Joseph von Lauff
O du mein Niederrhein
Joseph von Lauff

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Achtzehntes Kapitel

»Dum, ding, dong! Dum, ding, dong!«

»Prost, Kaptän!«

»Prost, Michel!« – – –

Um dieselbe Stunde, als Düweke Brinkmann mit nackten Armen und blanken Augen das Honoratiorenstübchen bewachte, die übrigen Ankömmlinge aber geheimnisvoll in das hintere Gastzimmer komplimentierte, direkt mit dem Glockenschlag vier trat in Huisbergen Herr Severin Stappers etwas zerzaust und mit aufgestülptem Paletotkragen über die Schwelle seines Hauses.

»Brrr!« sagte er fröstelnd und hing den Hut über den Holzpflock. Hierauf streifte er den Mantel von den klammen Gliedmaßen herunter, nachdem er zuvor etliche Herbstblätter, die noch auf dem feuchten Düffel hafteten, mit spitzen Fingern fortgeknipst hatte.

Jetzt wieder an Ort und Stelle, freute er sich seiner molligen Stube, seines Harzers, der ihn mit einer feinen Klingelrolle begrüßte. Die lauten Stimmen seines Nachwuchses nebenan störten nicht weiter. Er überhörte sie einfach.

Engelke trat ihm entgegen, entsetzte sich aber, als sie sein etwas verwehtes Aussehen, den durchnäßten rostfarbigen Haarschopf bemerkte.

»Aber Severin, wo kommst du denn her?«

Er rieb seine groben Hände nachdenklich zusammen, ein Zeichen dafür: jetzt hat Severin Stappers etwas Bedeutsames vorzubringen.

»Angelika, ich komme von draußen,« versetzte er mit der Wichtigkeit einer sich feierlich in Bewegung setzenden Domglocke.

»Das kann ich mir denken,« gab sie verärgert zurück. »Von draußen gewiß. Aber bei dieser Aufmachung – du mußt einen langen Weg hinter dir haben, denn wenn ich deine Schuhe besehe... und ich war des festen Glaubens, du seiest in der Kirche gewesen.«

»War ich auch, unter jeder Bedingung.«

»Dann begreife ich nicht ...«

Mit einem tiefen Seufzer ließ sich die Semmelfüchsin am Fenster nieder, um von hier aus sondierend und mit eingekniffenen Äugelchen auf den Erzeuger ihrer zahlreichen Kinder zu sehen.

»Nein, Severin, dann begreife ich nicht... Gewisse Neigungen und Exkursionen können auch regnerisches Wetter vertragen. Traue einer heutigen Tages den Weibsbildern. Sie sind Gefäße des Satans. Tänzerinnen der Unsittlichkeit und der Hoffart. Ihr Name ist Wollust. Selbst vor der geweihten Person eines Küsters haben sie jede Scham und Besinnung verloren. Machen ihm Augen wie Teetassen, und so was darf ich mir als christkatholische Hausfrau und Mutter nicht gefallen lassen, wenn es auch bemerkenswerte Ausnahmen gibt, zum Beispiel...«

Sie verstummte vor dem Blick ihres Gatten.

»Du willst also sagen...?«

Er hob die Hand in die Höhe und fuhr sich mit der anderen beschwörend durch die zerzauste Tolle.

»Angelika, ich ersuche dich im Namen des dreieinigen Gottes, solche Unterstellungen hintanzulassen. Es ist nicht gut, mit dem Handwerksgerät des Verdachtes sein Spiel zu treiben. Derartige Hinweise untergraben meine persönliche Ehre hinsichtlich der ehelichen Treue, zudem noch den hauslichen Frieden.«

»Hat's denn so ausbündig in der Kirche geregnet?«

»Geregnet?!«

Seine Stimme versagte.

Er mußte sich setzen, um wieder seinen inneren und äußeren Menschen zusammenzubringen.

»Angelika, deine Unterstellungen werden immer aufdringlicher und anmaßender. Nein, in der Kirche hat es nie und niemals geregnet.«

»Und trotzdem bist du in der Kirche gewesen?«

»Jawohl, ich bin in der Kirche gewesen, wenn auch später auf einem langen Wege da draußen.«

»Na, da haben wir's ja.«

»Angelika, was haben wir denn?«

»Das mit den Weibsbildern. Ich kenne genug von der Sorte, die selbst unter einem frommen Gesicht die Gegend hier unsicher machen. Besonders die in den Katstellen.«

»Angelika ...!«

Dem sonst so gutmütigen und unbefangenen Stappers schlug das Herz bis zum Bersten.

»Ich sage dir nochmals, wenn auch voll des Ärgers und Eifers: Jawohl, ich bin in der Kirche gewesen, mit dem geistlichen Herrn in der Kirche gewesen, und zwar lange in der Kirche gewesen. Was dann folgte, war ein bitterer Gang, aber ein notwendiger Gang, der mit dem eines Samaritans eine große Ähnlichkeit hatte.«

»So?!« versetzte sie nach einiger Weile. »Dann möchte ich bitten.«

Der Klang ihrer Stimme war magerer, unsicherer, die Dünung ihrer majestätischen Bluse schwächer geworden.

»Also ich höre.«

»Eigentlich sollte ich nicht, sollte vielmehr den Beleidigten herauskehren und mich des Schweigens eines verrosteten Sargnagels befleißigen, denn deine Gedankengänge und Schlußfolgerungen gingen doch weit über das Maß eines gesunden Frauenverstandes hinaus, aber im Interesse des häuslichen Friedens ...« und er legte gottergeben und wie ein Mann, der stündlich bereit ist, alle Anfechtungen des Satans und die des quälenden Fleisches siegreich aus dem Felde zu schlagen, die Hände zusammen.

»Angelika, vor ungefähr zwei Stunden ging ich zur Kirche, um neue Lichtstöcke auf die Leuchter zu stellen. Als ich just dabei war, selbige propter reverentiam ihrer Bestimmung zuzuführen, begegnete mir der Herr Kaplan am Altare der heiligen Anna und fragte mich nach der zehnpfündigen Wachskerze, die er mir in Bestellung gegeben. – Ist fertig, konnte ich ihm frohen Mutes begegnen. Hier neben ... in der Sakristei ... und wenn Hochwürden befehlen ... Des freute er sich und sagte mit leuchtenden Augen: Dann will ich noch in sofortiger Stunde nach Dornick hinzu, um im Namen der Mutter zu opfern, denn täglich und stündlich kann sie nicht fassen ...«

Engelke unterbrach ihn mit einer heftigen Geste.

»Nach Dornick hinzu ...? Und was kann sie nicht fassen ...?«

Severin Stappers legte den Kopf auf die Seite.

»Nach Dornick,« sagte er mit einer gewissen Betonung, »um die geweihte Kerze der dortigen Gottesmutter darzubringen und sie um ihre Fürbitte anzurufen.«

»Um Himmelswillen, warum denn?«

Die Semmelfüchsin spitzte die Ohren.

»Du weißt doch: Jakobine und Reiner. Der klaffende Riß will noch immer nicht vernarben, nicht in Heilung übergehen, und da hat sich Mutter Auwater in den Kopf gesetzt, das Gebet ihres Klemens und die Wachskerze könnten Wunderdinge verrichten und Berge versetzen.«

»Können sie auch, müssen sie auch, denn wenn es das nicht mal gäbe, wofür waren denn alle Gnaden- und Kerzenkapellen, alle die Beichtstühle mitsamt den übrigen christkatholischen Wunderstätten errichtet? Ja,« fuhr sie fort, und ihre Blicke glitten zutunlicher über den etwas angekränkelten Bratenrock ihres Gatten, »ich kann Mutter Auwater nur in allen Punkten beipflichten. Die Frau hat Auserwähltes zu tragen, und es ist schmerzlich für einen, sie allzeit mit dem großen Leid um Reiner und Jakobine betrachten zu müssen, und wenn wir noch immer so recht nicht herauskriegen können, was alles auf Borghees passiert ist – der liebe Gott und wir, wir haben die heilige Verpflichtung, ihr wieder das Leben erträglich zu machen, gewissermaßen mit einem Kränzlein von Abendsonnengold zu verschönen.«

Severin atmete auf.

» Propter reverentiam, solches wäre sehnlichst zu wünschen.«

»Und um dessentwillen ist der Kaplan auf Dornick hinzu?«

»Ist er.«

»Aber warum denn gerade auf Dornick? Marienbaum und Kevelaer hätten die nämlichen Dienste geleistet.«

»Angelika, hatten sie schon, denn alle Gnadenorte leisten die nämlichen Dienste, aber es geht die Legende, daß nach dem großen Kriege sich an dem Muttergottesbilde in Dornick ganz absonderliche Dinge begeben, und da hat Frau Auwater ihren hochwürdigsten Sohn gebeten, baldmöglichst dortselbst eine geweihte Kerze zu opfern und um Erbarmen zu flehen.«

»Ja, wenn die Legende geht, dann allerdings ... dann allerdings kann ich Mutter Auwater verstehen, um endlich von wegen Jakobinens und Reiners aus ihrer Seelennot und Predullig zu kommen ... und du, so nehme ich an, du hast alles dazu beigetragen, das Opferwerk zu einem richtiggehenden Opfer zu machen.«

»Angelika, hab' ich.«

»Auch hinsichtlich der Qualität des verwendeten Wachses?«

»Angelika, ich habe nur extraordinären, nur solchen von Linden- und Heidebienen genommen.«

»Und was das Gewicht anbetrifft? Ich weiß, zehn Pfund sollten es sein, und da hast du nach bestem Willen und Wollen ...«

»Angelika,« und in den Grubenlichtern Severins begann es zu leuchten wie mit dem heiligen Leuchten von ewigen Lampen, »ich habe nicht nur gewissenhaft und mit Apothekergewichten gewogen, sondern sogar ein übriges bewerkstelligt und nahezu 150 Gramm darüber gegeben, und falls ich nochmals nachprüfen sollte, ich bin dessen sicher, den zugegebenen 150 Gramm ließe sich noch ein Mehr von drei bis vier Gramm anreihen, ohne darüber erröten zu müssen.«

»Das kann dich nur ehren,« sagte Engelke in gehobener Stimmung, »dich und alle, die dir befreundet, verwandt und zugetan sind, aber bei all deiner Opferfreudigkeit, ich verstehe immer noch nicht: warum mußtest du diesen bitteren Gang tun, der, wie du sagtest, mit dem eines Samaritans eine gewisse Ähnlichkeit hatte?«

Severin Stappers schabte sein vorgestoßenes Kinn, fuhr sich durch seinen mittlerweile trocken gewordenen Haarschopf und sagte: »Angelika, das hat folgende Bewandtnis. Als der geistliche Herr die Wachskerze sah und den Willen dartat, sofort seinen Pilgergang nach Dornick anzutreten, nahm ich den zehnpfündigen Wachsstock mit rund 154 Gramm Gratisgewicht, wickelte ihn in propere Leinwand, die ich noch mit Wachstuch verschnürte. Herr Klemens freute sich innigst der Opfergabe, zahlte den ausgeworfenen Betrag und machte sich fertig, den sich gestalten Weg unter die Füße zu nehmen. – Und wer trägt Ihnen die Kerze, denn bis nach Dornick sind es, ohne das Übersetzen des Rheines zu berücksichtigen, immerhin fünfzig bis fünfundfünfzig Minuten? – Da lächelte er mit seinem zuvorkommenden und seinen Lächeln und sagte: Herr Stappers, die heiligen Apostel sind immer barfuß und mit ganz anderen Lasten befrachtet durch endlose Täler und steinichte Wüsten gegangen, warum sollte da nicht ein schlichtes niederrheinisches Kaplänchen seiner Mutter und seinem verstörten Bruder zuliebe mit dieser Opfergabe beschwert den Pfad zur Gnadenmutter aufnehmen? – Hochwürden, fiel ich ihm ins Wort, das dulde ich nicht, das lasse ich nicht zu, das geht unter keiner Bedingung. Ein Kleriker hat etwas anderes zu tun, als mit einem, wenn auch geweihten, so doch immerhin langstieligen Wachstuchpaket über Land zu ziehen: Propter reverentiam – dem Küster, was des Küsters, dem geistlichen Herrn, was des geistlichen Herrn. Geben Sie her, ich mache mir eine Ehre daraus. Bis zum diesseitigen Ufer werde ich es besorgen, dann setzen Sie über, und bis Dornick haben Sie dann höchstens noch zehn Minuten zu gehen ... und trotz seiner Widerrede und seines Sichsperrens – ich setzte meinen Willen durch, brachte ihn bis an den Rhein, ließ ihn übersetzen und machte retour, um kurz vor Huisberden noch in 'ne stramme Regenbise zu kommen. Und nun wünsche ich zu Gott: meine Wachskerze und die Darbringung durch den Herrn Kaplan mögen da droben Erhörung finden, Mutter Auwater trösten und die verstörten Herzen aufs neue zusammenbringen.«

»In alle Ewigkeit, Amen.«

Engelke Stappers hatte gesprochen, sich tränenden Auges erhoben und ihre gefüllte Bluse an das Schemisettchen ihres Gatten gedrängelt.

Ihre prallen Lippen mummelten wie die eines Kaninchens. Hierauf hob sie sich auf in den warmen Selfkantpantoffeln und drückte ihm einen abbittenden, herzlichen Kuß auf die Wange.

»Severin,« schluchzte sie durch ihre Tränen hindurch, »das war wahrhafte Nächstenliebe, ein grandioses Einherschreiten mit dem geistlichen Herrn im Beisein des ewigen Gottes. So was wird belohnt dahier und im Himmel. Solche Beispiele ehren die hochwürdigen Priester, ehren ihre Sachverwalter, also auch dich, und du sollst sehen: die Zeit wird kommen, wo selbst die Hinterlisten von Novemberlingen und ähnlichen Menschen an solchen Priestern und Sachverwaltern zuschanden werden. Ach Severin! um deinetwillen kann ich jetzt meine Jugendliebe auf Borghees völlig vergessen, lediglich noch der Gegenwart und den zukünftigen Tagen leben, denn ich sehe jetzt ein: du blühst im Verborgenen, deine Wege sind die eines Einfaltigen, die der Herr besonders preiset und hoch in Ehren stellet ... und gegen so was kann selbst nicht ein Riswyk ...«

Ihre Bluse stürmte.

»Du bist für mich groß in dieser Stunde geworden, und die Wachskerze hat dir zu dieser Stunde verholfen.«

Ernst stand sie an der Seite des Gatten.

Severin strahlte.

Die Semmelfüchsin heiterte auf, schob den Arm in den seinen und flötete wie ein Kanarienvogel: »Jetzt komm' man, denn jetzt wollen wir die Kaffeestunde gemeinsam mit den Pfändern unserer Liebe begehen, noch besser gesagt, mit den Pfändern unserer Liebe begießen.«

»Wollen wir,« sagte Herr Stappers und machte ein Gesicht wie das einer beseligten Spitzmaus.

*

Jenseits des Rheines klatschten harte Regentropfen gegen die bleigefaßten Scheiben der Kirche von Dornick. Der Ort war eine kleine Büchsenschußweite vom Strom gelegen. An sichtigen Tagen konnten sich die Türme von Huisberden und Dornick wechselseitig begrüßen, sich gegenseitig mit ihren Glocken anrufen, gemeinsam den Ewigen preisen und ihr Loblied in guter Kameradschaft über den Rhein und die unermeßliche Niederung dahintragen, und es wäre ein kleiner Spaziergang von einem Flecken zum anderen gewesen, hätte der breite, majestätische Strom sich nicht wie eine stolze Barriere dazwischengeschoben.

Dornick war ehrwürdigen Alters, ebenso die Kirche allda mit ihren Stätten und Erinnerungen, ebenso die däftigen Bauerngehöfte, die den Ort in großem Bogen umlagerten. Schon der heilige Willibrord soll von Emmerich aus das Evangelium an diese Stätte getragen und dabei gewettert haben, daß davon die Bäume entwurzelten und die wilden Tiere des Waldes dahinflohen, als wäre der Höllenfürst gegen sie aufgebracht worden, wie solches nicht zu leugnen, da es die Bibliotheca rerum germanicarum also vermeldet. Jedenfalls, Dornick erhob sich auf geheiligter Erde, sein Kirchlein war ein gottwohlgefälliges Kirchlein und die Gottesmutter allda ein illuminierter Bildstock voll reicher Formen und Einzelheiten, mit dem die letzten Jahre und Monde wundersame Geschehnisse und Legenden verknüpften. Er heile die Bresthaften, so hieß es, er brächte die Unreumütigen wieder zur Reue zurück, so wurde behauptet, er ließe Zeichen und Wunder geschehen, so riefen es die Wissenden aus, er verbände zerrissene Herzen und ließe den Epheu des Vergessens über Geschehenes wachsen, so ging es von Mund zu Mund und verbreitete sich mit dem zarten Flüstern von Pappeln, die in einem gesegneten Wiesengrund geheimnisvoll ihre Zweige bewegten.

Ein aufheiterndes Tageslicht fiel in die Kirche hinein, ohne die Kraft zu besitzen, die grauen Schatten aus dem sakralen Haus zu verweisen. Ein seltsames Dunkel durchgeisterte die Räume. Es ließ sich mit Händen greifen, an eine andere Stelle versetzen. Ein hingehauchtes ›Ave‹ schälte sich aus den ziehenden Floren heraus. Aber dort hinten auf der Kapitelseite des Hochaltares hob sich ein schmaler Schein zwischen Gewölbe und Estrich, ungefähr zehn Schuh über dem Boden. Das Scheinen verbreitete sich, nahm eine kreisrunde Form an, entsandte spitzige, glitzernde Strahlenbündel nach allen Seiten, die sich in einem matten Leuchten gefielen. Und da war es so, als begänne es auf der Kapitelseite heller zu werden, als zöge eine Gloriole ihren Lichtbogen weit um sich hei, als würden in diesem Lichtbogen Engelsköpfchen lebendig, als träte eine überirdische Jünglingsgestalt mit goldenen Schwingen aus der goldenen Fülle und spräche durch die menschenleere und lautlose Kirche ... und einer hörte den Jüngling mit den goldenen Flügeln reden und sprechen, und also redete er:

»Wenn rings im Glitzergeschmeide
Die Abendwolken gehn –
Ich wähne auf endloser Heide
Lächelnd, im schlichten Kleide,
Die Mutter Gottes zu sehn.

Maria, die schönste der Frauen,
Maria im Abendwind!
Mit ihren Augen, den blauen,
Begrüßt sie die glücklichen Auen,
Am Herzen das himmlische Kind.

Die Fernen wispern leise:
Gegrüßt seist du, Marie!
Ein Fall auf seiner Reise,
Er zieht in goldenem Kreise
Den Glorienschein um sie.

Schon flimmert auf bläulichem Grunde
Der liebe Wunderstern,
Und rings mit seligem Munde,
Da flüstert die weite Runde
Heimlich den ›Engel des Herrn‹.«

Heiliger Gott! und der diese Stimme vernahm, berührte mit seiner Stirne den Estrich und küßte den geweihten und geheiligten Boden.

Schon zweimal war der Küster erschienen, hatte sich aber wieder geräuschlos empfohlen, als er bemerkte, daß der junge Kleriker noch keine Anstalten machte, die Stätte, auf der er weilte, zu verlassen.

Bald darauf streckte sich Klemens.

Seine Blicke suchten die der Gnadenreichen und Gebenedeiten mit unsäglicher Inbrunst.

Neben dem Bildstock erhob sich der bleiche Schaft der zugebrachten Kerze, deren überschüssiges Wachs mit monotonem Klingen und Singen auf den Teller des Messingleuchters tropfte – ohne aufzuhören, rhythmisch, ähnlich dem Ton eines Totenwurmes in einer überständigen Holzbekleidung. Hoch im Raum stand das Flämmchen am Docht – ein Armseelchen in der tiefen Einsamkeit, aber trotz seiner Winzigkeit büschelte es ein Licht aus, in dem die Engelsköpfchen erschienen, die überirdische Jünglingsgestalt mit den goldenen Schwingen sichtbar wurde, die mit ihrem Sprechen und paradiesischen Roden nochmals das ganze Kirchlein erfüllte:

»Schon flimmert auf bläulichem Grunde
Der liebe Wunderstern,
Und rings mit seligem Munde,
Da flüstert die weite Runde
Heimlich den ›Engel des Herrn‹.«

»Mutter der Gnaden und der Barmherzigkeiten!« und Klemens streckte die Arme, als wolle er damit die Knie und den Schoß der heiligen Jungfrau umfangen.

»Jungfrau Maria, siehe mich an, höre mich an, habe Erbarmen mit mir, deinem unwürdigen Diener, denn wisse: eine Mutter sendete mich, spricht durch mich, legt durch mich dir und deiner Fürbitte ihr wundes Herz, ihre Schmerzen und Qualen demütiglich und mit tiefster Inbrunst zu Füßen.«

Seine Stimme schwoll an, stieß gegen die bleigefaßten Scheiben, gegen das Gewölbe der todstillen Kirche.

»Komm' uns zu Hilfe, Heiland der Macht und der Stärke. Erhebe dich, o Herr, uns deinen Beistand zu leihen. Errette uns vor den Seelenqualen und den Nöten der Liebe und denen des Lebens, die uns angehen wie gierige Tiere. Erbarme dich unser! Herr, meine Mutter ... mein Bruder ...!«

Sein Ruf ging dahin wie ein Schrei in der Wüste, der weiter pilgerte, immer weiter und weiter, um letzten Endes an das Ohr des gerechten, verzeihenden und allbefreienden Gottes zu dringen.

Das Blut rauschte ihm zu wie die Wasser in einem geöffneten Schleusenwerk. Und doch war sein Antlitz kalt geworden, wie mit Kalk überzogen. Aber sein Herz glutete, seine Blicke flackerten, seine gestreckten Arme drängten sich enger zusammen, umschlossen den Schoß und die Knie des Bildstockes wie mit eisernen Fesseln.

»Ich lasse dich nicht, ich gehe nicht von hinnen, denn du lassest mich dahinziehen in Frieden und mit der Gewißheit im Herzen: die Gestirne wechseln, sie kommen und gehen, und jedem Menschen sind seine Gestirne gegeben. Die unsrigen wollen dem Niedergange zu. O du Gnadenreiche, hebe sie wieder. Ich lasse dich nicht, denn du lassest mich dahinziehen mit dieser Gewißheit im Herzen.«

Dann noch ein Stammeln.

Nichts mehr, nichts mehr! Die Stille ringsum war wie die tiefe Stille am Kalvarienberg geworden. Nur das Lichtlein mit seinem magischen Scheinen und Leuchten hoch über dem bleichen Kerzenschaft knisterte heimlich in das lautlose Beten und Bitten.

Die Arme umschlangen stärker und flehender.

Ein kalter Mund beugte sich nieder. Er küßte die Füße der Mittlerin, der Gebenedeiten mit dem Strahlenkränzlein von sieben Sternen um die Schläfen, mit dem silbernen Mond unter den Sohlen.

Klemens dachte in Gott, lebte in Gott, fühlte die Nahe des lebendigen Gottes dicht an seiner Seite, des lebendigen Gottes, der ihn anhauchte und mit dem Saum seines überirdischen Kleides berührte.

Er wollte es und flehte darum: das Herdfeuer sollte wieder friedlicher leuchten, die bedrängten Seelen wieder still ihres Weges dahinziehen und ruhiger atmen.

»Heilige Jungfrau Maria, bitte für uns, lege unsere Not an das flammende Herz deines Sohnes. Meine Mutter, meine liebe und gütige Mutter ...! Ihre Augen sind blind vor Weinen geworden. Sie tastet durch Finsternis und sucht das Licht um meines Bruders willen, dieses Verstörten. O du Gnadenbringende, du Wundertätige, lege ihr die Hände auf, auf daß sie gesunde, sich wieder des Lichtes und ihres Sohnes erfreue ... im Namen des dreieinigen Gottes: des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes – von nun an bis in alle Ewigkeit, Amen.«

Und Klemens rang sich empor. Er fühlte sich freier, einer schweren Drangsal enthoben. Die Stimme seiner Mutter war bei ihm und sagte: »Ich danke dir, Klemens.«

Ja, er hörte es deutlich: »Ich danke dir, Klemens.«

Und siehe: um die Mundecken der Gottesmutter kräuselte sich ein liebliches Lächeln.

Das Flämmchen hoch über dem Lichtstock stand nunmehr in heller Glorie, in der nochmals die Engelsköpfchen erschienen und die überirdische Jünglingsgestalt mit den goldenen Flügeln. Die Seligen feierten, jubilierten:

»Schon flimmert auf bläulichem Grunde
Der liebe Wunderstern,
Und rings mit seligem Munde,
Da flüstert die weite Runde
Heimlich den ›Engel des Herrn‹.«

»Im Namen des Vaters ...«

Er machte das Zeichen des heiligen Kreuzes. Seine Mission war erfüllt. Er konnte dran denken, sich wieder auf den Heimweg zu machen.

Gemessenen Schrittes durchmaß er die Kirche.

Am Portal stand der Küster.

»Ich danke Euch, Peters, für Eure Mühewaltung.«

»Gar nichts zu danken, Hochwürden.«

»Nur möchte ich bitten: laßt die Kerze brennen bis zum letzten Verzehren – um meiner Mutter willen und um der Barmherzigkeit wegen.«

»Es soll also geschehen.«

»Dann, Herr Peters, lebt wohl und viele Grüße an die Frau und die Kinder.«

»Sie werden sich freuen, Hochwürden.«

»Gelobt sei Jesus Christus!«

»In Ewigkeit, Amen.«

Klemens wandte sich dem Rhein zu, um dort überzusetzen.

Eine graue, kalte, dunstige Luft schlug ihm entgegen.

Einzelne Stellen unter dem Himmelreich waren von Wolken entblößt.

Dafür war der Südwest nach Norden umgeschlagen und nahm an Heftigkeit zu.

Die Soutane wehte klatschend im Wind.

Am Strom angekommen, fand er bereits den Fährknecht vor.

Andere Passagiere warteten.

Tief am Horizont, dem Untergehen nahe, stand die düstere Sonne wie eine kupferne Scheibe. Der Kirchturm von Huisberden winkte matt und dunstig aus der Ferne herüber.


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