Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Die Tage kürzten sich merklich. Dafür bekamen die Nächte einen um so längeren Atem und machten Hirtzensprünge unter dem Himmelreich, daß sich die lieben Sterne höchlichst darüber verwunderten.

An die Geschichte, die sich vor der Schmiede abgespielt hatte, dachten wir noch des öfteren mit heimlichem Grausen, hielten jedoch wohlweislich die Mäuler, aus Furcht, von irgendeinem bestellten Forum abgeurteilt zu werden.

In den sieben Linden und dem stattlichen Baume auf dem Großen Markt, der viel des Erbaulichen und viel des Schrecklichen aus alten Tagen erschaut hatte, begann es stärker zu rascheln. Es gemahnte an das Rascheln von Mäusen in einer Vorratskammer, an das Graupeln gegen gefrorene Fensterscheiben. Die Merle flötete nicht mehr, die Schwalben hatten sich bereits auf die Wanderschaft begeben.

Die trauliche Rübsenöllampe kam wieder zu ihrem Recht.

Während der langen Abendstunden saß ich mit meinen Eltern in dem Zimmer mit den großblumigen Tapeten, den Stahlstichen aus dem Düsseldorfer Kunstverein, als da waren: die Lorelei von Karl Sohn, der Tod Barbarossas im Kalykadnos von Alfred Rethel und andere mehr, dem Ripssofa und den Stühlen aus poliertem Kirschbaumholz – dem anheimelnden und geräumigen Zimmer, das auf den umdüsterten Garten mit seinen verschnittenen Pyramiden und Buchsbaumhecken hinaussah.

In einer genüglichen Stunde sagte mein Vater: »Heute fahren wir fort in einer krausen und ganz absonderlichen Geschichte.«

Hierauf begab er sich an sein wohlbestelltes Bücherregal. Mit einem kleinen, in Halbfranz gebundenen Werkchen kehrte er in den wohligen Lichtkegel zurück, drückte sich in einen bequemen Sessel und schmunzelte: »Gullivers Reisen nach Liliput, Brobdingnac und in die merkwürdigen Landdistrikte von Laputa, Luggnagg und Balnibarbi, geschrieben von dem ehrenwerten Jonathan Swift, weiland Prediger zu St. Patrick in Dublin,« und er hub an in seiner eigenartigen und kirchenstillen Weise zu lesen, bedächtig und mit dem zarten Schmelz eines feinen Auslegers, daß selbst Jonathan Swift, wäre er in unserer Gesellschaft gewesen, es sich nicht hätte nehmen lassen, ihm die Hände zu schütteln.

Mit einem Netz von grauen und gespenstischen Fäden fühlte ich mich eingesponnen. Dazwischen flinkerte und flunkerte es. Absonderliche Gestalten wanderten ab und zu, Abenteuer und Geschehnisse, die mir die Haare aufsteilten wie die Stacheln eines zusammengekugelten Igels. Dann wieder preziöse Ereignisse, so silberdrähtig und feintönend, als begänne irgendwo die Okarina eines Liliputaners zu spielen. Am besten jedoch gefiel mir die Reise durch die ungeheuerlichen Gefilde Brobdingnacs. Nein, dieser Jonathan Swift! Ich sah Haferähren, die mit der Höhe einer der stolzesten Dattelpalmen wetteiferten, gigantische Menschenkinder, Katzen, die hinter dem Ofen spannen und schnurrten, als wären hundert Strumpfwirker bei ihrer Arbeit gewesen, Ratten wie Mastferkel, und Fliegen, die es getrost mit einem fetten Wachtelhahn aufnehmen konnten. Die Lampe zirpte dazu, traumverloren rauschten die herbstlichen Bäume aus dem Garten herüber.

Während dieser Zeit ereignete sich nichts Bedeutsames in den heimischen Mauern. Höchstens: meine Kröpfer gediehen. Die Schellen an den Kramläden lärmten wie sonst. Hübbers waltete seines nachtwächterlichen Amtes in vorbildlicher Weise, erfreute sich bei den notariellen Beurkundungen eines gesegneten Schlafes. Beim papierenen Aloys schien Friede zu herrschen, und der lange Moritz hatte sich wieder auf die Beine gemacht, um sein Miekske van Grieth über Ruhrort nach Mannheim zu führen. Auch eine Mission hatte sich für einige Tage in Sankt Nikolai eingebürgert. Ein düsterer Dominikaner mit bleichem Schwärmergesicht rüttelte die Herzen zusammen. Er konnte aufbrausen mit der Gewalt eines Föhns, um gleich darauf mit den Riedgräsern in einer weichen Abendbrise zu flüstern. Er predigte über die Heilswahrheiten der Kirche, ein sanftes Hingleiten in die Arme des Sterbens, über die tobenden Posaunen am Tage des Gerichtes, woselbst die Toten in ihren Gräbern erwachen. Die Gottwohlgefälligen sahen sich bereits mit lichten Strahlen umkleidet, die Abtrünnigen in das ewige Glumsen des höllischen Feuers verwiesen. Dazwischen wandte er sich gegen den sogenannten Gamaschendienst, gegen militärische Ehrbegriffe, wie überhaupt gegen das Unzulängliche des preußischen Staates, seine unrühmlichen Institutionen . . . in nomine Patris et Filii . . .

Nur eins fiel auf. Simmchen Vitt saß wieder so vergnügt wie einst und ehedem vor seinem aufs frische etablierten Manufakturwarenladen, als hätte es für ihn keine Pleite gegeben, als wäre gar nichts geschehen. In buntgemustertem Schlafrock aus Kamelott, mit übergeschlagenen Beinen, am linken Fuß einen losen Schlappschuh, den er mit den Zehenspitzen pläsierlich auf und nieder wippte, so sonnte er sich in den noch immer warmen Strahlen der Herbstsonne. Er war gänzlich der alte und dachte nicht mehr daran, seine zehn Finger zu zählen, ohne den Daumen finden zu können. Nein, Simmchen Vitt war der vergnügtesten einer und blinzelte mit seinen etwas geröteten Äugelchen wie ein harmloses Frettchen aus der Sandröhre eines verspeisten Karnickels.

Außer Zweifel stand: er hatte seinen extraordinären Rebbes gemacht und seine Gläubiger an die dunkle Pforte geleitet, auf deren Supraporte die vernichtenden Worte aus Dante Alighieris Göttlicher Komödie prangten: »Lasciate ogni speranza.«

Sie hatten das Nachsehen.

Wie solches geschehen konnte, vermochte keiner zu sagen, niemand, keine menschliche Seele.

Aus Fehlbeträgen, Zahlungsschwierigkeiten, Passiven und weisen Schiebungen hatten sich Kräfte entwickelt, die gleich den Heinzelmännchen jegliches in solider, sachlicher und einwandfreier Methode beglichen, um es zu einem ersprießlichen Ende zu führen. Sein Manufakturwarenhandel stand abermals in floribus. Nebenher vermittelte er Pfandleih- und kleine Hypothekengeschäfte. Auch diese hatten gediegenen Mist an den Füßen.

Nur über das ›Wie‹ blieben die Akten geschlossen und für immer versiegelt. Die Umwelt nahm es geduldig nach der fatalistischen Art der niederrheinischen Menschen hin. Es war doch nichts zu ändern. Sie wußten: das auserwählte Volk besaß von jeher das ihm von Jehova überkommene Recht, in schweren Bedrängnissen auf einen gütigen Engel zu zählen. Auch hier hatte dieser gütige Engel mit seinen Schwingen gewuchtelt, die insolvente Firma mit einem solchen gerechnet. Kurz, Simmchen war puppenmunter auf die vermöglichen Beine gefallen. Amen, Sela!

Er saß pläsierlich vor der Haustür, verfolgte regen Sinnes die goldgelben Blätter, die von den schon halbkahlen Zweigen der großen Marktlinde herniederschaukelten, und wippte mit seinem Lederpantoffel.

Als ich eines Mittags vorüberkam, um den papierenen Aloys aufzusuchen, rief er mich an.

»Wie geht es, wie steht es?« sagte er freundlich, in den weichen Gutturallauten seines von Gott gesegneten Stammes.

»Ich danke der Nachfrage. Es geht ja.«

»Schön!« nickte der Alte, »und hat deine liebreiche Mutter schon die noble Besinnung gehabt, dir zu kaufen 'ne warme Wintermontierung, um Schlittschuh zu scharzen auf dem Bollwerk am Hinteren Graben? Prima Ware, bezogen von's eminente Haus Guttmann, in Firma Sally und Elkan, zu Krefeld.«

»Das ist wohl noch 'n bißchen zu früh,« meinte ich kleinlaut.

»Zu früh?!« lächelte Simmchen. »Der Winter zieht sich uns über dem Halse, bevor wir haben werden ein rechtes Verständnis. Schon gestern: die fetten Gansvögel sind gekommen vom Nordpol, um zu reisen zu dem pharaonischen König und dem ägyptischen Joseph . . . da über dem Kirchturm . . . und lärmten, als hätten sie schon jetzt zu tragen 'ne barbarische Kälte.«

Ich folgte dem vorgestoßenen Finger mit dem Interesse eines römischen Augurs.

»So!« rief ich aus.

»Ja,« fuhr er fort, »und als ich vor einigen Tagen bin spazifiziert in die Waldungen des hochwürdigen Herrn Baron Adriaan van Steengracht zu Moyland – was mußte ich sehen? Nu, in die Tannen . . . die kleinen Ameisen waren bei ihre Haufens beschäftigt, sie auszubauen wie die jüdischen Tempels, um zu haben 'ne angenehme Bekömmnis bei's Frieren, immer höher und höher, immer wärmer und wärmer, denn die fleißigen Tierchens befürchten 'nen bösen Reaumurstand unter dem Striche. Und als ich machte retour und besichtigte die Wiese an der Priesterkoppel, siehe: die violetten Blümchens, die wir for gewöhnlich die Herbstzeitlosen benennen, arbeiteten sich prophetischen Sinnes von selbst in das Erdreich, aus Forcht, 'ne frühzeitige Verkühlung zu haben. Ja, es wird Zeit, sich einzudecken in meinem Geschäft, alles bezogen von's eminente Haus Guttmann, in Firma Sally und Elkan, zu Krefeld. Drum sage 'nen schönen Gruß an die liebreiche Mutter, daß ich mich würde freuen, wenn sie käme, mir zu besuchen.«

Er hüllte sich fester in seinen kamelottenen Schlafrock und wippte aufs neue mit seinem Lederpantoffel.

»Auf Wiedersehen!« meinte er artig.

Simmchen Vitt sollte recht behalten. Schon zu Beginn des November setzte die Kälte ein. Männlein und Weiblein stopften ihre Holzschuhe mit Stroh aus. Der Winter ging mit dampfendem Atem über die Deiche, hauchte ihn über die Niederung fort. Seine Schritte klapperten. Er trat an die Schleusenwerke und gebot den Wassern, stille zu stehen. Dem Kahlflack legte er einen blauen Eispanzer zu. Unter der spiegelblanken Fläche seufzten die Geisterlein, murrten und gluckerten von einem Ufer zum andern. Die Dreschflegel tönten weit ins Land, mit dem harten Ton von Glocken aus Kornelholz. In den ersten Tagen des Advent bellte die Kälte. Mit spitzer Schnauze schnüffelte sie in die Schlüssellöcher hinein, durch die Fensterritzen, in die Häuser der Menschen. Die geklöppelten Blumen an den Scheiben tauten nicht auf, so emsig auch die glühenden Kohlen in den rotangelaufenen Kanonenofen bullerten. Den Kirchengängern erfror das Vaterunser zwischen den Zähnen. Die Rheinschiffe sahen sich genötigt, der knirschenden Schollen wegen, ihre Häfen aufzusuchen. Auch ›Miekske van Grieth‹ legte sich mit knapper Not und bereits etwas zerstoßenen Seitenplanken vor Anker.

Moritz hielt wieder seinen Einzug in die Stadt seiner Väter.

Um diese Zeit begann es vom Himmel zu flocken wie mit Mullen, Tage hindurch, Nächte hindurch, als stände die Welt hinter einem Straminrahmen von flirrenden Garnen.

Dann klärte es auf. Aber ein sonniger Frost krachte über die silberweiße Decke, daß der Schnee unter den Schuhen zwitscherte wie ein Nest voller Mäuse in einer Äpfelkammer. Rings starre Feierlichkeit! und sie wäre starr und feierlich geblieben, hatte nicht der lange Moritz böse Zeitung vermeldet.

Er war häufig bei seinem jüngeren Freunde Aloys zu finden. Sie sprachen viel und ernsthaft zusammen, von diesem und jenem, von den unsicheren Zeitläuften, die bereits die Menschenherzen beunruhigten.

Da merkte die Staatse auf.

Allmorgens stand sie an ihrer Haustüre, trotz des grimmigen Windes barhaupt, nur mit einem wollenen Seelenwärmer geschützt, ihren Krückstock neben sich. Sie fror und fröstelte nicht. Ihre Seele war kalt. Das ausgespreitete Laken, das ihr mit Diamantensplittern zuglitzerte, behelligte sie keineswegs.

Diamanten und Sternchen!

»Ja, glitzert man, glitzert man immer so weiter!« preßte sie scharf durch ihre harten Zähne hindurch. »Es ist eine unnütze Sache, stattliche Häuser zu bauen, ohne dabei an sein schwarzes Häuschen zu denken. Ja, glitzert man weiter. Wie lange noch, und ihr seid zu Tränen geworden, denn alles will wieder erlebt sein, oder Gottes Wort ist gelogen. Denn wisset: das mit dem Besenstern . . .«

Ihr Krückstock rumorte.

»Vater unser, der du bist in den Himmeln . . .«

Mit ungelenkigen Fingern strich sie sich das eisengraue Haar aus der Stirne.

»Ja, es ist ein langes und banges Leben und ein trauriges Sterben auf Erden!«

Ihre weiten Blicke suchten den Markt und die zunächstgelegenen Straßen ab, ob niemand erschiene, der ihr etwas Genaueres mitteilen könnte.

Da kam einer vom Rathaus geschritten, selbstherrlich, in voller Aufmachung, die Nase bereits auf das einladende ›Waldkarnickel‹ gerichtet, wo ein heißer Grog seiner harrte.

Die Alte rief ihn an.

»Herr Brill, darf ich wohl auf ein einziges Wörtchen . . .«

»Aber wir bitten, Madam! Für Ihnen sind wir immer offö, wie wir das so in der Amtssprache benennen.«

»Dann möchte ich fragen: Sie, als militärisches Oberhaupt von's Bürgermeisteramt, haben doch 'ne gewisse Begutachtung davon, was sich da draußen so langsam und gefährlich herumspielt?«

Herr Brill salutierte.

»Hab' ich, Madam, denn sonst wären wir gar nicht kumpabel, unsere Pflicht zu erfüllen.«

»Da würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, mir Aufklärung zu geben; denn da reden nu die Leute und reden, ohne auf den diesbezüglichen Turnus zu kommen. Selbst mein Aloys ist sich nicht klar über die Sache. Da dachte ich mir, du mußt dich an den richtigen halten, an das militärische Oberhaupt von's Bürgermeisteramt, und da Sie gerade vorbeikommen . . .«

Herr Iwan Kasimir Brill klappte die Hacken zusammen.

»Sehr obligiert,« sagte er im gönnerhaften Ton eines Beamten in gehobener Stellung. »Kann es mir denken, Madam. Gute Walnüsse wollen geknackt sein. Wir dürfen uns schmeicheln: in dieser Hinsicht sind wir immer offö, so 'ne Walnuß zu brechen, denn alle Ereignisse« – und mit breitem Daumen deutete er über die linke Schulter auf das stattliche Rathaus, das sich unter einer mächtigen Schneehaube duckte – »alle Ereignisse werden dort kalkuliert, registriert, traktiert und in die Kontrollbücher verzeichnet.«

»So!« rief die Staatse und streckte den Nacken, als sei sie willens, ihn noch über den Türpfosten zu heben. »Wie steht es denn draußen?«

Herr Iwan Kasimir Brill machte Kulleraugen, beherrschte sich aber.

»Mies!« sagte er ruhig. »Zwar hat der lange Moritz schon Kundschaft verbreitet. Indessen bloß schwächlich. Kann ihm auch keiner verdenken, denn er ist nicht bei's Amt angestellt oder in einer höheren Stellung verpflichtet. Es ist bei ihm nur so'n Rätselraten gewesen. Wie die Rheinkaptäns so sind. Wir hingegen beziehen die Rapporte aus allernächster Bekundung. Direkt von den höchsten Instanzen. Leider« – und er zog seine Augenbrauen in bedenkliche Falten – »wir sind nicht mehr offö, noch weiter hindurch Frieden zu halten. Unser alleruntertänigster Herr und König braucht sich die Ausverschämtheiten und nichtsnutzigen Dickfelligkeiten von den Eiderdänen nicht mehr länger gefallen zu lassen. Freiheit für die deutschen Brüder und Gesinnungsgenossen! Wenn sie's nicht gutwillig tun, wir meinen die Dänen, na, dann aber auch . . .! Dann kommt's an den Matthias zum letzten, und dann hat die große Turmklock geschlagen, aber barbarisch geschlagen, um es deutlich und mit nackten Worten auszusprechen.«

Er räusperte sich.

Seine blankgeputzten Augen gingen hin und her wie die des heiligen Markuskopfes auf der großen Uhr im Hause des papierenen Aloys. Bei jeder Bewegung des Perpendikels taten sie einen scharfen Ruck auf die Seite, daß das Weiße aufblenkerte.

»Im übrigen auch . . .« und er streckte die Hand aus, um sie gleich darauf wieder einzuholen. »Da drüben in Wesel bei die schwere Artollerie steht auf den Kanonen geschrieben: Ultima ratio regis, oder wie wir es auf deutsch zu benennen haben: Unser alleruntertänigster König und Bismarck tun es nicht länger. Sie haben es über. Das Wachstuch muß von den Fahnen herunter.«

Er zog einen Riß durch die Luft.

»Muß von den Fahnen herunter.«

Er betonte das ›Muß‹.

Die Alte entsetzte sich.

»Also Krieg,« sagte sie mit blutleeren Lippen.

»Ja, Krieg mit die Dänen, wenn sie nicht 'ne bessere Ansicht vertreten. Allein diese bessere Ansicht steht man auf schwächlichen Beinen, denn wir haben bereits Order empfangen. Ich und der Herr Bürgermeister. Schon seit gestern sind wir dabei, die Stammrollen zu mustern, um völlig offö in die Aushebung treten zu können.«

»Dann muß mein Aloys wohl mit?«

»Wie alt ist er denn?«

»So um die dreißig herum.«

»Ei der Tausend! Dann allerdings. Leider! wir können keine Ausnahme machen. Die Polizei darf die Binde des heiligen Thomas nicht ablegen. Ex officio nicht. Wir wissen: Landwehraufgebot Numero eins. Bei Anruf muß er sich nach Wesel begeben, wenn's auch jedermann leid tut . . .

Der Krückstock winkte ab. Die Staatse wuchs über den Türrahmen hinaus. Ihre Augen flackerten.

»Leid tun?! Gibt es nicht für mich,« sagte sie schartig. »Wo Not an den Mann kommt, hat sich auch jeder als Mann zu erweisen. Ich denke dabei an unsern Herrn und Erlöser. Der hat sich auch nicht gescheut, das Kreuz zu nehmen, es auf die Schädelstätte zu tragen, um dort für seinen himmlischen Vater und die böswillige Menschheit zu sterben. Darin hat kein Weib und keine Mutter zu reden. Hosenzitterer und Ofenhockers kann ich nicht leiden. Sie sind mir ein Greuel, ein Nichts vor dem Winde. Recht so, Herr Brill. Man immer mit dem Wachstuch von den Fahnen herunter. Wenn Vaterland und König rufen, haben die Miesmacher und die Friedenswinseler zu schweigen, und mein Aloys, so benaut er auch manches Mal ist, wäre der letzte, der nicht mit freudigem und patriotischem Herzen . . . Das ist es.«

Herr Iwan Kasimir Brill warf zwei Finger an den Mützenrand.

»Allerhand Achtung! Das wird dem Herrn Bürgermeister gemolden.«

Er nahm einen tiefen Atemzug.

»Madam Teerling, Sie sind eine tapfere Frau,« sagte er in schöner Bewegung.

»Nur eine preußische,« gab sie zurück, »und das bleibt das Höchste.«

Der Polizeigewaltige empfahl sich.

»Heldenmutter!« stammelte er noch vor sich hin, um hierauf das ›Waldkarnickel‹ und seinen steifen Grog zu beehren.

Sie sah ihm mit weiten Augen nach. Ein helles Wasser blinkte darin. Mit harten Fingern wischte sie es fort. Dann ging sie. Sie trat in den Hausflur, von hier in die Werkstätte. Aloys hobelte just an einem stattlichen Bande: das ›Leben der Heiligen‹ aus der Bücherei des Borromäusvereins.

Die Arbeit war eilig. Er hatte zu schaffen. Das Mützentröddelchen tänzelte dabei vergnüglich von einer auf die andere Seite.

Sie trat vor ihn hin. Steil hob sie sich auf, ohne Erregung, obgleich ihr das Herz klopfte und hämmerte, als wollte es die enge Brust zersprengen.

»Nun, Mutter, was hast du?«

»Aloys, weißt du es schon?«

»Alles,« sagte er in seiner bedachtsamen Weise.

»Und wie denkst du darüber?«

»Ich?! was gibt's da weiter zu denken?«

Ein leises Wimmern, dann ein Zusammenreißen und harsches Sprechen: »Recht so, mein Sohn!« und mit eiskalten Lippen drückte sie ihm einen heißen Kuß auf die Stirne.

»Wenn es auch weh tut, wenn es auch weh tut, so den einzigen von sich zu lassen!«

Nebenan erhob sich ein Geräusch, ein verhaltenes Aufschluchzen.

»Na ja!« sagte die Alte.

Mit einem innigen Blick auf ihren Sohn verließ sie den Arbeitsraum.

Draußen erstarrte sie jedoch zur Salzsäule. Nur ihre Augen brannten wie die Kerzen in der Leidenswoche des Herrn, düster und schwelend.

Für einen Augenblick zeigten sich ihre Raubtierzähne. Dann sprach sie mit ihrer spröden und brüchigen Stimme: »Ja, das mit dem Besenstern . . .! Den Krieg nehme ich hin, als von Gott gesetzt, um die Menschen zu läutern und ihnen die Wandelbarkeit der Zeiten vorzuführen. Aber das andere . . . es fährt doch den lässigen und üppigen Weibsbildern unter die Röcke, daß ihnen die Brunst genommen wird, wie sie den Kamelinnen genommen wird in der heidnischen Wüste.«

*

Die Dinge spitzten sich zu. Mein Vater erklärte uns die sich drängenden Begebnisse. Jeder Tag brachte etwas Neues. Bereits im November war der König von Dänemark, Friedrich VII., mit Tod abgegangen. Sein Folger, Christian VIII., dekretierte mit kategorischem Hochmut: »Schleswig wird zu Dänemark geschlagen, mag's kosten, was es wolle.« Der Augustenburger hielt ihm entgegen: »Quod non! ich lege Hand auf Schleswig und Holstein.« Aber eine energische Kürassierfaust wies sie alle zurück, Dänen und Augustenburger . . . und diese Faust war wie die eines Auserwählten, graniten und zugreifend, als hätte sie einer in weißem Koller und blauem Eisen gestreckt . . . Und war auch einer in weißem Koller und blauem Eisen . . . und sein Auge war wie das eines Sehers, seine Stimme wie die eines Mahners und Ekkehards. Die sagte aus heißester Seele heraus: »Deutsche, besinnt euch. Zerhadert euch nicht in den eigenen Pfählen. Gebt dem Auslande nicht, was des Auslandes nicht ist. Hängt euch nicht an fremden Kram und Tand. Eßt selbsterackertes Brot, wenn es auch nur pures Roggenbrot ist. Fühlt euch heimisch im Lande. Ehrt deutsche Kunst und deutsche Sitte. Begeistert euch nicht, wenn ein welscher Jongleur einhertänzelt. Seid einig. Laßt Deutsche, auf denen der Schuh eines Dänen lastet, nicht im Elend dahinsiechen. Und nochmals: Seid einig, zerfleischt euch nicht selber, nicht in euren eigenen Stämmen. Folgt mir und hört auf mich. Ich bin ein Rufer, ein Lichtverbreiter in der Finsternis. Wenn ihr wollt, ich mache euch groß. Ein Barba blanca gebietet mir, also zu handeln. Fußangeln bedrohen uns, Fußangeln und Fallen. Fremde Dreschflegel dreschen auf unseren Tennen herum, scheffeln das Korn in ihre Säcke hinein. Ich habe den Willen und die Macht, ihnen das unsaubere Handwerk zu legen. Da . . .!« und die gepanzerte Faust krachte auf, auf den grünen Tisch, auf spitzfindige Dekrete, auf vergilbte Akten, auf geschriebene Schliche und Ränke, nur dazu da, die deutsche Freiheit und den deutschen Gedanken zu knechten.

Aber viele folgten ihm nicht, hörten nicht auf ihn. Sie dachten lediglich an ihre Sonderinteressen: Hämlinge mit schiefen Köpfen und Sinnen, Deutsche dem Namen nach, ohne die deutsche Seele zu spüren, Sonderbündler, Parteibonzen, Kannegießer, politische Gernegroße mit dem Maul einer Anakondaschlange und dem Gehirn eines ordinären Mistkratzers, Verräter an der vaterländischen Sache, Liebediener der Fremden.

»Leider, so ist das,« meinte mein Vater.

Ernst und bedrückt scheitelte er seinen Bart auseinander und sagte ungefähr mit den nämlichen Worten, was Jahre nachher ein Mächtiger dartat: »Die arischen Völker haben ihren Thersites, ihren Loki. Einen Ham, der seines Vaters Scham entblößte, kennen nur die Orientalen – und, Gott sei es geklagt, auch die Deutschen.«

Aber jetzt: die gepanzerte Faust krachte auf, dazu eine Stimme: »Ob ihr wollt oder nicht, ich gebiete euch von Babylon nach Jerusalem zu gehen, in die Stadt der Verheißung.«

Das reinigte die diesige Luft.

Der Advent rückte vor. Die Weihnachtsglocken von Sankt Nikolai lauteten wie immer: »Ehre sei Gott in der Höhe. Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind!« Die Silvestergläser klingelten noch fröhlich zusammen: »Prosit Neujahr!« Wer aber genauer aufhorchte, für den war es ein bedenkliches Klingeln und Läuten gewesen.

Wachet und betet!

Feine Naturen vermeinten schon, in weiter Ferne die preußischen Trommeln und Pickelflöten zu hören.

Da kam der 16. Jänner.

Der Tag der Entscheidung. Die Würfel fielen.

Das Wachstuch ging langsam von den glorreichen Fahnen herunter. Sie flogen im Wind. Es war ein scharfes Ziehen zwischen Himmel und Erde.

Peitschende Eiskristalle zerschnitten Gesicht und Hände. Wir achteten dessen nicht.

Nur in wollene Tröster gehüllt, mit roten Nasenspitzen und verklammten Ohren standen Henn Pierentrecker und ich, Peter Hartjes und der Sommersprossige unter der bereiften historischen Linde, die erregten Blicke stur auf die Haustür des papierenen Aloys gerichtet.

Wir hatten lange zu warten.

Schon am Tage zuvor hatte unser gemeinsamer Freund von meinen Eltern, dem Herrn Pastor, dem regierenden Bürgermeister, dem Apotheker, dem Wirt ›Zum Waldkarnickel‹, kurz, von allen, die ihm näher standen, geziemenden Abschied genommen.

Mit seinen Kameraden, die gleichfalls eingezogen waren, trat er den Weg nicht an. Jene benutzten die Post, er jedoch wollte zu Fuß nach Wesel, um, wie er sagte, sich zu trainieren, sich für die kommenden Strapazen des Feldzuges vorzubereiten.

Da – als wir so standen, ging in Rufweite Heinrich Hübbers vorüber, im blauen Leibrock, die mollige Otterfellmütze in den Nacken gerückt, etwas Blankes an der Seite und ein sonderbares Ding linksseitig geachselt.

»Adjüskes, adjüskes!« rief er uns zu.

Wir achteten seiner nicht weiter, denn wir waren zu sehr mit Aloys beschäftigt.

Der Sommersprossige gab einen dampfenden Atem von sich und sagte: »Ich müßte ihn doch bewundern, den Papierenen, denn es wäre kein Kleines, sich so generös vor die losgehenden Kanonens zu stellen.«

»Nee,« versetzte der vom Himmel Heruntergefallene, treuherzig und mit feuchten Augen, »mir geht es konträrig, so frühzeitig sterben zu müssen.«

»Bangbox! und so was will 'nen Preußen vorstellen?«

Peter Hartjes schreckte zusammen.

Henn Pierentrecker stand vor ihm. Er hatte den langen Hals aus dem wollenen Tröster gestoßen, die Absätze seiner etwas abgewetzten Stiefel gegeneinander geschlagen.

»Menschenskind! sollen denn die hundsföttischen Dänen kommen, marodieren, uns wie die Ferkels abstechen? Nee, mein Junge!« und er krempelte seinen rechten Ärmel zurück, ließ den Biceps spielen und sagte mit grimmiger Stimme: »Sonder Besien – hondert Pond kann eck stämme, und wenn ich bloß könnte, ich wäre auch so nobel, mit Aloys Pulver zu riechen.«

»Ganz richtig,« pflichtete ihm Jan Höfkens bei, »denn ich täte es auch, könnte es aber noch nicht, weil ich noch nicht kumpabel wäre, 'ne Zündnadelflinte zu tragen.«

Henn mit dem Biceps warf ihm einen wohlwollenden Blick zu.

Wir machten die Hälse lang.

»Nu kommt er!«

Drüben öffnete sich langsam die Türe. In Begleitung des langen Moritz erschien der Held des Tages. Hand in Hand traten sie auf die Straße hinaus.

Zwei weibliche Personen winkten ihnen nach: die Mutter, gefaßt und ehern, Hendrintje mit verweinten Augen und ganz durcheinander.

»Los denn dafür!« kommandierte Henn Pierentrecker, und unter der Weise:

»Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?
Die Fahne schwebt mir schwarz und weiß voran . . .«

zogen wir unseren Freunden entgegen, gesellten wir uns ihnen und erklärten dem gefeierten Aloys kurzweg heraus, ihn bis zum Hofe op gen Born begleiten zu wollen.

»Sonder Besien,« konstatierte Henn Pierentrecker mit patriotischer Verve.

Aloys blieb stehn, tiefbewegt und freundlichen Gesichtes.

»Wir danken, wir danken. Wir danken auch vielmals!«

Er wuscherte sich etwas Feuchtes von den Wangen herunter.

»Jungs, das ist zu viel für 'nen bescheidenen Menschen.«

»Nichts ist zu viel!« ließ sich der lange Moritz vernehmen und spuckte scharf auf die Seite, direkt auf den Kopf einer Pyramide von Roßäpfeln, die ein Postklepper in Gottes heiliger Morgenfrühe hingesetzt hatte, just vor die saubere Schnirkeltreppe des Herrn Bürgermeisters. »Nee, nichts ist zu viel, wenn's um dich und deine Mobilmachung sich handelt. Die Jungs wissen, was sich gehört . . . sind brav kalfatert . . . immer auf Deck . . . aber immer . . . 'ne wahre Liebhaberei, so was zu sehen . . . Das muß dich erfreuen . . . kommt dir auch zu . . . denn du als Patriot, der Gott gibt, was Gottes, aber auch dem König, was des Königs, dem steht es auch an, 'ne richtige Ovation als Beifall zu nehmen. Ja, ihr könnt mitmachen . . . wir gehen zusammen . . . bis op gen Born . . . Also mit Gott denn . . . Blexem und Donnder! aber nu singt bloß . . . so was können wir in diesen Tagen gebrauchen . . . Ehre und Vaterland . . . und 'ne Portion Kurasch zwischen den Rippen . . . Blexem! nu singt man!«

Das taten wir auch.

Mit blauroten Köpfen sangen wir in die flirrenden Eisnadeln hinein:

»Nie werd' ich bang verzagen,
Wie jene will ich's wagen:
Sei's trüber Tag, sei's heitrer Sonnenschein,
Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein.«

Irgendwo hing schon eine Fahne herunter. Türen gingen auf und zu. Männer und Frauen traten auf die Straße hinaus. Mit verklammten Händen winkten sie uns nach.

»Mit Gott, Aloys!«

»Komm' munter retour!«

»Merci und abermals merci!«

Die letzten Häuser blieben zurück. Die weiße, schnurgerade Chaussee tat sich auf, die an dem nicht ferngelegenen Monreberg vorbei über Marienbaum und Xanten nach Wesel führte. Zur Linken geisterte ein rascher Schlitten vorüber. Der Medizinmann hatte es eilig. Irgendwo harrte ein Heimgesuchter auf ihn. Ein Schellchen bimmelte ängstlich, wie das eines Ministranten auf dem Versehensgange, in die weite Landschaft hinein – ein wimmerndes Armeseelchen, das die goldene Pforte des Paradieses nicht finden konnte. Die unermeßliche Ebene schluckte es auf, als wäre es niemals gewesen . . .

»Sei's trüber Tag, sei's heitrer Sonnenschein,
Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein.«

Rüstig schritten wir weiter. Die scharfe, prickelnde Luft tat uns wohl; auch den dunklen Krähenvögeln, die sich langsam nach Westen schaukelten.

Aus einem verschneiten Heckengäßchen am Ravelin trat uns eine breite Gestalt entgegen.

»Da täte Nöllecke Giltjes erscheinen,« sagte Jan Höfkens.

Moritz riß sich zusammen. Wir sahen es ihm an: in Bruchteilen von Sekunden mußte ihm vieles durch die Sinne gehen: Hartes, Zerbrechliches, Ungereimtes, Dinge, die er mit seinen ehrlichen Begriffen nicht zu enträtseln vermochte – und er wandte sich und stierte in die Gegend hinein, über die Äcker fort, als sollte ihm aus den mit Schneewehen umspreiteten Schollen des Rätsels Lösung dämmern, sich ihm das Ungewisse zur Gewißheit modeln, der er nachjagte, ohne ihrer habhaft zu werden.

Der Papierene sah den Ankömmling sprachlos an.

Aber zwei schmiedeeiserne Fäuste packten zu, umgriffen seine Rechte.

»Tag, Aloys! Ich hab' mich noch von der Arbeit fortgemacht, nur auf 'nen kleinen Momang, um dir 'nen regulären Abschied zu bieten.«

Er schlug auf sein Schurzfell.

Das rasselte nach Art einer Komödiantentrommel.

»Auf Innungsparol', das will mein Honnör so! Das ist Nobilität unter Freunden, und sollte ich wegen Verschleppung der Aufträge drei preußische Kronentaler verlieren. Mir wurschtig! Sofort ging ich mit. Seite an Seite mit dir! Aber die Mutter . . .! Ohne mich blieb ihr nichts übrig, als an den Pfoten zu saugen. Da muß ich schon in die Verlängerung springen. Du weißt doch?«

»Wir wissen, wir wissen.«

»Ja, und ich selber! Wenn ich auch könnte, es geht nicht. Hier in der Lunge . . . 'ne alte Geschichte . . . und da bin ich reklamiert und von der Liste gestrichen. Sonst – ich kann dir sagen, keine zehn Pferde könnten mich halten. Pro gloria et patria! Ein Lumpenkerl, wer da den Kopp in 'n Mäuseloch stäche. Verstehst du?«

»Ja, wir verstehen.«

Dem langen Moritz wurde es über.

Er spuckte einem vorüberspazierenden Spatz auf die Flügeldecken.

»Aloys, willst du nach Wesel, oder willst du nicht mehr nach Wesel?«

Wiederum rasselte die Komödiantentrommel.

»Aloys, einen Momang noch! Ich meine: das andere. Alles bloß 'n pures Gerede. Auf Innungsparol'. Schwamm über die Sache! Aber du . . . Menschenskind, dieses Honnör, so mit fliegenden Fahnen . . .

Er riß sich die berußte Mütze von den krölligen Haaren. Der mächtige Körper streckte sich, als sollten die eisernen Nervenbündel zerbersten. Dann jubelte er: »Aloys, immer druff auf die Dänen! Immer druff, ohne Pardon oder sonst was zu geben. Immer mit's blanke Bajonett mang die Kerle. Nur keine Bange, nur keinen Retourschritt. Die erste Fahne für dich. Immer druff, für uns und den König!« und er schwenkte die Mütze, daß sie wie ein kleines Untier durch die Luft zischelte. »Für uns und den König!«

Aloys sah ihm tief in die Augen.

»Du hast gut schwenken,« sagte er ruhig, mit dem wehen und bitteren Lächeln eines kundigen Mannes. »Du hast gut schwenken. Ein Kerl wie du könnte auch für sein Volk scharwerken und seinem König freie Bahn schaffen. Aber ich sehe, das gibt's nicht. So, und nu schwenke man weiter,« und er wandte sich und nahm wieder einen straffen und energischen Schritt an.

Neben ihm verlor sich eine verhaltene Stimme: »So 'ne Kanaille, so'n Hundsfott! Aber da! Aloys, kuck bloß – die Landschaft! Alles weiß in weiß. Ist es nicht 'ne wahre Liebhaberei, so was Schönes zu sehen?!«

»Sehr schön,« schmunzelte Aloys und drückte bewegt die Hand seines Freundes.

Zur Rechten stiegen die mit Schälholz bestandenen Lehnen des Monreberges sanft in die Höhe, über und über mit Glitzerwerk bepudert, zur Linken ruhte die Niederung in ihrer reinen Unendlichkeit, wie aus blanken Silberfäden gesponnen. Und mitten darinnen . . .

Seitwärts der Landstraße hob es sich auf, mit verschneiten Dächern und Baumgruppen: die historische Stätte, unter dem Namen Burginatium vielgenannt und aus dem Alltag herausgeschält, woselbst die VI. Legion (legio VI. victrix, quam comitata fuit ala equitum) in altersgrauen Tagen Wache gehalten . . . kurz, wir waren in Höhe des Hofes op gen Born und in Nähe seines winterstillen Friedens gekommen.

Da klang uns ein gewaltiges Tuten entgegen.

Es drang aus den mit Engelshaar umkleideten Lohhecken.

Als wäre ein römischer Tubabläser seinem Grabe entstiegen und hätte seinem Kaiser die Fanfare geblasen: »Ave, Caesar, morituri te salutant!« so dröhnte es über die Stätte der Einsamkeit.

»Tuhut! – Tuttutuhut! – Tu – hut!«

Dann ein Brechen und Rauschen, ein Knistern und Knacken, und siehe: Heinrich Hübbers in seiner blauen fünfundzwanzigpfündigen Schneideridee, das Nachtwächterhorn stolzlich geachselt, die schwere Plempe aus den Freiheitskriegen gezückt, stand neben dem Chausseegraben in Paradestellung und salutierte vor unserem gemeinsamen Freunde. Ein Spontonträger aus dem ersten Gardebataillon des großen Königs hätte sich anstrengen müssen, diesem Mordskerl die Stange zu halten.

»Mit Gott, mit Gott!« wollte er rufen.

Aber die Stimme versagte.

Das war zuviel für den papierenen Aloys.

Die Tränen wollten ihm kommen.

»Kinder, nu laßt mich! Laßt mich um des Himmels willen! Sonst kann ich mir selber nicht helfen. Grüßt mir die Frau, grüßt mir die Mutter! und alle, alle . . . Herr Jeses, es wird doch schwer, von so lieben Menschen zu scheiden!« und er reichte allen die Hände.

»Lebt wohl, lebt wohl!«

Der lange Moritz, erschüttert bis ins Tiefste hinein, wollte noch den Jovialen spielen. Es gelang ihm aber nur schlecht, denn statt heiter zu reden, sagte er mit bekümmerter Stimme: »Ja, Aloys, marschiere mit Gott! Nu geh' man, nu geh' man! Wir gedenken deiner in Liebe. Blexem! ich kann nicht mehr weiter,« und Aloys ging wie einer, der das Himmelreich suchte.

»Wir täten auch beten für dich!« rief ihm Jan Höfkens noch nach.

»Brav so, mein Junge!«

Moritz hatte gesprochen.

Noch einmal sah sich Aloys um und winkte uns zu.

Dann nicht mehr.

In dem weißen Schneefeld wurde er immer kleiner und winziger, bis er endlich zerging wie ein mageres Lichtlein am Tag Allerseelen.

 


 << zurück weiter >>