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Ach, dieses Liebeseelchen, dieses Sängerlein mit dem ziegelroten Brüstchen! Kein Schlaggärnchen hatte es in freier Wildbahn betört, kein verschlagener Vogelsteller es eingekäfigt. Aus freien Stücken war es erschienen, aus freien Stücken harrte es aus, um nunmehr seit Jahren seine anspruchslose Strophe im verschwiegenen Försterhause zu singen.
So auch heute. Wie aus einem zarten Nebel heraus ließ es sein Stimmchen vernehmen. Leidvolles und Schmerzliches, Freudenreiches und Schönes, Vergangenes und Zukünftiges wirrte es bunt durcheinander. Es war wie das Klimpern von Rosenkranzperlen, wie das Weinen und Beten in einer Gnadenkapelle, um dann wieder wie das heimelige Läuten von Glockenblumen, das Rieseln eines Wiesenbächleins unter Salbei und Unserer Lieben Frauen Bettstroh zu werden. Unter diesem Singen und Sagen blühte das niederrheinische Land, schwebte die Mutter Gottes im blauen Gewand durch die Heide von Kevelaer, wurden Tränen gesammelt und Ringe gewechselt, wandelten Tage und Stunden, die voller Glorie waren, auch solche, die in ihren eigenen Tränen erstickten.
Ach, dieses Liebeseelchen, dieses Sängerlein mit dem ziegelroten Brüstchen! Es ähnelte einem Märchenerzähler, einem Bringer der Freude, einem Träger der Unruhe. Sein Psalmodieren verstärkte sich, und Mutter Auwater hörte darauf, als klängen Engelszungen ihr zu, als redeten Geisterstimmen aus jenen Tagen heraus, die ihr nichts mehr zu sagen hatten ... und dennoch hatten sie ihr vieles zu sagen.
Ihre Hände schlossen sich fester zusammen, ihr Kopf sank nach vorne.
»Ave Maria!«
Mit diesem Gruß auf den Lippen pilgerte ihre Seele in verflossene Zeiten hinein, während alle Geräusche im Hause verstummten, die sonst schon verschwiegenen Räume noch stiller und vereinsamter wurden. Die Erinnerung nahm sie beiseite, führte sie in den Garten der Anschauung und den der Betrachtungen. Spiegelbilder und Spiegelungen zogen an ihrem Geiste vorüber, deuteten hierhin und dorthin, hatten ihr vieles zu zeigen, wisperten ihr zu: »So warst du, so bist du geworden, so wirst du einst werden. Der Herr war dein Stab. Er schützte dich, er leitete dich, er führte dich nicht in Versuchung. Der Herr wird bei dir sein, wenn deine Hand erlahmt und dein Fuß zu schwer wird. Er wird dir den Schweiß vom Antlitz nehmen, wenn deine Tage gezählt sind und du dich danach sehnest, der Anschauung Gottes teilhaftig zu werden. Dein Leben war Liebe und Mühe, und dein Sterben wird köstlich sein.« Sie sah sich als kleines Mädchen zwischen Maßliebchen und Tausendgüldenkraut stehen, über sich den ewigen Himmel, zu ihren Füßen die unermeßlichen Wiesen, die sich bis nach Holland erstreckten. Sie sah sich als Jungfrau, feingegliedert, mit den köstlichen Reizen des erwachenden Weibes ausgestattet. Um Mannesliebe brauchte sie keine Sorgen zu tragen. Sie kam daher mit dem Schmeicheln des Sommerwindes, mit dem Brausen des Sturmes in laulichen Frühlingsnächten. Willig und gern gab sie ihr ein und ihr alles, ihre Mädchenblüte, dahin, um die Frucht zu empfangen. Und als sie empfangen hatte, nahm ihr Mann sie zwischen seine mächtigen Arme, drückte ihr einen innigen Kuß auf die Lippen und fragte mit heißer Stimme: »Bist du glücklich, Johanna?«
»Ja, ich bin glücklich geworden,« gab sie lächelnd zurück, »glücklich durch deine stolze Liebe und dich.«
Das beseligte ihn, und sein Bart legte sich um sie her wie ein fließendes Segel.
Und sie gebar einen Sohn, den nannten sie Reiner. Solches geschah in dem Hause, das sie noch heute bewohnte.
Die Zeit wanderte ab. Die Standuhr tat ihren ruhigen Gang. Nichts trübte den zarten Hauch der Ereignisse, die sich mit arbeitsamen und feiertägigen Augen aneinanderreihten wie die Spiele schuldloser Kinderherzen. Dann wieder gab Frau Johanna die Blüte des Weibes hin, um die Frucht zu empfangen. Und als sie empfangen hatte, nahm ihr Mann sie zwischen seine mächtigen Arme, drückte ihr einen innigen Kuß auf die Lippen und fragte zum andern: »Bist du glücklich, Johanna?«
»Ja, ich bin glücklich geworden,« gab sie lächelnd zurück, »glücklich durch deine stolze Liebe und dich.«
Das beseligte ihn, und sein Bart legte sich um sie her wie ein fließendes Segel.
Und nochmals gebar sie einen Sohn, den nannten sie Klemens und gelobten zu Gott, ihn dem geistlichen Stande zu weihen.
Solches geschah in dem Hause, das sie noch heute bewohnte.
Die Zeit wanderte ab. Die Standuhr tat ihren ruhigen Gang, die Levkojenrabatten blühten in dem kleinen Kraut- und Gewürzgärtchen wie einst und ehedem, ohne Schaden zu leiden, ohne die Arten zu wechseln. Die Rohrdrosseln riefen ihr »Kärrekiek« so inbrünstiglich durch die weite Gegend, wie sie es immer getan hatten, von morgens bis in den späten Abend hinein, bis die Sterne an dem blauen Kattun des Himmels aufgeisterten und von der Allmacht Gottes erzählten.
Die Kleinen wuchsen heran, freuten sich ihres ungebundenen Lebens, wurden zu Jünglingen, die das Herz der Eltern froh machten und Hohes verhießen. Heinrich Auwater, nunmehr zum königlichen Hegemeister ernannt, schaffte für viere. Seine Kulturen florierten, die ihm unterstellten forstlichen Reviere standen außer Wettbewerb, und wenn er spät abends kein Büchsenlicht mehr hatte, wie er zu sagen pflegte, trat er den Heimweg an, um bei Weib und Kindern die geruhsame Nacht zu erwarten. Dann aber, beim Zubettegehen, wenn das trauliche Rübsenöllicht im Schlafzimmer aufflämmerte und zitterige Kringel gegen die niedrige Decke zeichnete, nahm er seine Herzenskönigin zwischen die mächtigen Arme, küßte sie heiß, indem er ihr zuflüsterte: »Johanna, ich glaube, wir sind glücklich geworden.«
»Ja,« gab sie mit dem Lächeln eines Weibes zurück, das sich beseligt fühlte, dem nichts mehr auf dieser Erde zu wünschen übrig blieb. Dabei legte sein Bart sich um sie her wie ein fließendes Segel.
Das ging so fort und immer so weiter, ohne daß sich der zarte Hauch der Dinge und der Ereignisse trübte, bis sich eines Tages der Kaiser und sein Volk genötigt sahen, das Recht und die Ehre und das Heil des bedrängten und umzingelten Vaterlandes auf die Spitze des Schwertes zu stellen.
»Mutter, es geht um alles, um Ehre, Leben und Sterben,« und eine schwere Faust rumpelte auf den Tisch, eine wehe Stimme sprach in den schwülen und dunstigen Sommerabend hinein: »Gott sei mit uns in seiner Kraft und Herrlichkeit ... und stütze das Volk in seiner Not und seinen Wirrnissen ... und mache das Gewürm und Geziefer zuschanden, das schon seit Jahren dabei ist, Deutschland, die breitschattige Eiche, zu ringeln, seinem Wurzelstock die Wohltat der Mutter Erde zu nehmen. Ich trage Sorge um vieles. Nicht um den Glanz unserer Waffen und ihrer strahlenden Führer. Aber schon der herrlichste Deutsche mußte einst fallen. Siegfried fiel. Leider Gottes sei es geklagt: er fiel durch die eigene Landsmannschaft, durch die Hinterhältigkeit und den Verrat eines Abwegigen ... und über die Gaue hin krächzten die Geier und Aasvögel, steht über dem Odenwald ein blutiger Schatten, ein Zeichen dafür: hier blutet die Schande für ewiglich, denn an dieser Stätte wurde der edelste Deutsche, wurde Siegfried erschlagen. Gott helfe uns allen und erbarme sich unser!«
Ernst sah der Hegemeister in den Abend hinaus, über den Klever Reichswald hin, über dessen düsteren Massen sich das erste Sternenlicht zeigte, trüb und vernebelt, um bald wie ein armseliges Totenlämpchen zu verlöschen.
»Amen,« sagte er leise.
Die Wetterwolke brach los, warf seine züngelnde Lohe. Da marschierte Deutschland, marschierte mit aufgestülptem Visier, im blanken Eisen seiner gerechten und ehrlichen Sache. Auch Reiner zog mit, strahlend und leuchtend, als junger Forstbeflissener, den ersten Flaum auf den Lippen, während Klemens noch das Gymnasium in Kleve besuchte.
Herr, stehe uns bei!
Aber der Herr hatte kein Einsehen. Herrliche Massensiege! um letzten Endes im Sumpf zu ersticken. Statt glorreicher Friedenskränze das Grauen, an Stelle von werktätiger Arbeit und Freiheit die Verelendung eines ringenden Volkes auf Jahre hinaus, auf Menschenalter hinaus, unzählig wie die häßlichen Scharen der Prozessionsraupen bei ihren gefräßigen Pilgerzügen, bei ihrem Ziehen ohne Anfang und Absehen.
»Die Hände unserer Feinde mögen verdorren ...«
Der alte Hegemeister, jetzt weiß vor Entsetzen geworden, stand wie eine Säule im Reichswald, der im heißen Brand des Abends blutete, als wäre ihm eine tiefe, nie mehr heilende Wunde geschlagen.
»Ja, die Hände mögen verdorren, die die Feder ansetzten, um uns das Diktat von Versailles aufzuzwingen. Aber ich diene, sonst geht in absehbarer Zeit mein Letztes und Heiligstes, geht der mir anvertraute Wald vor die Hunde. Ich diene – diene wie die Aufrechten dienen, um das Los ungeborener Generationen leichter zu machen, diene im heißen Gedanken an eine mögliche Stunde, die aus Schatten und Tränen die gepanzerte Faust stößt, willens, in Kraft eigener Machtbefugnis der Willkür ein Ziel zu setzen, dem Niedergang ein ›Bis hierher und nicht weiter‹ zwischen die Schläfen zu hämmern. Ich diene ...« und er diente mit zerrissener Seele und fliegendem Atem. Er kämpfte gegen die Schänder des Forstes, gegen das feige Gesindel, das unter der schmutzigen Flagge der Sonderbündler marschierte und Menschen und Vieh zu Tode hetzte. Er kämpfte gegen die ausposaunte Freiheit, den schreienden Hirsch wahllos auf die Decke zu schroten, gegen alles, was die Schneisen und Gestelle seines sakrosankten Waldes entweihte.
»Ich diene ...!« und er diente im Sinne eines Starken in Israel, einer von den Stillen, aber auch einer von der alten Garde im Lande. Er diente bis zum letzten Atemzuge, bis zum letzten eigenen Abkämpfen. Seine Falkenlichter feierten nicht. Sie waren rings und überall, bei Tages- und Nachtzeit, in Finsternis und Sternenfeuer, und diese Falkenlichter machten ihm Feinde ... und da eines Abends ...
In der Heideläufergemarkung, bei dem Wildgatter, wo die drei verkrüppelten Birken standen, fiel ein Schuß.
Er bellte und kläffte.
Die im Försterhause mußten ihn hören.
»Mein Gott und mein Heiland, das ist nicht Vaters Büchse gewesen!«
Und wieder ein Schuß, ein dritter, ein vierter.
»Nein, das ist nicht Vaters Büchse gewesen! Gott gnade uns allen!« und Mutter Auwater warf ihre Arme zur Decke, um wie eine Sterbende niederzubrechen.
Sie sah ein weißes Gesicht, und dieses Gesicht schaute sie an mit unendlicher Liebe. Nur drei Herzschläge hindurch. Dann senkten sich die Lider über die gebrochenen Augen. Sie fühlte sich mit heißem Blut übertropft, und dieses Blut war das Blut ihres Mannes. Sie spürte einen warmen Hauch auf den Lippen, wie sie ihn oftmals verspürte, und dieser Hauch war sein letzter Gruß aus dem Walde.
Als man ihn brachte, ebbten ihre Tränen zurück wie die Flut nach einem schweren Seegang. Sie sah in friedliche Züge, die das Leid nicht mehr kannten. Ihre weiße Hand legte sich sacht über die Stirne des Toten. Ihre Lippen stammelten: »Nun hast du mir den ersten Schmerz getan. Er wird bei mir sein, bis wir uns wiederfinden in dem heiligen Licht, das wir auf Erden nicht haben. Das Höchste ist dir Pflicht und Erbe geblieben: Du dientest, und Gott ist barmherzig gewesen. Er nahm dir das Bitterste: den Untergang deines Volkes zu sehen ...« und als man ihn aufbahrte, das Frührot des neuen Tages durch die Scheiben fingerte, ließ sie das Fenster öffnen, um den laulichen Hauch des welkenden Laubes und den Duft der Mutter Erde ins Zimmer zu lassen, und siehe: ein Rotkehlchen saß auf dem Sims, regte die Schwingen, um sich bei der brennenden Kerze am Kopfende des Hingestreckten ein trauliches Plätzchen zu suchen. Es fand, was es suchte. Bald darauf hub es an, seinen freien Waldgesang, sein Zwitschern und Hindämmern durch die Stube zu zwirnen – ein Märchen in der Totenkammer, eine freundliche Note im Hause der Trauer und der Verstörung.
»Ich bin die Auferstehung und das Leben,« so sang es. »Deine Taten wurden gewogen und nicht zu leicht befunden. Im ewigen Jerusalem wohnt die Vergeltung. Umkleidet wirst du mit dem weißen Kleide der Reinheit, denn wer die Treue bewahrte, nicht eid- und sichelbrüchig wurde, wird eines solchen Kleides teilhaftig für ewiglich, im leuchtenden Angesicht des Herrn ...« und während des Singens psalmodierten die Eichen aus der Ferne herüber, wölkten die alten Tannen, die ehrwürdigen Leviten des Reichswaldes, ihren Weihrauch um das stille Gewese, war es so, als begänne um die eingekerbten Lippen des Verstorbenen ein Lächeln zu spielen, das nicht von dieser Welt war, aber sich freute, den köstlichen Gruß von Forst und Heide bei sich zu wissen.
Frau Johanna sah dieses Lächeln. Reiner stand ihr zur Rechten, Klemens zur Linken. Ihre Hände verflochten sich, ihre Herzen drängten enger zusammen. Eine unsichtbare Fessel umschlang sie wie mit einer eisernen Kette.
Sie aber nahm ein Tüchlein und spreitete es über das Antlitz des Toten: »Lieber Mann, gehe in Frieden,« und sah Reiner an und ihren Jüngsten. Leise fiel es von ihren bleichen Lippen herunter: »Nun habe ich euch noch, sonst nichts mehr.«
»Mutter ...! Mutter ...!«
Nie wohl wurde das gebenedeite Wort Mutter so heilig gerufen, nie wohl war es von einem solchen Schmerze durchzittert, nie wohl von einem so stolzen Gelöbnis durchwoben. Aus dem Munde des Erlösers ist es nicht schöner und reiner gekommen, als sich die Stunde nahte, in der er das Haupt neigen und sterben mußte.
»Mutter ...! Mutter ...!« und treu ihrem Schmerz, treu ihrem Gelöbnis, treu ihrem gebenedeiten Wort, das nicht heiliger und feierlicher von Golgatha über den Berg des Ärgernisses hinzog, trugen sie ihre Mutter auf Händen, ehrten sie sie, wie keine Söhne die Mutter noch ehrten, schafften für sie im Sinne des Verstorbenen und machten ihren Lebensabend zu einem köstlichen Abend.
Nichts änderte sich in dem traulichen Forsthaus, keine Schilderei wurde verrückt, kein Möbelstück auf eine andere Seite geschoben. Waffen und Trophäen des Vaters standen auf Reihe wie einst und ehedem. Ein frischer Tannenbruch zierte täglich sein Bild, und wenn der Tag des heiligen Hubertus heraufgraute, die Nächte schon lange Hirtzensprünge machten und die Kapitalen zu röhren begannen, schmückte ein Eichkranz den Sessel, in dem er willig und gern die Sorgen der grünen Farben verschmerzt und sich ihrer stolzen Freuden erinnert hatte ... in nomine Sancti Huberti», im Namen aller, die es gut meinen mit Wald und Wild, die blühende Heide als eine hehre und keusche Frau ansprechen, die sich nur denen hingab und ihre märchenhaften Reize und Wunder offenbarte, die ihre heiße und große Liebe verdienten – in nomine Sancti Huberti und seiner erlauchten Gefolgschaft.
Reiner wurde Folger im Amt. Mit heiligem Eifer befolgte er die Zuwachslehre und die Lehre vom Umtrieb. Überkommene historische Bäume waren sakrosankt für ihn und die Axt. Er stöberte die Wilderer auf, ließ jedem raren Pflänzchen sein Wachstum, um an ihm seine Freude, sein Genießen zu haben. Der Buchfink schmetterte ihm tagtäglich seinen ›Reiterhinzu‹, das Bächlein plätscherte daher, als gälte es, ihm den Morgengruß und den Morgensegen zu bieten. Als Heger und Pfleger – mit Siegfriedsaugen durchschritt er die Wildbahn, die Schneisen und Gestelle, die ihm überkommenen Reviere. Jedes Lebewesen fühlte und spürte: in ihm ist der alte Hegemeister aufs neue erstanden, wandelt sein Geist wie in den Tagen, da sie noch raunten und flüsterten: »O Deutschland, hoch in Ehren, o Deutschland, gebenedeit unter den Völkern der Erde!« Sein scharfgemeißeltes Gesicht, über dessen Nasenwurzel sich eine tiefe Rune aufstellte, schien wie aus Bronze gehauen. Gleich seinem Vater, so diente auch er, gleich ihm den wilden Schmerz um das Verlorene, Unwiederbringliche zwischen den Rippen. Wie Sankt Michael vor dem Paradiese, hielt er die Fahnenwacht in Forst und Flur, auf endloser Heide. Sein Arm reichte weit, seine Liebe noch weiter. Dem jüngeren Bruder gegenüber blieb er ein treuer Wardein und Sachwalter, verstattete ihm das Studium auf dem Seminar in Münster, die Anwartschaft auf ein keusches und gottwohlgefälliges Priestertum, auf daß er einst sprechen möge: »Ich bin ein guter Hirte und weide meine Schafe. Ich tränke sie morgens am Bronnen der Erkenntnis und führe sie auf den Anger der Duldsamkeit und den des Verzeihens. Ich lehre sie, dem Herrn zu geben, was des Herrn, dem Kaiser, was des Kaisers, auf daß sie nicht in Unrast geraten in diesem Tale der Tränen und dem der Anfechtungen.«
Ja, sein Arm reichte weit, aber seine Liebe noch weiter. So vergingen ihm und den Seinen die Tage, die Monde und Jahre, und während all dieser Zeit, bis zur heutigen Stunde – das kleine Sängerlein mit dem ziegelroten Brüstchen, das nämliche Sängerlein, das dem hingestreckten Hegemeister an seinem Totenbette das freie Waldlied gesungen hatte, lieblich wie Himmelschlüsselchen, duftig wie der Ruch der Veilchen unter Bocksdornhecken, war im Försterhause heimisch geblieben, teils im Freiflug, teils in seinem mit Tannengrün umgitterten Bauer. Heute hatte es Freiflug. Wie aus einem zarten Nebel heraus ließ es bei jeder Tageszeit seine glitzerfeine Stimme vernehmen. Leidvolles und Schmerzliches, Freudenreiches und Schönes, Vergangenes und Zukünftiges wirrte es bunt durcheinander. Es war wie das Klimpern von Rosenkranzperlen, wie das Weinen und Beten in einer Gnadenkapelle. Es war ein Sängerlein auf Selfkantpantoffeln und dann wieder ein solches mit klingenden Silberschellchen. Es ähnelte einem Märchenerzähler, einem Bringer der Freude, einem Träger der Unruhe, und Mutter Auwater hörte darauf, als tönten ihr Engelszungen zu, als redeten Geisterstimmen aus jenen Tagen heraus, die ihr nichts mehr zu sagen hatten ... und dennoch hatten sie ihr vieles zu sagen.
Ihre Hände schlossen sich fester zusammen, ihr Kopf sank nach vorne.
So ruhte sie lange.
Längst schon befand sich Frau Engelke Stappers auf der Chaussee, die in ihrem buntesten Herbstschmuck an den Rhein und nach Emmerich führte, als ein junger, riemiger Mann in grüner Farbe, die blauweißen Deckfederchen des Hähers am niedrigen Filz, dessen schmale Krempe die linke Ohrmuschel berührte, den Heckenweg heraufmarschierte, der von den Salweidenplantagen direkt auf die Landstraße führte.
Wäre Frau Engelke seines Kommens sicher gewesen, zweifelsohne hätte sie an der Kreuzung ein Viertelstündchen zugegeben, um auch ihm ihre wärmste Teilnahme mit allen nur möglichen Wünschen für die kommenden Tage ans warme Jägerherz zu betten.
Dem jungen Mann konnte es gleich sein.
Die Büchse geachselt, federnden Schrittes, scharfnasig, mit Augen, die an die eines Falken erinnerten, rollte er den Weg unter sich auf, als wären seine Schuhe beflügelt. Dabei pfiff er den ›Jäger aus Kurpfalz‹ mit dem herzhaften Ton einer preußischen Pickelpfeife, um das ›Halli, hallo! gar lustig ist die Jägerei‹ frohstimmig in Gottes weite Landschaft zu singen.
Wenn einem heute die Welt in Gold stand – ihm stand sie in Gold, zudem noch in leuchtender Maienblüte ... und mit dieser Welt in Gold und dieser leuchtenden Maienblüte unter dem Wams ging er seinem Heim und dem Försterhause entgegen. Als er sein wohlgepflegtes Gärtchen mit all seinen ergötzlichen Herbstblumen erreichte, das verschwiegene Gärtchen mit den gefiederten Astern, den hohen Goldruten, den buntscheckigen Georginen, ließ die Pickelpfeife noch einmal so munter die letzte Strophe ertönen:
»Nun sind wir in Kurpfalz.
Wer aber gibt uns Mittagsbrot,
Wer schenkt die Gläser voll
Dem Jäger aus Kurpfalz?
Halli, hallo ...«
Im Hausflur, woselbst allerlei seltsame Trophäen, wie zackige Geweihe von kapitalen Eigenbrötlern, Vogelbälge, Raritäten aus Wald und Flur, Auer- und Birkhähne mit ausgebreiteten Fächern, die weißgekalkte Wand schmückten, legte er Filz und Büchse ab.
Die eigenartige Stille des Hauses befremdete ihn.
»Nanu!«
Auf Zehenspitzen betrat er das Wohnzimmer.
Da sah er ...
Seine Mutter ruhte friedlich im Sessel, den Kopf vornübergebeugt, die arbeitsamen Hände gefaltet. Das Rotkehlchen saß ihr auf der Rückenlehne zu Häupten. Allerlei Bilder und Erinnerungen zwitscherte es in ihre Träume hinein. Es war ein Sängerlein auf Selfkantpantoffeln und dann wieder ein solches mit klingenden Silberschellchen. Es ähnelte einem Märchenerzähler, einem Bringer der Freude, einem Träger der Unruhe. Leidvolles und Schmerzvolles, Vergangenes und Zukünftiges, Schönes und Freudenreiches wirrte es bunt durcheinander.
Reiner trat naher heran und drückte ihr einen Kuß auf die Stirne.
»Mütterchen ...!«
»Ach Reiner ...!« und sie wischte sich ihren Schlaf aus den Augen. »All die Zeit, wo ich so eine kleine halbe Stunde hindurch abwesend war, habe ich mich mit dir und deinen Tagen beschäftigt.«
Sie glitt sich mit der Hand über die Stirne.
»Ich weiß es nicht, Reiner, wie es so kommt, aber ich muß immer an die Predigt vom letzten Sonntag denken, worin unser Herr Pastor so schön sagte: Ich möchte dir jegliches antun, um das Mutterherz und das des Sohnes mit einem dauernden Kettlein zu verschweißen, auf daß sie nebeneinandergehen wie aus der Hand Gottes gekommen. Ich möchte dir meine Liebe in goldenen Schalen reichen, aber viele unter euch wollen von der Liebe und den goldenen Schalen nichts wissen.«
Er sah sie betroffen an, nahm einen Stuhl und setzte sich dicht an ihre Seite.
»Wie meinst du das, Mutter?«
»Ach Gott, Reiner, wie soll ich das meinen? Mir geht so viel durch den Kopf, Liebes und Gutes, Freundliches und Unfreundliches, besonders in der jetzigen Stunde. Auch du hast deine Sorgen und Verdrießlichkeiten, deine Reviergänge und so ...«
»Der heutige ist prächtig verlaufen. Die Salweidenströpper haben das Mausen vergessen. Auch bin ich nicht auf Schlingen und sonstigen Unfug gestoßen.«
»Das ist ja recht erfreulich zu hören. Aber das mit der Liebe in goldenen Schalen! Alles um mich verschwindet. Ich sehe nur dich und Klemens. Aber dich sehe ich zu allen Stunden ... und da möchte ich fragen ...«
Sie nahm seine Hände.
»Reiner, du bist gestern da drüben gewesen, in Grieth, ohne mir darüber ein Wörtchen zu sagen.«
»Ja, Mutter, ich bin drüben gewesen.«
»Und hast auch Jakobine Hemskerk gesehen?«
»Das weißt du ...?«
In seinem Herzen begann es stärker zu pochen.
»Ja, Reiner, das weiß ich, und die es mir sagte, fügte erklärend hinzu: Grieth und Huisberden liegen nicht weit auseinander.«
»Nein, das liegen sie nicht.«
»Und hast auch mit dem alten Hemskerk geredet?«
»Mit Hemskerk – nein. Er war nach Duisburg-Ruhrort, um dort Ladung zu nehmen.«
»So?!« und ihre Hände drückten fester und inniger. »Aber mit Jakobine bist du versprochen?«
»Mutter ...!«
Sie hob ganz sachte die Hand und legte sie wieder auf die ihres Sohnes. Ihre Augen umschleierten sich, standen in einem hellen Wasser, das langsam niedersickerte.
»Ja, mit Jakobine bist du versprochen, so ganz aus heiterem Himmel herunter, obgleich ich mir immerzu dachte: bei so was hat auch eine Mutter ein kleines Wörtchen zu sagen. Das ist doch allzeit so Mode gewesen. Eine Mutter hat auch ihre Rechte.«
»Ja,« lächelte Reiner, »hat sie auch und soll sie auch haben.«
»Dann verstehe ich nicht. Die Welt ist anders geworden, und die Menschen sind gleichfalls anders geworden, obwohl ich mir einbildete, in unserem Hause wäre so was bis auf das letzte Tiftelchen beim alten geblieben; es ginge alles seinen richtigen Gang, ohne viel Komplimente und ähnliches aufzustellen, genau so wie es Vater in seiner aufrechten und geraden Weise besorgte, und nun muß ich sehen ... und bin doch immer des Glaubens gewesen, ohne mein Wollen und Wissen, ohne meine Zustimmung einzuholen, wird Reiner einen so ernsten Schritt nicht unternehmen, obgleich ich weiß, er wird dir niemals eine Unwürdige zuführen. Und dann noch ... Das Herz einer Mutter ist wie ein Buch mit stillen Geschichten und schönen Bildern. Man braucht nur die Blätter einzeln auf die andere Seite zu legen, um sich davon überzeugen zu lassen, denn aus diesen stillen Geschichten und schönen Bildern kann sich einer manches entnehmen. Ich denke dabei an so vieles. Besonders an die Liebe in goldenen Schalen. Sie versäumt nichts. Sie gibt keine Rätsel auf und ergeht sich nicht in Spitzfindigkeiten. Sie ist immer auf Wache. Schon mit dem jungen Morgen erhebt sie sich, um erst mit den späten Sternen schlafen zu gehen. Ihre Wesenseinheit ist Güte, ihre Sorge hat keine Zeit, müde zu sein. Sie kann Berge versetzen und Ströme ableiten. Das ist die Mutterliebe in goldenen Schalen. Das weißt du alles, und da du es weißt, hättest du zu mir kommen müssen, um mit mir dein Leid und deine heimliche Freude ehrlich zu teilen, bevor andere Leute ... Reiner, das hättest du sollen, denn man kann immer nicht wissen ...«
»Ja, Mutter, das hätte ich sollen. Aber nun höre mal zu,« und er legte seine starken Arme um sie her, zog sie an sich und begann leise zu sprechen: »Mutter, du kennst Jakobine und kennst auch den Alten, und da du ihn kennst, wirst du mir beipflichten: der Kapitän Hemskerk ist nicht von heute und gestern. Er hat nur ein einziges Kind zu vergeben. Das ist ihm wie der Apfel im Auge. Sich von diesem zu trennen, geht ihm so nahe, als würde ihm geboten, sich auf den Altenteil zu setzen und sein Steuer in andermanns Hände zu legen. Alle estimieren ihn. Sein Name wird bewertet von Mannheim bis tief ins Holländische hinein. Er und seine Schiffe haben 'nen ordentlichen Schritt unter Sohlen und Eichenplanken. Wo sie in Sicht kommen, da heißt es: Respekt vor Kapitän Hemskerk und seiner Navigation. Das sind Kerle mit Ärmel. Dabei hat er Rosinen im Sack, die er in ihrer Größe höher eintaxiert als Mirabellen und Eierpflaumen ... und wenn er den Tod noch nicht haben will, schickt er ihm 'nen Doktor mit langsamen Füßen entgegen. Das alles hat man in Rechnung zu ziehen ...« und nun erzählte er, wie die Zuneigung so allmählich gekommen, wie es um ihn und Jakobine stände, wie er ihr Jawort erhalten, sie sich unverbrüchliche Treue gelobt hätten bis zu ihrem gottwohlgefälligen Ableben. So habe er sich denn gestern kurzerhand entschlossen, den Schritt zu wagen und den herben und selbstherrlichen Kapitän um die Hand seiner Tochter zu bitten. Mit dem frühesten sei er denn auch nach Grieth aufgebrochen, um sich sein Glück zu erkämpfen, leider, ohne Hemskerk anzutreffen. Der befände sich zurzeit in Duisburg-Ruhrort, damit beschäftigt, schwere Zuckerladungen zu verfrachten, sie rheinabwärts bis nach Rotterdam zu führen. Jakobine ginge morgen oder übermorgen dorthin, willens, mit ihrem Vater 'ne vierzehntägige Reise nach Holland zu unternehmen. Dabei würde sie Gelegenheit finden, alles bestens vorzubereiten und seiner Bewerbung die Wege zu ebnen, denn er, der Vater, besäße schon 'ne gehörige Portion Nucken und Raupen unter den Ankerknöpfen ... »und nun,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, indem er die Mutter inniger umarmte, »wirst du verstehen, warum ich dir gegenüber nicht anders handeln konnte und durfte, weshalb ich erst später ...«
»Ach Reiner ...!«
»Ja – du ...!« gab er beseligt zurück, »die Mutterliebe ist schon eine Liebe in goldenen Schalen, und diese Mutterliebe wollte ich wahrhaft beglücken, aber erst dann wollte ich kommen, erst dann dir die Botschaft ans Herz legen, wenn ich mit gutem Gewissen sagen durfte: Ich habe nicht nur Jakobine, sondern auch ihren Vater gefunden.«
»Ach Reiner, Reiner! und das kann in vierzehn Tagen geschehen?«
Ihre Augen flackerten.
»Mutter, ich hoffe zu Gott: der Tag bricht früher herein.«
»Und glaubst du, daß Hemskerk ...?«
»Mutter ...!«
Er hob sie empor, als wenn die stille Frau ein Federspiel wäre, stellte sie neben sich und fuhr ihr sacht über den weißen Scheitel.
»Ja, Mutter. Ich habe was vom Vater geerbt. Hier sitzt das ... und Vater und Hemskerk bogen nicht aus, hielten sich wechselseitig die Stange. Also – auch ich halte Hemskerk die Stange, biege nicht aus, selbst dann nicht, wenn alles gegen mich aufstünde, und es wäre noch schöner, wenn ich nicht sagen könnte ... Ach was!« und er bäumte sich auf in seiner Kraft und Zuversicht: »Mögen alle Stolzen in den Grafschaften nach Jakobine schreien, sie begehren, sie an sich zu reißen versuchen – das Ererbte vom Vater ist mächtig und stark genug, sie abzudrücken und zum Kapitän zu sprechen: Gib Gott, was Gottes, aber auch deiner Tochter, was deiner Tochter ...«
»Und das bist du!« rief sie aus, und die nunmehr beseligte Frau legte ihre schmalen Arme um den Hals ihres Sohnes.
»Reiner, mein Reiner!«
Das Liebeseelchen begann wieder zu singen, innig und zärtlich, mit der Feinheit eines gesponnenen Seidenfadens, und war wie ein Singen von Geistern, jenseits eines fernen Waldes in Gold, wo die Ewigen wohnen.