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Das Klopfen wiederholt sich in eindringlicher Weise. Herein! Warum Kosman Theophil Banning, der emeritierte Magister und Kantor hiesigen Kirchspiels, den einsamen Kandidaten aufsucht, und was sich weiter begeben. Von einem knarzenden Brandleder in einem abstrapzierten Schuh eines Landbriefträgers, einem englischen Flügelhorn und einer siderischen Orgel. Die galante Gräfin von Kolbe-Wartenberg winkt aus alten Tagen herüber. Beschluß mit einem schönen Gedicht des Wandsbeker Boten.
Und es pochte abermals an, aber eindringlicher, unwilliger, fast mit roher Gewalt.
Da wachte Benjamin auf. Wie aus allen Wolken gefallen, rückte er den Kopf auf den Schultern.
»Herein!« und eine verrostete Stimme rollte ins Zimmer: »Propter reverentiam: Surtout, Hut und Parapluie habe ich draußen gelassen, und wenn es erlaubt ist, Reverendissime . . .« und ein grobknochiger Mann in den sechziger Jahren, eine stolze kurfürstliche Nase im Gesicht, mit derben Fäusten, blaubefrackt und die Hosen in den Stiefelschäften, drängte sich braunroten Kopfes in die ärmliche Stube.
»Ah, der Magister!«
Gravitätisch schob der Angerufene seine Augenbrauen zusammen: »Bin ich, bin ich noch immer, ich, Kosman Theophil Banning, und wenn Sie verstatten . . .«
Er schluckte nach Atem.
»Heute ist Samstag! die Woche bereitet sich vor, in den heiligen Sabbat zu gleiten, und da es so ist, so und nicht anders, wäre mir ein Kolloquium unter vier Augen und bei brennenden Pfeifen äußerst bekömmlich. Solches ist allzeit mein Gusto gewesen, steht auch den Anschauungen des hebräischen Philosophen und Heerführers Moses absolut nicht im Wege. Und ferner: um Ihren Beutel nicht über Gebühr zu belasten, ihm seinen Status quo zu erhalten: hier ein Päckchen vom besten. Half Canaster, Hermann Oldenkott en Zoonen te Amsterdam,« und der gewaltige Herr knallte den Tabak auf den Tisch des Hauses, daß die lendenlahmen Beine davon in ein gelindes Wackeln und Knistern gerieten. »Zu unserem Wohle bekomm' es . . . und wenn es erlaubt ist und ich nicht ungelegen erscheine . . .«
»Aber ich bitte! Immer willkommen in meiner bescheidenen Hütte.«
»Hütte, Hütte?!«
Herr Banning sah sich um. Er musterte die kahlen Wände, das anspruchslose Mobiliar: die Schreibkommode aus wurmstichigem Kirschbaumholz, die Stühle, die blauilluminierte Schlafgelegenheit, das Sofa mit verblichenem Zitz, dessen Ächzen und Stöhnen so oftmals den seligen Herrn in ein glückliches Träumen eingelullt hatte, und alle die anderen Kommoditäten eines selbstlosen Daseins, die ihm zuzuflüstern schienen: »Jedes vergängliche Ding muß ein Ende nehmen, und die damit umgehen, fahren auch dahin; denn alles Fleisch verschießt wie ein Kleid, weil der Bund es also gesetzet: ein jedes muß sterben.«
»Hütte, Hütte?!« wiederholte der alte Herr mit nachdenklichem Stirnrunzeln. »Allerdings eine Hütte, und wie ich sehe: vom heimgegangenen Paster hiesigen Kirchspiels ist nicht viel abgefallen dahier. Er hat seinen Jesus Sirach gekannt und nach dessen Worten gehandelt: Gib gerne, so wirst du wieder empfangen; denn wenn du tot bist, so hast du ausgezehret.«
»Leider, die Ernte ist spärlich. Bloß Spreuicht, mit etwas Häcksel dazwischen. Davon werden keine Korintenwecken in den Backofen geschoben. Nur Roggenbrot mit Kartoffeln. Aber ich bin auch mit diesem zufrieden.«
»Trefflich,« konstatierte der Alte. »Das menschliche Herz soll nicht übermenschlich am Irdischen hängen. Mit dem Wort Gottes steht es schon besser. Wohl dem, der es ausleget und lehret, der Weisheit folget, an ihrer Türe horcht und durch ihre Fenster ins Zimmer hineinsieht. So hat er auf Erden ein Haus und im Jenseits eine Heimat gefunden.«
Er räusperte sich.
Der emeritierte Magister und Kantor liebte es, sich in theoretischen Floskeln und auf rhetorischen Stelzen zu ergehen. Selbst in den kleinlichsten Dingen fiel er nicht aus der Rolle. Seine schmiegsame Stimme kam ihm hierbei trefflich zustatten. Bald knarzte sie wie das Brandleder in dem abstrapazierten Schuh eines Landbriefträgers, bald wieder ähnelte sie dem schmetternden Ton eines englischen Flügelhorns, bald dem sonoren Klingen einer siderischen Orgel, je nachdem es die Gelegenheit von ihr erheischte, sich als knarzendes Brandleder, als englisches Flügelhorn oder als siderische Orgel zu geben.
In diesem Augenblick wuchs sie sich aus zu einer schönen und getragenen Orgel.
»O mein Geliebter! Was nützen uns alle die niedlichen Alfanzereien des terrestrischen Daseins, was Glasservanten, damastene Causeusen und brennende Gueridons? Sie sind eitel und nichts unter der Sonne. Glasservanten und Causeusen fiedern der Faulheit und dem Satan die Bolzen, und wehe dem, der mit den Hühnern und Enten zu Bett geht, um sich mit den Regierungsräten wieder aus den Federn zu heben. Nein, mein Geliebter! Nur die Gnade, die tut es: allenfalls eine brennende Pfeife. Also setzen wir uns,« und keine fünf Minuten vergingen, da saßen die beiden auf dem abgeschliffenen Sofa, schlugen die Beine übereinander und kräuselten feinmaschige Wölkchen zur Decke.
Das Zimmer schleierte ein.
Der Tag sah trüb durch die angelaufenen Scheiben.
»Oha!« meinte der Alte nach einiger Weile. »Wie steht es damit? Darf man in der bewußten Angelegenheit, ohne sich der Neugierde schuldig zu machen, gratulor sagen oder aber haben wir mit dem ominösen hic haeret aqua zu rechnen?«
Der Kandidat zuckte betrüblich die Achseln.
»Oder aber ist hier Trumpf in der Karte,« sagte er tonlos.
»Wieso das?«
Kosman Theophil Banning machte kreisrunde Augen.
»Heilige Simplizitas, das wäre doch äußerst. Das hieße doch, die melkende Kuh unter Preiswert an den Juden verpfänden. Ich verstehe immer: oder aber ist hier Trumpf in der Karte. Mein Latein geht zu Ende. Wo soll ich das hintun? Und das bei dieser Befähigung, bei diesen Meriten! Sie, als Columna doctorum, können Ansprüche machen. Ihr Examen haben Sie magna cum laude bestanden, Ihre Eloquenz ist wie Jordanwasser so köstlich, die protestantische Gemeinde frißt Ihnen aus der puren Hand oder, um es mit anderen Worten zu sagen, würde sich freuen, Sie als Prediger zu begrüßen und Ihnen den Hymnus zu singen: Lauda Sion Salvatorem . . . und nun . . .?«
»Schon richtig, Herr Banning.«
»Gewisse Imponderabilien verschlugen meine Aussichten auf unsicheren Boden . . .«
»Und die wären, Reverendissime, wenn es erlaubt ist, zu fragen?«
»Das Repräsentationsrecht liegt in den Händen des Jonkheern.«
»Kein Zweifel, aber man sollte doch meinen, daß ein Verharren auf der nämlichen Stelle die Dinge nicht fördert.«
»Allerdings sollte man meinen, zumal, wo das hohe Konsistorium alles aufbot, mir den dornigen Pfad so bequem wie nur möglich zu machen. Indessen – mein dringliches Gesuch sub petito remissionis ist vom Herrn van Klabasterboompjes bisher ohne Antwort geblieben.«
»So, so! Also ohne Antwort geblieben . . . und wann haben Sie fragliches Gesuch an den hochwohlgeborenen Herrn gerichtet?«
»Gleich nach dem Ableben des hiesigen Pasters.«
»Also vor vier Wochen etwa?«
»So ist es.«
»Hm!« knarzte der Alte. Es war ein infames und verteufeltes Knarzen. Der Schuh des Landbriefträgers schien über steinichten Boden zu stolpern. Das Brandleder ächzte.
Kosman Theophil Banning paffte eine grimmige Wolke über den Tisch fort, rümpfelte seine kurfürstliche Nase und sah stur und stumpf in die Ecke.
Er trug sich mit schweren Gedanken, und diese Gedanken wollten Zeit zur Auszwirnung haben. Somit dachte er nach. Er dachte tiefgründig nach, etwa so wie ein Vorstehhund nachdenkt, wenn er eine Hühnerkette zu bestätigen und auszumachen hat, denn er war ein Mann von kernigen Sinnen, ohne abwegig zu werden, ohne sich vom Seichten übertölpeln zu lassen, und was er schließlich expektorierte, stellte er hart nebeneinander, hart und logisch wie die starren Pfeifen in einem Basaltwerk.
Sein Äußeres und sein Inneres entsprachen seinem kritischen und unbarmherzigen Denken. Seine Worte waren wie aus der Handpostille genommen, seine Grundsätze kieselfest, seine Ansichten die eines abgeklärten Siedelmannes in der Thebais. Mit unerbittlicher Strenge hatte er viele Jahre hindurch den Bakel regiert, viele Jahre hindurch seines Amtes gewaltet, ohne Ansehen der Person, ohne nur um Haaresbreite vom Wege der Erkenntnis abzuirren. Alle Bemühungen seiner vorgesetzten Behörde, ihm die Wohltat einer gehobenen Stellung zu übermitteln, hatte er mit geziemendem Dank, aber auch in nicht mißzuverstehender Weise von sich gewiesen. »Hier in diesem niederrheinischen Kirchspiel,« also pflegte er allzeit zu sagen, »hier zwischen Wiesen und Woijen, zwischen Dämmen und Deichen bin ich jung gewesen, hab' ich gefreit, wurde mein Kind, meine einzige Tochter geboren, hab' ich gelehrt und gerungen, hab' ich mein Weib auf die Hobelspäne gelegt – hier auch, also zwischen Wiesen und Woijen, zwischen Dämmen und Deichen, will ich meine Tage beschließen und die Schlummerdecke der niederrheinischen Erde über mir haben.« Hier auch hatte er seine emetierte Ruhe und einen kühlen, klaren Lebensabend gefunden. Seine Gestalt war klobig, sein Gesicht wie aus dem harten Holz eines Eichenknubben gehauen. Nur seine Augen . . .! Sie leuchteten wie Schmaltebläue, wie Lapislazuli, dem ein Beimengsel von Spießglanz anhaftete. Aus ihnen strahlte die derbe Poesie eines Johann Heinrich Voß und die des geradlinigen Wandsbeker Boten. »Der Winter ist ein harter Mann, kernfest und auf die Dauer . . .« wenn er das in seinen Mußestunden deklamierte, von der ersten Strophe bis zur letzten herunter, ohne zu stocken, jedes prägnante Wort scharf unterstreichend – und hätte ihm dann der selige Matthias Claudius zuhören können, im flohbraunen Überrock, in manchesternen Hosen und das lustige Schweineschwänzchen im Nacken, zweifelsohne hätte er ihm auf die Schulter geklopft und also geredet: »Nicht übel, mein lieber Herr Banning. Gar nicht besser zu machen. So was kann ein halbvergessener Dichter gebrauchen. Nun aber zu Bett. Der Mond ist aufgegangen, die goldenen Sternlein prangen . . . Basta!«
Noch immer dachte der Alte nach, mit subtiler Gewissenhaftigkeit, mit der Andacht eines Feueranbeters, der die Allgegenwärtigkeit des Ewigen in dem züngelnden Flammenspiel zu ergründen wähnte, spurgerecht, den Blick unentwegt auf ein und dieselbe Stelle gerichtet.
Endlich war er so weit.
»Also Reverende,« meinte er mit einer Modulation in der Stimme, die sich dem aufdringlichen Ton eines englischen Flügelhorns näherte, »kommen wir auf den besagten Hammel zurück, denn selbiger will unter allen Umständen über den Pferch, um besseren Graswuchs zu finden. Ich meine: Sie haben sich lediglich mit dem dringlichen Gesuch sub petito remissionis zufrieden gegeben, lediglich mit dem Gesuch, und sind nicht in persona an Ort und Stelle gewesen, um dort pro domo zu sprechen?«
Benjamin seufzte und hob abwehrend die Hände.
»Ich wagte es nicht,« sagte er traurig.
»Was, Sie wagten es nicht, wo Kopf und Kragen und Ihr späteres Leben diese alleinseligmachende Lösung erheischen? Ut sementem feceris, ita metes . . . und da nicht in persona, mein Bester?«
»Ich sagte schon eben: nur eine schriftlich niedergelegte Supplik ist mir Stab und Stecken gewesen.«
»Oh!« erstaunte und ereiferte sich Kosman Theophil Banning.
Seine Stimme gefiel sich wieder in dem getragenen Ruf einer siderischen Orgel.
Mit Daumen und Zeigefinger zwickte er sein eckiges Kinn tiefer herunter.
»Oh! da möchte ich doch, falls es erlaubt ist zu reden, meine unmaßgebliche Ansicht nicht unter die Gackelhühner verkrümeln. Nein, Reverende, und abermals nein; in Ihrem eigenen Interesse – so geht das nicht weiter, denn mit einer bloß niedergelegten Supplik werden keine Pflaumen geschüttelt und keine Schafe geschoren, werden Sie des gloriosen Bässchens niemals teilhaftig. Keine Ausflüchte und keine Bedenken. Schon in einer aesopischen Fabel heißt es: Hic Rhodus, hic salta. Persönlich haben Sie in die Bresche zu treten, persönlich Ihre Ansprüche und Ihr Recht zu verfechten . . . und wenn ich erwäge: ich bin nur ein abgelederter Magister und Kantor, aber wenn ich mich in Ihrer geistlichen Schwarte befände – ich sage Ihnen: meinen besten Rock würde ich antun, an Ort und Stelle rumpeln und mit Gottes Hilfe und Beistand mich der Worte des großen Reformators bedienen: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.«
»Jesus, wie sollte ich können?!«
Der derbe Schuh des verschwitzten Landbriefträgers trudelte in diesem Augenblick über einen Knüppeldamm fort, der ins Ungewisse, ins Trostlose führte.
Benjamin keuchte.
Der Alte sah ihn entgeistert an. Dann fuhr seine Hand ihm dumpf auf die Schulter.
»Reverende, Sie müssen, Sie müssen.«
»Himmel! Sie treiben mich in schwere Bedenken. Ich sehe kein Licht mehr. Der Boden wankt mir unter den Füßen. Wie nur das Richtige erwählen? Denn in meiner Eigenschaft als Petent und schwächlicher Amtskandidat muß ich doch glimpflich verfahren.«
»Mit Glimpf ist da drüben gar nichts zu machen. Kein Iota. Da hilft nur Stirn gegen Stirn und Auge um Auge.«
»Ah!« machte der gütige Mensch, »auch einem veritablen Jonkheern und Baron gegenüber? So etwas ist doch aus einem anderen Holze geschnipselt.«
»Herr, stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Summum bonum in hosis et latsibus und erst recht in geistlichen Dingen. Es ist nicht wohlgetan, ja vom äußersten Übel, sich als Leibeigener, als Stiefelknecht eines hochmögenden Herrn behaglich zu fühlen. Die Zeit ist vorüber. Gras ist längst über diese entwürdigende und schmachvolle Brache gewachsen. Ein Kamel ist jeder zu nennen, der sich unterfängt, diesen Graswuchs wieder von der zugedeckten Scholle zu knabbern. Was?! Und können Sie retrovertierend nicht auf eine opulente Vergangenheit blicken, eine Vergangenheit, die in die höchsten Kreise hineinführt? Stolz vor Fürstenthronen bleibt suprema lex für einen ehrliebenden Bürger. Und Sie sind mehr wie ein schlichter, ehrliebender Bürger, denn Hand aufs Herz,« und seine Stimme klang wie eine helle Reitertrompete, »schreiben Sie nicht an den Memoiren der hochgeborenen Gräfin von Kolbe?«
»Allerdings,« kam es ängstlich zurück.
»Und ist diese Gräfin nicht eine geborene Rückert aus Emmerich, dem Pitt Rückert die seine – also Ihres angestammten Blutes gewesen?«
»Auch dieses.«
»Und wurde diese Katharina, geborene Rückert, nicht zur Madam en titre des Premierministers am Hofe des ersten preußischen Königs erhoben?«
Mit seiner Pfeife salutierte er dabei wie mit einem Sponton.
»Allerdings, vom moralischen Standpunkt aus ließen sich dagegen viele Bedenken erheben, denn eine christliche Ehe verbietet Exkursionen in libidinöse Gefilde. Aber was schadet's. Für unsere Zwecke haben wir mit diesem Faktum zu rechnen, zumal da mir obliegt, trotz der heiklen Situation, den Beweis zu erbringen.«
Das Pfeifen-Sponton fuhr wieder an Ort.
»Na, Reverende, jetzt heraus mit der Sprache!«
»Ich kann es nicht leugnen.«
»So, so! Also nicht leugnen . . . und ließ dieser Minister des Königs, des höchstgloriosen, nicht über dem Portal, so zu den verschwiegenen Zimmern führte, in denen er mit ihr zu scharmutzieren pflegte, ein Basrelief durch den großen Schlüter errichten, bedeutend: Venus auf einem Löwen ruhend, des Herkules Keule führend, mit welcher der Liebesgott spielte?«
Benjamin fuhr auf.
Das heiße Blut der Rückerts begann in ihm rege zu werden.
»Auch dieses, auch dieses!« rief er mit leuchtenden Augen.
»Herr!« fuhr Banning ihn an und glitt dabei steil in die Höhe, »und da haben Sie noch den traurigen Mut, sich vor einem senilen holländischen Junker zu fürchten – Sie, der Mann mit dem Blut einer Gräfin von Kolbe-Wartenberg zwischen den Rippen?«
Seine Stimme verzitterte, nachdem sie an Herzen und Scheiben gerüttelt hatte wie ein brausender Tobel, und eine Stille war ausgetan wie am Tag des Gerichtes. Sie ging auf Zehenspitzen herum, auf Lammwollsocken und scheitelte die Musselingardinen, die dünn und spärlich vor den Fensternischen hingen, sacht auseinander.
Der Alte durchbrach sie.
»Also, Reverendissime, was ist nun ihre Ansicht?«
»Herr Magister, wenn ich so alles bedenke: selbst ist der Mann, und mit der Kraft und Umsicht eines Aufrechten werde ich mich in die Höhle des Löwen begeben, wenn ich auch annehme, mein Bittgesuch wird in den nächsten Tagen seine Beantwortung finden. Wenn nicht, wird von mir das Nähere in die Wege geleitet.«
»Na also . . .!« und Kosman Theophil Banning lächelte herzhaft und flocht seine Fingergelenke so straff ineinander, daß sie in ein hölzernes Knacken gerieten. Mit einem befreienden Ruck warf er sich in die Sofaecke zurück, förderte aus seinem Weichselrohr langsträhnige Wölkchen und begann wieder in getragenen, weihevollen Harfenklängen zu sagen: »Herr Adjunktus, wenn es erlaubt ist zu reden, das wäre geleistet. Sie müssen Sorge tragen, denen stupidis ingeniis das himmlische Feuer zu bringen. Diesen Blitz- und Schelmenbaronen mit ihren Ränken, Kniffen und Flausen ist das Handwerk zu legen. Nur keine Langmut, nur keine Duldsamkeit. Kein Verkriechen in den Schatten der Servilität. Bei sowas geht kein Weißling in die Reusen, geschweige denn ein speckleibiger Karpfen. Und Ihre Präsentation wertet ebenso viel wie ein speckleibiger Bratfisch, ist Himmelsbrot, die Anwartschaft auf ein glückliches Dasein. Unter allen Umständen – das Amt muß Ihnen werden, und ich höre Sie schon von der Kanzel dozieren, das Wort Gottes verkünden und die Herzen hiesiger protestantischer Gemeinde erfreuen.«
»Gott füge es,« sagte Benjamin in gehobener Stimmung.
»Aber das nicht allein,« fuhr der Alte unbeirrt fort. »Ein regelrechter Pastor hat noch andere Pflichten, Pflichten gegen sich selbst und solche, die auf die kommenden Tage hinweisen. Ich frage sine ira et studio: Haben Sie noch niemals Umschau unter den Töchtern des Landes gehalten, nicht erörtert, wie es sich leben läßt zwischen einem Männlein und einer Vertreterin der anderen Gattung? Ohne weibliches Wesen im Hause ist ein priesterliches Amt nur ein halbes und nicht als völlig einwandfrei zu erachten. Ein kluges und schönes Weib ist wie ein fruchtbarer Rebstock über der Türe. Wachset und mehret euch. So gebietet der Herr, denn seine Weisheit und Güte währen ewiglich. Ja, so ein fruchtbarer Rebstock! Er apothekert nach allen Wohlgerüchen und Ingredienzien des gelobten Landes. Unter seinem Laubwerk ist wohlsein. Also – ich frage: Hat Ihr Herz noch keine Bestimmung getroffen, sich noch nicht mit den subtilen Mysterien der irdischen Liebe beschäftigt?«
Benjamin stutzte und schien die Dielenritzen in der umdämmerten Stube zu zählen. Seine Gedanken schweiften ab, liefen in neblige Fernen, als wären sie gezwungen auf seltsame Stimmen zu hören, auf seltsame Stimmen, weit fort und jenseits eines verwunschenen Waldes.
Dann sagte er zögernd: »Nur leise, nur theoretisch, nur auf den kaum wahrnehmbaren Schwingungen seliger Dichtkunst. Ich denke dabei in erster Linie an Christoph Martin Wieland, an die ›Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva‹, an die Geschichte in der Geschichte, an die lieblichen Gespräche und Amouren des Prinzen Biribinker und der schönen Fee Kristalline, an das ergötzliche Getön von Liebesschellen, die den wundersamen Melkeimer der köstlichen Galactine umklingelten. Und ferner . . .«
»Wahr, sehr wahr!« unterbrach ihn der Alte. »Nicht von der Hand zu weisen. Als Präliminarien, um die Sinne anzuregen, von großer Bedeutung. Wieland verstand seine Leute. Er kitzelte sie mit Pfauenfedern und umduftete sie mit Veilchensträußen, gleichsam wie Elagabal, der Enkel der Großmama Mäsa, seine Opfer mit Pfauenfedern kitzelte und mit köstlichen Veilchensträußen umduftete. Alles wie aus einem Zauberkasten genommen. Aber die Praxis! Sie hinkte bei ihm, oder besser gesagt: sie fehlte diesem gesprächigen Alten, und ohne diese ist alles Tun nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.«
Er schwieg, um das Dargelegte besser wirken zu lassen.
Es war mittlerweile dunkel geworden. Graue Fäden nestelten sich durch das umdüsterte Zimmer. Kaum noch war eine Hand vor den Augen zu sehen. Draußen standen die Bäume noch immer in flüsternden Regenmänteln. Aber sie tropften nur noch. Der Regen hatte nachgelassen, dann aufgehört. Nach Westen zu klärte das Wetter auf. Die Wolken verteilten sich. Ein Stück des Himmelsgewölbes kam allmählich zum Vorschein. Der Abend sah ernst durch die Scheiben.
Und wieder erhob sich die mächtige Stimme und sagte, was sie bereits kurz zuvor dargetan hatte: »Aber die Praxis! Ohne diese ist alles Tun nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Können Sie sich nicht auf andere Autoren berufen, auf solche, die sich weniger sinnlich, aber desto gediegener und familiärer geben?«
Benjamin Seraphikus Rückert atmete schwer und reckte sich auf: »Allerdings. Neben Wieland habe ich auch meinen Schiller gelesen.«
»So muß ich denn sagen: Euch gab Gott eine wundersame Tochter, Magister.«
Der Alte kullerte in sich hinein, aber vergnüglich, und meinte mit dem Brustton der Überzeugung: »Gab er, und sie heißt gleichfalls Johanna. Gut bemerkt, Herr Adjunktus. Zu finden im Prolog der Jungfrau von Orleans. Wir wollen's im Auge behalten und nicht auf die lange Hobelbank schieben, denn wie schön sagt Simon Dach:
Der Mensch hat nichts so eigen,
So wohl steht ihm nichts an,
Als daß er Treu' erzeigen
Und Freundschaft halten kann,
und eheliche Liebe,« setzte er vielsagend hinzu, »denn ohne diese kann der Rebstock über der Türe nicht in ein erbauliches Sprießen geraten. Wer ihn pflegt, dem träufelt die Kelter, wer ihn rechtzeitig unter das Messer nimmt, hat dreißigfältige Frucht zu erwarten. Und diese ist süßer denn Honigseim. Wer von ihr isset, der hungert immer nach ihr. Wer von ihr trinket, der dürstet allzeit nach ihr,« und wiederum ertönte die schöne siderische Orgel: »Ja, Reverendissime, wir wollen's im Auge behalten – das mit Johanna. Inzwischen lesen sie nebenher in den ›Abenteuern des Don Sylvio von Rosalva‹, Geliebter. Diese Lektüre erheitert und bleibt, abgesehen von einigen sittlichen Mißhelligkeiten, immerhin das Sprungbrett für weiteres Schaffen. Doch Hauptsache ist: erst in Amt und Würden. Das andere findet sich später. Dann aber hurtig, sonst könnte es immer passieren: Dum Roma deliberat, Saguntum perit, und ich hoffe zu Gott: Sie werden in den nächsten acht Tagen die bewußte Eingabe sub petito remissionis mit einer persönlichen Note versehen. Denken Sie dabei an Ihre hochmögende Blutsverwandte, an Katharina Gräfin von Kolbe-Wartenberg, an das Basrelief, den Premierminister, an Friedrich den Einzigen, den gloriosen König von Preußen.«
Das Sponton hob und senkte sich wieder.
»Reverenz dem Monarchen! Neben kleinen Schwächen, die ihm anhafteten, war er kein Sauerampfer, besaß er ein gerüttelt Maß ehrenwerter Eigenschaften und Kompläsanzen. Ihm sei die Ehre. Auch der galanten Gräfin, dem Pitt Rückert die seine. Denken Sie stündlich daran. Das strafft und stählt Ihren Nacken und befähigt Sie, mit Kraft und Meriten vor Dirk Negels Baron van Klabasterboompjes zu treten. Hals muß er geben. Und damit will ich mich empfohlen halten für heute.«
Er stellte die Pfeife beiseite, nahm Abschied und ging seines Weges.
Benjamin trat wieder ans Fenster und hörte, wie die barschen Schritte des Magisters draußen verhallten.
Nun war es völlig Abend geworden. Dunkle Krähen- und Dohlengeschwader strebten langsamen Fluges über den regenschweren Wäldern von Aldekerk dem tiefen Westen zu.
Über den kleinen Häusern, die schattenhaft in der Niederung lagen, erhob sich ein mattes Leuchten und Scheinen. Der Mond war im Aufstieg begriffen. Vereinzelte Wolkenstreifen trieben vorüber. Zwischen ihnen begannen kleine, winzige Sterne zu flinzeln. Benjamin dachte bei ihrem Anblick an den skurrilen Mann, der ihn soeben verlassen hatte, an seine einzige Tochter Johanna, die Haare von der Farbe des reifen Weizens hatte und Augen, die einem nachts im Traume erschienen. Sein kindliches Gemüt irrte ab, erging sich unauffällig in bukolische Gefilde. Irgendwoher hörte er eine Gitarre singen. Er erinnerte sich dabei des Gedichtes des Wandsbeker Boten, das der Magister des öfteren zu deklamieren pflegte, altmodisch, mit Lavendelwasser durchtränkt und im Tone längst dahingegangener Tage.
Er faltete denn auch die Hände und sagte mit Weihe und Andacht:
»Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.«
Ein verlorener Mondenstrahl fiel in diesem Augenblick über ein glückliches Antlitz.