Joseph von Lauff
Der papierene Aloys
Joseph von Lauff

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Zweites Kapitel

Ein köstlicher Herbst ging über die niederrheinische Landschaft.

Das Haus ›Zu den sieben Linden‹, das mein Vater erstanden hatte, sonnte sich in seiner ganzen Breite und leuchtenden Weiße auf der Grabenstraße, die das kleine Städtchen von Norden nach Süden durchquerte. Die lichtgrünen Jalousien gaben ihm ein freundliches Aussehen.

Jenseits des weitläufigen Gartens, der an ein stilles Wasser grenzte, wuchs eine gigantische Windmühle aus der Niederung auf, deren Flügel mir vorkamen, als trügen sie bei ihrer geruhsamen Arbeit rätselhafte Dinge und Geschehnisse von der Erde in den Himmel hinein, als brächten sie Wundersames aus dem Paradiese zu den Menschen hernieder. Darüber hinaus erstreckten sich unabsehbare Wiesen und Weiden, von Binnendeichen durchzogen, die in der Osternacht aufleuchteten, als wanderten die hehren Gestalten der Cherubim und Seraphim stumm ihres Weges.

Die sieben Linden vor dem neuen Anwesen meines Vaters standen in Gold.

Wie lichte Dublonen schaukelten sich die überständigen Blätter von den Zweigen herunter, wiegten sich gleich Zitronenfaltern die Straßenzeile entlang, um ihren Ringelreihenrosenkranz durch die warmen Lüfte weiter zu tragen.

Trotz der bereits vorgeschrittenen Jahreszeit rokuzeten noch die Ringeltauben so munter in den safrangelben Laubmassen, als gölte es, einen zweiten Liebesfrühling zu begehen, noch einmal die preziösen Tage der Minne zu kosten.

Hinter mir lagen die endlosen Stunden im Postwagen, die schnurgeraden Reihen der kanadischen Pappeln, die wie preußische Grenadiere an meinen Sinnen vorbeidefilierten, das Trappeln der Pferde und das sanfte Ruhen auf den Halbkugeln der Traben-Trabacher Marie, der würdigen Marie, die jetzt im Hause ›Zu den sieben Linden‹ schaltete und waltete und meine jungen Jahre behütete.

Ich selber aber . . . als fideler Knirps ließ ich mich von den fallenden Blättern überschaukeln, trudelte mit meinen kurzen Beinchen durch ein melodisches Rascheln, durch ein Gespinst von glitzernden Marienfäden und sah, ohne mir Rechenschaft darüber geben zu können, was eigentlich vorging, in eine Welt von Gold, gleichsam durch das Guckloch eines Zauber- und Wunderkastens. Alles so seltsam und abenteuerlich, so mit Engelshaar umgeistert, und dazu das Geklapper der Holzschuhe, das die totenstillen Straßen durchirrte, hin und wieder ein mageres Glockenspiel von Sankt Nikolai herunter, ein Klingeln an den Türen der Verkaufsläden, irgendwo das Geigen eines Heimchens aus irgendeiner Bäckerstube heraus, von wannen ein Düften apothekerte, als wären hierzulande die Spekulationsmänner und Rymwegener Moppen so wohlfeil wie Brombeeren gewesen.

Aus dieser freundlichen Gegenwart erwuchsen mir Träume und Vorstellungen, Gestalten und Menschen, Spiegelungen und Spiegelbilder, und aus diesen Spiegelbildern . . .

Da war einer . . . einer von den Großen unter den Großen, einer, der, so klein er auch war, so unscheinbar er auch mit seiner Otterfellmütze umherstolzieren mochte, meine ganze Estimierung besaß und bis zur heutigen Stunde kein Tiftelchen davon eingebüßt hatte, einer mit pfiffigen Äugelchen und einem Gesicht, als wäre es aus einem Kasperletheater genommen – er selber: Heinrich Hübbers, der köstliche Heinrich Hübbers mit seinem fünfundzwanzigpfündigen Leibrock, der Unvergeßliche, dem, außer seiner Flickschusterei, noch das gewichtige Amt oblag, seine Vaterstadt allnächtlich in sanfte Träume zu tuten und meinem Vater bei seinen Amtshandlungen als Zeuge zu dienen. Dabei hatte er noch Muße genug, alljährlich auf Lichtmeß in seinem bescheidenen Häuschen Taufe zu feiern.

Erst in späteren Jahren erfuhr ich die ganze Bedeutung dieses einzigen Mannes, dieses Sinnierers und Eigenbrötlers, dieses Philosophen und Weltweisen hinter der gläsernen Kugel . . . und wenn ich seiner gedenke, beginnen übermütige Schellen zu klingeln, heben die Merlen an, in den laulichen Abend zu singen, ist es mir, als schritte ich wieder durch das Land meiner Jugend. Neben dem papierenen Aloys – Heinrich Hübbers war alles und jedes für mich und spielte eine ausschlaggebende Rolle auf meinem engumschriebenen Welttheater. Er war mein Freund und Vertrauter, mein Führer auf den vielverschlungenen Wegen und Stegen meiner seligen Kinderzeit. Wenn auch rege und arbeitsam – über größere Besitztitel verfügte er nicht, obgleich er, wie schon eben dargetan, einen prächtigen kornblumenblauen Leibrock besaß, der schon seit Jahren den Neid seiner Mitbürger erregte. Und das von Rechts wegen; denn dieser ›Blaue‹ war eine wundersame Schneideridee aus englischem Düffel. Dazu besaß er einen fettigen Kragen, wog unter Brüdern wenigstens fünfundzwanzig Pfund und stand, wenn man ihn frei auf den Boden plazierte, wie ein Geharnischter in blauem Eisen, ohne auch nur die geringste Miene zu machen, aus dem Senkel zu trudeln. Die Erinnerungen dieses Düffelgewaltigen gingen in alte Zeiten zurück. Er hatte manches erlebt und traurige und lächelnde Tage gesehen. Wie krampften sich seine Nähte zusammen, wenn er der bösen Jahre gedachte, als der kleine Korporal, diese infame Geißel des Herrn und der nichtsnutzige Prediger des vielbewunderten ›La recherche de la paternité est interdite‹, die niederrheinischen Lande drangsalierte und die preußischen Spießer bei seinem Empfang an den Straßenecken katzbuckelten, vor Ergebung wie Lilienstengel absterben wollten, um dann wieder . . . ja, um dann wieder . . . Ein neuer Geist strömte über sie fort. Ein Johann Gottlieb Fichte donnerte seine ›Reden an die deutsche Nation‹ durch die Welt, ein Gneisenau hob aus Nacht und Nebel die Morgenröte der Befreiung empor und ein Gebhard Lebrecht von Blücher stürmte in sie hinein auf feurigem Schimmel und mit blitzendem Saraß . . . und das waren die glücklichen Zeiten des ›Blauen‹ gewesen. Und so vergingen die Wochen, die Monde, die Jahre, und so vererbte er sich vom Vater auf den Sohn, und wenn Heinrich Hübbers, der fidele, putzige, fünfkäsehohe Heinrich Hübbers mit dem ›Blitzblauen‹ anrückte, dann rückte eine echte, lautere, altpreußische Gesinnung mit vor, und man mußte die Augen einkneifen, um trotz des ramponierten Kragens von all der Würde, dem Glanz und dem Altgroßväterlichen nicht geblendet zu werden.

Der goldene Tanz der Blätter ging weiter.

Ganz umhüllt von ihrem Schimmern und Scheinen, hörte ich das Rucksen der Ringeltauben, vernahm ich das Geckern der Elstervögel, die ab- und zuflogen und zeitweilig ein ohrbetäubendes Lärmen vollführten, als sich mir eine schwere Hand auf die Schulter legte und eine liebe Stimme mir zurief: »Jupp, ich mache nach dem papierenen Aloys hin. Willst du mit? Ich hab' 'ne Portion Aktendeckel für deinen Pappa zu holen.«

Natürlich wollte ich mit, denn zum ersten Male im Leben sollte ich das Geschäftslokal dieses seltsamen Mannes betreten.

Gemeinsam pilgerten wir durch das Rathausgäßlein dem Großen Markt zu, dann an der stattlichen Linde vorüber, an deren Hauptast Heribert, der Kapellanus, seinen letzten Seufzer verhauchte, um von hier schnurgeradeaus auf den Laden des Papierenen loszumarschieren.

Gleich darauf riß mich Hübbers zusammen.

»Jupp, Achtung ergriffen! Benimm dir. Mach' deinen Baselemanes; denn nu wirst du vor die Alte in Beobachtung kommen. Da steht sie . . . neben der Haustür . . . unmittelbar bei's Wirtslakal ›Zum Waldkarnickel‹!« und richtig, da stand sie: die Mutter des Papierenen, Frau Johanna Kordula Teerling, geborene Wintjes, seit vierzehn Jahren verwitwet, übergroß und rank gewachsen, anzusehen wie eine Schicksalschwester, der es oblag, nur wenige heitere, aber viele graue Fäden zu spinnen. Wegen ihrer hageren und vornehmen Gestalt und ob ihres adretten Aussehens wurde sie in der Bevölkerung vielfach die ›Staatse‹ oder auch ›Oma‹ geheißen.

Fast gespenstisch ragte sie neben dem Türpfosten auf, schwarz gekleidet, ein festanliegendes geklöppeltes Häubchen auf den eisgrauen Haaren, ein goldenes Kreuz auf der Brust, einen Krückstock in der verknöcherten Rechten, während die Linke sich damit beschäftigte, die Pockholzkügelchen eines Rosenkranzes durch die harten Finger gleiten zu lassen. Unbeweglich saß der kleine Kopf auf dem welken und gefältelten Hals, der mit dem eines Geiers eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Mit wächsernem Gesicht und stahlgrauen Augen sah sie uns kommen.

Sie rührte sich nicht.

Nur ihre schmalen Lippen öffneten sich, um dabei gesunde Zähne wie die eines Tieres zu zeigen.

»Tag, Hübbers,« sagte sie mit ihrer scharfen, wenn auch brüchigen Stimme.

»Tag, Oma!« und der Mann im blitzblauen Überrock pflanzte sich vor der Alten auf, als sei ihm geboten worden, eine große Mission zu erfüllen.

»Merci! und was verschafft mir die Ehre?«

»Order an Aloys. Ich habe zweihundertundfünfzig Aktendeckel in Bestellung zu geben.«

»Soll uns angenehm sein. Auf Ziel oder sonstwie?«

»Per sofort,« sagte Hübbers.

»Schön! da muß ich Euch schon selber bedienen.«

»Ist denn Aloys nicht da?«

»Hat nach Kleve gemacht, um neue Aufträge einzuholen.«

»Und die junge Madam?«

»Die?!« fragte die Alte, und ihr Krückstock stieß auf das Pflaster, daß es Funken setzte.

Ihr Hals wurde länger, nahm einen ockerfarbigen Ton an.

»Wie immer – die liegt auf dem Sofa. Die ist zu gut für den Laden. Romane natürlich – die liest sie, und wenn sie dieses nicht tut, besieht sie ihre weißen Zuckerballen im Spiegel, toujours des Glaubens, solch extraordinäres Spielzeug wäre nicht mehr zwischen Kleve und Geldern zu finden . . . und ich als Schwiegermutter habe die Arbeit.«

»Es wird wohl so schlimm und gefährlich nicht sein,« meinte Hübbers.

»Noch schlimmer,« hieb die Staatse blitzsauber nach, »denn ich kenne das besser. In der Jugend schindet man sich das Fett aus dem Leibe, strapaziert man sich die Gicht in die Knochen, und wenn man endlich dran denkt, die müden Hände in den Schoß zu legen, bequem hinterm Ofen zu sitzen, macht so'n eingeheiratetes Weibsbild einem die nobelsten und gediegensten Ausklamüsierungen völlig zuschanden.«

»Oma, das wird sich noch geben.«

Wiederum begann der Krückstock zu lärmen.

»Was – geben?!« und die Alte schien noch um eine starre Handbreit zu wachsen. »Wer sich in 'ner regelrechten Ordnung befindet, hat es kommod, 'nem andern 'ne Portion Trost und Hoffnung um die Löffel zu schmieren. Ja, Ihr auch! Mit Eurer Frau habt Ihr die große Nummer gezogen. Die ist früh aus den Federn, rahmig wie Milch und bei aller Arbeit noch immer munter dabei, Euch abends ein heimliches Pläsierchen zu machen.«

»Hm, hm!« meinte Hübbers.

»So ist das, denn wer Augen hat, zu sehen, der sehe, und wer Ohren hat, zu hören, der höre. Ich habe Augen und Ohren und weiß drum: bei Euch befindet sich jegliches im Lot – fleißige Hände und alljährlich noch ein Kind in der Wiege. Das ist christkatholisch gelebt und vor dem Herrn ein gottwohlgefälliger Zustand. Hier aber ist von 'nem gottwohlgefälligen Zustand gar nichts zu spüren, bloß Ziererei und Getue, und dazu hat die junge Madam bei ihrem Geltesein noch extraordinären Kleister am Hintern.«

»Aber Oma!« rief mein Freund und Beschützer.

»Hübbers, es bleibt so. Das hat seinen richtigen Gang nicht; denn was vom Emmericher Eiland herstammt, das gibt sich wie Katzennaturen, und täte man so 'ne adrette Mieze in ein schmuckes Frauenzimmer verzaubern, bei erster Gelegenheit würde sich das Weibsbild doch wieder an Mäusen und Ratzen vergreifen.«

»Oma,« sagte mein Gönner, »das kann ich nicht für voll estimieren.«

»Aber ich!« hielt ihm die Alte entgegen, um wiederum etliche Funken aus dem Straßenpflaster zu holen. »Überhaupt solche neumodischen Frauenzimmer! Die sind wie Zuckerrüben an 'ner schattigen Gartenmauer. Die geilen auf, ohne reguläre Früchte aufzubringen. Nichts für den Ertrag. Die sind wurmstichig, genau so wie die heutigen Zeiten . . . und wie ich höre, wird das noch schlimmer werden, denn wenn man von den Weibern genug hat, sollen sich hier in der Gegend noch ganz andere Dinge begeben.«

Hübbers trat vor.

»Woso das?« fragte er mit kreisrunden Augen.

»Na, das zwischen Himmel und Erde! Das kommt immer näher und näher, und es kann jeden Momentus passiren . . . Gottes Tore öffnen sich und Gottes Feuer kommt aus der Ewigkeit herunter. Aber was reden wir hier! Eure Zeit ist bemessen und die meinige dito. Schwätzer und Müßiggänger sind ein Greuel vor dem Herrn. Drum kommt man. Also zweihundertundfünfzig Aktendeckel sind in Bestellung gegeben?«

»Zweihundertundfünfzig,« nickte mein Freund und Genosse.

Frau Johanna Kordula Teerling, geborene Wintjes, reckte sich hoch.

»Dann darf ich wohl bitten.«

In diesem Augenblick berührte sie mich mit ihren stahlgrauen Augen. Gleich Eisnadeln drang es mir bis in die innerste Seele.

»Hübbers, wohl der Kleine von drüben?« fragte sie hastig.

»Oma, zu dienen. Jupp, mach' deinen Baselemanes und benimm dir manierlich.«

Na, das tat ich denn auch, und da schob sie ihren Rosenkranz in die Rocktasche hinein, nahm den Stock in die Linke und legte mir ihre rechte Hand auf den Scheitel.

»Ein nettes Jüngsken!« sagte sie freundlich, und siehe: in ihren harten Blicken begann es warm und wohlig aufzuleuchten. Sie räusperte sich, um mit einer großen und feierlichen Stimme weiter zu sprechen: »Wer mit tapferem Willen ins Leben hinein geht, dem reift die Ernte freudig entgegen. Sind Disteln und Dornen dazwischen, so kann er sie leichthin entfernen. Werde wie mein Aloys, und es wird dir an Arbeit nicht mangeln, wähle wie Hübbers, und du wirst selig am Weibe, denn Gott ist gerecht und seine Werke sind ewig. Das wollte ich sagen. So – und nu kommt man.«

Ihr Stock hämmerte auf.

Mit harten Sohlen schritt sie voran, mußte aber in der Tür den Nacken beugen, um nicht mit ihrem Kopf an den oberen Rahmen zu stoßen.

Im Laden angekommen, trat sie hinter die engbrüstige Theke und machte sich an einem der vielen Regale zu schaffen.

Ich stand wie verzaubert.

Ein fader Geruch nach Kleister und Bindfaden umwölkte mich. Ich sah Papiermassen in allen Sorten und Arten, Gebetbücher mit vergoldeten Rücken, Tintenfässer und aufgeschichtete Federhalter. Neu-Ruppiner Bilderbogen hingen von den Wänden, dazwischen Devotionalien von Kevelaer und Marienbaum, grellilluminierte Drucke aus der Offizin von Benziger- Einsiedeln. Auf der Anrichte reihten sich Bleistifte und Siegellackstangen dicht nebeneinander. Haussprüche für alle Gelegenheiten und Festlichkeiten des Jahres grüßten von niedrigen Konsolen herunter. In einem Glasschränkchen sah ich weiße Papierröschen und Blättchen von Goldschaum. Es war ein ernstes und trauriges Glänzen. Dann hörte ich: aus einem Nebenzimmer hob ein Kanarienvogel an, eine silberdrähtige Wasserrolle zu pfeifen, fein und wunderseltsam, als würde irgendwo in einem verwunschenen Walde eine Geige gestrichen.

Ich dachte dabei unwillkürlich an den papierenen Aloys, denn es kam mir so vor, als bestände zwischen ihm und der Geige irgendeine Verbindung, eine Seelengemeinschaft, ein ungewisses Sehnen und Suchen, das sich allmählich mit Trauerfloren umschleierte, um schließlich in eine ungewisse und verlorene Ferne zu gleiten.

»So!« sagte die Alte.

Sie hatte inzwischen die Aktendeckel gezählt, sie säuberlichst umschnürt und zusammengebündelt.

Beide Hände stemmte sie auf.

»Wird das nu gleich verrechnet oder aufs Konto geschrieben?«

Sie sah fragend auf Hübbers.

»Wie immer aufs Konto. Dann kommt mehr auf 'nen Hümpel zusammen.«

»Soll mir angenehm sein, Kredit wird gegeben . . .« und sie war gerade dabei, ihre Notizen zu machen, als sich die Tür, hinter der noch immer der Harzer Roller sein Silberfädchen drehte, ganz unauffällig in ihren Angeln bewegte.

Und dann eine Stimme: »Kann ich was helfen?«

Die Staatse fuhr auf.

Eine junge Frau, schmucken Gesichtes, straff gescheitelten Haares, wenn auch mit allzu üppigen Formen unter der buntgewürfelten Bluse, war unvermittelt in den Laden getreten.

»Wie ist es nu damit? Ja oder nein?« fragte sie nochmals, aber herausfordernd, mit vorgestoßenen Brüsten und blankgeschliffenen Augen.

»Du . . .?!« rief die Alte.

Herrisch griff sie in ihre Tasche, aber nicht um den Rosenkranz, sondern um eine hürnerne Schnupftabaksdose aus der Tiefe zu heben. Ebenso herrisch klappte sie den Deckel auf und warf sich mit ihren knochentrockenen Fingern eine Prise Spaniol in die Nase.

»Wärest du früher gekommen – jawoll. Ich hätte mich in 'ner gewissen Verpflichtung befunden. Aber so! Jetzt hab' ich mir schon selber geholfen. Genau so wie immer. Das erscheint allzeit 'nen Posttag zu spät, um dann verstörte Nasenlöcher zu machen. Ich bin das gewohnt. Die vom Emmericher Eiland haben das an sich, ohne sich darüber mit vielen Molesten zu quälen. Bei der Ziehharmonika immer heidi, im Haushalt hingegen lurksig und toujours auf dem Sofa.«

»Aber Mutter!«

»So ist das. Ich kann mich heute nicht so und morgen anders befassen. Das liegt mir nicht. Ich kenne dich aus. Schon seit drei Jahren zieht das an dem nämlichen Strähmel: immer die noble Madam, ohne an die Kasserollen und den Laden zu denken, und wenn ich dich so richtig betrachte,« und mit heiserem Lachen fingerte sie ihre Schnupftabaksdose wieder an Ort, »du kommst mir vor wie das rosinfarbige Weib in der Bibel.«

»Ich?!«

»Wer denn anders? Ja – du und noch dabei mit 'nem goldenen Ring in der Nase.«

»Na, so was!«

Die junge Frau begehrte auf. Ihr Gesicht schien blutleer geworden. Die Brust hob und senkte sich stürmisch.

»Soll ich das für volle Wahrheit verschleißen?«

»Ich bitte, sich bedienen zu wollen.«

»Merci!«

Hinter der Erregten klinkte die Tür ein.

Die Alte sah ihr nach und zuckte die Schultern: »So ist sie nu mal, und so was will die Frau von meinem Aloys bedeuten! Ich lache darüber, wie die Peijatze lachen. Lieber 'n fleißiges Maultier im Hause als 'ne hübsche Kamelin. Da hat man doch sein Gusto in den Kammern und sein geordnetes Auskommen. Aber bei diesem Gehabe . . .«

»Oma, Ihr seid etwas happig gewesen.«

»Ich nicht, aber sie. Ich weiß das: dem neumodischen Weibsvolk hat man die Kandare anzulegen, sonst zieht das die kurzen Röcke bis über das Knie, um wie 'ne Wachtelhenne zu kakeln. Der Rest ist bloß Malör zwischen den Pfählen. Prosit die Mahlzeit! ich danke für solche Begebenheiten und Fisimatenten. So! und hier sind die Altendeckel . . . zweihundertundfünfzig . . . und hier was für das niedliche Jüngsken . . .« und sie steckte mir ein Kevelaerer Pilgerfähnchen in die gierigen Finger, bedruckt mit den buntfarbigen Seligkeiten des Paradieses und den furchtbaren Unseligkeiten der ewigen Höllenstrafen.

In heller Freude wollte ich schon auf die Straße hinaus, als Hübbers noch ein Anliegen vorbrachte.

»Oma,« meinte er mit gerunzelten Mundecken, »Ihr sagtet soeben . . . da draußen . . . vor 'ner kleinen Viertelstunde vielleicht . . . Gottverdorie nochmal! wie war doch die Sache? Ja so . . . Ihr spracht da was von Himmel und Erde . . . von 'nem gewissen Momentus . . . Man hat doch auch sein Interesse daran . . . Ich meine: wie war das doch mit den offenen Toren und dem gewaltigen Feuer aus der Ewigkeit herunter?«

»Das wißt Ihr nicht, Hübbers?«

»Keine Idee.«

»Und habt nachts herum noch gar nichts bemorken?«

»Oma, kein Spierchen.«

»Mann Gottes . . .« und sie musterte meinen Freund vom Kopf bis zu den Schuhspitzen, »das ist doch, um mit den Hühnern zu krähen! Kommt mit mir.«

»Schön!« sagte Hübbers, »also avanti!«

Er, das Aktenbündel unterm Arm, und ich, mit dem Kevelaerer Papierfähnchen bewaffnet, folgten der Alten.

Selbstbewußt verließ sie den Laden, stapfte gemessen durch den Hausflur, um von hier aus das Freie zu gewinnen. Nach wenigen Schritten pflanzte sie sich neben der Türschwelle auf.

In ihren stahlgrauen Augen begann es zu lichtern.

»Hübbers, dort oben!«

Mit ihrem Krückstock stieß sie ein scharfes Loch in das Himmelreich, just neben dem vergoldeten Hahn auf Sankt Nikolai.

Ihre Stimme nahm einen prophetischen Ton an.

»Dort wird ein Zeichen stehen wie eine haarscharfe Sichel,« also begann sie, »pures Gold, und wird alles bedecken mit seinem feurigen Regen. Was es bedeutet, ist uns Menschen verborgen, aber das wissen wir schon, es übermittelt nichts Gutes: Krieg oder so was, Pestilenz und betrübte, armselige Zeiten.«

Sie suchte nach Atem.

Hübbers folgte dem Bakel, als wenn sich jetzt schon irgendetwas Verdächtiges in der Nähe des Turmes erhöbe.

»Wann soll es denn kommen?« fragte er schüchtern.

Die Alte sah ihn an, als müßte sie ein großes Geheimnis in den blauen Düffelrock versenken. Dabei ließ sie ihren Stock wieder herunter.

»Die Schriftgelehrten behaupten: so Ende des Monats, genau auf Tag und Stunde, wenn die Nächte einen immer längeren Atem empfangen. Mit Hirtzensprüngen geht's dann durch die ewigen Welten. Sterne ziehen herauf, und Sterne pilgern wieder der Niederung zu. Aber einer ist drunter, der hat weder Anfang noch Ende, der dreht sich, wie mir Aloys noch gestern abend erzählt hat, aus 'ner Gegend heraus, dicht beim überirdischen Jerusalem . . . noch weit hinterm Mond fort . . . in der Nähe der ewigen Anbetung . . .«

»Oma, was Ihr nicht aufbringt!« fiel Hübbers dazwischen. »Das läuft einem ja ordentlich kalt und warm den Buckel herunter.«

»Warum auch nicht?! denn alles, was aus dem Unbewußten herauswill, kommt einem so vor, als wenn auf dem Allerseelentag die Toten den Mund auftun, um sich von ihren Sünden und unnützen Begebenheiten freizusprechen . . . und ich sage Euch, Hübbers – schon Anno dazumal, um die Zeit herum, als die Franzosen die rheinischen Schinken aus den Räucherkammern angelten und ihre Kanonen die ganze Welt beunruhigten, hat schon so was Ähnliches zwischen Himmel und Erde gestanden. Da ist ein großes Sterben über die Menschheit hergefallen, besonders über die Kriegsvölker, in Rußland und Leipzig dahinten; hingegen das jetzige Zeichen . . .«

»Aber wo steht's denn?«

»Hübbers, noch ist es im Unbewußten geblieben. Indessen jedoch, wenn die Nächte recht hell sind, können solche, die ein Perspektivum besitzen, was Lichtes neben dem Kirchturm herausspekulieren. Und Aloys, der so'n bißchen vom Gelehrten besitzt, weil er bis Quarta auf der Rektoratschule arbeitete, will es als Wahrheit ansprechen, daß solche Menschen, die ein vives Auge besitzen und nächtlicherweise herumpatrouillieren, schon so'n helles Schimmern empfangen, und da sollte ich annehmen: Ihr als eingeborener Nachtwächter, dem nichts verborgen bleibt von abends zehne bis morgens um dreie, wo die Hähne laut werden, hätte schon so 'n Fünkchen von Gottes Allmacht und Allgegenwärtigkeit betrachtet.«

»Nee,« sagte Hübbers, »mir ist noch gar kein besonderes Zeichen erschienen, höchstens, daß sich der Schuster Kogeleboom manchmal aus dem Bette erhebt, um sich bei brennender Laterne von wegen seines barbarischen Durstes eins auf die Lampe zu gießen. Aber das kann ich nicht als besonders auffällig taxieren, denn solches ist bei seinem allgemeinen Lebenswandel für erklärlich zu nehmen und weiter nicht ängstlich.«

»Hübbers,« unterbrach ihn die Alte, »ich rede von dem himmlischen Zeichen,« und ihr Krückstock deutete wieder hart auf den Turmhahn, »von dem gewaltigen Zeichen, das aus der fernen Ewigkeit näherrückt, immer näher und näher, feurig und glühend, mit tausend und abertausend höllischen Flammen behaftet – von Gott gewollt, von Gott eingesetzt und beglaubigt als Darbringung seines gerechten Zornes auf die sündige Menschheit. Aber dann Gnade uns allen!«

»Oma, nu laßt man. Solche Geschichten hör' ich nicht gerne.«

Die Sprecherin ließ sich nicht irremachen.

»Hübbers, dann Gnade uns allen!« prophezeite sie weiter, »denn so'n brennender Besenstern geht nicht umsonst aus der Hand des himmlischen Vaters und Erlösers. Der peitscht scheußliche Striemen über Gerechte und Ungerechte, über Wasser und Felder, der kommt mit Sturmschritt daher, obgleich mein Aloys so recht noch nicht klar darüber ist, wo das alles hinausführt – ob das Kriegszeiten werden oder sonstige Ängste, wie Pestilenz, Hungersnot und ein allgegenwärtiges Sterben auf Erden, so daß die Tischlermeister sich selber nicht mehr Rat wissen, wo sie nur all die Bretter für die Särge hernehmen sollen. Aber das weiß ich . . .«

Mein Freund gestikulierte mit Armen und Beinen.

Ihm saß etwas Kaltes im Nacken.

»Oma, hört auf!«

»Nein, ich höre nicht auf!« rief die Alte, jetzt völlig aus ihrer sonst so ebenmäßigen Ruhe getrieben.

Ihr derber Krückstock stand drohend über ihrem geklöppelten Häubchen.

»Das wäre noch schöner. Das wäre ja gegen die heilige Offenbarung gesündigt, denn was da kommen soll, ist eine Offenbarung aus dem Himmelreich. Die predigt man so, die ist größer als Bibel und Babel. Die fährt den lässigen und üppigen Weibsbildern unter die Röcke, daß ihnen die Brunst genommen wird, wie sie den Kamelinnen genommen wird in der heidnischen Wüste.«

Dabei kamen abermals ihre gesunden Zähne zum Vorschein wie die eines Tieres.

»Feuersterne, Schwanzsterne, Babel und Bibel! Sauve, qui peut! Sauve, qui peut!«

Ihre Worte erstarben.

Sie sah uns nicht mehr.

Ihre gespenstischen Blicke waren wieder gen Himmel gerichtet.

Unauffällig entfernten wir uns.

Mein Freund und Gönner machte immer längere Beine.

»Was sie nur haben mochte?« sagte er ängstlich.

Ich wußte es nicht und knatterte mit meinem papierenen Fähnchen.

Bei der großen Linde schauten wir rückwärts.

Noch immer stand sie neben der Türschwelle.

Feierlich leuchtete der Turmhahn von Sankt Nikolai über die Stadt hin.

 


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