wollen sehr stolz darauf, daß ich stets der Planer und Leiter unserer Unternehmungen war. Also erklärte ich mich gegen Nuris Vorschlag: wir hätten heute die Damaskus-Palästinabahn an zwei Stellen unterbrochen; und daß wir durch unser Erscheinen hier die Besatzung von Afuleh hergezogen hätten, bedeutete eine dritte Gabe an Allenby. Unser Vorstoß hätte auf diese Weise reiche Früchte getragen.

Nach kurzer Überlegung stimmte Nuri zu. Wir verabschiedeten den Burschen, der uns so wacker zu helfen versucht hatte. Dann gingen wir durch die Reihen der Truppen und flüsterten den Leuten zu, sich in aller Stille zurückzuziehen. Währenddessen saßen wir in Gruppen beieinander, die Flinten im Arm (die meinige war eine Lee-Enfield, eine englische Trophäe der Türken aus den Dardanellenkämpfen, die Enver mit einer goldenen Inschrift versehen und vor Jahren Faisal zum Geschenk gemacht hatte), und warteten, bis die Truppen außerhalb der Gefahrzone waren.

Das waren sonderbarerweise die schwersten Augenblicke dieser Nacht. Nun alles vorüber war, konnten wir kaum der Versuchung widerstehen, diesen deutschen Spielverderbern einen kleinen Schabernack anzutun und sie in ihrem Lager aufzustöbern. Es wäre so leicht gewesen, ein paar Leuchtraketen in ihr Biwak abzufeuern und dann zuzusehen, wie diese ernsthaften Männer in drolliger Hast herausgelaufen wären und ein gewichtiges Feuer eröffnet hätten gegen die leeren, nebligen Hänge vor ihnen. Wir alle, Nasir, Nuri Said und ich hatten unabhängig voneinander die gleichen Gedanken. Wir platzten auch gleichzeitig damit heraus, und jeder schämte sich prompt darüber, daß die andern ebenso kindisch gewesen waren. Durch wechselseitige Ermahnungen stellten wir unsere Würde wieder her.


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