Joseph von Lauff
Der Prediger von Aldekerk
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

›Don Sylvio von Rosalva‹ im Priesterhause, und wes Inhalt das amtliche Schreiben war, das Rinse van Bommel im Auftrage des Barons von Klabasterboompjes an Benjamin Seraphikus Rückert sandte, weswegen sich dieser in der Rolle eines tanzenden Derwischs und eines heulenden Irokesen vom Hudson gefällt und in eine Welt von Gold hinaustritt. Mordje Tulpenstiel und seine ›aphrosinischen‹ Äpfel. Das Zauberreich der Fee Kristalline in der herbstlichen Landschaft, mitsamt dem verwunschenen Heim, so Kosman Theophil Banning bewohnte. Galactine im Stall des Magisters, und wie es geschieht, daß sie sich in Johanna verwandelt.

Heute sah der Tag wohlig und warm über die Gegend.

Freundlich lief das gütige Licht über die kahlen Wände im Priesterhause, über die Schreibkommode, die fadenscheinige Decke, über Sofa und Tische. Mit sichtlichem Behagen blieb es auf dem alten Bücherrepositorium haften, und siehe: Christian Fürchtegott Gellert lächelte heimlich in das anmutende Strahlen und Scheinen; auch der wackere Seume, auch Klopstock und Herder. Am vergnüglichsten aber schmunzelte der Alte von Oßmannstedt-Weimar, der in seiner ›Musarion‹ ausrufen konnte:

»Ihr mächtiger Besieger
Der Menschlichkeit, die ihr dem Sternenfeld
Euch nahe glaubt – das Herz ist ein Betrüger!
Erkennet euer Bild in Phanias und bebt!«

Christoph Martin Wieland regierte die Stunde.

Don Sylvio von Rosalva!

Sechstes Buch, erstes Kapitel, und eine weiche und dennoch sonore Stimme las mit geziemender Andacht: »Prinz Biribinker . . . Des Morgens erblickte er die Wiese, die Hütte und die himmelblauen Ziegen. Er ging also in die Hütte hinein, fand aber niemand darin als ein Milchmädchen in einem schneeweißen Leibchen und Unterrocke. Sie war eben im Begriff, etliche Ziegen zu melken, die an einer diamantenen Krippe angebunden standen. Der Melkkübel, den sie in ihrer schönen Hand hielt, war aus einem einzigen Rubin gemacht, und statt des Strohes war der Stall mit lauter Jasmin- und Pomeranzenblüten bestreut. Alles das war bewundernswürdig genug; allein der Prinz bemerkte es kaum, so sehr hatte ihn die Schönheit des Milchmädchens geblendet. In der Tat, Venus in dem Augenblicke, da sie von den Zephyren ans Gestade von Paphos getragen wurde, oder die junge Hebe, wenn sie halbaufgeschürzt den Göttern Nektar einschenkt, waren weder schöner noch reizender als dieses Mädchen. Ihre Wangen beschämten die frischesten Rosen. Nichts konnte zierlicher und reizender sein als ihre Gesichtszüge und ihr Lächeln. Ja, ja, rief sie endlich aus, indem sich der Prinz zu ihren Füßen warf, er ist es, er ist es!«

Benjamin Seraphikus Rückert hielt inne mit Lesen.

Er liebkoste das Büchlein und setzte einen feinen Papierstreifen zwischen die Seiten.

»Göttlicher Hofrat,« sagte er leise, »dein Prinz Biribinker, deine Fee Galactine – noch göttlicher beide! – sie sind wie höhere Wesen aus den Gefilden Arkadiens genommen, verträumte Seelen, die selbst in stummen Harfen das Klingen der Saiten vernehmen. Irdisch und überirdisch in einer Person, sterblich und doch von einer ewigen und unendlichen Dauer des Lebens.«

Er streichelte nochmals die ›Abenteuer des Don Sylvia von Rosalva‹, legte hierauf den Band beiseite und begann wieder an den Memoiren seiner Blutsverwandten, der hochseligen Katharina von Kolbe-Wartenberg, einer geborenen Rückert, zu schreiben.

Allerdings, sie war mit einem gewissen Mehltau behaftet, gehörte zur Kategorie der eigenwilligen Damen, unter deren Fontangen krause Geisterlein hausten und zappelten, hatte viel durchlebt und durchliebelt und in ihren alten Tagen selber gestanden: »Eher kann man die Muscheln am Strande von Scheveningen zählen als meine galanten Abenteuer, die ich verkostet.« Allein was würde hiermit bewiesen? Sie war schließlich doch eine Gräfin, ein Wesen mit prickelndem Einschlag, und wenn man erwog, daß jene Zeiten, in denen sie das Puderdöschen handhabte und mit Schönpflästerchen hantierte . . . wenn man das alles bedachte . . .

Und desungeachtet fuhr er sich ernst über die Schläfen. Gewissensbisse, tiefe Bedenken schlichen sich an ihn, zermarterten ihn, machten ihm die Tinte gallig und bitter . . . aber dann wieder . . . Wie hatte sich Kosman Theophil Banning aus der heiklen Affäre gezogen? Ja, so: »Und ist diese Gräfin von Kolbe-Wartenberg nicht eine geborene Rückert aus Emmerich, also Ihres Stammes gewesen?« und dann seine eigene Replik: »Allerdings, allerdings!« und hierauf wieder der Alte: »Herr, und da haben Sie noch den traurigen Mut, sich vor einem senilen holländischen Junker zu fürchten – Sie mit dem heißen Blut diese Frau zwischen den Rippen?! Also Reverendissime . . .?!«

Er tat einen befreienden Atemzug. Ha, wie das stärkte! Er sah die Welt mit anderen Augen an, wähnte einen glückverheißenden Regenbogen zu schauen, der eine Brücke baute zwischen diesseits und jenseits, hoch über den Abgrund seiner Besorgnisse und Hemmungen. Es brillierte um ihn in tausend und abertausend Funken und Fünkchen. Seine Schwächen verebbten, plätscherten fernen, uferlosen Meeren entgegen. Glaube, Hoffnung und Liebe! Er streckte die Arme. Er sah das Licht von einem hohen und heiligen Berge herunter . . . und das Licht wanderte gegen ihn an, wurde von einem weißgekleideten Seraph getragen . . . und als er genauer hinschaute, da war es: die Gräfin.

Die Gräfin!

Also eine Heilige war sie, eine Gottgesandte, eine Bringerin der Verheißung und des frohen Erwartens. Und seine Seele erschauerte, und sie hätte noch weiter geschauert, wäre nicht lautlos die Türe gegangen und hätte ihm nicht ein bejahrtes Mädchen mit klingenden Ohrgehängen, das ihm den kärglichen Haushalt versorgte, ein amtliches Schreiben in die erregten Finger gegeben.

»Doortje, von wem?«

»Vom Rentamt, Mynheer.«

Dabei knixte sie, als sei sie genötigt, einen Devotionsstrich unter ihre Meldung zu setzen.

Unauffällig war sie aus der Stube gewuschert.

»O du Barmherzigkeit Gottes!«

Der kräftige Gottesgelehrte erbebete mit dem Zittern von Espenlaub. Wie Moses die Gesetztafeln, so hielt er das zugebrachte Schriftstück zwischen den Händen. Eine Donnerwolke umgab ihn, und er wähnte die Worte zu hören: »Der ganze Berg Sinai aber rauchte darum, daß der Herr herab auf den Berg fuhr mit Feuer. Und sein Rauch ging aus wie ein Rauch vom Ofen, daß der Berg erschütterte,« und Blitze waren dazwischen und züngelnde Garben.

Und er vernahm den Ton eines Unholds.

»Ah!« sagte Benjamin Seraphikus Rückert.

Sein Geist war gefestigt. Er hatte sich wiedergefunden. Energischen Schrittes durchmaß er das Zimmer, um völlig Herr seines inneren Menschen zu werden, umkreiste in gleicher Weise den Tisch, und bevor er das Siegel erbrach, hielt er den Fuß an, streckte die Hand aus und sagte wie bei einer Beschwörung: »Alles Geschehen erfolge unter dem Beistand des ewigen Gottes. Sonst ist es eitel und nichtig und ein Blendwerk unter der Sonne.«

Wiederum glaubte er den Ton des Unholds zu hören.

Seine Stimme schwoll an.

»Vom exorcismo,« so rief er. Exi immunde spiritus! Fahre aus, unsauberes Wesen, auf daß meine Sinne nur Erfreuliches sehen, nur Erfreuliches hören, nur Erfreuliches schmecken – im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes . . . et nunc et semper et in saecula saeculorum, Amen.«

Er fühlte sich, er hatte Respekt vor seinen eigenen Worten, vor dieser unerhörten Draufgängerei, mit der er dem bösen Prinzip Fehde und Kampf ansagte, erbrach hierauf das Schreiben und las mit gefestetem, wenn auch fliegendem Atem:

        »An den Predigtamtskandidaten
Herrn Benjamin Seraphikus Rückert dahier.

Gruß und geziemende Ehrerbietung zuvor. Mein gnädiger Herr und Gönner, der hochwohledle und hochwohlgeborene Baron Dirk Negels van Klabasterboompjes, Erbherr auf Aldekerk, haben sich huldvollst bewogen gefühlt, Sie am 28. hujus auf sein Schloß zu entbieten, gewillt, sich mit Ihnen wegen der vakanten Predigerstelle in hiesiger Kirchengemeinde ins Einvernehmen zu setzen. Sotane Eingebung dürfte für Sie Erfreuliches zeitigen und Ihren Wünschen weitestens entgegenkommen. Ich ersuche Sie daher, sich Punkt zwölfe obengemeldeten Tages zur Audienz ohne besondere Formalitäten zu melden.

Im Auftrag:

Rinse van Bommel,
Rentmeister auf Aldekerk, Ritter des
Ordens vom niederländischen Löwen am
blauen Bande mit der Devise:
Je maintiendrai

Der Schriftsatz entfiel ihm.

Er glaubte nur Erfreuliches zu hören, nur Erfreuliches zu sehen, nur Erfreuliches zu schmecken, aber dieses Hören, Sehen und Schmecken ging weit über seine kühnste Erwartung.

Er geriet denn auch vom Scheitel bis in die äußerste Stiefelspitze hinein völlig aus Leim und Verdiebelung.

Es gibt Augenblicke im menschlichen Dasein, die nicht in der Lage sind, die Fülle des Glückes zu bergen, die zudringenden Ereignisse in geordnete Bahnen zu lenken. Sie treten wie elementare Gewalten in die Erscheinung, schieben und wirbeln und ähneln den siedenden Staufluten bei Hochwasserzeiten. Unermeßliche, nie dagewesene Kräfte und Auswirkungen! Sie lassen sich nicht halten und dämmen, spotten vielmehr allen Prinzipien wohlgeordneten Denkens und Fühlens. Sie erinnern an Eruptionen in den Eingeweiden der Berge, der Erde, des Wassers. Sie sind wie Schwanzsterne, die den Weltenraum in unermeßlicher Eile durchgeistern, wie Rätsel, die eben nur Rätsel sind und keine Lösung zulassen.

So auch hier.

Benjamin sah sich in einen furchtbaren Tobel, in einen Freudentobel versetzt, der Jauchzer über ihn spritzte, der mit Sirenen tutete, der mit nie dagewesenen Harfen dazwischen klimperte.

Und der junge Gottesgelehrte spritzte, sirente und harfte mit.

Er gerierte sich wie ein tanzender Derwisch aus dem Orden der Mewlewije, den der gefeierte Dichter Dschelâl ed-dîn Rumi ins Leben gerufen. Er tanzte mit der heulenden Grazie eines buntgefederten Irokesen am Hudson, glaubenstüchtig und mit kupfernen Schellen rasselnd – um den Tisch herum, an der Schreibkommode vorbei, auf den Flur hinaus, wieder ins Zimmer hinein, um dann, als er ruhiger geworden, mit salbungsvollem Tone zu sprechen: »Ein Psalm Davids, vorzusingen auf der Githith mit acht Saiten: Frohlocket mit Händen, alle Völker, und jauchzet Gott mit fröhlichem Schall. Er fähret auf mit Jubel und heller Posaune. Lobsinget, lobsinget ihm, lobsinget unserm König: denn Gott ist König auf dem ganzen Erdboden. Lobsinget ihm klüglich,« und als er damit fertig geworden, kniete er nieder, erweckte Reu und Leid und betete inbrünstiglich.

Die Himmel rühmen des Ewigen Stärke!

Gekräftigt und wieder völlig Herr seiner Gedanken, hob er sich auf, nahm Stock und Hut, steckte das rentamtliche Dokument zu sich und begab sich ins Freie.

Bei den großen Holzbeständen angekommen, breitete er überselig die Arme. Er umgriff das All: eine Welt in Gold, ein Farbenspiel von buntestem Wechsel; denn mit der heutigen Morgenfrühe lächelte Gottes Auge wieder über diesen Erdenwinkel von trunkener Schönheit. Man mußte es sehen, um es fassen zu können. Darüber wölbte sich ein Himmel mit dem Glitzern einer kristallenen Glocke. Das niederrheinische Land hatte seinen besten Staat aus der Kirschholzkommode genommen, sich Ohrringe und Silberspiralen eingehäkelt und leuchtende Brokatstoffe um seine derben Glieder geworfen.

Benjamin sah es.

Durch die weiten Alleen, die Schloß Aldekerk von allen Seiten umgaben, lief das Flackern von Irrlichtern, das Spielen und Tänzeln von falben Blättern. Welche Pracht, welch heißes Glühen ringsum! Eichen und Buchen brannten wie Lohe, wie die Freudenfeuer in umschleierten Johannisnächten. Gold, überall Gold! Rotes, purpurfarbiges und solches, das aussah wie ein Weizenfeld in der Vollreife, wenn eine brütende Sonne darüber hinzüngelt und blanke Sensen ihre näselnde Arbeit beginnen.

Benjamin starrte und staunte.

So angewurzelt, vernahm er plötzlich Hundegebelfer, das schnelle Rattern eines eiligen Wägelchens, das sich unter dem aufmunternden Schnalzen und Zusprechen eines viven Mannes fixbeinig weiterbewegte . . . und der so heiter mit seinem Hundekärrchen daherkam, war der jüdische Händler Mordje Tulpenstiel aus der benachbarten Kreisstadt, kurzweg Mordje geheißen, dessen merkantile Beziehungen und Geschäfte sich bis nach Holland erstreckten.

Mordje war bekannt in der Gegend, sein freundliches Gesicht gern gesehen und überall willkommen geheißen. Ein fuchsiges, etwas angeknabbertes Bärtchen rahmte es ein. Seine Augen blickten gütig und duldsam. Sie erinnerten an die eines Samaritaners. In ihnen wohnte ein velourartiges Licht, sanft wie Molken und rührselig wie das verlorene Girren von Turteltauben. Im übrigen: er nahm mit der Rechten, um mit der Linken gleichfalls zu nehmen.

Als er des Kandidaten ansichtig wurde, hielt er Fuß, Hunde und Wägelchen an.

»Prr!«

Aus dem Wachstuch, das er über seine Handelsprodukte gespreitet hatte, apothekerte es mit den Ingredienzien eines Spezereiwarenladens.

Mit neugierigen Blicken sah er den Kleriker an. Dann erstaunte er sich: »Wahrhaftigen Gott, der Herr Paster in voller Montierung!«

»Nun Mordje, woher Eures Weges?«

»Nach Nymwegen hin un retour, um wieder in die Heimat zu machen. Ich meine: ich bin schon in Holland gewesen.«

»Und was habt Ihr geladen?«

»Andalusische Waren, Herr Paster, von Afrika un die Vereinigten Staaten.«

»Zum Beispiel?«

»›Aphrosinische‹ Äpfel.«

»Was für Dinger?«

»›Aphrosinische‹ Äpfel, die wir for gewöhnlich Äppelsinen benennen.«

»Aber sind diese kostbaren Sachen auch gängig?«

»Herr Paster, mehr noch als gängig. Schon David mit's Harfenspiel hatte sie nötig: auch die beiden Herren mit die Hängelöckchen, als sie die schöne Susanne unter Beurteilung nahmen, un ferner . . .«

Der Kandidat errötete sanft. Er wußte so recht nicht, was die Darlegungen Mordjes bezweckten.

Er sagte denn auch: »Ja, damals, in den glücklichen Ländern, wo der Mammon noch keine Rolle spielte . . .! aber bei den kärglichen Verhältnissen in hiesiger Gegend . . . Solche Aufwendungen können sich nur wenige leisten; fast niemand dürfte Geld dafür aufbieten.«

Über die Züge Mordjes glitt ein verzeihendes Lächeln. Verständnisinnig legte er den Kopf mit dem schmalrandigen Hütchen auf die Seite, streichelte sein Bärtchen und sagte: »Maimemmelochem! Herr Paster, da kennen Sie noch nicht die preußische Menschheit. Was ausländisch ist, wird wie Zucker genommen, was preußische Ware, for die Katze gehalten. Auch müssen Sie for die hiesige Gegend die schönen Gefühle bedenken. Sie sind nicht aus dem Abtritt gezogen. Ich weiß es: die ›aphrosinischen‹ Äpfel bringen die schönen Gefühle . . . un wenn ich mich auf den gnädigen Herrn Baron van Klabasterboompjes beziehe: allwöchentlich benötigt er zwei Kistchen von die überseeischen Früchte. Dito desgleichen der Herr Ökonom Christ van de Linde vom hinteren Vorwerk. Gott, was hat der Mann seit diesem Tage geleistet! Mit herkulanischer Forsche – nur Schönes un zwei Söhne auf einmal. Die von Neu-Luisendorf hat mir aus Freudigkeit einbalsamieren gewollt for die Guttat. Un wenn Sie in die Gelegenheit kommen – Sie erhalten sie billig, prima vista, unter Einkaufspreis, sozusagen geschunken . . . un damit will ich mir empfohlen haben, Herr Paster,« und Mordje zog ab, in der Art und Weise seines Volkes, auf weichen und federnden Schuhen.

Unter begleitendem Hundegebelfer verschwand er in dem goldigen Laubfall.

Benjamin sah ihm nachdenklich nach.

»Gewißlich, die Gräfin von Kolbe-Wartenberg hat zweifellos von diesen würzigen Liebesäpfeln gekostet,« sagte er still vor sich hin, »sonst würde es mir schwerlich anstehen, ihr das Rosenkränzlein der Landgräfin von Eisenach in den Schoß zu beten,« fuhr sich leicht über die Stirne und nahm wieder seinen früheren Gang auf.

Er wähnte durch das Zauberreich der gütigen Fee Kristalline zu schreiten. Immer neue Wunder offenbarten sich ihm. Ein Eichkater holzte auf, um wie ein kleiner Feuerbrand zwischen dem falben Leuchten zu stehen. Von irgendwo hämmerte ein Grünspecht herüber, klang der Ruf einer einsamen Taube. Dann lag die Welt in Gold hinter ihm. Offenes Land tat sich auf: Wiesen und Äcker. Unabsehbar erstreckte sich die Grafschaft unter einem Himmel voller Sonnengeflinker . . . und ehe er es sich versah, stand er vor einem schlichten Haus aus holländischen Klinkern, mit tiefhängendem Dach und Fenstern, hinter denen blütenweiße Musselingardinen ein zutunliches und gesegnetes Wohnen verhießen.

Ehrwürdige Pappeln, die das kleine Anwesen nach drei Seiten umstanden, begannen bei seinem Kommen zu säuseln, zu wispern, mit tausend und abertausend gesprenkelten Blättern zu harfen. Hinter den gehäkelten Fenstervorsetzern perlte es auf. Eine feindrähtige Kanarienrolle klang ihm entgegen.

Geweihte Stätte, liebe Behausung! Das von Ölbäumen geschirmte Dach in Bethanien konnte sich nicht freundlicher geben. Alles mutete an wie die Worte der Schrift: »Den Frommen gibt der Herr seine Güter, die bleiben. Und was er beschert, das gedeihet immerdar,« denn unter diesen roten Ziegelpfannen verbrachte Kosman Theophil Banning, einstmaliger Magister und Kantor hiesigen Kirchspiels, seine beschaulichen Tage, hauste ein Wesen, das nicht zu den gewöhnlichen zählte.

Benjamin schleckerte sich mit spielender Zunge über die trockenen Lippen, nahm sich ein Herz und trat über die Schwelle.

Der ungelenke Kandidat mit dem ausgeprägten Römerkopf auf den mächtigen Schultern sah sich befangen und ängstlich um. Alles und jedes im Flur war ihm bekannt: die niederrheinische Einfalt, das Wesen äußerster Akkuratesse und Blankheit . . . und doch hatte er Furcht vor seinen eigenen Schritten. Nichts hörte er mehr. Niemand begegnete ihm. Von keiner Seite her vernahm er ein Raunen und Rascheln, das Hantieren mit sauberen Kasserollen oder die schon so häufig zitierten Verse: »Der Winter ist ein harter Mann, kernfest und auf die Dauer . . .« des Wandsbeker Boten.

Der Magister und der ehrenreiche Matthias Claudius schienen zu schlafen. Selbst der Kanarienvogel hatte seine Stimme verloren.

Nein, dieses Schweigen!

Er räusperte sich. Die Totenstille hielt an.

Er klopfte an die links gelegene Türe. Keine Antwort erfolgte.

Dann an die Türe zur Rechten, hinter der das große Sofa aufragte und die schmucke Glasservante, bestellt mit vergoldeten Tassen und Täßchen, der Zuckerschale und der weitbauchigen Kaffekanne, die nur an den höchsten Sonn- und Feiertagen berufen war, das Aroma des wohltuenden Trankes zu spenden.

Aber auch hier keine Silbe.

Da nahm er sich ein Herz, ging energischer über die geglätteten Stiegen und strebte dem seitwärts des Gärtchens gelegenen Stall zu, den er durch die Hintertür der schlichten Wohnung erreichte.

Ein warmer Geruch schlug ihm entgegen; ein aufdringlicher Nebel, der ihn gleich Weihrauchwölkchen berührte, so kräftig und glückverheißend legte er sich um seine verlorenen Sinne.

Irgendwo gackerte ein Hühnchen, knusperte ein Mäuschen, klingelte eine Halfterkette.

Noch herrschte Dunkel um ihn.

Erst mußte er sich an das Dämmern des Stalles, an das Nebeln und Dunsten gewöhnen.

»Und Gott sprach: Es werde Licht!« also flüsterte es ihm zu, »und sahe, daß das Licht gut war . . . und schied das Licht von der Finsternis. Und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag . . .« und Helligkeit breitete sich nach Länge und Tiefe, denn als er den Heuboden hinter sich hatte, wandelte er durch eine überirdische Traumwelt, durch das Reich der verzauberten Galactine. Von einem klaren Strahlenbündel umleuchtet, neben einer kristallenen Raufe, dort saß sie unter Jasmin- und Pomeranzenblüten, unter einem Regen von tropfenden Perlen, schön wie die Göttin von Paphos, anbetungswürdig gleich der köstlichen Hebe, wenn sie aufgeschürft den Olympischen Ambrosia und Nektar kredenzte, just dabei, eine ihrer himmlischen Ziegen zu melken.

Die Wünschelrute des Alten von Oßmannstedt-Weimar zog Kreise um Kreise, umgoldete alles mit Flittern und Sinnestäuschungen eines Theurgen und Nekromanten.

Benjamin fußte an wie Moses auf Horeb, über sich das merkwürdige Rascheln von trockenen Halmen, unter sich die rosenfarbigen Oasen von Petra.

Die Heiligkeit des Ortes erschütterte ihn, gebot ihm, die Umwelt zu vergessen, das Irdische abzustreifen, die Seele in das Gebiet des Unerforschlichen, des Unermeßlichen zu verweisen. Der gewaltige und doch sanftmütige Streiter in Christo erschaute Mysterien bei Mysterien, Gesichte, wie sie kein anderer Sterblicher hatte, und doch befand sich seine rege Phantasie auf einem richtig gehenden Knüppelweg, der in langen Schleifen und Krümmungen in die nackte Wirklichkeit hineinführte, denn was er da zu sehen glaubte . . .

Statt der Jasmin- und Pomeranzenblüten war derbes Roggenstroh durch den Stallraum gespreitet, der Melkeimer hatte nicht die geringste Verwandtschaft mit einem edlen Rubin, die Raufe keine mit einer kristallenen Raufe, und die Melkerin selber . . .

Nicht einer himmelblauen Ziege mit silbernem Glöckchen galt ihr emsiges Schaffen, sondern einer wohlgepflegten, schwarzweißen niederrheinischen Kuh, die sanft vor sich hinmuhte, mit dummdreisten, treuherzigen Augen den Neuling anglotzte und sich mit sachlicher Gemächlichkeit anschickte, einen umfangreichen Fladen auf den Boden zu klatschen, während Galactine . . . während Johanna . . .

»Strulle, strulle!«

Fingerfertig saß sie auf einem dreibeinigen Stühlchen, den Kopf an den Bug des Tieres gelehnt, zupfte an einem vierfach gestöpselten Pompadour herum und ließ die schaumige, prickelnde und rahmweiße Milch in einen blankgescheuerten Melkeimer strudeln.

Benjamin seufzte; war wie aus allen Rosenwölkchen, wie aus allen Himmeln gefallen.

»Johanna!« sagte er mit verhaltenem Atem.

Es würgte ihm an der Kehle wie mit einem schnürenden Hanfstrick, obgleich sich dieser Strick in weiche Frauenhände verwandelte, die ihm die Wangen umschmeichelten.

»Johanna!« rief er zum andern.

Erschreckt fuhr sie auf, stellte den Eimer beiseite, glättete schämig ihr Kleid und sah mit großen, samtbraunen Augen auf den Verdutzten, der verlegen seine derben Finger verschränkte und damit wie mit Haselnüssen knackte.

»Reverende,« sagte sie gütig, errötete aber, als sie die merkwürdige Situation überdachte. Mit einem Tüchlein wischte sie die Milchspritzer ab, so in zierlichen Tröpfchen den weichen Flaum ihrer nackten und wohlgerundeten Arme bedeckten. »Reverende, wir wissen die Ehre zu schätzen, zumal in diesen Zeitläuften, wo der selige Herr nicht mehr ist und alle Sorgen und Lasten . . .«

»Oh!« unterbrach er sie in bescheidener Abwehr, »mein Scherflein ist nur ein kleines, ein minderwertiges Scherflein. Aber es wird gerne gegeben.«

»Das weiß ich.«

Sie gedachte weiter zu sprechen, verstummte jedoch, als sie seine Erregung bemerkte, seine geheimsten Gedanken ergründete: denn siehe: einer stand vor ihr, der sie mit verzückten Blicken und, ohne es zu wollen, mit dem stillen Rausch eines verhimmelten Mannes sondierte.

Ihre Nähe bedrängte ihn.

Er blieb nicht Herr seiner Sinne mehr.

»Oh!« rief er aus, »ich gehöre nicht zu denen, die die Leiden und Schmerzen Hiobs und Jakobs Gram und Tränen anderen vermachen. Ich denke in diesem Augenblick an den ewigen Schöpfer. Er bildete alles nach höchsten Gesetzen. Ein Versenken in Gott gibt Engelsflügel. Unser Gebet sei die Sehnsucht nach Schönheit. Das sagte schon Wieland. Nichts ist schöner als das, was wir vom Weibe empfanden. In ihm liegt Bestehen und Werden, Verwesung und Auferstehung.«

Seine Lippen zitterten.

Er sah nach der Türe.

Er wußte keine anderen Worte zu finden.

Seine Blicke erweiterten sich.

Die Wünschelrute der Fee Kristalline begann wieder ihre Schleier zu spinnen. Es träufelte von Balsam und anderen Narden. Himmelblaue Ziegen standen vor gläsernen Raufen. Der Kuhfladen verwandelte sich in eine Goldschale, der levantische Düfte entstiegen. Jasmin- und Pomeranzenblüten fielen von der Decke herunter. Es klingelte mit silbernen Schellchen, und der Melkeimer war aufs neue mit raren Steinen und Kleinodien umbändert.

Er umgriff ihre Hände: »Johanna, mögen Ihre Tage heiter und sonnig sein, und vergönnen Sie mir für diesen Herzenswunsch ein kleines Plätzchen in Ihrer Erinnerung.«

Welch köstliche Freude!

Da stand sie: eine niederrheinische Schönheit, breithüftig, straffbusig, mit allem ausgestattet, wie es Rubens zu malen beliebte, geschaffen dazu, den Schrei nach dem Manne in den Armen dieses gutmütigen, verwirrten und doch gewaltigen Klerikers verhallen zu lassen, ein Weib, von der Natur berufen, die Satzung der Schrift: Wachset und mehret euch! bis zum letzten Tupf zu erfüllen . . . und dennoch ohne Arg in der Seele, auf realem Boden stehend und das Herz voll ersprießlicher und kindlicher Einfalt.

Sie zog denn auch ohne langes Besinnen ihre Hand aus der seinen, lächelte ihn an und bat ihn, das Weitere im Studierzimmer ihres Vaters abzuwarten, »denn,« so setzte sie mit wohlklingender Stimme hinzu, »Sie sind in geschäftlichen Angelegenheiten gekommen, so nehme ich an . . . Ihr Erscheinen zu dieser ungewöhnlichen Stunde . . . Ihre Unterredung mit ihm vor einigen Tagen . . .

»Allerdings, allerdings! Ich weiß es; er nimmt regen Anteil an meinem Geschick, an meinen Bestrebungen und Hoffnungen. Ich werde ihn finden. Aber was mich besonders erfreute: ich habe Galactine gesehen.«

»Wen?« fragte sie mit verwunderten Augen.

»Mein Gott, dieser Wieland! Ich meine natürlich . . .«

»Dann bitte,« und die üppige Melkmaid streifte ihre Ärmel herunter und geleitete ihren Besuch in die saubere Kammer, wo alter Urväterhausrat, weiße Gardinen und sorglich gepflegte Fuchsien und Geranienstöcke von einem traulichen und behaglichen Leben erzählten.

»Nehmen Sie Platz, Reverende. Mein Vater ist zum neuen Lehrer hinüber. Er wird baldigst zurück sein,« und damit war sie aus dem Zimmer gegangen.

Benjamin sah sich um.

Zwischen Dan und Berseba war keine reinere Stätte zu finden.

Der Kanarienvogel brachte ihm in einer perlenden Kantilene einen herzlichen Willkomm.


 << zurück weiter >>