Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die kleine Prinzessin.


1.

Ein krachendes Donnerwetter zog über den Wald hinweg. Aber es regnete nicht; nur ein frischer Wind schüttelte die Äste der Bäume. Es waren lauter hohe, alte Bäume, Eichen und Buchen, darunter eingesprengt einzelne Tannen und Fichten, was man einen gemischten Bestand nennt. Am Boden hohes Gras und auf einzelnen Strecken hohe Farrenkräuter. Diese mit den Tannen und Fichten mußten die Farben liefern, denn es war zeitiges Frühjahr, und die Eichen und Buchen hatten es kaum zu Knospen gebracht.

Auf einem schmalen Rasenwege mitten durch diesen Wald kamen zwei Reiter geritten, einer hinter dem andern. Will sagen der Herr und sein Diener, der Graf von der Warren und sein Reitknecht.

Sie ritten sehr langsam, und der Graf sah zur schwarzen Gewitterwolke hinauf, als wollte er sie fragen: Na, hast du einen Blitz für mich? Ich muß es mir gefallen lassen; aber willkommen wäre er mir nicht. Ich will weiter leben, obwohl ich schon mancherlei erlebt habe, und ich will wie bisher heiter leben. Wenn das aber nicht mehr angehen sollte, nun dann schlag' zu, Blitz und Donner!

Ja, er war eine ziemlich verwegene Natur, dieser Graf von der Warren. Das wußten besonders die Weiber, bei denen er für gefährlich galt, auch jetzt noch, obwohl er schon über vierzig Jahre alt war und sein dunkler Lockenkopf an den Schläfen schon weiße Spitzen zeigte. Das Schnurrbärtchen – und viel mehr trug man damals nicht, wenn man nach französischer Mode elegant war – das Schnurrbärtchen und der Henriquatre hatten noch unbeschädigte schwarze Farbe. Ebenso schwarz waren die starken Augenbrauen, unter denen lichtgraue Augen hervorblitzten. Der ganze Kopf war scharf geschnitten, mit Adlernase, großem Munde und stark hervortretendem Kinn. Der hochgewachsene Mann auf starkem Rosse kam daher durch den Wald wie ein Herr, welcher bereit ist, die Vorteile der Welt in die Tasche zu stecken, wenn's auch einige Übeltaten kosten sollte. Darauf schien es ihm gar nicht anzukommen.

Da sprach die schwarze Wolke vom Himmel herab: Nein! Unter furchtbarem Krachen fuhr ein Blitz hernieder, daß der schwere Gaul hoch in die Höhe bäumte – aber es schien nur eine Warnung zu sein, und der Graf hatte Glück. Der Blitz hatte dicht neben ihm in einen alten Eichenstamm geschlagen. Der brannte auf, und neben ihm trat ein junger Bursch aus dem Walde, der fiel vor Schreck auf die Erde.

Nach kurzer Pause – der Graf hatte sein Pferd niedergerissen zu ruhigem Stehen – lachte er laut auf und rief: »Na, Junge, wenn du nicht getroffen bist, so steh' auf!«

Der Junge stand langsam auf, befühlte seine Gliedmaßen und stöhnte halblaut: »Ich bin wohl heil geblieben.«

»Wo kommst du her?«

»Vom Dohnenstrich, den wir anlegen wollten.«

»Viel zu früh im Jahr, Dummkopf! Wie steht's drunten im Jagdhause? Ist der Fürst mit Familie wirklich da, wie mir drin im Schlosse gemeldet wurde?«

»Ja freilich! Zur Auerhahnbalz, 's ist auch Besuch da.«

»Wer?«

»Vornehmer Besuch. Der Herr Kurfürst von drüben mit seinem Herrn Bruder und mit Gefolge.«

» Diable! Was wollen denn die?«

»Heiraten wollen sie.«

»Bist du verrückt?«

»Ich glaub' nicht.«

»Die Vrony wollen sie heiraten?«

»Ja, unser Prinzeßchen, die Vrony.«

»Wer will? Der Kurfürst oder sein Bruder?«

»Alle beide wollen.«

»So ist's recht, dann tut's keiner. Jetzt wird's aber an Platz fehlen für mich und meine Pferde.«

»O, die Stallung ist groß.«

Der Graf lachte über das Logis, welches ihm der Junge zudachte, und fragte weiter: »Und wie geht's der kranken Frau Fürstin?«

»Besser, seit sie hier im Walde wohnt.«

»Und euer Prinzeßchen, ist sie noch gewachsen?«

»Na, das glaub' ich! Und dicker ist sie geworden.«

Der Graf lachte wieder, spornte sein Pferd und ließ den Jungen hinter sich zurück.

Dieser sah ihm lange nach mit einem recht dummen Gesichte. Er galt auch für dumm und hieß Nikodemus. Am dümmsten war er immer, wenn dieser Graf Warren in seine Nähe kam, denn dieser Graf pflegte ihn aufzuziehen und ihn spöttisch »junger Prinz« zu nennen. Weil der Vater des einfältigen Jungen unbekannt war, gab der Graf immer recht deutlich zu verstehen, der Reichsfürst Immanuel XIX. selber habe des Nikodemus hübsche Mutter, die Köchin Susanne, in früherer Zeit geradezu schön gefunden. Er hatte eben eine böse Zunge, dieser Graf.

Immanuel XIX. lachte zu solchen Späßen. Er war ein sehr leutseliger Herr, welcher sein Fürstentum populär verwaltete. Es war allerdings klein, dieses Fürstentum, und bestand vorzugsweise aus Wäldern, welche nicht viel einbrachten. Obwohl man damals, zu Anfang des 18. Jahrhunderts, noch keine Kohlen kannte, war doch das Holz sehr wohlfeil, und weil die Fahrwege im ganzen heiligen römischen Deutschen Reiche sehr schlecht waren, so konnte man es nicht weit ausführen. Aber hübsch war das kleine Fürstentum bei alledem mit seinen alten Waldungen und grünen Wiesen, und selbständig war es auch, denn das Reich hatte wenig Recht und noch weniger Macht, sich in die Regierung der zahlreichen Fürstentümer und Herrschaften einzumischen. Selbst solch ein kleiner Reichsfürst war ein ganz vornehmer Herr und galt in ganz Europa für einen standesgemäßen Souverän. Das Deutsche Reich war eben das älteste, geschichtlich vornehmste Staatsgebilde in ganz Europa, wenn es auch seiner inneren Machtzersplitterung halber nicht für sehr mächtig galt.

Als Graf Warren aus dem Walde herauskam, war die Gewitterwolke seitab gezogen und die Sonne bestrahlte eine weite Wiesenfläche und eine Allee von hundertjährigen Bäumen, welche zum Jagdhause des Fürsten Immanuel XIX. führte. Sie war sehr lang, diese Allee, und war von Linden gebildet, deren Laub erst dürftig knospete. Aber eingefaßt war diese Allee und neben ihr die breite Wiese von Waldhügeln wie von einer dunkeln Mauer. Am Ende der Allee lag im Sonnenlichte das fürstliche Jagdhaus, eine verworrene Sammlung von einstöckigen Häusern, welche der Allee den Rücken zukehrten.

Als der Graf im Schritt herangeritten kam, fand er vor den Gebäuden um einen Schießstand gruppiert einen Trupp Leute, ersichtlich Jägersleute, welche einen Kreis bildeten. Inmitten dieses Kreises, am Pfosten des Schießstandes, stand ein stattlicher Mann in schlichter Kleidung und hohen Wasserstiefeln. Obwohl er der Herr war, trug er doch keine Perücke, die als Allongenperücke damals noch Mode war. Er sprach mit starker Stimme und entließ die zuhörenden Leute, als der Graf nahe war, diesen mit Hand und Mund herzlich begrüßend. Es war der Reichsfürst Immanuel XIX.

»Du kommst, junger Freund« – er war um zehn Jahre älter als der Graf – »nicht gerade zu guter Stunde. Bei dem verrückten Wetter, das ein Gewitter bringt, ehe das Buchenlaub heraus ist, balzen die Hähne (er sagte Hahnen) ohne Ordnung und Verstand. Gestern hat einer am hellen Mittage auf einem Zaune gebalzt. Meine Gäste, der Kurfürst und sein Bruder, haben noch nicht einen einzigen geschossen. Freilich sind sie lateinische Schützen. Und ich habe eben meinen Jägern eingeschärft, heut' abend mit vorgehaltenen Ohren zu verhören, damit die Herren doch morgen früh noch einmal leicht zum Schuß kommen können. Sie wollen morgen vormittag fort bis nach Paris. Schade ums Geld! Du, Warren, wirst mit hinaus müssen bis zum alten Teich. Dort fällt jeden Abend ein alter Hahn ein. Der dumme Kerl ist klug, weil er alt ist, und braucht zum Ansprung einen gewitzten Jäger, wie du einer bist. Jetzt steig' nur ab! – Heda! führt die Pferde und den Reitknecht in den Stall des Gärtners, dort wird noch Platz sein. – Der Kurfürst hat einen ganzen Marstall mitgebracht, er ist halt fürs Prächtige, du selbst, Warren, kannst nur ein kleines Zimmer kriegen, aber du kriegst eins.«

Hier nun nahm er den Grafen unter den Arm und führte ihn nach seiner Behausung. Er unterrichtete ihn bei diesem Gange vom Stande der Dinge im Jagdhause.

Der Stand der Dinge war einfach der, daß er seine Tochter Veronika, sein einziges Kind, mit dem benachbarten Kurfürsten verheiraten wollte.

»Aber die Geschichte geht, wie die Auerhahnjagd in diesem Jahre, nicht von der Stelle. Es wird nicht losgeschossen, und wenn einmal jemand schießt, so trifft er nicht. Um die Wahrheit ganz zu sagen, meine gute Frau ist schuld daran.«

»Oh! – Und wie steht's mit ihrer Gesundheit?«

»Ich fürchte, Freund, bedenklich. Mit mir wär's aus, wenn ich die Frau verliere. Ich hab' sie hier herausgebracht wegen der Tannenwälder rings auf den Hügeln. Von denen bringt der Wind den Harzduft herunter, besonders wenn der Maiwuchs eintritt. Das ist probat für die kranke Lunge. Eigentlich geht's ihr schon um vieles leichter, aber in der Heiratsgeschichte bleibt eben Natur Natur. Die vertrackte Bildung, wie sie's heißen, ist nicht auszutreiben. Du weißt, die verstorbene Mutter des Kurfürsten, die Schwester meiner Frau, strotzte von sogenannter Bildung, und ihr Sohn, der Kurfürst, hat gehörig davon angezogen. Das trifft nun zusammen, denn meine Frau – Gott erhalte sie nur! – ist eben die Schwester der verstorbenen Kurfürstin, sie strotzt auch von Bildung und sieht das Gras wachsen, wie es nach einigen Jahren der jungen Ehe wachsen wird, und sie hält – es ist zum Teufelholen! – den Kurfürsten immer noch auf, wenn er sich endlich einmal ein Herz faßt und sich erklären will.«

»Liebt er denn deine Vrony?«

»Freilich liebt er sie. Sie sind ja von Jugend auf viel zusammen gewesen, weil die verstorbene Kurfürstin oft herüberkam mit ihren Söhnen. Und wer soll denn meine Vrony nicht lieben, wenn er sie kennt!«

»Und wie verhält sich denn die Vrony zum Kurfürsten?«

»Ach, die Vrony ist noch ein Kind mit achtzehn Jahren. Sie tollt mit ihm herum, sie spielen wie die Kinder, und sie hat ihn herzlich gerne, das ist gar keine Frage. Aber ich weiß nicht, ob das Mädel schon ernsthafte Gedanken hat in Sachen der Zärtlichkeit und des Heiratens. Da muß er doch anfangen und sich ums spätere Gras nicht kümmern. Kurzum, da er seiner Mütter Sohn ist, so geht, fürcht' ich, die Sache in die Brüche, wenn sie nicht bis morgen vormittag fertig wird.«

Das war dem Grafen Warren ganz recht, denn er hatte auch ein Auge auf die Veronika. Abgesehen von Geld und Gut – er hatte seine Grafschaft durch kostspieliges Herumreisen arg heruntergebracht – empfand er ein kurioses Herzensinteresse für die kleine Prinzeß. Ja, das empfand er, obwohl er viel geliebt hatte. Er hatte sie heranwachsen sehen, und im vergangenen Jahre war er ganz überrascht davon gewesen, eine liebreizende Jungfrau vor sich zu erblicken, liebreizend durch Unschuld, Munterkeit und Mutterwitz, Eigenschaften, welche ihm ganz neu vorkamen neben seinen bisherigen Liebschaften. Ältere Liebhaber sollen am sichersten gefesselt werden durch die unbefangene Frische junger Mädchen.

Er nahm sich also vor, Mutter und Tochter und Kurfürsten aufmerksam zu unterstützen in ihrer Unentschlossenheit, damit der Kurfürst von dannen fahre ohne eine feste Verbindlichkeit.

Die Dinge standen indessen nicht ganz so, wie Immanuel XIX. sich vorstellte, und während er seinen neuen Gast, den Grafen, in ein Zimmer brachte, ereigneten sich auf der Vorderseite des Jagdhauses Szenen, welche bemerkenswert waren.

Die Vorderseite des Jagdhauses war ziemlich breit und enthielt Zimmer rechts, in denen der Reichsfürst mit seiner Familie wohnte, links Zimmer, in denen der Kurfürst mit seinem Bruder hauste. Dazwischen lag ein kleiner Speisesaal. Aus dieser Vorderseite blickte man auf eine große Wiese, welche bis zum Walde hinaus reichte. Trat man nach der Rückseite aus diesem Speisesaal, so kam man in einen langen Hof, der hinten an den Wald hin offen war und rechts und links von kleinen Häusern und Stallungen gebildet wurde.

Von jenem kleinen Speisesaal führten vorn hinab über eine steinerne Veranda einige Stufen auf die große Wiese. Hier lag jetzt der volle Sonnenschein, und hier spielten die vornehmen jungen Leute, der Kurfürst, sein Bruder und Prinzeß Veronika, Ball miteinander.

Das Spiel wurde eben unterbrochen dadurch, daß jeder der Brüder ein Schleiertuch erhaschen wollte, welches Vrony in der Luft schwenkte, indem sie davonlief. Sie lief nach der Veranda vor dem Speisesaale: dort erreichte sie der Kurfürst. Sie überließ ihm das Schleiertuch und lief in das Haus hinein.

Atemlos standen der Kurfürst und sein Bruder nebeneinander, und als Vrony auch aus dem offenen Speisesaale verschwunden war, sprach der Bruder Friedrich mit kaum zureichendem Atem zuerst. Er war eine stramme Gestalt und hatte auch ein strenges Gesicht, in welchem jedoch bei ruhiger Laune gern humoristische Lichter umhersprangen. Jetzt sah er sehr ungehalten aus über den älteren Bruder, und er sprach zu Anfang stockend, aber allmählich fließend: »Hör' mal, Herr Bruder Kurfürst – das wird zu arg!«

Der ältere, der Herr Bruder Kurfürst, ein schlank gewachsener junger Herr, lachte und fragte, als ob er überrascht wäre: »Was denn?«

»Du hast das Glück, der Erstgeborene zu sein. Dir fällt also jegliche Aufmerksamkeit zu und ein ganzes Reich, während unsereiner von Kindesbeinen an nur vom Abfall deiner Tafel leben muß.«

»Oho! Du willst dich doch nicht auflehnen gegen die Staatsordnung?«

»O nein! Dafür bin ich viel zu schwach und zu gutmütig. Gegen Staats- und Standesordnung hab' ich auch nichts einzuwenden. Aber mein Herz empört sich gegen Herrschsucht, welche darüber hinausgeht.«

»Und das wäre?«

»Die Neigung ist es, die Herzensneigung. Die hast du nicht auch geerbt. Die steht mir, dem Braunen, so gut zu wie dir, dem Blonden, und in diesem Revier sollst du nicht auch den Herrn spielen wollen gegen mich.«

»Erklärt Euch deutlicher, unruhiger Herr Bruder!«

»Du darfst dir eine Gemahlin wählen, wie und wo du willst. Aber du darfst dabei nicht falsch spielen!«

»Wo tät' ich das?«

»Hier! Hier das junge Prinzeßchen willst du in der Geschwindigkeit betören. Das liebe Kind gefällt dir augenblicklich, weil du gerade nichts Besseres in der Nähe hast, und du willst ihr Aussicht eröffnen auf deine kurfürstliche Hand, weil dir just eine empfindsame Wallung über die Leber läuft?«

»Fritz!«

»Jawohl, es ist so. Und das ist nicht recht! Damit täuschest du die braven Eltern und am Ende auch das arme Mädchen.«

»Ich täusche?«

»Ja, du täuschest, und damit schiebst du andere ehrliche Freier – ich sage ehrliche! – zum Hause hinaus. Denn wo ein regierender Herr die Miene des Brautwerbers annimmt, da werden die kleinen Leute kurz abgefertigt. Wenn du dann verschwindest –«

»Warum soll ich denn verschwinden?«

»Du verschwindest, ich kenne dich! Du heiratest dein Lebtag nicht die Vrony, das kleine Prinzeßchen, das gar nicht zum Herrschen und Glänzen erzogen ist.«

»Fritz, du tust mir weh.«

»Die Wahrheit tut manchmal weh.«

»Denn es ist unrichtig, was du da behauptest.«

»Wahrhaftig, du willst also nicht um Muhme Vrony werben?«

»Ich will um sie werben.«

»Na, da haben wir's ja, tausend Element!«

»Aber ich will um sie werben im heiligsten Ernste.«

»Oh!«

»Ich liebe sie und sie soll meine Gemahlin werden.«

»Bruder Karl, täusche dich nicht selbst und mache mich nicht unglücklich.«

»Dich?«

»Ja.«

»Liebst du sie denn auch?«

»Das fragst du? Das weißt du nicht? Da zeigt sich der Grad deiner Liebe, da zeigt er sich ja! Wenn du sie wirklich liebtest, da hätte dir doch die Eifersucht sagen müssen, daß ich –«

»Beruhige dich! Die Eifersucht hat mir davon gesprochen, aber sie hat lächelnd hinzugesetzt: Dein Bruder Fritz ist ein leichtsinniger Bursche und ein so lustiger Gesell, daß eine rasche Zärtlichkeit ihm nicht lange zu schaffen macht.«

»Das ist eine ganz oberflächliche Eifersucht, die so spricht, und meinen Charakter kennt sie gar nicht. Man kann lustig sein, und doch ernsthaft lieben. Ich liebe Vrony ernsthaft und kann sie glücklich machen, wenn du nicht phantastische Hoffnungen in ihr aufregst. Für dich paßt sie nicht, nein! Du brauchst eine vornehme, imponierende Frau, mit der du Staat machen kannst.«

»Als ob ich ein eitler Geck wäre!«

»Das bist du nicht. Aber du brauchst das Lob der Menschen, und brauchst eine Frau von vornehmer Bildung. Um was man dich nicht zu beneiden scheint, das hat auf die Länge keinen Wert für dich. Und um dies arme Prinzeßchen ohne vornehme Bildung beneidet dich kein Mensch. Das wird dir noch vor der Hochzeit klar werden, und die Hochzeit wird deshalb zunächst verschoben werden, und am Ende wird sie ganz unterbleiben. Dadurch aber wirst du die Vrony und mich auseinander gebracht und uns beide unglücklich gemacht haben. Straf' mich Gott! Ich liebe dich von Herzen, Bruder Karl –« und dabei ergriff er dessen beide Hände – »und es gibt ja auch keinen besseren, liebevolleren Menschen als dich. Darum tu' deinem Bruder den einzigen Gefallen! Sprich keine Werbung aus, bis wir von Paris zurückkommen. Willst du nach Verlauf eines Jahres noch, was du jetzt willst, dann will ich mich in dir geirrt haben und will bescheiden zurücktreten mit meiner stillen Hoffnung. Versprich mir's!«

»Guter Fritz! Ich freue mich herzlich, dich einmal in so ernstlich scheinender Wallung zu sehen. Sie steht deinem leichten Humor so gut, wie dem Baum des Waldes die Blüte. Eine genießbare Frucht wird zwar nicht daraus, aber trotzdem macht doch die Blüte einen scharmanten Eindruck.«

»Du wirst beleidigend, und ich gehe entrüstet.«

Damit wendete er sich nach der Wiese hinaus, kehrte aber noch einmal um und kam zurück, kam ganz nahe zu dem lächelnden Bruder und sagte ihm halblaut ins Ohr:

»Wehe dir, wenn du nicht wenigstens glücklich wirst, falls du andern ehrlichen Leuten das bißchen Lebensfreude verdirbst, du ungeratener Bruder und Kurfürst!«

Und nun ging er mit langen Schritten in den Wald hinauf.

Kurfürst Karl sah ihm lange nach. Auf seinem edel geschnittenen Antlitze spielte sich eine warme Empfindung. Sein großes blaues Auge leuchtete, um seinen kleinen Mund und dessen blondes Bärtchen spielte ein zufriedenes Lächeln, und er sagte leise vor sich hin:

»Braver Bruder! Er glaubt wirklich die Vrony zu lieben und beweist mir dadurch nur, daß sie wirklich liebenswert ist.«

Da kam Vrony zurück in den kleinen Speisesaal und trat an die Tür nach der Wiese. Sie war im Seitenzimmer bei ihrer Mutter gewesen, um diese zu fragen, ob sie heute, am letzten Tage des kurfürstlichen Besuches, so weit frisch wäre, um zur Tafel zu kommen. Sie kam sehr glücklich zurück, denn die Mutter hatte »ja« gesagt.

So strahlte denn auch ihr anmutiges Gesicht von stiller Freude. Man konnte es nicht schön nennen, dies Gesicht, aber es war sehr angenehm durch einen stets wohlwollenden, freundlichen Ausdruck, welcher aus den großen blaugrauen Augen wie ermunternd sprach und um den Mund liebreich spielte. Auch dieser Mund war nicht gerade klein zu nennen, und dessen Lippen waren schmal, aber diese Lippen waren frisch und rot, und perlenweiße Zähne lachten hinter ihnen. Dazu eine lebhafte, kräftige Farbe des Antlitzes, ein reiches, braunes Haar und eine volle Mittelgestalt, eng bekleidet von der Bauerntracht. Sie kleidete sich nämlich wie die Landmädchen, und das hellblaue Wollengewand, zierlich dunkelblau gerändert, ließ sie wie ein vornehmes, bildsauberes Bauernmädchen erscheinen. So stand sie, eine Waldblume im Haare, unter der Tür und rief heiter hinab:

»Aber Vetter, Ihr habt Euch doch nicht gezankt? Der Fritz macht ja da drüben so ellenlange Schritte, als ob er verfolgt würde, und geht in den Wald, wo er doch vor heut' abend zum Ansitze oder morgen früh zur Balz nichts zu tun hat. Am Ende hört er die Tischglocke nicht – was heißt denn das?«

Der Kurfürst hatte sich gewendet und sah schweigend zu ihr hinauf. Er war entzückt von ihrem Anblicke. Die Sonne, eine Zeitlang hinter leichten Wolken, trat eben hervor und bestrahlte sie mit vollem Glanze. Die rosige Jugend des Landprinzeßchens wich diesem Glanze nicht, sondern nahm ihn auf wie zusagende Beleuchtung.

»So sei denn die Lebensfrage im Sonnenscheine entschieden, und ich denke zum wärmsten Glücke!« sagte der Kurfürst leise und stieg langsam hinauf.

»Wir haben uns wirklich gezankt,« sagte er erst oben zu der auf die Veranda heraustretenden Vrony, »aber es ist zum Guten ausgegangen.«

»Dann ist's recht. Ich komme von der Mama, und ich glaube auch: 's wird alles gut.«

»Das glaub' ich auch.«

»So munter wie heute hat sie lange nicht ausgeschaut, und ihre ganze Haltung ist so gewiß entschlossen, wie ich mich gar nicht erinnere, sie gesehen zu haben. Sie hat auch ihren alten Freund, den General Wolkenburg, rufen lassen, der heute schon abreist.«

»Den alten Brummbär?«

»Ja. Und zu Tisch will sie kommen, und nach Tisch will sie allein mit Ihnen reden, Herr Vetter Kurfürst.«

»Mit mir?«

»Ja. Abends gehen Sie vielleicht zum Ansitz hinaus, um doch endlich einen Hahn, wenn auch einen stillen, zu schießen, und morgen früh auch noch einmal, und dann reisen Sie gleich fort. So lange kann sie aber nicht aufbleiben, und so früh kann sie nicht aufstehen. Also will sie heute nach der Tafel Abschied nehmen von Ihnen.«

»Die gute Mutter!«

»Nicht wahr, Gott wird sie uns erhalten?«

»Wir wollen ihn herzlich darum bitten.«

»Und wenn er wiederkommt aus Paris, dann wird der Herr Vetter Kurfürst nicht stolz vorbeireisen, sondern wird wieder bei uns einsprechen und wird uns erzählen von all der Herrlichkeit, die er gesehen und erfahren hat. Nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Nicht stolz werden, lieber Vetter! Bitte, nicht stolz werden! Wir haben Sie ja alle so lieb.«

»Alle? Wirklich alle?«

Dabei ergriff er ihre Hand, sie hatte eine wunderschöne weiße und jetzt warme Hand, und die sonst so unbefangene Vrony wurde jetzt ganz rot bei seiner Berührung und sagte mit fast versagender Stimme:

»Freilich alle! Was das für eine Frage ist!«

»Auch Vrony, mein Mühmchen?«

»Natürlich! Und die –« da holte sie tief Atem – »die erst recht!«

»Und wenn unterdessen ein anderer junger Fürst einspricht hier im Jagdhause, ein recht schöner und liebenswürdiger, und dem Mühmchen schöne Dinge sagt –«

»Na, was weiter?«

»Und ihr Herz und Hand anbietet?«

»Ach, warum nicht gar!« Und dazu lachte sie.

»Was würde dann Mühmchen Vrony tun?«

»Was sie tun würde? Das möchten Sie wissen?«

»Ja, das möcht' ich wissen.«

»Na, Vetter –« und dabei wurde sie sehr munter und setzte sich auf die Steinbank der Veranda und zog ihn unwillkürlich leise an ihre Seite nieder, denn er hielt sie noch an der Hand – »sehen Sie, Herr Vetter, das Mühmchen, die Vrony, die gar nicht so dumm ist, wie sie ausschaut, sie würde dem neuen und schönen jungen Fürsten geradeaus ins Antlitz sehen – nein – Ihnen nicht, Sie müssen jetzt geradeaus sehen – so! – und meine Hand frei lassen, sonst bringen Sie mich aus dem Texte –«

»Also?«

»Also – nicht herumgucken! – Sie würde sagen: Kennen Sie meinen Vetter, den Herrn Kurfürsten Karl? Und wenn er sagte: Ja, ich kenne ihn – dann –«

»Dann?«

»Dann wären wir bald fertig miteinander, denn alsdann würde er ja gleich einsehen, daß er sich mit dem nicht – aber nein, das brauchen Sie nicht zu hören.«

»Warum nicht?«

»Geradeaus schauen!«

»Ja.«

»Wenn er Sie aber nicht kennt, dann würde ich sehr weise sprechen.«

»Was denn?«

»Schöner Herr Fürst, würde ich sprechen, glauben Sie nur ja nicht, daß Sie allein schön sind. Behüt's! Da schauen Sie nur meinen Herrn Vetter Kurfürst an, der hat ein Paar Augen im Kopfe –«

»Was denn für welche?«

»Geradeaus! Sonst sind die Augen nicht mehr –«

»Wie denn?«

»Gut und treuherzig.«

»Ich sehe ganz geradeaus.«

»'s ist recht. Und was das Herz betrifft, das hat mein Herr Vetter von ganz besonderer Art –«

»Besonderer?«

»Ja. Er kann nicht einmal einem Tiere weh tun. Darum schießt er auch auf der Jagd immer vorbei.«

»Oho!«

»Viel weniger kann er einem Menschen weh tun. Nein, er ist seelensgut.«

»Mein liebes Mühmchen!«

»Still! Ich bin noch lange nicht fertig. Jetzt komme ich erst an den Kopf. Oh! werd' ich sagen, mein Vetter hat einen Kopf, vor dem selbst mir mitunter bange wird.«

»Bange?«

»Ja, bange. Denn da ist soviel hineingepflanzt worden, daß ein einfältiges Landmädchen erschrickt.«

»Erschrickt?«

»Freilich, weil sie sich schämt und sich fürchtet. Sie schämt sich, daß sie so wenig gelernt hat, und sie fürchtet sich, daß er sie deshalb auslachen und geringschätzen möchte, wenn er dahinter kommt, wie unwissend und ungeschickt sie ist.«

»Das wird er nie!«

»Das wird er wohl. Aber der schöne Herr Fürst – der andere – wenn er das alles gehört hat, wird sich auch schämen und fürchten vor dem ausgezeichneten Herrn Vetter Kurfürsten und wird eingestehn, daß er ihm nicht das Wasser reichen könne. Und während er sich schämt, wird auf einmal das Posthorn schmettern aus dem Walde herunter, und ein Wagen mit vier Pferden wird herangepoltert kommen, geraden Weges von Paris, und der Herr Kurfürst wird drin sitzen in all seiner Pracht und mit der Hand von weit, weit her schon winken, und wenn er nahe ist, da wird er rufen: Mühmchen Vrony, ich bring dir ein seiden' Kleid mit und mein gutes Herz ganz unversehrt – ja, wird er das, der Herr Vetter Kurfürst?«

»Er wird's, mein Engel, er wird's gewiß!«

Und jetzt riß es ihn fort, er sprang auf und wollte das liebe Kind, welches ebenfalls aufgestanden war, er wollte es herzlich umarmen – da ging hinten im kleinen Saale die Tür auf, und Immanuel XIX. kam mit dem Grafen Warren.

Vrony machte dem alten Bekannten schnell einen Knix und lief über und über rot davon.

Der Kurfürst jedoch blieb ruhig stehen und ließ die Männer zu sich herankommen, vor sich hin aber sagte er: »Du liebst mich, gütiger Gott, denn du schenkst mir einen Engel zur Gefährtin.«

 

2.

Es ging eigentlich ziemlich still zu an der Mittagstafel im Jagdhause. Die Sonne lag draußen fest auf der Wiese, die Winde schwiegen in den Lüften, und im kleinen Speisesaal war nur der Reichsfürst selbst, Immanuel XIX. mitunter laut, indem er die Gäste zu fleißigem Trinken aufforderte. Er ermangelte dabei nicht, mit gutem Beispiele voranzugehen.

Er war ein stattlicher älterer Herr mit großen fröhlichen Augen, mit starker Nase und großem Munde. Dieser Mund war voll von wohlerhaltenen Zähnen und atmete eine gerechte Behaglichkeit, welche durch nichts weiter beeinträchtigt wurde, als durch die große Allongenperücke der damaligen Mode. Sie belästigte ihn, und er haßte sie überhaupt. Aber heute wieder hatte er sie aufsetzen müssen auf das bestimmte Verlangen seiner Gemahlin. Diese von ihm verehrte Frau störte ihn sonst nicht in seinem Bedürfnisse absoluter Bequemlichkeit, welche von der sogenannten Repräsentation als fürstliche Figur gar nichts wissen wollte. Aber heute, bei so vornehmem Besuche und bei der Abschiedstafel, hatte sie es doch für unerläßlich gehalten, ihm die Perücke aufzunötigen. »Sie steht dir ja ganz gut, Manuel!« pflegte sie bei solcher Gelegenheit zu sagen, und da pflegte er seiner überlegenen Dame ohne Widerspruch zu gehorchen. Aber sie drückte ihn, und er griff öfters nach ihr, als wollte er sie abtun. Die Frau Fürstin erhob dann ihre rechte Hand ein wenig, er verstand das und murmelte: »Ja doch, ja doch!« und ließ seine Hand sinken. Übersah er einmal die Handbewegung seiner Gemahlin, so tippte ihn Vrony, welche neben ihm saß, auf den Arm. Dann stockte er in seiner aufrührerischen Absicht, sah sein Töchterlein an mit schmunzelndem Lächeln und sagte bloß: »Du kleine Drossel!« gehorchte aber der kleinen Drossel ebenfalls. Nur benützte er immer die Gelegenheit, seinen erhobenen Arm nach dem vollen Glase des Kurfürsten, welcher auf der anderen Seite neben Vrony saß, auszustrecken mit dem stehenden Spruche:

»Ein volles Glas vor einer Mannsperson,
Gibt keinen richtigen und guten Ton.«

Nikodemus, der wohlaufgeputzt als Mundschenk mit der Flasche hinter seinem Sessel stand, mußte dann sogleich zum Kurfürsten eilen und die Flasche schwenken.

Der Kurfürst, zwischen der Frau Fürstin und Vrony, dachte allerdings gar nicht ans Trinken, sondern hatte nur Liebesgedanken. So schön hatte er Vrony noch nicht gesehen! Um ihre vollen weißen Schultern hatte sie nur ein schmales Flortüchlein geschlungen; und ihre vollen Arme mit den feinen Händen waren unverhüllt. Ihre Reden dazu, wenn auch kurz und halblaut, waren so herzig, daß er ganz glückselig war und seiner Nachbarin zur Linken, der blassen Frau Fürstin, einmal um das andere sagte, es sei auf ihrem Jagdhause doch äußerst anmutig.

Diese kranke Frau, lang und hager, machte einen wehmütigen, aber doch wohltuenden Eindruck. Ihr blasses Gesicht war voll Güte, und ihre Augen hatten einen wunderbaren, vielleicht krankhaften Glanz, welcher Geist und hohe Gesinnung ausstrahlte. Sie war wohl nie schön gewesen, denn ihre starke Nase neigte nach der linken Seite hin, aber ihre Haltung und ihre Bewegungen waren durchaus edel. Man empfand in ihrer Nähe, daß man vor einem adeligen Wesen stand. Sie sprach wenig und sprach immer sanft, immer sinnvoll und wohltuend.

Das Wort führte eigentlich Graf Warren, denn Kurprinz Fritz war gegen seine Gewohnheit still, jedoch trank er viel. Das zeichnete Immanuel XIX. mit aufrichtigem Lobe aus und schickte den Mundschenk Nikodemus ausdrucksvoll zum braven Herrn Vetter.

Einige Male wollte Immanuel XIX. Warrens Redestrom unterbrechen, indem er sein Glas erhob, auf sein Töchterlein und den Kurfürsten blickte und offenbar einen entscheidenden Toast ausbringen wollte; aber die Handbewegung seiner Frau nötigte ihn immer wieder, sein Glas still niederzusetzen mit dem brummigen Worte »Schade!«

Warren nahm die Reise des Kurfürsten nach Paris zum Anknüpfungspunkte seiner Tischreden. Er war mehrmals und längere Zeit in Paris gewesen, und kannte die dortigen Verhältnisse genau. Die schilderte er denn mit Sach- und Personenkenntnis, nachdrücklich betonend, daß sich die Pariser Zustände wirklich wesentlich geändert hätten, seit endlich der zuletzt fromm gewordene Ludwig XIV. gestorben und der Regent Orleans an die Regierung gekommen.

»Liederlichkeit an Stelle verspäteter Frömmigkeit!« – sagte die Fürstin.

»Jawohl!« erwiderte Warren, »man kann aber nicht leugnen, daß auch eine geistige Bewegung der Franzosen wieder zum Vorschein kommt, welche unter dem alten, despotischen Ludwig ganz in Erstarrung geraten war. Der Herr Kurfürst mag nur ohne Vorurteil beobachten, was besser ist: frömmelndes Niederhalten jeglichen Geistes, oder etwas überschwenglicher Aufflug munterer, geistiger Tätigkeit. Unterhaltender ist jedenfalls das letztere.«

»Aber auch gefährlicher«, sagte die Fürstin.

»Allerdings. Aber nur für Leute ohne Grundsätze.«

»Vielleicht werden wir dabei die Perücke los!« rief Immanuel XIX., welchem diese Betrachtungen langweilig wurden. Er schloß die Tafel, indem er, ohne nach seiner Frau zu blicken, sein Glas hob, aufstand und einen Toast ausbrachte auf glückliche Reise und glückliche Wiederkehr seiner kurfürstlichen Gäste aus dem heillosen Paris, welches einen ehrlichen Deutschen mit seinen wetterwendischen Moden ewig beunruhigte. Und dabei warf er die Perücke hinter sich. Er hatte stark getrunken.

Die Fürstin reichte dem Kurfürsten den Arm, und er führte sie in ihr Zimmer.

Das wird wohl ein entscheidender Vorgang werden. Wenigstens blickten die zurückbleibenden Herren sämtlich mit gespannter Aufmerksamkeit dem abgehenden Paare nach.

Erst nach einer Pause sagte Immanuel XIX., nachdem er mit dem Haupte nachdrucksvoll genickt: »Vetter Fritz, ich hab' etwas für dich.«

»Ich glaub's nicht«, erwiderte dieser unwirsch.

»Doch! Der Golz, des Kurfürsten Leibjäger, hat mir gesagt, es läge am Gewehre, daß du zweimal den Auerhahn gefehlt. Du seist sonst ein guter Schütz. Am Ende würdest du mit der Schrotflinte schießen. Pfui; das ist nicht weidmännisch. Golz sagt, deine Büchse trüge auf, die Kugel steige. Komm' mit, ich hab' ein Gewehr, das geradeaus trägt. Das verschafft dir heut' oder morgen den Hahn. Komm' mit zu einigen Probeschüssen, ob es dir liegt. Wir gehn zum Schießstande.«

Vetter Fritz ging schweigend mit, und Warren auch.

Man schoß in der Tat zu damaliger Zeit den Auerhahn nur aus dünnen Büchsen mit kleinen Kugeln, weil er zur hohen Jagd gehöre.

An der Tür versetzte Immanuel XIX. seinem Nikodemus noch einen muntern Backenstreich mit den Worten: »Sag' der Mutter Susanne, der Spießbraten sei saftig gewesen und habe der Leber wohlgetan.«

Vrony sah den abgehenden Männern stillstehend nach und blickte dann lange auf die Tür, hinter welcher die Mutter und der Kurfürst verschwunden waren. Wie jedes Mädchen in solcher Lage ahnte sie, ja meinte sie zu wissen, daß es sich hinter jener Tür um ihr Schicksal, um ihr glückliches Schicksal handeln werde. Ach, die Spannung war so süß! Vetter Karl war ihr Ideal. Sie liebte ihn so innig, so herzlich; er war die ganze Welt ihrer Hoffnung, ihrer Träume. Und nun war die Erfüllung so nahe!

Träumerisch ging sie hinaus auf die Veranda, träumerisch stieg sie hinan auf die Wiese und ging und ging immer dem Walde zu. Ohne Absicht. Sie wußte gar nichts von der Außenwelt, und die knallenden Schüsse vom Schießstande her existieren nicht für sie, sie hörte sie gar nicht. Auch aufwärts blickte sie nicht, wie sich Wolken gesammelt hatten und mit Regen drohten. Sie ging nur und ging, man möchte sagen, aus Instinkt an Einsamkeit. Ihre nächste Zukunft an Vetter Karls Seite füllte ihr Haupt und Herz ganz und gar. Wie sie sich als glückliche Frau Kurfürstin benehmen würde? O, dem Vetter Karl jeden Wunsch an den Augen absehen und ringsum alle Welt glücklich machen, das würde sie. Eine große Ledertasche mit Gold- und Silbermünzen angefüllt würde sie immer tragen, wenn sie mit ihm ausginge, und allen Leuten, denen sie begegnete, würde sie Gold und Silber schenken, und wenn Karl sagte: Dazu reicht ja unser ganzes Kurfürstentum nicht! dann würde sie ihm die Hand auf den Mund legen und würde sprechen: Wir haben uns ja, was brauchen wir sonst noch! Die armen Leute aber brauchen Gold und Silber.

So kam sie in den Wald hinauf und schaute sich nicht um. Sonst hätte sie gesehen, daß Nikodemus ihr folgte mit einem großen Regenschirm. Er war ihr eifrigster Verehrer, sie war seine Göttin, und er ließ sie nie aus den Augen.

Hier im Walde war sie überall zu Hause, und so kam sie von selbst zu einem sogenannten »Ansitze« unter einer breitästigen Eiche, wo sie oft mit ihrem Vater gesessen, um das Wild anzuschauen, welches gern da vorüberzog, Hirsche und Rehe. Solcher Ansitz ist eine kleine Kanzel von Baumzweigen, hinter denen man sich verbirgt, und man errichtet sie an Orten, wo das Wild seinen »Wechsel« hat, das heißt, wo es regelmäßig vorüberzieht. Dort setzte sie sich auf den Rasensitz und wartete – auf die Hirsche und Rehe? O nein! Dort träumte sie, ungestört von Menschen, weiter und weiter. Es wurde immer schöner in ihrem Haupte und Busen, und sie dankte Gott inniglich, daß er sie so unsäglich beglückte.

Hirsche und Rehe kamen auch nicht. Aus gutem Grunde. Nikodemus mit dem Regenschirm stand auch im »Wechsel« und wartete ab, ob es regnen würde.

Es war ihm ängstlich zumute. Warum? Der Regenschirm war damals im Deutschen Reiche noch eine unbekannte Erfindung. Graf Warren hatte ein Jahr vorher ein Exemplar aus Paris mitgebracht und der Prinzeß Vrony verehrt, welche darüber eine ausgelassene Freude an den Tag gelegt hatte. Nikodemus aber gelang es nicht immer, das wunderliche Instrument aufzuspannen. Wird es jetzt gelingen? Er beschäftigte sich also jetzt sorgenvoll mit dem rätselhaften Mechanismus, und er wurde gar nicht sicher, ob er nicht im entscheidenden Augenblicke ohne Wirkung arbeiten würde. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren.

Endlich regnete es wirklich, und da die Eichenäste noch keine Blätter hatten, so schloß er als Naturkenner: seine himmlische Prinzeß würde naß werden. Er ging also entschlossen zum Ansitze und versuchte den Regenschirm aufzuspannen, indem er fortwährend ausrief: »Da! Da!«

Vrony erschrak gar nicht, sondern lachte hell auf, entwickelte das Regendach und ging langsam mit ihm, der den Schirm hoch über sie hielt trotz hinderlicher Baumzweige, nach Hause. Erst still, dann fragte sie ihn, was er sich wünschte, um glücklich zu sein. – »Eine große Halskrause,« sagte er, »und einen Handkuß.« – »Die Krause sollst du morgen haben,« sagte sie, »und den Handkuß sogleich.« Dabei reichte sie ihm die Hand, welche er fast leidenschaftlich küßte.

Unsere Ahnungen sind aber doch nicht ganz zuverlässig, selbst wenn wir Prinzessinnen sind. Zwischen der Mutter und dem Kurfürsten ging es unterdessen nicht ganz so, wie Vrony sich vorstellte.

Als sie nebeneinander saßen im kleinen Zimmer der Frau Reichsfürstin, sie und der Vetter Kurfürst, da begann der Kurfürst die Unterredung und sagte: »Meine verehrte Frau Tante, es macht mich glücklich, daß Ihr Wohlbefinden Fortschritte macht und daß Sie mir eine Viertelstunde Gehör schenken wollen. Ich habe Ihnen etwas zu sagen, was für mich hochwichtig ist.«

»Ich glaube es zu erraten, lieber Vetter. Sprechen Sie getrost.«

»Ich liebe Ihre Tochter Veronika, und ich bitte die nächste Freundin meiner seligen Mutter, ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter.«

Die Fürstin griff an ihr Herz und schwieg eine Weile. »Ihr Wort, lieber Vetter,« sagte sie dann mit schwacher Stimme, »es ist mir ans Herz gegangen, welches nicht mehr viel Bewegung verträgt. Ihr Wort erfreut mich herzlich, aber –«

»Aber?«

»Jawohl. Wir müssen die Sachlage doch ernstlich prüfen, ob dabei keiner der beiden Teile späterhin Schaden erleide.«

»Schaden?!«

»Mein Kind ist noch sehr jung und unerfahren und ist – arm.«

»Oh!«

»Sie ist bei der Wahl scheinbar im großen Vorteile, und sie würde jetzt aufjauchzen, in Ihren Arm gelegt zu werden. Würde sie auf die Dauer, auch auf die Dauer dadurch beglückt werden? Ich glaube es, wenn es ihr gelänge, Sie, lieber Vetter, dauernd zu beglücken. Da liegt die Schwierigkeit. Sie liegt in Ihrem Charakter, oder sagen wir in Ihrem Naturell.«

»In –?«

»In Ihrem Naturell! Sie haben's von Ihrer Mutter, von meiner Schwester, ich kenn' es genau. Ich lebe nicht mehr lange, lieber Vetter, und wer das weiß, der nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat. Sie sind ein lieber, guter, wohl, ja feingebildeter Mann, Vetter, aber eben deshalb sind Sie weich, und sind deshalb abhängiger als mancher andere von der Meinung anderer Menschen. Sie müssen, wenn eine glückliche Ehe entstehen soll, die Wahl meines Kindes verantworten können vor der Welt, und – das können Sie jetzt noch nicht.«

»Das könnte ich nicht?«

»Nein. Meine Tochter bringt Ihnen nichts als ihr Herz. Das läßt sich der Welt nicht zeigen. Meine Tochter ist noch unfertig in der Ausbildung ihres Geistes. Ich habe sie grundsätzlich nicht früh überladen wollen mit Studien und Kenntnissen, um ihr körperliches Gedeihen nicht zu stören. Sie hat einen hellen Verstand, sie wird sich rasch aneignen, was noch fehlt. Aber jetzt fehlt es noch. Meine Tochter ist ferner noch unfertig in der Ausbildung geselliger Formen; sie kann noch nicht repräsentieren neben Ihnen. Und doch müßte sie das können, um nicht in Ihren eigenen Augen Ansehen und Wert zu verlieren. Sie kann noch nicht herrschen. Das müßte sie aber können, wenn auch in Milde und Liebe, sobald sie Kurfürstin neben Ihnen sein soll. Sie, gerade Sie, lieber Vetter, würden sie sonst bald verkennen.«

»O, wie gering achten Sie meinen Geist!«

»Im Gegenteil, Vetter. Hätten Sie weniger Geist, so wäre ich minder bedenklich. Ihr lebhafter Geist vergleicht unaufhörlich, und diesen Vergleichen ist mein Kind noch nicht gewachsen. Ich glaube, sie wird es werden in einiger Zeit, da ihre Erziehung jetzt ein festes Ziel gewinnt und auf dieses Ziel hingeleitet werden kann. Nach einem Jahre, nach zwei Jahren, lieber Vetter, wird die Frage vielleicht umgekehrt stehn.«

»Umgekehrt?«

»Die Frage wird dann lauten: ob Sie Ihr Auge noch rein bewahrt haben für mein erwachsenes Kind. Der Mann erobert, das Weib bewahrt. Der Eroberer strebt und trachtet unaufhörlich, er ist beweglich und ist ohne Unterlaß bedürftig. Das Weib, wenn es ein edles Weib, ist einfach, ist treu. Sie gehen nach Frankreich. Der Reiz ist dort zu Hause, und die gesellige Geltung geht von dort aus. Sei diese Geltung auch halb äußerlich, sie besticht doch euch alle, auch die Besseren, sowie das Gepräge den Umlauf der Münzen erleichtert, ohne Rücksicht auf den Metallwert. Die Kunst endlich, Vetter, die Kunst ist dein Naturell, und die Kunst ist in Frankreich zu Hause. Sie wird dich bestechen – das darf sie – sie wird dich aber auch vielleicht verblenden und verführen.«

»Liebe Tante –«

»Sei tapfer, lieber Vetter! Die französische Welt mit ihren schönen Eigenschaften ist nahe daran, ihren sittlichen Kern zu zerbröckeln. Und doch liegt gerade darin ihre mächtige Reizung. Sei tapfer! Widerstehst du dieser Reizung und kommst du mit dem jetzigen Wunsche zurück, so wirst du von uns mit offenen Armen empfangen werden. Ich werde indes Sorge tragen, die Ausbildung meines Kindes lebhaft zu betreiben oder betreiben zu lassen.«

»Aber, liebe Tante, sie spricht ja doch Französisch und –«

»Sie spricht es noch nicht leicht, und es handelt sich nicht bloß darum, sondern um Kenntnisse aller Art.«

»Wodurch man ihr natürliches Wesen, welches so bezaubernd ist, zudecken und beschädigen wird.«

»Kein Unterricht wird ihr naives Wesen verändern. Und, wie gesagt, lieber Vetter, die Hauptsache ist Ihr Wesen und die Veränderlichkeit desselben, welche ich fürchte. Aber verzeihen Sie – ich werde schwach. Sagen Sie Vrony, ich bitte, nichts vom eigentlichen Inhalte – unseres Gesprächs, und bleiben Sie – überzeugt, daß ich nichts so innig – wünsche – als Ihre Verbindung mit – meiner Tochter.«

Sie lehnte sich erschöpft zurück, griff nach einem Flakon zur Stärkung und reichte ihm die Hand.

Er küßte sie und entfernte sich langsam. Er war sehr betroffen. Daß sie ihm Ähnliches zur Last gelegt, wie kurz vorher sein Bruder, das erregte ihn tief.

Er war ein edler Mensch und warf sich oft genug selbst seine Fehler vor. Sind sie also so deutlich und so arg? fragte er sich jetzt und ging auf sein Zimmer, dem Jäger Golz zurufend, man solle ihn in Ruh' lassen, er wolle allein sein.

»Und nicht zum Abendansitz hinaus? Es regnet ohnedies.«

»Gewiß zu morgen früh. Nimm ein Schrotgewehr mit.«

»Ah!«

»Ich will absolut einen Hahn schießen. Das Hänseln muß aufhören. Laß mich allein!«

Wunderlich genug trieb es sein Bruder Fritz ebenso. Er hatte mit der Büchse des Vetters Immanuel XIX. wieder schlecht getroffen, war auch ärgerlich auf sein Zimmer gegangen und hatte seinem erstaunten Diener ebenfalls befohlen, am nächsten Morgen ein Schrotgewehr mitzunehmen, er wolle auch absolut einen Hahn schießen. Er aber fluchte geradezu über die dumme Welt und jagte seinen Diener brüsk hinaus. Da nahm er ein dickes Buch vor; es war eine Reisebeschreibung. Er hatte eine starke Neigung, auf weite Reisen zu gehen, und jetzt, meinte er, hast du ja doch nichts Besseres mehr vor dir!

Immanuel XIX. fluchte ebenfalls, er fluchte auf den Regen. Da komme der Hahn ganz still und die Herren gingen umsonst hinaus. Die Jäger sollten aber alle in den Wald, um für den nächsten Morgen die Standplätze der Hähne – er sagte Hahnen – zu erfahren.

Er selbst setzte sich ärgerlich mit Warren zum Brettspiele. Warren dagegen war guter Laune, denn er merkte, daß auch die Verlobung ins Regenwetter hineingeraten wäre.

Vrony sah erstaunt zu, wie die Gäste verschwanden, wie die Mutter einsilbig blieb. Und als zum Abendessen niemand in den Speisesaal kam als Papa und Warren, da wurde sie ganz bestürzt.

Der Papa, nachdem er einen Augenblick bei der Mutter gewesen, kam höchst mürrisch zurück und Warrens Unterhaltung verfing weder beim Vater noch bei der Tochter. Ihm aber gefiel sie, und er lachte.

Es wurde eine unruhige Nacht für die Schläfer im Jagdhause. Draußen regnete es still weiter.

Immanuel XIX. konnte gar nicht schlafen, wegen dieses nichtswürdigen Regens, denn er wußte nur zu gut, daß das Geschlecht der Hühner tief betrübt wird und untätig vom Regen, und der Auerhahn gehört ja zum Hühnergeschlechte. Er balzt nicht, wenn er naß wird. Wenn also der Regen nicht aufhört, dann gab es für den letzten Morgen keine Auerhahnjagd.

Unruhig wälzte sich Immanuel XIX. auf seinem Lager; mitunter fluchte er leise über das klatschende Wasser, welches an sein Fenster schlug. Mit einem Male prallte ein heftiger Windstoß an die Fenster, und noch einer, so daß sie heftig erzitterten. Ho! rief Immanuel XIX. ganz laut; er war ein wetterkundiger Herr und richtete sich halb auf, um besser zu horchen. Richtig! das Klatschen des Wassers hatte aufgehört. Er sprang auf und lief ans Fenster, das öffnete er und schaute hinaus. Hoho! rief er noch einmal und eilte im einfachen Gewande durch den Speisesaal hinaus auf die Veranda, um den Himmel breiter hin zu sehen, und dann schnalzte er mit der Zunge. Er war zufrieden, ging in sein Zimmer zurück, zog einige der notwendigsten Kleidungsstücke an und eilte dann in eigner Person zum Vorzimmer des Kurfürsten hinüber, ungestüm an die Tür schlagend und den Jäger Golz weckend. »Der Regen hört auf,« schrie er, »es wird ein schöner Balzmorgen, der Herr Kurfürst sollen aufstehen und hinauseilen!«

Man muß in der Nacht hinaus, um zur richtigen Zeit an Ort und Stelle zu sein. Beim ersten Grauen am Himmel fängt der Hahn sein Liebesglucksen an, was man Balzen nennt. Da kann man ihn im Halbdunkel ungesehen anspringen und beim ersten Lichtschein sehen und herunterschießen.

Es gelang alles. Der Morgen wurde still und klar, und die Jagdgäste waren zu rechter Zeit in den Wald hinaufgetappt. Immanuel XIX. hatte sich befriedigt wieder auf sein Lager gestreckt, um endlich ein paar Stunden den Schlaf des Gerechten zu schlafen. Wenn seine Gäste beim vollen Morgensonnenschein zurückkehrten, da würde sich's zeigen, ob sie die Beute brächten; er wenigstens, Immanuel XIX., hätte seine Schuldigkeit getan.

Die Sonne schien schon eine Stunde voll, da kam sein Jäger mit der Siegesnachricht, die fremden Herrschaften schritten über der Wiese daher, und jeder der beiden Herren, der Kurfürst wie der Kurprinz, hätte einen Auerhahn.

Das war eine Freude, als ob eine große Schlacht gewonnen wäre. Kein Mensch sprach davon, ob sie auch in gesetzlicher Weise errungen wäre, und der Kurfürst wie der Kurprinz waren höchst vergnügt.

So sind wir Menschen! Das Gelingen einer Nebensache versetzt uns in gute Stimmung, und wir vergessen die Hauptsache, oder wir begrüßen doch den kleinen Gewinn als Vorspiel des großen Gewinnes.

»Einspannen!« rief der Kurfürst und sagte leise zu seinem Golz: »Weg mit den Gewehren!«

Der so fein gebildete Herr legte doch großen Wert darauf, für einen weidgerechten Jäger angesehen zu werden, und setzte sich in fröhlicher Stimmung zum Frühstück im Speisesaale.

»Wird das Mühmchen nicht kommen?« fragte er den Papa.

»Na, ob!« erwiderte dieser schmunzelnd, und da trat sie auch wirklich ein, in bescheidenem Morgenkleide mit fliegendem Haare, was ihr vortrefflich stand. Sie wurde zwischen den Kurfürsten und Kurprinzen gesetzt: Jeder zuckte ein wenig, aber jeder erzählte nur seine Heldentaten, ausführlich, in welcher schwierigen Manier er seinen äußerst klugen Hahn betört habe. Kurprinz Fritz etwas klüger und hastiger, und dabei das Warmbier in großen Zügen schlürfend, welches Susanna selbst präsentierte unter Beihilfe ihres Nikodemus – der Kurfürst künstlerisch breiter, indem er Vrony alle Nebenumstände sorgfältig beschrieb.

Da blies der Vorreiter draußen, man erhob sich, man umarmte Immanuel XIX. mit Hingebung und wandte sich dann zur Prinzessin Vrony. Der Kurprinz, in allem voreilig, zuerst. Er drückte ihr die Hand und blieb ganz stumm. Er war gerührt. Dann erst der Kurfürst. Er küßte ihr die Hand. Sie ließ es still geschehen; ein paar Tränen tropften aus ihren Augen … »Auf baldiges Wiedersehen!« sagte mit schwacher Stimme der Kurfürst, und er erlaubte sich, ihr ein Tränchen mit dem Finger abzutrocknen. Sie aber nickte nur mit dem Kopfe, so daß die langen Haare ihr übers Gesicht fielen.

»Vorwärts!« rief der Kurfürst in sichtlicher Aufregung, und nach ein paar Minuten saßen die beiden Herren im Wagen, und unter Blasen und Peitschenklang polterte die Kutsche fort.

Mit der Hand und dem Taschentuche wurde noch weither und weithin gegrüßt.

Warren sah lächelnd zu und sprach zu Vrony, welche ihn gar nicht gewahr wurde.

 

3.

Die beiden Brüder Kurfürst Karl und Kurprinz Fritz saßen stumm nebeneinander im Wagen. Stumm, denn jeder hatte einsam seinem Liebesleide nachzudenken. Der Gegenstand dieses Leids war ja ein und derselbe, war Vrony, und da war ein Austausch der Gefühle unmöglich. Denn miteinander streiten wollten sie nicht; sie liebten ja einander.

Die Fahrt ging trotz der vier Pferde nicht schnell, da die Wege an sich schlecht und noch obenein vom Regen aufgeweicht waren. Nach einer Stunde war die Grenze erreicht, die Grenze zwischen Immanuels XIX. Fürstentum und dem Kurfürstentum. Hier sprach Kurprinz Fritz das erste Wort. Er wollte aussteigen bei der Umspannung der Pferde und sich von seinem Bruder trennen. Warum? Er hatte eine ländliche Besitzung in der Nähe. Die wollte er besuchen. Und nach Frankreich wollte er jetzt überhaupt nicht; er würde nach Italien reisen. Dem Herrn Bruder wünschte er gute Verrichtung in allen Dingen, und er hoffte, sie würden sich im Spätherbste gesund wiedersehen in der Hauptstadt des Kurfürstentums.

Kurfürst Karl nickte und reichte ihm die Hand, Fritz drückte sie kräftig und so schieden sie.

Der Kurfürst blieb im Wagen sitzen und gab dem Golz die Order, nicht nach der Hauptstadt fahren zu lassen, sondern gleich rechts den Weg nach Frankreich einzuschlagen. Seinem Sekretär befahl er, sich geraden Weges nach der Hauptstadt zu begeben und dem Kanzler die besprochenen Anweisungen zu bringen. Er selbst, der Sekretär, sollte dann unverzüglich nach Paris folgen und beim kurfürstlichen Geschäftsträger nach der Wohnung des Kurfürsten fragen.

So ging's vorwärts gegen Westen. Der arme Kurfürst war in bedenklicher Stimmung, das heißt, er wußte sich keinen Rat. Seine Liebe zu Vrony schien ihm unzweifelhaft und ihr Besitz das größte Glück. Aber was Bruder Fritz und die Frau Tante gesagt, das ging doch bemerkenswert gleichmäßig darauf hinaus: er werde das liebliche Mädchen unglücklich machen, wenn er sie heiratete. Dies, das Schicksal Vronys, war ihm die Hauptsache, weil er eben ein edler Mann war. Ob dies Unglück denn wirklich so eintreffen müßte, darüber sann er nach Tag um Tag. Plötzlich hielt er bei dem Gedanken an: Nein! das kann vermieden werden, wenn du dich abschließest mit ihr von der redseligen Welt, wenn du auf einem einsamen Schlosse mit ihr lebst. Schon wollte er stracks Order geben, daß man umkehre und in die Heimat zurückfahre. Aber, aber, sagte sein kurfürstliches Gewissen, das geht ja auch nicht! Du hast ja doch als Regent große, unermeßlich große Pflichten, du mußt ja regieren, du darfst dich nicht in die Einsamkeit zurückziehen, um bloß dein Herzensleben zu genießen.

Und so führten ihn die vier Pferde weiter nach Frankreich hinein, ohne daß er einen Entschluß fassen konnte. Die Zeit muß die schwere Frage lösen, stöhnte er, du kannst es nicht. Und dabei lehnte er sich traurig auf seinem Sitze zurück, stürzte aber ganz unerwarteterweise nach vorwärts und lag im Handumdrehen in der mißlichsten Stellung, beide Arme vorstreckend, halb im Wagen, halb außerhalb des Wagens. Das linke Vorderrad war gebrochen und die große Kutsche saß fest auf dem Boden.

Golz, der vom Bocke geflogen war, ohne sich zu beschädigen, raffte sich schnell auf und griff zu, um seinem gnädigsten Herrn auf die Beine zu helfen, wenn diese kurfürstlichen Beine nicht etwa den Dienst versagen sollten. Das taten sie nicht; der Kurfürst mit geschmeidigen Jugendgliedern war ganz heil. Aber was nun? Man lag hilflos auf dem Pflaster der Landstraße in der Provinz Lothringen, und keine Stadt, kein Dorf war zu sehen.

»Dort oben auf der Anhöhe unter Bäumen,« rief Golz, »da liegt ein Schloß, dort müssen wir Hilfe suchen.«

»Die werdet ihr auch finden«, rief eine französische Stimme von rechts.

Sie kam von einem Reiter, der auf einem gedrungenen Schwarzschimmel, einem normannischen Hengste, saß und einen Reitknecht hinter sich hatte. Der Hengst wieherte. Er war aus einem Busche hervorgekommen, rechts von der Landstraße, just als Golz seinem Herrn auf die Beine geholfen.

Der Reiter auf dem Schwarzschimmel war ein alter Herr mit schneeweißem Haar; das Schloß auf der Anhöhe war das seinige, und er lud den verunglückten Reisenden höflich ein, in dem Schlosse so lange einzukehren, bis man aus der allerdings fernen Stadt Handwerker und Hilfsmittel herbeigeschafft hätte, um den Wagen wieder herzustellen. Er betrachtete den sich dankbar verbeugenden Kurfürsten aufmerksam und bot ihm das Pferd des Reitknechts an, wenn er es vorzöge, bis zum Schloß hinaufzureiten.

Der Kurfürst nahm dies dankend an, und so ritten sie bald nebeneinander. Der Kurfürst stellte sich vor und der alte Herr begrüßte ihn als Marquis von Aubigny mit der ausgesuchtesten Höflichkeit eines Grandseigneur.

Das Schloß war mit einem kleinen Park mit mächtigen alten Bäumen umgeben und war nicht groß. Aber es schien ungemein wohnlich, ja künstlerisch eingerichtet zu sein. Ein schönes Stiegenhaus mit Statuen, hohe Zimmer mit Bildern geschmückt. Stilvolle Möbel, alles atmete eine edle Stimmung.

Der alte Marquis bewohnte es allein mit seiner Gemahlin. Es war Mittagszeit, als die beiden Reiter ankamen. Sie waren nur langsamen Schritts geritten und der abgesetzte Reitknecht war neben ihnen zu Fuß gleichzeitig angekommen. Er half dem Marquis vom Pferde, der lächelnd sagte:

»Die Schwenkung des rechten Beines über Sattel und Croupe wird mir schon sauer. Ich hoffe, Eure Hoheit haben Appetit, obwohl die Sonne erst im Mittag steht. Darin bin ich altmodisch, und meine Frau ist's mit mir; ich habe nur um diese Zeit Hunger, und so dinieren wir wie unsere Altvordern so früh. Ich halte diese Zeit für die richtige und gebe darin meinen Ahnen recht. Nehmen Hoheit vorlieb! Und übrigens wird die Herstellung Ihres Wagens über vierundzwanzig Stunden dauern, denn es muß nach dem fernen Nancy geschickt werden, um gute Arbeit zu erlangen; Hoheit müssen sich also mit unsrer Häuslichkeit bescheiden.«

In einem kleinen behaglichen Zimmer war gedeckt; der Diener legte ein drittes Kuvert auf, die Frau Marquise erschien, eine wohlkonservierte ältere Dame mit silbergrauen Haaren, ganz in Schwarz gekleidet und von ungemein sanften, entgegenkommenden Formen, aber von sehr wenig Worten.

Der Marquis dagegen sprach sehr leicht und fließend. Er trug die Kosten der Unterhaltung und trug sie offenbar gern, weil er wohl sonst einsam lebte. Nachdem er sich über das heilige römische Deutsche Reich mit Respekt geäußert und das Kurfürstentum seines Gastes gepriesen hatte, und nachdem er sich durch einige diskrete Fragen über die Verhältnisse dieses Kurfürstentums näher unterrichtet hatte, knüpfte er daran seine französischen Betrachtungen.

»Wir sind hier in Frankreich und Navarra ganz anders,« sagte er mit einem Tone überlegener Heiterkeit – »wir lieben den Wechsel. Der alte König Ludwig hat uns lange daran verhindert, aber der Regent holt jetzt nach. Ich sehe hier aus stillem Hafen zu. Was kann man als alter Mann Besseres tun! Ich wäre auch in Verlegenheit, wenn ich raten sollte. Unsere Geschichte hat so jähe Veränderungen durchgemacht, daß wir verwirrt geworden sind. Richelieu und Ludwig XIV. haben unsere alte Adelsherrschaft zerbrochen, und der letztere hat uns heruntergebracht zu einem bloßen Hofadel. Das gefiel mir nicht, und da zog ich mich zurück. Jetzt geht es drunter und drüber von Paris aus. Der Regent ist ein geistvoller Mann, kein Mensch kann's leugnen, aber er ist ein Libertin nicht nur in den Sitten, nein, er ist auch ein Libertin des Geistes, er dreht alle Ansichten, alle Einrichtungen um und um, und wir sind einfach verblüfft. Wohin geht der Flug? Zunächst ist das eine Unterhaltung, wenn's nur nicht was Schlimmeres wird! Man hört, daß auch alles Eigentum und Vermögen in Papier verwandelt werden soll.«

»Ah?«

»Jawohl. Ein schottischer Mathematiker soll ihm so etwas soufflieren. Nun, wir hier in unserem Schlößchen, dem Reste eines großen Marquisates, wir bestehen noch leidlich dabei. Meine Frau hat den Himmel.«

»Aber Jules!«

»Doch, meine Liebe, doch! Du suchst ihn und findest ihn in deiner unerschöpflichen Liebe für jedermann und zunächst für deinen unwürdigen und herzlich dankbaren Jules. So leben wir still dahin, und ein unerwarteter Besuch eines jungen, liebenswürdigen deutschen Kurfürsten ist für uns ein Fest.«

Der Kurfürst hatte nur immer zu danken und übermäßig sorgende Freundlichkeit abzulehnen.

Nach Tische führte der Marquis den Kurfürsten im Schlosse umher und zeigte ihm dessen Einrichtung. Sie war bescheiden, aber harmonisch. Ein Bibliothekzimmer interessierte den Kurfürsten besonders, weil der Marquis mit Sachkenntnis eine Auswahl trefflicher Bücher nachwies.

»Hier nähre ich mich mit Weisheit,« sagte er, »und meine Bilder schenken mir Schönheit. Sie sehen, ich habe vorzugsweise Landschaften. Der Anblick derselben hält lange vor, ja er erschöpft sich nicht, wie das wohl mit Figuren ergeht. Ich bin am Ende ganz Landschafter geworden, nicht bloß in Gemälden. Ich reite täglich hinaus und erquicke mich am Anblicke der Gegend. Sie ist gar nicht besonders, aber darauf kommt es nicht an, auch eine einfache Gegend hat ihre Reize, und man entdeckt neue. In der Tat! Jeden Tag fast entdeck' ich etwas Neues in ihr und bin erstaunt, daß ich's früher nicht bemerkt habe. Wenn's Ihnen recht ist, reiten wir den Nachmittag hinaus, und ich zeig' Ihnen meine Ländereien und Waldungen, will sagen, meine Landschaften.«

Das geschah. Der alte Herr, eine kleine magere Gestalt, schwang sich wiederum mit Mühe in den Sattel, lächelte aus seinem fein geschnittenen Antlitz über seine körperliche Schwäche und war dann auf dem Rosse recht munter.

Dem Kurfürsten gefiel er augenscheinlich, denn dieser hörte sehr aufmerksam zu, und er gab klaren Bescheid, wenn der Marquis ausnahmsweise nach einzelnen Dingen im Deutschen Reiche fragte. Ausnahmsweise. Er wußte als richtiger Franzose auch damals blutwenig vom deutschen Staate, und es kümmerte ihn nur Frankreich.

Die Landschaft, welche er zeigte, war wirklich einfach: kleine Erhöhungen, kleine Bäche, ein Teich, kleine Büsche, selten ein großer Baum. Aber der Marquis fand überall artige Bilder heraus.

»Da drüben,« sagte er, »da unten und da oben, wo die Häuser der einzelnen Vorwerke zu sehen sind, da war es freilich noch malerischer. Das gehörte mir früher alles, und für die Schulden meines früheren Leichtsinns und – für sonst noch was habe ich das alles verkaufen müssen. Aber ich bin auch zufrieden mit dem, was mir geblieben ist. Ich wäre es vielleicht nicht, wenn ich nicht meine Frau neben mir hätte. Sie erleichtert mir alles, sie ist mein Schutzgeist. In meinen jungen Jahren hätte ich solch ein Weib für unmöglich gehalten, jedenfalls für langweilig. Und wie hilfreich ist sie mir geworden! Wenn ich über so viel verlorenen Besitz und über meine Tochter außer mir geraten wollte, da streichelte sie mir immer Zorn und Ungeduld hinweg, ich schämte mich neben ihr und ward ruhig. Sie ist fromm. Das habe ich früher lächerlich oder kläglich gefunden. Jetzt seh' ich's mit Staunen und mit Verwunderung. Die Frömmigkeit bringt ihr eine himmlische Ruhe, eine englische Geduld. Sie entsetzt sich vor der Sünde, aber sie ist dabei imstande, die Sünderin zu lieben. Vergessen Sie das nicht, mein werter Gast, wenn Sie eine Gattin wählen, ein stilles, gutes Weib ist der Schatz des Hauses.«

Der Kurfürst dachte sogleich an Vrony und nahm sich vor, treu an ihr zu halten. Auch einen langen Brief wollte er ihr schreiben, sobald er in Paris angekommen wäre.

Wer hätte gedacht, daß gerade dieser vierundzwanzigstündige Aufenthalt beim Marquis d'Aubigny verhängnisvoll werden könnte für ihn und Vrony!

Und doch wurde er's. Nach dem Abendessen saßen sie bei einem behaglichen Kaminfeuer zusammen – ein kalter Wind strich um das Schloß – der Kurfürst, der Marquis und die Marquise, und der Marquis war ins Erzählen geraten. Die Marquise wehrte leise ab, wenn er arge Dinge berührte, und er gehorchte ihr immer gutmütig. Sie ging aber zeitiger zu Bett, und nun konnte er freier reden.

»Mit den Hühnern geht sie zu Bett,« sagte er, »und steht mit den Hühnern auf. Dann geht oder fährt sie bei jedem Wetter aus. Erst zum heiligen Brunnen, wo sie einen Schluck Wasser trinkt, dann zu den Armen im weiten Umkreise, welche sie beschenkt oder doch tröstet. Jener Brunnen ist ihr täglicher Himmelstrost. Er ist offenbar in grauer Heidenzeit ein geweihtes Wasser für die gallischen Heiden gewesen, und die Pfaffen haben ihn, wie an hundert anderen Orten, für die Stätte irgend eines christlichen Heiligen ausgegeben. Mit Recht, denn man glaubt daran, und jeder Glaube braucht Wunder und tut Wunder. Er tut sie heute noch: ich hab's erfahren an einem wilden Morgen. Ich erzähl's Ihnen unbesorgt, denn die ganze Welt kennt das Unglück, welches an jenem Morgen ein guter Freund hier hereinbrachte in unser friedliches Haus. Er kam aus Paris, der gute Freund. Wir haben keinen Sohn, wir haben zwei Töchter. Die waren und sind noch in Paris unter Aufsicht einer alten Tante. Die Mädchen mußten Kenntnisse erwerben, mußten in die Welt eingeführt werden und kamen nur im Sommer zu uns daher. Die ältere war schön und war aufgeweckten Geistes. Diese Louise war mein Augapfel. Die jüngere, Therese, still und gut, war der Augapfel meiner Frau. Meine Frau liebte aber die Louise nicht minder, wie sich bald zeigte. Daß ich's kurz mache: der heillose Regent hat uns das Mädchen zugrunde gerichtet. Er ist nicht nur voll Geist, sondern auch voll Sittenlosigkeit, und hat an seinem engeren Hofe einen Verkehr zwischen Mann und Frau eingeführt, den man einfach liederlich nennen muß. Frech nennen sie sich da selbst ›Roués‹. Sie erlauben sich alles in Rede, Spiel und Liebschaft. Das ist denn für meine Louise, für ihren geistigen wie sinnlichen Trieb ein erwünschter Tummelplatz geworden. Sie hat sich da so ausgezeichnet, daß sie den Namen ›Penthesilea‹ erhalten hat, nach der wildliebenden griechischen Mänade, welche den Achilles in toller Leidenschaft vernichtet hat. Diese Nachricht brachte der gute Freund mit dem Zusatze: Louisens guter Ruf sei dadurch für immer befleckt. Was tat da meine gute Frau, während ich grimmig fluchte? Zitternd am ganzen Leibe, eilte sie zu ihrem heiligen Brunnen, trank da und kam ruhig zurück. Sie liebt auch jetzt noch ihre Louise gerade so, wie ihre unschuldige Therese. Was sollte, was konnte, was kann ich tun? Ich habe keine Macht mehr über das Mädchen, und ich trage wohl auch Schuld an ihrer Ausschweifung.«

»Wodurch?«

»Sie brauchte viel Geld. Ich hätte es ihr verweigern sollen, um sie in Schranken zu halten. Ich aber verkaufte wiederum ein Stück Land um das andere, um ihr Geld schicken zu können. Dadurch habe ich sie ausgerüstet zu ihren verschwenderischen Streichen, und als ich ihr endlich nichts mehr schicken konnte, da hat sie ›pah!‹ gesagt und ist wahrscheinlich kurzweg liederlich geworden. Jetzt haben wir nur Eile, die Therese von ihr wegzubringen. Die alte Tante beschwört uns, das fromme Kind ins Kloster gehen zu lassen, wozu sie den innersten Beruf habe. Meine Frau sagte natürlich von Herzen Ja dazu, und wie kann ich Nein sagen? Wenn Eure Hoheit nach Paris kommen, da wird sie schon für ihre Abreise rüsten, und wenn Sie ihr einen Brief mit unseren Segenswünschen mitnehmen und zusenden wollen, so erfreuen Sie unser Herz.«

»Wie gern!«

Der alte Marquis senkte das Haupt und schwieg eine Weile, dann sagte er mit schwacher Stimme: »Verzeihen Sie, daß ich Sie mit solchen Intimitäten behellige. Die Einsamkeit ist schuld, in welcher man mit niemand sprechen, für niemand sich aufknöpfen kann. Meine Frau disputiert nicht und Sie haben ein Auge und ein Wesen, welches Vertrauen erweckt.«

Dann schöpfte er tief Atem und fuhr in frischerem Ton fort: »Na, wie dem sei, man muß sich zu fassen wissen, man muß einen Hafen suchen, sei er auch noch so klein, und muß froh sein, wenn man ihn findet. Ich hab' ihn gefunden. Wie? Wo? Ist's mit einem Worte zu sagen? Ja, ja doch. Die Gedanken der Menschen wechseln, demgemäß ihre Grundsätze, demgemäß ihre Taten. Die politische Welt wird zuzeiten ein Wirrsal, wie jetzt bei uns, und kein Mensch kann voraussehen, ob die wirklich geistvollen Reformen des Regenten zum guten oder zum schlimmen führen werden. Da tut man gut, auch ohne meine schmerzliche Erfahrung in meiner Familie, sich auf sich selbst zurückzuziehen und sich nach einer Quelle stiller Befriedigung umzusehen. Gibt es eine? Ja, sag' ich Ihnen aus Erfahrung. Diese Quelle ist die Kunst. Sie bringt Fertiges, Harmonisches. Von ihr leb' ich bescheiden, aber befriedigt. Glauben Sie mir?«

»Ich glaube Ihnen.«

»Nun, Sie, Hoheit, haben ersichtlich auch Anlage dazu. Sie sind in allen Äußerungen mäßig und besonnen; widmen Sie sich getrost dem Kultus der Kunst, er wird Sie beglücken!«

Am andern Morgen war der Wagen hergestellt und der Kurfürst reiste weiter, unter herzlichem Danke für den Marquis und die Marquise und mit dem Briefe versehen für das Fräulein Tochter Therese.

In Paris empfing ihn sein Geschäftsträger mit der Nachricht, daß der Regent, Herzog Philipp von Orleans, ihn gestern habe rufen lassen, um von ihm zu erfahren, ob es wahr sei, daß kurfürstliche Hoheit in Paris erwartet werde. Nachdem dies bestätigt worden, habe der Regent seine Freude darüber ausgedrückt, einen so wohl berufenen hohen Würdenträger des Deutschen Reiches in Frankreich begrüßen zu können, und er habe um sofortige Anzeige vom Eintreffen des Herrn Kurfürsten gebeten.

Daraus ergab sich, daß der Kurfürst sofort seine Antrittsvisite beim Regenten machen mußte.

Das tat er denn um die Mittagszeit, und er fand in dem Regenten einen geistig und gesellig überaus behenden Mann, welcher sich die besten Früchte davon versprach, mit einem jungen, aufgeklärten Fürsten des Deutschen Reiches all die Reformgedanken besprechen zu können, welche er für Frankreich soeben ins Werk setze. Er hatte hinzugesetzt, daß er den Kurfürsten um seine Jugend beneide, und daß er wohl diese Jugend zur Geselligkeit seines Hauses einladen dürfe. Just am heutigen Abende versammle sich die Gesellschaft seiner Umgebung zu einem kleinen Feste, und man würde entzückt sein, den deutschen Herrn in diesem Kreise zu bewillkommnen. Da war nicht auszuweichen. Kurfürst Karl war ja auch begierig, diese berühmten, um nicht zu sagen, berüchtigten, Abendgesellschaften kennen zu lernen. Er erklärte also, als der Regent ihm einen Gegenbesuch abstattete, daß er der freundlichen Einladung mit lebhaftem Interesse nachkommen werde.

Auf solche Weise wurde dem Kurfürsten Zeit und Stimmung entzogen, an Vrony, wie er gewollt, einen ausführlichen Brief zu schreiben.

Das Treiben der großen Stadt und die neue, fremde Welt machten ihm doch auch zu schaffen. Dieser neuen, fremden Welt gegenüber war er nicht ohne Schüchternheit, und er trat des Abends einigermaßen befangen in die glänzend erleuchteten Räume des Palais Royal, welches der Regent bewohnte.

Der Regent befreite ihn jedoch bald von der Befangenheit durch die ungezwungene Art, mit welcher er ihn empfing und ihn den Damen und Herren vorstellte. Zuerst der Herzogin von Berry, welche getreulich zum Regenten hielt, dann den Herzogen und Herren von Broglie, Nocé, Brancas, Biron, Carillac, welche zu den Intimen gehörten und wohl auch zu den Roués gezählt wurden. Mit diesem Namen bezeichnete man die ausgelassene Gesellschaft im Palais Royal.

Der Regent war allen überlegen an Gaben des Geistes und des Talentes. Er war ein mittelgroßer Mann, fleischig, ohne dick zu sein, und von blühend roter Gesichtsfarbe, welche durch schwarzes Haar und schwarze Perücke noch gehoben wurde. Er kam dem Kurfürsten mit ungesuchter Freundlichkeit, wie sie ihm eigen war, entgegen, und führte ihn durch die belebten Säle, in all seinen Bewegungen graziös und in der Rede ungemein leicht und fließend.

Als der Kurfürst bei diesem Spaziergang bemerkte, daß man den Regenten von Frankreich im Deutschen Reiche den zweiten Henriquatre nenne, da strahlte das Antlitz Philipps von Orleans vor Freude, denn es war sein Lieblingswunsch, dem vierten Heinrich ähnlich zu sein.

»Wählen Sie sich die Gesellschaft,« sagte er, als der Spaziergang sie wieder zum ersten Saal und zur Herzogin von Berry zurückführte, »wählen Sie frei nach Ihrem Geschmack! Hier wird disputiert, und zwar gottlos dreist, im nächsten Saale spielen die jüngeren Leute miteinander, welche noch die Wallungen der Sinne mit den Wallungen des Herzens verwechseln, und im dritten tanzen Masken, welche schon klarer wissen, was sie wollen. Sie verlieren sich zuweilen paarweise in die entfernteren Gemächer. Aber die alle sind nur Dilettanten, die virtuosen Roués kommen erst später durch jene hinteren Gemächer, wenn's zum Souper geht. Dies sind die frechen Geister, welche das Laster der sogenannten Débauché offen proklamieren. Davor sollen Sie als tugendhafter Deutscher zunächst noch behütet werden. Das bin ich meiner deutschen Mutter schuldig. Ich werde Sie zur rechten Zeit warnen. Ah, Mademoiselle,« sagte er plötzlich zu einer weiblichen Maske, welche ihm gefolgt war – »Sie behorchen mich?!«

Die Maske entwich ohne Laut, und der Regent führte den Kurfürsten zu einem runden Tische, an welchem sich ein Teil der Anwesenden niederließ. Der Regent gab ein Stichwort zum Disputieren, indem er ein kritisches Thema anschlug.

Jene Maske, welche sie behorcht hatte, war eine junge schöne Dame. »Ein deutscher Kurfürst!« hatte es plötzlich geheißen unter den Tänzern, »und ein junger! Ein Blondin! Ah, ein Blondin! Welche Seltenheit!« Er gefiel der schönen Dame; sie ließ ihren Tänzer stehen und ging unscheinbar neben oder hinter ihm und dem Regenten. Sie wollte ihn reden hören. Er redete wenig, aber auch seine kleinen Bemerkungen in einem etwas fremdartigen Französisch erschienen ihr hübsch, weil sie einfach und natürlich waren.

Als sie auf die Anrede des Regenten entwich, geriet sie in eine Fensterbrüstung des zweiten Saales und wurde dort von Herrn von Carillac aufgehalten, welcher ihr sagte: »Ich habe eine Notiz für Sie.«

»Was denn?«

»Heute nachmittag war ich bei der Gegenvisite zugegen, welche der Regent dem deutschen Kurfürsten machte, und da hörte ich den Kurfürsten sagen, er hätte Ihren Vater in Lothringen besucht –«

»Meinen Vater?«

»Jawohl, Ihren Vater. Und von diesem habe er die Bestellung eines Briefes übernommen für dessen Tochter. Also vielleicht für Sie.«

»Vielleicht. Ich danke für die Notiz.« – Und damit ging sie weiter, der festen Überzeugung, daß der Brief für ihre Schwester Therese bestimmt sei. Denn an sie schrieb ihr Vater nicht mehr.

Sie war Louise von Aubigny, die so gut wie Verstoßene.

Nach kurzem Sinnen kehrte sie zu Carillac zurück mit der Frage: »Schien es, als ob der Herr Kurfürst persönlich den Brief abgeben wollte?«

»So schien es allerdings.«

Das war dieser abenteuerlichen Dame hinreichender Grund, an eine Intrige zu denken, welche Unterhaltung verspräche. Dazu wollte sie sich den Blondin doch noch näher ansehen. Sie ging also an die Tür des ersten Salons, wo er neben dem Regenten saß, hüllte sich in den Türvorhang und sah und hörte aufmerksam zu. Sein Äußeres gefiel ihr positiv. In die Streitfragen mischte er sich nur wenig, gab aber, wenn man ihn aufforderte, einige geschickt ausweichende Antworten. Das gefiel ihr auch.

Jetzt aber begann der Lärm von den hinteren Zimmern her. »Die Débauchés kommen!« rief man, und man stand auf am runden Tische. Der Regent schien dem Kurfürsten zuzuflüstern, dies sei der gefährliche Moment, vor welchem er ihn schon gewarnt, und der Kurfürst – empfahl sich.

Er hatte auch Eile, denn man pflegte nun die Eingänge zu barrikadieren. Es mochte in Paris oder Frankreich passieren, was da wollte, jetzt durfte keine Nachricht eingelassen werden für den Regenten.

Es begann die Tafel im Erdgeschoß, und man stieg hinab. Der Speisesaal grenzte unmittelbar an die Küche, und diese Küche war von ungemeiner Pracht. Alles Küchengerät war von schwerem Silber, und unter den Débauchés gab es Kochkünstler, welche in diese Küche, eilten, um Anordnungen zu treffen für ausgesuchte Delikatessen, wozu sie auch wohl selbst Hand anlegten.

Bei dieser Abendtafel blieben von den Damen nur diejenigen leichterer Sorte, welche kaum an einem dünnen Faden mit der besseren Gesellschaft zusammenhingen, denn man sprach und aß und trank besonders in ungebührlicher Weise.

Der Louise von Aubigny sagte man nach, daß auch sie einige Male an diesen Orgien teilgenommen habe. Heute aber eilte sie nach Hause in ihr kleines Palais weit hinten im Faubourg St. Germain. Es war zwischen Hof und Garten, wie die Franzosen sagen, ein einstöckiges, zierliches Haus, welches noch aus der begüterten Zeit der Aubignys stammte.

Zu ebener Erde wohnte die ältere Schwester Louise, im ersten Stocke Therese mit der alten Tante.

Am nächsten Morgen wollte Therese mit der Tante wirklich abreisen, wie der Marquis zum Kurfürsten gesagt hatte, und zwar nach dem Süden in ein savoyisches Kloster.

Das bot sich wie bestellt für die Intrige, welche Louise in der Geschwindigkeit plante.

Sie eilte hinauf, um Abschied zu nehmen und die Schwester in der Absicht sofortiger Abreise zu bestärken. Die Tante und Therese waren schon zu Bett, aber Therese schlief noch nicht. Louise eilte zu ihrem Lager und küßte sie zum Abschiede, denn morgen früh werde sie wie herkömmlich noch schlafen. »Kümmere dich also morgen früh gar nicht um mich, liebe Therese, und reise getrost, aber schreib' mir aus dem Kloster!«

Sie liebte diese stille Schwester ganz zärtlich, obwohl sie den klösterlichen Sinn derselben nicht begriff.

Als sie am andern Morgen erwachte, fragte sie ihre Madelon, ein äußerst gewitztes Kammermädchen, ob Tante und Schwester wirklich fort wären? – »Ja.« – »Nun, dann bestelle beim Portier, daß alle Briefe, auch die an meine Schwester adressierten, an mich abgegeben werden. Therese ist dann noch hier. Verstehst du?« – »Ja.« – »So geh' nun, bestell' es genau und streng!«

Dies war die Einleitung zu der Intrige. Sie lachte im voraus über das, was sich daraus ergeben könnte. Jedenfalls die Bekanntschaft mit dem scharmanten Blondin, welcher zum Überfluß ein großer regierender Herr wäre.

Wirklich! Nach einigen Stunden fuhr eine große Karosse vor, und der Kurfürst in ihr ließ anfragen, ob er persönlich einen Brief des Herrn Marquis von Aubigny an die Tochter desselben, Fräulein Therese von Aubigny, überreichen könnte.

Der eben erst unterrichtete Portier fragte bei Madelon an. Die Antwort lautete »Ja.«

So wurde der Kurfürst bei Fräulein Louise eingeführt und hielt sie für Fräulein Therese. Der wirklichen Louise würde er keinen Besuch gemacht haben.

Sie hatte kaum erwartet, daß es so schnell gehen würde; ihr Plan war ja erst im Keim. Dennoch hatte sie sich schon vorgesehen und eine Toilette gewählt, welche die schickliche Mitte hielt zwischen Reizung und Enthaltsamkeit. Sie konnte sich auch getrost auf ihr griechisch geschnittenes Antlitz, ihren feinen Mund, ihre geistsprühenden Augen und ihr üppiges dunkles Haar verlassen.

Sie begrüßte ihn mit sorgfältig gedämpfter Stimme und bat demütig, ihr sogleich eine Unschicklichkeit zu verzeihen, die Unschicklichkeit nämlich, daß sie den Brief ihres Vaters in Gegenwart des Gastes öffne und überblicke.

Der Kurfürst verbeugte sich und betrachtete mit Wohlgefallen das schöne Weib, welches den Brief wirklich nur überflog und rasch mit der Hand in den Schoß sinken ließ, aus ihm die Anknüpfung des Gespräches ergreifend.

»Unser guter Vater«, sagte sie, »ist immerdar die Güte selbst für uns und läßt sich durch unsere himmlische Mutter standhaft täuschen über den Charakter seiner Töchter.«

»Täuschen?«

»Jawohl, ich heiße immer wieder, auch in diesem Briefe die Fromme, meine arme Schwester Louise die Leichtsinnige. Ich bin nicht fromm genug, um solches Lob zu verdienen, und Louise ist nicht so leichtfertig, als man sie schildert. Sie hat sich soeben eine Buße auferlegt für das, was man ihr nachsagt in bezug auf ihren Verkehr mit den Geselligkeitskreisen des Regenten. Diese Kreise sind sehr gefährlich, das ist wahr, und ich meide sie deshalb grundsätzlich. Sie behandeln den Glauben an Gott, an Unsterblichkeit, an Strafe des Himmels mit einer Gleichgültigkeit, ja mit einem Unglauben, daß nicht bloß ein junges Mädchen davor erschrecken muß. Aber ein junges Mädchen sieht eben nicht weit voraus, und so hat auch Louise erst später erkannt, wie groß die Gefahr sei. Aber sie hat's erkannt und ist deshalb jetzt entflohen. Die üble Nachrede wegen einer Liebschaft – ihr dreister Liebhaber, welcher sie unbedacht bloßgestellt, war übrigens, wunderlich genug! ein Landsmann Eurer Hoheit – ein deutscher Edelmann.«

»Ah!«

»Die üble Nachrede ist Louisens Glück geworden; sie hat ihr die Augen geöffnet. Wir werden ja sehen, ob die klösterliche Einsamkeit, in welche sie sich jetzt zurückzieht, ihren fröhlichen Geist so weit dämpfen werde, daß sie ruhigen Sinnes in die Welt zurückkehren kann, oder ob sie sich entschließt, wirklich den Schleier zu nehmen.«

»Sogar den Schleier?«

»Ich, die man fromm nennt, und die der Schwester folgen wird, sobald nach einigen Tagen die Angelegenheiten unseres kleinen Haushaltes abgeschlossen sind, ich bin gar nicht für den Schleier. Wenn man gute Werke tun will, soll man sich nicht in Untätigkeit zurückziehen. – Aber das alles ist wohl nicht für Sie, Hoheit, denn soviel ich weiß, sind Sie ja ein Ketzer.«

»Ja, so nennen Sie uns; ich bin ein Protestant.«

»Protestant! Es fragt sich nur, gegen was alles Sie protestieren, und ob da irgend eine Religion übrig bleiben kann.«

»Wir sind der Meinung.«

»O, darüber sollen Sie mich unterrichten! Ich habe eigentlich ein lebhaftes Bedürfnis, die Verschiedenartigkeit kennen zu lernen, mit welcher sich das religiöse Bedürfnis äußert. Meine Mutter sagt, diese Wißbegierde sei ein Fehler. Sagen Sie's auch?«

»O nein; im Gegenteil.«

»Das ist lieb. Mein Vater ist auch Ihrer Meinung. Aber hier in Frankreich erfährt man nichts Aufrichtiges über Eure ketzerischen Grundsätze! Wäre es nicht unbescheiden, so bäte ich Sie um Belehrung.«

Der Kurfürst lachte und entgegnete, »daß er doch eigentlich kein Theologe wäre, aber ganz gern auf ihre einzelnen Fragen antworten werde.«

In diesem Stile ging die Unterhaltung fort, sie wurde ein theologisches Examen, und die eigentlich aufgeklärte Louise hatte die größte Not, in ihrer Rolle zu bleiben. Sie wußte aber einzelne unbedachte Äußerungen immer wieder gut zu machen, denn sie ließ sich mitunter zu einer witzigen Wendung verleiten.

Gerade das aber gefiel dem Kurfürsten außerordentlich, und er versicherte ihr, daß ihre Frömmigkeit scharmant und für jeden Ketzer unterhaltend wäre.

Kurz, man trennte sich unter der ehrlichen Versicherung, daß jeder Teil den angenehmsten Eindruck erhalten habe.

»Und wo kann ich hoffen,« schloß der Kurfürst, »eine so bezaubernde Frömmigkeit wiederzusehen?«

»O nirgends, zu meinem lebhaften Bedauern, nirgends als hier. Ich gehe nicht in die Welt und habe jetzt vor, sobald meine Schwester ihren festen Wohnsitz mir angezeigt, ihr zu folgen. Am liebsten würde ich reisen, um zu lernen, um den mannigfaltigen Sinn der Menschen kennen zu lernen, also ins Ausland reisen, aber dazu fehlt mir eine passende Begleitung.«

»Wie wäre es mit dem Deutschen Reiche, wo sie die Ketzer finden?«

»Hoheit scherzen. Aber da eine junge Dame einem jungen Herrn keinen Gegenbesuch machen kann, so habe ich leider keine Aussicht –«

»Mich wiederzusehen? Es bedarf nur der leisesten Andeutung, daß die Wiederholung meines Besuches nicht ungelegen käme, dann dürfte ich hoffen –«

»Ei, Sie sind ja galanter als ein Franzose, und doch bezichtet man hier in Paris Ihre Landsleute – basta! Man kennt Euch nicht und glaubt, Ihr wohntet in dichten Wäldern, ohne auch nur leise anzudeuten, daß mir die nähere Bekanntschaft dieses Gegenbeweises unerwünscht wäre. Ich habe ja schon gesagt, daß ich wißbegierig bin.«

»Ich bedanke mich. Also auf Wiedersehen, Fräulein von Aubigny!«

»Sie werden zur Abendzeit immer in Anspruch genommen sein von dem Regenten.«

»Er geht schon morgen nach Versailles, und ich bin frei, die Merkwürdigkeiten von Paris zu studieren, die Merkwürdigkeiten und die Schönheiten. Also auf Wiedersehen!«

Sie sah ihm sinnend nach. Kaum, daß sie lächelte. Wie denn? Der dreiste Scherz war ja doch in seiner Einleitung gelungen?

Ja, das empfand sie wohl, und darüber hätte sie lachen können. Aber der Scherz kam ihr plötzlich vor, als hätte er eine ernsthafte Bedeutung. Nicht weil man den Trug mit dem Namen ihrer Schwester entdecken und sie anklagen könnte – das machte ihr wenig Sorge. Sie war ein Kind des Regentenkreises, in welchem man sich die dreistesten Dinge gestattete. Nein, die ernste Beimischung betraf die Person des Kurfürsten. Er hatte ihr sehr gefallen, er war so ganz anders, als einer der Liebhaber, mit denen sie bisher näher verkehrt hatte. Die blonde Schönheit war ihr neu. Und das war's nicht allein, so fein, so zurückhaltend und doch dabei so verbindlich hatte sie noch keinen Mann neben sich gesehen. Ihre Schönheit – und sie war sich derselben bewußt – hatte ersichtlich keine besondere Rolle gespielt. Darüber staunte sie, dies begegnete ihr zum ersten Male, und daraus entsprang ihr der Gedanke, dies ist am Ende nicht der Mann für solchen Scherz. Sollst du ihm nicht beim ersten Besuche die Wahrheit sagen? fragte sie. – Dann – fuhr sie fort – verläßt er dich sogleich; danach sieht er aus, denn deinen bemakelten Ruf kennt er wahrscheinlich. Der Vater hat ihm nur für Therese den Brief mitgegeben, und meiner gar nicht erwähnt. Was tun? – Die nächste Begegnung abwarten, da wird sich's von selbst finden, was zu tun sei.

Jedenfalls mußte sie zu Hause bleiben, um die Täuschung aufrecht zu halten. Das war langweilig. Nicht doch! So war sie nicht. Sie war literarisch gebildet, sie las gern. Richtig! sagte sie plötzlich, ich fange an, Memoiren aufzuschreiben. Der Klub beim Regenten, die Schilderung dieser Personen, das ist ein Thema, welches ihn interessieren wird, und mich unterhält es auch. Zunächst Skizzen, die les' ich vor, und mündlich führ' ich sie aus.

Auf den Kurfürsten hatte sie eine reizende Wirkung ausgeübt. Er war ja eine Künstlernatur, und ein so klassisch schönes Weib mit so lebhaftem Geiste, mit so klarer Bildung mußte ja einen ungemein günstigen Eindruck auf ihn machen. Eine solche Dame war ihm noch nie begegnet. Und Vrony? O, er dachte wohl an sie und lachte, wenn er sich beide nebeneinander vorstellte, er lachte über den Kontrast. Vrony, seine liebe Vrony, das ist ja ganz was anderes!

Aber schreiben mochte er in diesem Augenblicke nicht, dafür war er nicht gesammelt genug; und von dieser seiner ersten Bekanntschaft in Paris ihr zu erzählen, das schien ihm doch unpassend.

Sein Sekretär war indessen angekommen und stellte sich vor. Er war ein französischer Schweizer aus Genf und war ein sehr ordentlicher, gewissenhafter, noch junger Mann des Namens Tissot. Der Kurfürst pflegte ihm die Briefe zu diktieren und Tissot fragte jetzt: »An die fürstliche Familie Immanuels XIX. haben Hoheit wohl schon eigenhändig geschrieben?«

»Nein. Ich wollte allerdings, aber der Strudel hier hat mich gleich ergriffen. Setzen Sie immerhin einen Brief auf an die Frau Fürstin und legen mir ihn vor.«

»Hoheit wollen Französisch an die Frau Fürstin –?«

»Mein Gott, ja ich weiß, es paßt nicht recht; aber ich komme jetzt nicht dazu. Tun Sie's nur!«

 

4.

Kurfürst Karl war in angenehmer Erregung, um nicht Aufregung zu sagen, von der neuen Bekanntschaft. Geist und Schönheit zusammen bringen ja die Erregung zustande, und dies – meinte er – ist doch das Wünschenswerte.

Des andern Tags machte er pflichtschuldigst seine Visite bei der Mutter des Regenten, der sogenannten Pfalzgräfin. Sie war nicht nur eine geborene Deutsche, welche ihr deutsches Wesen mit besonderem Nachdrucke unter den Franzosen aufrecht erhielt, sie war auch seine Verwandte. Daß man sie mitunter abschmeckend »die Sauerkrautprinzessin« nannte, das tat ihr keinen Abbruch; sie lachte dazu, und sie empfing denn auch ihren Vetter Karl mit derben, germanischen Ausdrücken.

Das gefiel ihm nicht, und er ging kopfschüttelnd von ihr. Ein unangenehmer Gedanke belästigte ihn dabei: sollte Vrony auch einmal so werden? Sie wächst auch unter Bauern auf und läßt ihrer Natürlichkeit freien Ausdruck, wenn auch angenehmer. Kann das bei vorschreitendem Alter wohl ebenso derb werden, wie bei dieser Pfalzgräfin? Nicht doch! Aber dieser Gedanke war doch lästig.

Der Frühling war in Paris vollständig eingekehrt, es grünte und blühte überall in den Gärten, deren Paris damals sehr viele hatte, namentlich am linken Seineufer, und im Tuileriengarten, in dessen Nähe der Kurfürst wohnte, sangen die Vögel, daß er's in seinem Zimmer hörte. Er fuhr hinaus ins Freie, er wollte die Umgebungen der Hauptstadt kennen lernen. Meudon in seinem waldigen Bergwinkel gefiel ihm, Versailles entzückte ihn. Dieser Lenôtresche Gartengeschmack, welcher die Bäume wie Baumaterial behandelt und in großem Stile gruppiert, mußte einem Mann wie ihm imponieren. Bildung und schönes Maß war ja doch das Grundelement in ihm. Die Steifheit hätte ihn stören können, aber diese sorgfältig gepflegten, mit plastischen Kunstwerken angefüllten, vielleicht gar zu gradlinigen Gärten erweiterten sich ja zu weiten und tiefen Waldgegenden und gingen in den Wald über. Das bestach seine deutsche Neigung und so wurde es ihm gebildete Poesie.

Den Gruppen der Hofleute – der Regent war heute in Versailles – ging er vorsichtig aus dem Wege, und war höchlich erbaut, immer wieder eine neue reizende Ansiedlung nach der andern, wie Groß- und Kleintrianon, zu entdecken, wodurch die ganze Gegend wie eine ganze Kultivierung zur Schönheit, wie ein ganzes Kunstwerk erschien. Dazu sangen Drosseln und Stieglitze und die gemeinen Finken ringsum, und es glitzerte die Sonne durch die Baumkronen – er war durchweg in erfreulicher Stimmung. Ganz ohne Frauenbilder! meinte er.

Das war jedoch unrichtig. Aus den Waldpartien lachte das fröhliche Auge Vronys; durch die verschnittenen, haushohen Baumgänge, mit der Aussicht auf Schlösser, sah er die vornehme Figur des Fräuleins von Aubigny einherschreiten.

Er hätte die letztere wohl auch des Abends schon wieder aufgesucht, aber er kam erst bei einbrechender Nacht in seine Pariser Wohnung. Es gab damals noch keine Eisenbahnen.

Aber am nächsten Abende verfehlte er nicht, wieder hinüberzufahren in das kleine Palais »zwischen Hof und Garten« und Golz aufzutragen, daß er mit dem Wagen zu warten hätte.

Golz war ein Anhänger Vronys, und er hatte den Tissot veranlaßt, nach einem Briefe zu fragen für das Prinzeßchen. Die Nachricht von einem französischen Briefe an die Fürstin hatte ihm mißfallen, und der wiederholte Besuch hier in dem stillen Palais, welcher schon das erstemal lang gedauert hatte, kam ihm bereits verdächtig vor. Das Warten mit dem Wagen verstand sich ja von selbst; wenn's also der Herr besonders ankündigte, dann war's auf ein langdauerndes Warten abgesehen.

Jawohl, Fräulein Louise, jetzt Therese genannt, hatte gehofft, der interessante Blondin werde am andern Tage wiederkommen. Sie war an schnelle Siege gewöhnt. Sie hatte sich also umsonst passend angezogen, um den Übergang von Frömmigkeit zur Freiheit in kleinen Schritten auszuführen. Er war nicht gekommen! Hatte er nachgefragt? Hatte er entdeckt?

Heute war sie noch einen Schritt weitergegangen in der Toilette; sie war bereits selbst eingefangen in dem Roman, welchen sie angelegt hatte, sie war bereits gespannt. Kam er heute nicht, dann – da kam er.

Nun blitzte alles in ihr und an ihr von Leben, von Fröhlichkeit, von witzigen Wendungen, von allerliebster Laune der Verführung, welche indes immer rasch und fein gedämpft wurde, sobald sie bemerkte, daß die geistigen Reize glücklicheren Eindruck machten als die sinnlichen.

Ihre vorbereiteten kleinen Memoiren, die Schilderung französischer Notabilitäten, machten vollständiges Glück beim Kurfürsten, und die Stunden flogen dahin. Golz im Hausflur draußen war sehr schlechter Laune, und verfügte sich ins Vorzimmer, als ob er dadurch den Aufbruch seines Herrn beschleunigen könnte.

Als der Kurfürst sich endlich zum Fortgehn erhob, da konnte man sagen, es ist ein neues Liebesverhältnis entsprungen. Sie stand vor ihm mit liebevollem Ausdruck des klassisch schönen Kopfes, mit wildem Feuer des dunklen Auges und reichte ihm die Hand zum Abschiedskusse. Der Ärmel fiel zurück und ließ den blendenden Arm zur Augenweide. Dieser Augenweide war sie sich so bewußt, daß sie seine Hand leise drückte.

Er erwiderte den Druck nicht. Betroffen von der Sprödigkeit dieses kalten Deutschen, suchte sie rasch nach einem anderswohin lenkenden Abschiedsworte und sagte: »Apropos Hoheit, haben Sie davon gesprochen, daß Sie mich besucht haben und besuchen?«

»Gesprochen? Nein. Mit wem sollte ich?! Ich verkehre mit niemand.«

»Das ist mir angenehm. Meine Bitte kommt also noch recht. Sie lautet: Sprechen Sie nicht davon, daß Sie mich kennen und besuchen.«

»Warum denn nicht?«

»Mein Gott, ich bin ein noch junges Geschöpf – denn ich bin noch jung – ich bin augenblicklich allein; die Sittenhüterin, meine Tante, ist mit meiner Schwester fortgereist, ich will nicht der Medisance ausgesetzt sein, welche jetzt frecher herrscht als je und welche sich ohnehin schon unseres Namens bemächtigt hat, weil meine Schwester dazu Veranlassung gegeben. Mein Ruf ist unangetastet, und er soll es bleiben. Bin ich auch nicht – Sie wissen es ja schon aus unsern Gesprächen – bin ich auch nicht so fromm, wie man mich preist, um einen Kontrast zu haben für meine Schwester, so bin ich doch – eben nicht meine Schwester. Falls unser geselliger Verkehr nicht abgebrochen wird –«

»Warum sollte er das?«

»Wer kann das wissen! Dauert also unser Verkehr länger, dann werd' ich Sie in ein Geheimnis einweihen, welches unsern Umgang erleichtern wird, auch vielleicht für die Öffentlichkeit erleichtern wird.«

»Ein Geheimnis? Für die Öffentlichkeit?«

»Fragen Sie jetzt nicht. Zeigt es sich, wenn Sie Ihre stillen Besuche bei mir wiederholen, daß es Ihnen um die Kenntnis meines Geheimnisses wirklich zu tun ist, dann –«

Sie pausierte und drängte ihren Blick gleichsam in seine Augen.

»Dann?«

»Dann mache ich Sie vielleicht zum Mitwisser.«

»Warum nicht gleich?«

»O nein! Ich kenne Sie noch zuwenig. Sie sind bis jetzt sehr sparsam gewesen in der Mitteilung Ihrer persönlichen Verhältnisse. Ich hab' also noch kein Recht, Sie mit meinen persönlichen Verhältnissen zu behelligen. Also bis auf weiteres!«

Sie hatte ihre Hand nicht zurückgezogen; jetzt erst tat sie's langsam und vorsichtig, und jetzt hielt er ihre Hand fest, küßte sie noch einmal und ging – nicht ohne Erregtheit.

An der Tür hielt er inne und sprach zurück: »Das muß ich noch sagen: ich speise morgen in Versailles beim Regenten. Der Rückweg nach Paris wird mich zu sehr verspäten, als daß ich noch –«

»Besser spät, als gar nicht. Sie sind die Liebenswürdigkeit selbst.«

Dieser Herr Kurfürst bedachte nicht, daß die Neigung mit den Abendstunden wächst.

Er bedachte überhaupt nichts mehr, er schwamm dahin, und sein Losungswort lautete nur: das französische Leben kennen lernen! Mit diesem Losungsworte beschwichtigte er sein Gewissen. Tagsüber besuchte er auch gewissenhaft alle Merkwürdigkeiten der großen Stadt, und seinem Sekretär Tissot diktierte er jeden Morgen ein Journal, welches alles aufzählt, was er angesehen.

Leibjäger Golz drängte im geheimen immer wieder in Tissot, den Herrn an die Heimat zu erinnern, denn die Abendbesuche bei der Dame da draußen beunruhigten ihn. Er hatte im Vorzimmer aus Langerweile die Bekanntschaft der Kammerjungfer gemacht. Sie heiße Madelon, sagte er zu Tissot, und sei mager, habe aber verbrecherische Augen. Auch diese Person erhöhe ihm den Verdacht, welchen er für den gnädigen Herrn hege. Sie sei kurios weiblich. Leider verstehe er nur wenig von ihr, denn sie spreche nur Französisch. Aber daß sie Deutsch von ihm lernen wolle, das komme ihm doch zudringlich vor.

Golz war nicht mehr so jung wie sein Herr, aber er war von kräftiger Gestalt. Er fing jetzt an, grob zu werden gegen Tissot, weil dieser den Kurfürsten nicht hinlänglich an eine vaterländische Schuldigkeit erinnerte. »Ich darf nicht,« erwiderte Tissot, »der Kurfürst wird immer ungeduldig, wenn ich nach Aufträgen frage für die Familie Immanuels XIX. Er tut, als ob er beleidigt wäre von dort.«

Am nächsten Abend kam der Kurfürst wirklich erst gegen 9 Uhr zu seiner neuen Freundin im kleinen Palais, und Madelon lachte darüber dem mürrischen Golz ins Gesicht. Golz merkte wohl, was das Lachen bedeutete, obschon er wieder nicht verstand, was sie sagte. Er verstand doch den Spott, und er übersetzte ihn in die Worte: Dein junger Herr Kurfürst aber ist arg geschossen.

Wie sollte es auch nicht sein! Abgesehen von allen Reizen einer so jungen schönen Dame – und sie wurde alle Tage schöner, fesselte sie ihn immer enger durch ihren Geist. »Hier lernst du das beste der Franzosen kennen«, mußte er sich immer wieder gestehen. Oder vielmehr: das brachte er vor zu seiner Entschuldigung.

An diesem Abende nun stürmte Geist und Schönheit vereint gegen seine deutsche Naivität – kann er da widerstehen?

Madelon öffnete ihm lachend die Tür und schloß sie hastig ohne Antwort, obwohl ihre Herrin erschreckt rief: »Aber Madelon, wie kannst du –?«

Das sollte wohl heißen: »Wie kannst du so spät am Abend jemand bei mir einführen.«

Sie lag in der Tat auf einer Chaiselongue, bei Kerzenlicht einen Roman der Scudery lesend, und ein bescheidenes Negligé, ein leichter flatternder Überwurf bedeckte sehr sparsam Büste und Arme. Beides war verlockend schön und erschreckte fast den Herrn Kurfürsten, welcher immer noch nicht wußte, ob er verliebt sein dürfte oder nicht.

Er stammelte Entschuldigungen; es sei ihm doch erlaubt worden, auch spät zu kommen –

»Aber nicht so spät; Sie sehen aufgeregt aus; Sie haben stark diniert beim Regenten.«

»Jawohl, jawohl! Es war alles stark, die Speise, der Wein und die Rede. Der Mann bleibt ein Rätsel.«

»Er ist auch wirklich ein Rätsel«, lächelte die Dame.

Der Kurfürst ergriff dies Thema wie einen Rettungsanker und fuhr beinahe heftig fort: »Am Tage imponiert er mir immer wieder durch seinen Reichtum an Kenntnissen und Anschauungen und durch seinen politischen Mut, welcher auch den gefährlichsten Folgen ruhig ins Auge blickt. Heute hat er neben mir mit dem kleinen gescheiten Dubois, seinem Faktotum, so grell gestritten, daß mir angst und bange wurde. Die Zäune und Mauern des despotisch gewordenen Ludwig XIV. wolle er niederreißen und sogar die Generalstaaten einberufen. Ich kann's nicht reimen, wie gerade dieser Mann an die Nation zu appellieren wagen sollte.«

Die schöne Dame schwieg darauf und blickte wie nachsinnend an die Decke des Zimmers.

Sie sah dabei klassisch schön aus. Er seufzte unwillkürlich, fuhr aber, um sich zu retten, geradezu heftig fort: »Sie werte Freundin, welche von Vater und Mutter fromm genannt wird, Sie müssen doch entsetzt davon sein!«

»Ich habe lange nicht gewußt,« entgegnete sie langsam, »wie diese Dinge eigentlich beschaffen wären. Meine Schwester erzählte sie nur fröhlich, und sie wurde wohl auch des Argen daran nie ganz inne. Wie käme ein junges Mädchen zu weitgehenden Folgerungen! Nicht wahr?«

»Ja, ja.«

»Und über den Charakter des Regenten erzählte sie so Widersprechendes. Sie nannte ihn stets menschenfreundlich, und die Heuchelei scheint er wirklich zu hassen. Deshalb vielleicht gewährt er der Ausgelassenheit soviel Raum, auch der unartigen. Sie gilt ihm für Freimut. So hat er einmal Madame Imbert, die erste Kammerfrau seiner Mutter, in Sachen der falschen Frömmigkeit behandelt. Sie hatte gesehen, wie eifrig er in seinem Meßbuche gelesen bei einem Gottesdienste in Versailles, und sie hatte ihm darüber ihre fromme Freude ausgedrückt. ›Madame,‹ hatte er ihr geantwortet, ›was geschieht bei solchen Gelegenheiten nicht alles! Man braucht überall seine Unterhaltung; das Buch, welches ich damals gelesen und welches Sie für ein Gebetbuch gehalten haben, war – der Rabelais. Oh! – Ohne Rabelais hätte ich mich gelangweilt.‹«

»Das ist lächerlich und malitiös!«

»Ich möchte nach all den Beschreibungen fast glauben, der Mann hat sich von Jugend auf gelangweilt und langweilt sich immerfort, und bloß um sich zu zerstreuen, stürzt er sich in den Lärm der Débauche. Er hat vielleicht nie ein liebendes Herz gefunden.«

»Sie glauben, das hätte –«

»Was hat er nicht alles versucht! Gemalt hat er, Chemie studiert, und was weiß ich! Er hat einen zu reichen, begehrlichen Geist und bloß Geist.«

»Sie meinen –«

»Dem bloßen Geist kann das Leben nicht genügen, und so treibt er aus Ungeduld tolles Zeug. Er soll wirklich in seinem Innersten trotz alledem kalt und leidenschaftslos sein. Wer löst das Rätsel solch eines Mannes? Ich bin ein unerfahrenes Mädchen, ich kann es nicht. Sie, Hoheit, sind ein kluger Mann, Sie werden's wohl können.«

»Ich, o mein Gott, ich bin auch noch sehr unerfahren, sehr!«

Er hatte eigentlich alles nur halb verstanden, weil er mehr sah als hörte. Aber das verstand er jetzt nur zu gut, daß ein so klug sprechendes Mädchen von solcher Schönheit des Körpers ein Ausbund sei an Reiz und Zauber, und daß nur ein Tor hier noch zögern könne. Schon wollte er sich von seinem Sitze erheben und näher zu ihr treten, da sprach es in ihm ganz verständlich: »Gedenke der Vrony! Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um.« Und mit Anstrengung setzte er sich fester. Es entstand eine Pause; sie lächelte. Endlich erfaßte er den Zipfel, nach welchem er suchte, und brachte fast stammelnd hervor: »Sie wollten ja, meine Gnädigste –«

»Was denn?«

»Sie haben versprochen, mir ein Geheimnis anzuvertrauen.«

Jetzt pausierte sie und sagte dann kühlen Tones: »Ich werde mein Wort halten; aber erst nach einigen Tagen. Ich habe Gründe.«

»Gründe?«

»Triftige Gründe, wenigstens triftig für mich, weil ich dann wahrscheinlich Ihre Gesellschaft für immer verliere, wenn ich Ihnen das Geheimnis enthüllt habe.«

»Warum denn?«

»Ich habe Ihnen zu wiederholten Malen gesagt, daß ich Nachricht von meiner Schwester erwarte, wo, in welchem Kloster sie sich angesiedelt habe, um – nun ja, um ihr zu folgen.«

»Oh!«

»Das ist Nummer eins. Die Nachricht von meiner Schwester ist noch nicht da, kann aber jeden Tag eintreffen. Sobald sie eintrifft, reise ich nach dem Dauphiné, um dort ein wichtiges Geschäft rasch zu erledigen. Dies Geschäft ist der Mittelpunkt meines Geheimnisses. Am Tage meiner Abreise sollen Sie's erfahren.«

»Abreise, Abreise! Ich höre nur dies eine trostlose Wort.«

»Vielleicht hört es auf, trostlos für Sie zu sein, sobald Sie das Geheimnis kennen.«

Diese Drohung mit der Abreise war ein scharfer Stachel. Daß ihn die Koketterie erfunden haben könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Ach, all seine Sinne waren just an diesem Abend in drohender Verwirrung.

Er sprang jetzt wirklich vom Sessel auf, und auch die Dame richtete sich ein wenig in die Höhe aus ihrer liegenden Stellung. Sie mochte wohl überzeugt sein, der Augenblick wäre gekommen, welcher den blöden deutschen Jüngling zu einer entscheidenden Zärtlichkeit veranlassen würde.

Aber er näherte sich ihr nicht; er bedeckte seine Augen mit der Hand, er hörte auf die innere Stimme, welche flüsterte: Reiß aus, Kurfürst, reiß aus!

»Ist Ihnen nicht wohl?« sprach sie sanft, und mit der Stimme fragte auch ihre ausgestreckte Hand.

»Nein, nein!« rief er, und in abgebrochenen Worten fuhr er fort, die schweren Weine an der Tafel des Regenten hätten ihm einen heftigen Kopfschmerz zugezogen, er lechzte nach frischer Luft, und bat um Verzeihung für so späte Störung und so eiligen Aufbruch – und da ging er wirklich, ohne den herkömmlichen Handkuß zu wagen. Das Wagnis schien ihm zu groß in diesem Augenblicke.

Madelon lachte nicht mehr, als der Kurfürst hinausstürmte, und Golz sah wie ein Sieger verächtlich auf sie hinab. Er war viel höher gewachsen als sie.

 

5.

Am andern Morgen überreichte Sekretär Tissot dem Kurfürsten einen Brief seines Kanzlers, welcher angelangt sei, als Hoheit noch schliefen, und die Bezeichnung »pressant« auf dem Umschlag trage.

Hoheit hatten eine sehr unruhige Nacht gehabt, voll beunruhigender Träume, waren erst spät vollständig eingeschlafen und deshalb so spät am Vormittage aufgewacht.

Der letzte Schlaf aber hatte gut getan, und er griff jetzt fest nach dem Briefe.

Der Kanzler schrieb nicht bloß über Regierungsfragen, er erlaubte sich auch, Seine Hoheit vor allen Dingen zu benachrichtigen, daß aus dem Fürstentum Immanuels XIX. Kunde eingelaufen sei über die gesteigerte Krankheit der Frau Fürstin Tante, und daß man eine Katastrophe befürchte. Ob Hoheit nicht vielleicht befehle, daß eine Vertrauensperson hingesendet werde?

»Auf der Stelle!« rief der Kurfürst, indem er aus dem Bett sprang. »Und täglich«, setzte er für Tissot hinzu, »soll man mir Nachricht senden über den Zustand der verehrungswürdigen Frau.«

Das gab einen jähen Wechsel der Stimmung! Er brachte es zuwege, daß der Kurfürst zunächst seine verführerische französische Dame nicht wieder besuchen wollte. Ja, er befahl, eine leichte Kutsche anzuspannen und zwei Reitpferde mitzugeben; er wollte auf einige Tage verreisen.

So fuhr er plötzlich nach Fontainebleau; Wald wollte er haben, Wald.

Zu Pferde durchstrich er den Wald von Fontainebleau mehrere Tage lang. Er suchte Sammlung und Klarheit.

Der Frühling war in voller Blüte. Die Bäume dufteten, die Vögel sangen alle, die Luft strich üppig warm, die Sonne wurde schon heiß, die ganze Natur war in unermeßlicher Tätigkeit.

Das ging auf ihn über, und in seinem Innern sprangen Wünsche, Hoffnungen, Forderungen wirr durcheinander.

Erst am dritten Tage konnte er lachen über seine Situation neben der verführerischen Dame d'Aubigny, lachen, weil er an den biblischen Joseph dachte, welcher vor der lockenden Frau Potiphar ausreißt; lachen, weil er doch ein Gewand errettet und es nicht als Anklagestück in den Händen der Dame zurückgelassen; lachen, weil er früher einmal mit Bruder Fritz über den gar so keuschen Joseph gelacht hatte.

Nun gut, sagte er, das mußte geschehen, du mußtest tapfer ausreißen vor der Versuchung gemeiner Sinnlichkeit. Aber war's denn die gemeine Sinnlichkeit allein, welche dich zu überwältigen drohte? Nein! Sie war geadelt durch den Geist dieses überlegenen Mädchens. Vorzugsweise der Gedanke an Vrony hat mich fortgetrieben. Bietet mir aber denn Vrony eine Gewähr für die Zukunft? In der Einsamkeit will sie mit mir leben. Reizend, reizend! Aber ich bin ein regierender Herr, ich brauche eine Fürstin. Wenn dem armen Waldkinde nun auch die Mutter verloren geht, wird sie dann nicht noch enger hineingeraten in das kleine unbedeutende Leben ihres beschränkten Vaters? Die Mutter allein hätte sie ausbilden können; ist die Mutter dahin, was wird aus ihr? Ich aber bin und bleibe doch ein Mann, der regieren muß, der an seiner Seite eine denkende Frau haben muß, damit er selbst Gedanken ausbilde für das Wohl seiner Untertanen. Hier in Frankreich wird man dessen inne. Der Regent mag sein, wie er will, er ist doch fruchtbar an Staatsgedanken. Das muß ich doch auch werden, ich muß also neben mir Anregung dazu haben – Summa: ist nicht am Ende Dame d'Aubigny die richtige Frau für mich, und ist es nicht ein bedenklicher Egoismus des Herzens, daß ich immer wieder zu der kleinen Vrony hinneige.

Er schied aus dem Walde von Fontainebleau, und die Wagschale für Vrony ging als die leichtere in die Höhe, die Wagschale für Dame d'Aubigny aber sank als die schwerere. So kam er nach Paris zurück.

Dort übergab ihm Tissot neue Nachricht über die Fürstin Tante. Es gehe besser, und es scheine nur eine Krise gewesen zu sein.

Nun war wieder die Wagschale Vronys schwerer, und er konnte sich nicht entschließen, Dame d'Aubigny sogleich wieder aufzusuchen.

Aber eine Höflichkeit wollte er ihr erweisen, sein Ausbleiben wollte er entschuldigen mit Regierungsgeschäften, welche ihn überhäuft hätten. Dies schrieb er ihr. Golz mußte den Brief hintragen.

Golz betrug sich dabei sehr stolz gegen Madelon. Diese tat aber ebenso. Sie machte nur eine spöttische Bemerkung über mangelhafte Lebensart barbarischer Völkerschaften, welchen die Vorschriften geselligen Verkehrs noch unbekannt wären und welche sich nicht sofort entschuldigten, falls sie fast eine Woche plötzlich ausblieben.

Golz verstand nicht viel davon. Aber er verstand, daß sich das dünne Frauenzimmer mit den spitzbübischen Augen ärgerte, und das war ihm angenehm. Er sollte auf Antwort warten, hieß es. Das verstand er und blieb stehen, wenn auch ungern.

Dame d'Aubigny hatte das Billett gelesen und ließ trocken sagen: »Es ist keine Antwort nötig.«

In der Tat war sie ernsthaft gestimmt. Sie verleugnete sich nicht, daß sie eine Niederlage erlitten, daß der blonde Jüngling ihr Entgegenkommen abgewiesen habe. Das war demütigend für die kokette Dame. Aber sie war nicht bloß kokett, sie war eine denkende Person, und sie war jung. Die Jugend in ihr war dem jungen Kurfürsten zugeneigt und hätte ihn gern in ihre Arme geschlossen, und das Nachdenken sagte ihr, auf diesem Wege wirst du nicht Frau Kurfürstin! Am Ende kommt er gar nicht wieder! – Dennoch hatte sie gesagt, es ist keine Antwort nötig. Das Entgegenkommen war verunglückt, nun, meinte sie, könnte nur Zurückhaltung ihn wieder zu ihr führen.

Hatte sie recht? Zunächst schien es nicht so. Der Kurfürst war betroffen, daß Golz auch nicht eine Zeile Antwort brachte, und nach kurzem Nachsinnen befahl er wieder, einen Wagen anzuspannen und zwei Reitpferde mitzugeben. Er fuhr nach Compiègne.

Der Kampf im Innern nahm hier einen anderen Verlauf. Das Nichtantworten hatte ihn, wie sich jetzt zeigte, beleidigt, hatte wie Herzlosigkeit auf ihn gewirkt, und er kam zu dem Resultate, das Herz ist doch die Hauptsache, auch wenn man Kurfürst ist.

So gesinnt kam er nach drei Tagen zurück und fand einen Brief seines Bruders vor. Der Bruder Fritz schreibt:

»Mein allergnädigster Kurfürst und Herr, mein lieber Bruder Karl! Ich befinde mich ausnehmend wohl und Du hast recht behalten. Recht mit all den Vorwürfen, welche Du mir damals bei Gelegenheit der kleinen Vrony verabreicht hast. Ja, ich bin ein leichtsinniger Strick! Tag und Nacht fahrend, bin ich durch die Schweiz hierher nach Oberitalien gejagt, geradezu gejagt, ich hatte eben keine Ruhe. Und hier ist's plötzlich anders geworden in meinem unruhigen Schädel. Hier habe ich gleich und hab' es alle Tag erfahren, daß die Welt viel schöner ist, als ich geahnet habe. Besonders die Weiber! Herrgott, Karl, die Weiber sind hier von einer bestrickenden Schönheit! Aber sie beunruhigen mich nicht mehr, sie machen mir nur Vergnügen. Diese Köpfe, diese Augen, diese Gestalten! Unser Prinzeßchen kommt mir jetzt wie ein kleiner Gnom daneben vor. Ich bin nur neugierig, ob und wann ich einmal sagen werde, diese ist die Schönste, und diese allein mußt du erobern. Verwundere Dich also nicht, wenn ich einmal plötzlich verheiratet bin, ohne Deine Erlaubnis eingeholt zu haben. Ich schreibe Dir von Turin und behalte hier einige Zeit mein Hauptquartier, Ausflüge machend nach Savoyen und Umgegend. Schreibe mir eine Zeile hierher, namentlich ob Du bei Deinem exaltierten Sinn geblieben bist für die kleine Prinzessin. Ein liebes Närrchen ist sie immerhin, wenn auch ihr bißchen Schönheit nicht mehr zureicht für unsereinen. Die prächtigen Schultern hier, und – na, ich sage Dir, komm hierher! Deine dürftigen Französinnen sind nichts dagegen, das versichert Dir Dein aufgeklärter Bruder Fritz.«

»Der Schlingel!« rief der Kurfürst lachend, »was weiß der von unsern Französinnen! Er ist also doch leichteren Gewichtes, als ich.«

Darauf stellte sich aber ein kurzer Seufzer ein und ein etwas unruhiges Nachdenken. Es betraf das Nachdenken den Brief seines Bruders, und endlich rief er aus: »Gar zu schwer braucht man allerdings die Frage um die Weiber nicht zu nehmen. Fritz ist ein junger Bursche, und soweit mag er recht haben. Wieviel bin ich denn älter? Das ist nicht der Rede wert. Fritz mag überhaupt recht haben, er hat immer ein gesundes Urteil. Mein jetziges Leben ist eine Quälerei! Fritz ist ein kernhafter natürlicher Junge. Zum Kuckuck hin, das will ich auch sein! Ich bin in Frankreich zu meiner Belehrung. Warum soll ich nicht naturgemäß mit Franzosen und Französinnen verkehren? Ich will es; nur so lern' ich sie wirklich kennen! So sei's!«

Nach diesem heldenmäßigen Entschlusse setzte er sich hin und schrieb hastig an seinen Bruder Fritz:

»Du siehst, daß ich recht hatte, Du bist ein Taugenichts! Freilich ein liebenswürdiger und wohl auch gescheiter. Möge es Dir wohl bekommen! Apropos! Wenn Du wirklich nach Savoyen kommst, so forsche doch dort in einigen Klöstern umher, ob ein Fräulein von Aubigny, die Tochter des Marquis von Aubigny aus Lothringen, in einem der Klöster eingekehrt ist, und sage mir so rasch als möglich, in welchem.«

Er wollte seine Dame mit dieser Nachricht überraschen.

Jetzt wurde Golz hinausgeschickt zur Dame von Aubigny mit der Anfrage, ob Hoheit diesen Abend seine Aufwartung machen könnte.

Golz war außer sich. Er hatte gehofft, der Schwindel da draußen hätte ein Ende, und nun! – er erklärte rundweg, daß er nicht soviel Französisch könne, um einen solchen mündlichen Auftrag auszurichten.

»Du lernst eben gar nichts, und ich werde dich nach Hause schicken müssen«, sagte der Kurfürst ärgerlich, beschloß jedoch kurz, ohne Anfrage hinauszufahren. Er hatte ja versprochen, seine Besuche geheim zu halten, und mochte deshalb nicht einen französischen Boten wählen.

Fritz hat positiv recht, dachte er beim Hinausfahren: man soll keine Vorurteile haben in betreff der Weiber.

Madelon, welche ihn melden sollte, stellte sich erstaunt und entgegnete: »Pardon! Aber meine Gebieterin ist mit den Vorbereitungen zur Reise beschäftigt.«

»Sie verreist?«

»Jawohl, und deshalb wird sie wohl – aber ich will pflichtschuldig anfragen.«

Ehe sie abging, warf sie dem hinten an der Vorzimmertür stehenden Golz einen triumphierenden Blick zu, welchen Golz als geradezu niederträchtig bezeichnete.

Es dauerte lange, bis sie wiederkam. Dann bat sie, einzutreten, und hochgefälligst zu warten. Die Herrin habe sich des Besuches nicht versehen.

Endlich kam diese Herrin – schwarz und ganz matronenhaft gekleidet, grüßte höflich und bat, Platz zu nehmen.

Just über so einfachem Schwarz nahm sich ihr blasses, aber schönes Antlitz vortrefflich aus. So dachte der Kurfürst, und dieser Gedanke verzögerte seine Anrede. Sie erwartete dieselbe schweigend.

»Sie reisen?«

»Ja.«

»Darf ich fragen –?«

»Wohin? Ins Dauphiné, des dringenden Geschäftes halber, von welchem ich Ihnen, so weit ich mich erinnere, schon einmal gesprochen.«

»Jawohl, im Zusammenhange mit dem Geheimnisse, welches Sie die Gnade haben wollten, mir mitzuteilen.«

»Und welches Sie damals zu interessieren schien.«

»Nicht bloß damals!«

»So?«

»Regierungsgeschäfte haben mich während der letzten Wochen durchaus in Anspruch genommen.«

»Und das mag zeitraubend sein, wenn man so weit von seinem Lande entfernt ist.«

»Sehr! Und wenn die Nachrichten ungünstig lauten. Ich habe Ihre aufmunternde Gesellschaft täglich vermißt, und ich erschrecke, daß Sie Paris verlassen wollen.«

»Sehr verbunden! Ich wäre schon fort, wenn mich nicht die versprochene Begleitung im Stich gelassen hätte. Ein entfernter Vetter wollte mir den Kavalierdienst leisten, er ist aber leider erkrankt, und so muß ich allein –«

»Dafür säße ja ein anderer Kavalier vor Ihnen, wenn Sie gestatteten –«

»Mich zu begleiten?« – und sie belebte sich bei diesen Worten.

Der Kurfürst erschrak über sein unüberlegt gesprochenes Wort, aber er konnte nicht zurück, und er verbeugte sich wenigstens, um sein Anerbieten nicht mündlich bestätigen zu müssen.

»Ein junges, lediges Fräulein öffentlich zu begleiten« – sagte sie langsam – »könnte wohl das Mädchen und einen Kurfürsten in unerwünschtes Gerede bringen.«

Er stammelte etwas wie Ablehnung solcher Bedenklichkeit, und sie fuhr ebenso langsam fort: »Hätte mein Geheimnis Eure Hoheit mehr interessiert, und hätten Sie Gelegenheit gesucht, es zu erfahren, dann erschiene wohl solche Reisebegleitung in einem weniger verfänglichen Lichte.«

»Aber es interessiert mich außerordentlich!«

»In der Tat?«

»Wie können Sie zweifeln?!«

Darauf reichte sie ihm ihre schöne Hand. Er küßte sie, und sie fuhr fort:

»Nun, so sei es denn! Außer einem Geistlichen weiß es niemand. Obwohl Sie mir Ihre Gegenwart lange entzogen – eine schmerzliche Erfahrung für mich! – hege ich doch ein großes Vertrauen zu Ihnen, und zwar insbesondere zu Ihrer Ritterlichkeit, welche mir ehrlicher erscheint, als unsere jetzige französische Galanterie. Bin ich darin zu zuversichtlich?«

»Ich hoffe: Nein.«

»Nun, so erfahren Sie denn also: Ich bin kein Fräulein.«

»Kein Fräulein?«

»Ich bin eine Frau.«

»Sie sind verheiratet?«

»Und sobald dies bekannt wird, fällt die Reisebegleitung eines jungen Herrn weniger auf.«

»Sie sind verheiratet?!«

»Ja und nein. Hören Sie! In unserem Hause war ein alter Herr, ein Marquis d'Outretombe, täglicher Besucher. Mein Vater verkehrte gern mit ihm. Er sah uns aufwachsen, und wir nannten ihn kurzweg Onkel. Mich zeichnete er aus durch Zärtlichkeit, und meine Schwester fand er sehr unterhaltend. Er hatte später einige Schuld daran, daß meine Schwester in die Abendunterhaltungen des Regenten geriet. Er war dort zu Hause, denn er war ein Freigeist, ein sehr witziger und lustiger alter Herr. Er war sehr alt, über achtzig, als meine Schwester in die unglückliche Liebschaft mit Ihrem Landsmann geriet und sich kompromittierte. Von da an kam er allein noch alle Tage zu uns und suchte uns zu trösten. Besonders mich, die ich darunter sehr litt, während meine Schwester noch immer lachen konnte. Kurz, bevor ich Ihre Bekanntschaft machte, Hoheit, war er das letztemal bei uns gewesen und hatte gegen Gewohnheit über Abnahme seiner Kräfte geklagt. Ja, er hatte gesagt: ›Kinder, ich glaube, der Tod kriecht an mich heran, schreit nicht! Ich werde für euch sorgen, denn euer Vater ist zu arm dafür geworden. Haltet euch bereit, rasch zu mir zu kommen, wenn ich euch rufen lasse!‹ – Wir erboten uns, sogleich zu ihm zu kommen und ihn zu pflegen, denn er war unverheiratet und hatte niemand als seine Dienerschaft. Er erwiderte aber: ›Nein, nicht gleich, aber wie gesagt, kommt rasch, wenn ich euch rufen lasse!‹ Damit ging er. Zwei Tage darauf ließ er uns rufen. Meine Schwester, welche nicht recht an den Ernst seiner Worte geglaubt hatte, war leider schon abgereist, ich eilte also allein zu ihm. Er lag auf einer Chaiselongue, und sein Antlitz sah aus wie das eines Sterbenden. Aber er lächelte und war heiter wie sonst. Daß Louise nicht mitkam, veranlaßte ihn zu einem kurzen, schwachen Gelächter. ›Es gibt also eine Bestimmung!‹ sagte er. ›Gerade Louise wollte ich schadlos halten, weil ich Schuld hatte an der Schädigung ihres Rufes, und nun krieg ich dich, welche ich eigentlich immer geliebt habe. Schellen Sie mit der Glocke, Frau Marquise!‹ – Ich sah ihn betroffen an und schellte. Der Diener kam und der Sterbende sagte bloß: ›Jetzt! – Hast du was dagegen,‹ sprach er zu mir, ›in der Geschwindigkeit Marquise d'Outretombe zu werden?‹ – ›Wie das, lieber Onkel?‹ – ›Ich habe nicht Kind noch Kegel, kein Verwandter wird sich über meinen Tod freuen oder betrüben und ich will dich zur Marquise d'Outretombe machen, damit du mein Marquisat erben kannst. Zärtlichkeit hast du von mir nicht mehr zu fürchten; mein lustiges Spiel in dieser Welt geht zu Ende. Hier auf dem Tische liegt mein Testament, welches meine Gattin zu meiner Erbin erklärt, und der Geistliche bringt einen Trauschein mit‹ – da trat der Geistliche ein, und ohne daß ich ein Wort sprechen konnte, legte er meine Hand in die kalte Hand des Marquis, segnete uns als Eheleute und legte den Trauschein zum Testamente. ›Nun hat mich der Eheteufel doch noch beim Kragen erwischt‹, flüsterte der tapfere Libertin kaum hörbar, und erhob mühsam die Hand. Ich bückte mich, die Hand sank auf mein Haupt und blieb da liegen. Der Geistliche hob sie weg und sprach: ›Er ist hinüber.‹ Während die Hand auf meinem Haupte lag, hatte er zum letztenmal geatmet.«

»Und Sie waren Frau Marquise von Outretombe?!«

»So ist es. Das Marquisat liegt im Dauphiné. Es ist nicht beträchtlich, aber es ist ein herrschaftlicher Besitz von einem Schlosse, von welchem man den Montblanc sehen soll. Die Verwaltung erwartet mich mit der Gerichtsbehörde, damit ich unter Vorzeigung des Testaments und des Trauscheins mich als Eigentümerin legitimiere. Dorthin reise ich morgen, und wenn ich zur Begleitung Hoheit beim Wort halten kann –«

»Gewiß.«

Ganz gewiß klang dies Wort nicht, aber es war gesprochen.

»Dann erwarte ich Sie morgen vormittag im Posthause zu Melun. Hier in Paris braucht man nichts davon zu wissen.«

Sie stand auf und entließ ihn. Einigermaßen betäubt stieg der Kurfürst in seinen Wagen. Er schrieb die Betäubung dem kleinen Worte »gewiß« zu, welches er höflich ausgesprochen und welches eine breite Pforte geöffnet hatte. Durch diese Pforte sah er jetzt in eine unermeßliche Gegend von Verlegenheiten und Folgen. Was Wunder, daß er dies wichtige Wörtchen »gewiß« laut vor sich hinsprach, als er in seinen Wagen stieg.

Golz hörte das Wort und wurde davon so starr, daß er die Wagentür zu schließen zögerte – ihm bedeutete es die Niederlage seines Herrn und den Sieg jener abscheulichen Madelon, welche von der Türschwelle aus der Abfahrt zusah. Sie wagte es, Kußhände zu werfen, er hätte sie wegen dieser Frechheit erwürgen mögen.

 

6.

Immanuel XIX. war nach der Abreise des Kurfürsten in seine Stadtresidenz zurückgekehrt, mit all den Seinigen. Die Ausdünstung der Nadelhölzer schien ihre Wirkung zu versagen auf die kranke Fürstin, und im städtischen Residenzschlosse hatte man wenigstens den Arzt zur Hand, welcher unten im Städtchen wohnte.

Dies Residenzschloß der Immanuele stand auf einem ziemlich steil aufsteigenden Hügel, welcher nach der Abendseite felsig war und dort jäh abfiel. Der Anblick von unten war nicht ohne malerischen Reiz.

Nach der Morgenseite hin war der Hügel bequemer gestaltet, und es führte ein Fahrweg, der aber immerhin einige Schwierigkeiten bot, nach dem Städtchen hinab. Das Städtchen war die Hauptstadt des Fürstentums. Ein kleiner Fluß kam vom westlichen Felsenabhange her und ging am Städtchen vorüber. Für die Färber und Gerber des Orts eine unentbehrliche Stütze des Gewerbes, für den malerischen Anblick der Ufers ein wenig störend, denn die abgeschabten Felle und vorzugsweise blauen Leinwandfetzen hatten nichts Anmutiges. Eine hölzerne Brücke begünstigte die Verbindung zwischen der Herrschaft und den Untertanen, das heißt zwischen den Schloßbewohnern und den Stadtleuten, aber sie gab auch oft Gelegenheit zu mißlichen Streitigkeiten. Wer darüberhin fahren wollte, der mußte ein Brückengeld bezahlen, und das Städtchen erhob zuweilen den Anspruch, der Fürst sollte den Brückenwächter besolden. Er sagte aber nein. Und wenn man damit nicht zufrieden war, so sagte er noch einmal nein.

Das Schloß war sehr alt und war, soweit nicht der breite Gipfel des Hügels Raum gewährte, von ganz schmucklosen Gartenanlagen umgeben, schmucklos, weil Immanuel XIX. auf Obstbäume allen Nachdruck legte und auf einigen Gemüsebau. Beides ist für Schmuck nicht sehr geeignet. Aber ebenso hielt er auf Pflege und Erhaltung der großen Linden, welche um das Schloß herum standen. Die größte Linde, ein wahrer Prachtbaum, stand an der Felsenseite, und unten an ihr wurde eine hölzerne runde Bank sorgsam erhalten. Der Blick hinunter ins Tal, durch welches der Fluß sich schlängelte, galt für erquickend, da gegenüber ein hochstämmiger Buchenwald weithin aufstieg.

Das Schloß selbst war die Erweiterung einer alten Burg, welche ringsum von Zubauten umarmt war. Der Stil dieser Zubauten war mannigfaltig und ohne eigensinnige Einheit.

Immanuel XIX., der konservative Mittelpunkt des Staates, bewohnte des Herkommens halber die Mitte, die alten Burgräume. Der weibliche Hausstand, die Fürstin und die Prinzessin Veronika, wohnten mit ihrer Dienerschaft in den vorderen Zubauten, welche gegen Morgen zum Städtchen hinab, gegen Abend ins Felsental blicken ließen, wo man also den ganzen Tag Sonne hatte, wenn die Sonne schien. Hinten gegen Norden lagen die Gastzimmer, in welchen jetzt der Graf von Warren weilte; er war als Gast dageblieben, auch als man vom Jagdhause hereingezogen war, eine willkommene Unterhaltung für Immanuel XIX. Denn die ausdruckslose Abreise des Vetter Kurfürsten und die Krankheit seiner Frau Fürstin waren nicht geeignet, den alten Herrn heiter zu stimmen. Die kranke Frau konnte nicht mehr zur Tafel kommen, Vrony war unausstehlich schweigsam, man hätte am Ende bei Tische kein Wort gesprochen, wenn Warren nicht dagewesen wäre!

Für Vrony aber wurde Warren unangenehm; er belästigte sie mit seinen Reden. Vom abwesenden Kurfürsten sprach er geringschätzig in bezug auf Frauenzimmer. Der Kurfürst kenne diese Gattung Menschen ganz ungenügend, und fasele hin und her. Die Französinnen würden ihn einfangen, und er werde den Dummheiten einer sogenannten Liebe schmählich erliegen, um endlich in den Armen einer Kokette gefesselt zu bleiben, welche schließlich Frau Kurfürstin würde.

Vrony litt bitterlich unter solchen Reden und ging Warren aus dem Wege, was freilich da oben in dem abgeschlossenen Haus- und Gartenraume schwer war. Sie widmete sich Tag und Nacht ihrer Mutter.

Ihrer Mutter und ihrer neuen Gesellschafterin, welche bald nach der Abreise des Kurfürsten angekommen war, Lehrerin sollte sie sein, nicht bloß Gesellschafterin, wie die Frau Fürstin in Aussicht gestellt hatte bei der letzten Unterredung mit dem Kurfürsten.

Der Sekretär Tissot war von der Fürstin zu Rate gezogen worden, und er hatte seine Schwester empfohlen. Claire Tissot hieß diese lange Person mit langer Nase und eckigen Gliedern. Sie hatte schon jahrelang in Genf Unterricht erteilt in vielen höheren Disziplinen und war eine ganz spezifische Genferin. Der Genfer Calvinismus, welcher einen Servet zum Tode verurteilt hatte wegen Abweichung vom Glauben Calvins, zeichnet sich nicht nur aus durch strenge Moral, sondern auch durch strenge Wissenschaftlichkeit.

»Die Moral ist dieser dürren Claire nicht schwer geworden!« spottete Warren; aber ihren ausgebreiteten Kenntnissen konnte er nichts anhaben, und was die Hauptsache war: Vrony schloß sich ihr an mit erstaunlicher Hingebung. »Lernen, lernen! ich will alles mögliche lernen«, rief die kleine Prinzessin, und sie setzte dadurch sogar die Claire Tissot in Verlegenheit. Es zeigte sich nämlich, daß Vrony schon sehr viel wußte, so daß Claire der Frau Fürstin gestand: »Die bescheidene Prinzessin weiß ja manches besser als ich, bin ich nicht am Ende überflüssig?« – »Durchaus nicht,« antwortete die Frau Fürstin, »Vrony weiß gar vieles nur so ungefähr und nicht genau; sie wird durch Ihren Unterricht erst fest werden.«

Das Studieren war in der ersten Zeit ein starkes Hilfsmittel für Vrony, als gar keine Zeile aus Paris kam für sie. Auf zwei kurze Zeilen hatte Vrony doch gehofft, etwa: »Wie geht es meinem lieben Mühmchen? Ich befinde mich wohl.« Damit wäre sie zufrieden gewesen, das Wort »lieben« hätte ja alles gesagt. »Das Weitere muß ich erst verdienen« – sagte sie sich – »erst wenn Claire Tissot sagen kann: Die Vrony ist hinreichend gebildet, erst dann darf ich Ansprüche machen. Geduld also und weiter lernen!«

Den ganzen Tag sprach sie nun französisch mit ihrer Claire, und Länderkunde, Geschichte, Literatur betrieb sie, als ob sie zu einem Examen vorbereitet würde.

Die kranke Mutter mußte mäßigen. »Vernachlässige darüber«, sagte die Mutter, »deine Musik nicht! Die hast du ja voraus, da Mademoiselle Claire nicht musikalisch ist, und die Musik ist gar viel wert. Jeden Abend sollst du mir jetzt auf deiner Harfe spielen.«

»Wie gern!« rief Vrony, denn sie sang nicht bloß gern, sie liebte auch ihre schöne Harfe, welche der Vater für schweres Geld in der Hauptstadt des Kurfürsten gekauft hatte. Jeden Abend spielte sie nun in ihrem Zimmer, welches gegen Abend ins Felsental hinabblicken ließ. Die Türen zur Mama blieben offen – es lag ein großes Zimmer dazwischen – und die Frau Fürstin genoß solchergestalt in wohltuender Weise die Musik. Sie wäre aufgeregt worden, wenn die Musik näher gewesen wäre. Und Vrony, allein verbleibend, überließ sich in solcher Abgeschiedenheit ihren Gedanken, ihren Träumen, ihren Hoffnungen. Sie waren noch immer süß und wohltuend, obwohl noch immer kein Brief kam vom schlimmen Vetter Karl. »Er wird eben«, sagte sie sich, »keine Zeit haben unter den fremden Menschen, die ihn alle kennen lernen wollen, den ausgezeichneten Herrn!«

Da kam der Schlag: das französische Schreiben an die Frau Fürstin traf ein. Steif und förmlich und französisch! Die Mutter erschrak und Vrony erschrak. Die Mutter verbarg ihren Schrecken und Vrony ging betroffen hinweg.

Sie ging hinunter zur großen Linde und setzte sich auf die Bank, wo sie gern saß, hinüberblickend auf den Buchenwald, welcher jetzt in vollem Grün prangte.

Die Luft strich warm herauf aus dem Tal; unten ritten der Vater und Graf Warren auf dem Wege, welcher zum Jagdhause führte, Rotkehlchen und Blaumeisen sangen hoch von der Linde herunter, es war still und feierlich, und sie faßte sich. Weil kein Arg in ihrer Seele war, traute sie auch niemand Arges zu, am wenigsten dem Vetter Karl. »Das wird abgemacht sein«, sagte sie sich, »in der letzten Unterredung zwischen der Mama und dem Kurfürsten; gewiß, gewiß, das wird abgemacht sein, daß wir gar keinen Verkehr miteinander haben sollen, Vetter Karl und ich, bis ich seiner würdig, bis ich ein wirklich gebildetes Fräulein bin, welches ihm vor der Welt keine Unehre macht. Die Mutter hatte ja damals zu mir gesagt: ›Lerne warten, mein Kind, während du die nötigen Kenntnisse erlernst, lerne warten!‹ Nun denn, ich will alles mögliche lernen, alles mögliche, wenn's auch weh tut, keine Zeile von ihm zu erhalten.«

Die Frau Fürstin war schwächer und sah doch weiter. Dieser Brief traf sie hart. In der Nacht noch mußte der kleine Doktor aus dem Städtchen heraufgeholt werden, das ganze Schloß geriet in Alarm, und Vrony vergaß alles in Schreck und Sorge um die ohnmächtige Mutter.

Der kleine Doktor, ein sauberes Männchen – bis auf den Schnupftabak – mit großem Stocke, half noch einmal mit einem Aderlaß, wie es damals Mode war und wie es jetzt für töricht gilt. In der Medizin ist es aber nicht anders: Jedes Jahrhundert hat seine eigenen Wundermittel. Sonst viel versprechend, unterließ jedoch diesmal der kleine Doktor nicht, dem tieferschreckten Immanuel XIX. beim Fortgehen ins Ohr zu flüstern, während er eine Prise nahm: »Aufpassen, Durchlaucht, man muß auf alles gefaßt sein!«

Der alte Fürst, welcher die Ärzte nicht leiden konnte, tröstete sich, als die nächsten Tage eine ganz deutliche Erholung brachten für seine Frau, und sagte mit voller Überzeugung zu Warren: »Glaube mir doch, die Kerle verstehen alle nichts!« Warren freilich schüttelte den Kopf.

Der kleine Doktor mit dem großen Stocke hatte die Krankheit nur zu gut verstanden: nach Verlauf einer Woche wiederholte sich die Ohnmacht, und die brave Frau Fürstin kam nicht wieder zu sich, sie blieb tot.

O, das waren schreckliche Tage da oben, und es folgten traurige Wochen!

Warren benützte die tiefe Niedergeschlagenheit der armen Vrony, sein Verhältnis zu ihr in bessere Stimmung zu bringen. Er war ein kluger Mann und sprach nichts mehr von seiner Neigung, er tröstete nur und versprach, sich des Vaters anzunehmen, der ganz zerbrochen war. Das war allerdings der sicherste Weg zu Vronys Herzen. Sie widmete alle ihre Aufmerksamkeit, welche ihr eigener tiefer Schmerz übrig ließ, dem armen Vater, welcher fortwährend bitterlich weinte und schluchzte. Es hatte etwas Rührendes, das junge, scheinbar noch schwache Mädchen den stark aussehenden Mann trösten zu hören, indem sie ihm vorsprach: Liebe und Tapferkeit seiner Vrony, seiner Tochter, würden ihm den Verlust der Gattin zu ersetzen suchen.

Schon beim Anordnen des Begräbnisses und dessen, was nachher zu geschehen hatte, war sie zum allgemeinen Erstaunen die leitende, ja die befehlende Person geworden, und nur Susanne und deren Augapfel Nikodemus, ihre Getreuesten, hatten es bemerkt, daß bei all ihrem tapferen Gebaren oft dicke Tränen aus ihren Augen quollen. Nikodemus besonders kam deshalb gar nicht mehr aus der Rührung heraus.

Nach einiger Zeit lobte sie den Grafen Warren ausdrücklich, wenn er neben ihr saß, weil er den Ton der Unterredung mit ihr so richtig verändert habe. »Sie sind uns ja«, sagte sie, »ein werter alter Freund und stehen uns als solcher viel näher, als wenn Sie mit Liebesphrasen und vom Heiraten mit mir reden. Sie wissen ja auch, daß meine selige Mutter meine Verheiratung mit einem ganz anderen vorbereitet hat. Sie hat mir das ausführlich mitgeteilt und mir auseinandergesetzt, was ich dafür zu leisten hätte. Ich bin auch mit allen Kräften bestrebt, die mir auferlegten Forderungen zu erfüllen, wie könnte ich da für etwas anderes Auge und Ohr oder gar ein Herz haben! Helfen Sie den Vater beruhigen, und mein Herz wird Ihnen dafür treuen Dank zollen.«

So besonnen wußte sie bereits zu sprechen. Dem Grafen Warren gefiel das nun freilich gar nicht, er war eigentlich empört darüber, daß ihm von solch einem Backfisch eine so demütigende Lektion erteilt würde, ihm, der immer ein siegreicher Frauenheld gewesen. Er verschluckte die bittere Pille nur, weil er wirklich einige Neigung empfand für das junge Blut und weil ihn eigentlich diese resolute Erklärung des Mädchens frappierte. Er fand, daß solche Altklugheit sie allerliebst kleidete. Und endlich, sagte er sich, verdient es immerhin ein Quantum Geduld, durch dies Mädchen Herr des Fürstentums zu werden. »Geduld und Ausdauer! Sie wird sich endlich doch ergeben, wie jede andere.« – Und so blieb er da, den Vater tröstend, der Tochter mit Vorsicht schmeichelnd. Geschicktes Schmeicheln hatte er immer bewährt gefunden bei strengen Frauenzimmern.

So vergingen einige Wochen, da kam das Schlimmste für Vrony. Es kam von der albernen Claire Tissot. Diese nüchterne Person, in kalvinistischer Nüchternheit bestärkt durch die Genfer Schulweisheit, verstand nichts von Herzensbedrängnis. Sie korrespondierte mit ihrem Bruder, welcher den Kurfürsten begleitete, und erfuhr durch dessen Briefe, daß die Frau Marquise von Outretombe auf ihrem Schlosse unweit Grenoble den Kurfürsten betöre und beherrsche, und daß wahrscheinlich eine Heirat den Abschluß bilden werde. Jetzt sei davon die Rede, daß sie den Kurfürsten nach dem Deutschen Reiche in seine Hauptstadt begleiten werde.

Dies alles erzählte Claire Tissot der armen Vrony, als sie eines Abends unter der großen Linde saßen und die Sonne untergehen sahen über dem Buchenwalde.

Vrony hörte es an, ohne ein Wort zu sagen, und Claire Tissot ging hinein ins Schloß zum Abendessen, ohne eine Ahnung zu haben, daß sie ein Todesurteil ausgesprochen.

Vrony blieb sitzen. Ihr Herz war krampfhaft zusammengezogen, sie konnte nicht einmal weinen.

Als endlich der Krampf nachließ, sagte sie leise: »Es war also nur dein Traum, weiter nichts.«

Nach einer Weile stand sie auf mit den Worten: »Die Mutter hat recht gehabt mit dem verlangten Aufschub: ich hätte ihn unglücklich gemacht, und er – mich auch. O Gott, wie traurig ist das!«

Sie blieb regungslos stehen und sah in die Schlucht hinab, wo der junge Sommer mit allen Reizen waltete, wo die Grillen lustig zirpten und die Wachteln ihre eintönige Strophe riefen.

»Vorbei, alles vorbei! Und ich hab' ihn so lieb!« sagte sie noch.

Da stand Nikodemus bei ihr, um ihr das Abendessen anzukündigen. Sie sah ihn an, antwortete nicht und ging auch nicht.

Der einfältige Junge, welcher sonst nichts verstand, verstand immer – man muß es einen Liebesinstinkt nennen – jede Stimmung seiner angebeteten Prinzessin. Auch jetzt; er brach plötzlich in ein lautes Schluchzen aus. Vrony mußte ihn beruhigen.

Sie ging langsam neben ihm hinein. Der Weg zum Speisezimmer inmitten des kleinen Burghauses führte sie am kleinen Wohnraume Susannens vorüber, aus welchem eine Tür in die Küche führte. Susanne stand außen im Gange wie wartend auf die Prinzessin und ihren geliebten Sohn Nikodemus. Dieser, dicke Tränen auf beiden Backen, machte ihr ein Zeichen, daß der Prinzessin übel zumute wäre, und so kam ihr Susanne entgegen und fragte liebevoll: »Um Christi willen, was ist denn?«

»Nichts, Susanne; ich bin etwas matt. Laß mich einen Augenblick stillsitzen in deinem Stübchen und laß dem Vater sagen, ich hätte keinen Hunger!«

Nikodemus wurde hineingeschickt, um das auszurichten, Vrony trat in Susannens Stübchen und sank auf einen hölzernen Sessel.

»Das sind die Herzbeklemmungen,« sagte Susanne, »welche uns ängstigen, solange wir jung sind. Das geht vorüber; ich hab's auch durchgemacht. Trinken Sie ein Gläschen Wacholder, das stärkt unser weibliches Gemüt.«

Vrony lehnte ab.

»Die Männer verdienen's nicht, Hoheit, daß wir uns um sie härmen. Sie sind alle treulos; sie sind eben Männer, die alles frei haben, weil sie keine Kinder zu gebären brauchen. Das haben sie leider voraus. Der liebe Herrgott hat's eben nicht anders eingerichtet; man schluckt's hinter und lebt weiter. Manchmal ganz gut.«

Und als Vrony immer noch schwieg, fuhr sie fort: »Oder ist's die Not, weil man den Falschen nehmen soll? Aha! Ja, der wilde Graf hat unsern Allergnädigsten in der Tasche. Keine Umstände machen, Prinzeß, immer nein sagen, nur nein und weiter nichts. Dann können sie doch nicht weiter. Der Graf ist ein Raubvogel und taugt nicht für uns. Und am Ende kommt der Kurfürst doch –«

Vrony zuckte zusammen.

»Er kommt, sag' ich Ihnen. Er ist jetzt in der Mauser, und jede Mauser hört einmal auf. Nur warten! Ganz stille warten! Sie haben ja noch viele Zeit vor sich.«

Vrony war aufgestanden, hatte eine ablehnende Bewegung gemacht und war fortgegangen. Susanne sah ihr kopfschüttelnd nach.

Ein nach außen offener Gang führte durch den ganzen Schloßbau an den alten wie neueren Bauteilen entlang. Durch diesen ging sie am Speisezimmer vorüber in ihr Gemach. Dort stand sie noch eine Zeitlang, ohne sich zu regen, dann lief ein Schauer über sie hin, sie griff an ihre Gewänder, kleidete sich langsam aus und legte sich ins Bett. Im Bette erst kam ein unaufhaltsames Weinen über sie, und spät erst, spät schlief sie ein.

Ach, ein Unglück kommt nie allein! In den nächsten Wochen machte Graf Friedrich von der Warren scharfen Ernst mit Immanuel XIX., daß er als Vater verpflichtet wäre, nachdrücklich für die Zukunft seiner Tochter Sorge zu tragen. Er (Immanuel) werde gebrechlich, es sei hohe Zeit, und die Träume vom Herrn Kurfürsten seien in Rauch aufgegangen, die langnasige Genferin habe ja genaue Kunde aus Frankreich und habe diese ihm auf seine Nachfrage nicht verschwiegen. Die Sicherheit der Zukunft für die Tochter bestünde aber, wie Papa schon lange wisse, in der Verheiratung Vronys mit ihm, mit dem reichsfreien Grafen von der Warren.

Der alte Herr war ganz mürbe, Warren war seiner sicher, und er trat nun eines Vormittags in Vronys Zimmer, um die Sache in Gang zu bringen.

Die Fenster standen offen, und die junge Sommersonne schien warm herein. Die Harfe hatte in den Hintergrund gebracht werden müssen, damit die zudringliche Wärme nicht die Stimmung der Saiten störe. Vrony und Claire saßen am Tische, und Claire trug vor, wie so vor vielen Jahrhunderten schon in Athen regiert worden sei. Je mehr Vrony im Innersten bedrängt wurde, desto fleißiger betrieb sie Wissenschaft. Sie sprach immer weniger, aber sie lernte immer mehr.

Der eintretende Warren brachte die Aufforderung des Fürsten: Mamsell Claire Tissot möge sich zu Seiner Durchlaucht verfügen, Seine Durchlaucht wollte sie sprechen.

Es war verabredet, daß der Fürst dieser Claire Tissot auftragen sollte, Vrony klar zu machen, was ihr jetzt zu tun obliege. Es wäre das Glück und wäre die Schuldigkeit der Prinzessin, den Grafen Warren zu heiraten.

Warren setzte sich nun an den Tisch zu Vrony und berichtete ohne Einleitung, »daß ihr Vater ihn bevollmächtigt hätte –« er stockte.

»Wozu?«

»Ihnen, liebe Prinzessin, anzuzeigen, daß wir einander heiraten sollen. Es ist dies Ihres Vaters Wunsch und ausdrückliches Verlangen.«

Vrony sah ihn mit ihren großen Augen schweigend an und sagte erst nach einiger Zeit: »Sogar Verlangen?!«

»Ja, liebe Vrony.«

»Wäre ich Ihre liebe Vrony, dann kämen Sie nicht mit solchem Bescheide zu mir. Wenn man ein Mädchen liebt, dann kommt man nicht mit solchem Befehl zu ihr. Soviel ich weiß, läßt sich Liebe nicht befehlen.«

»Was Liebe ist und kann und tut, das, liebe Vrony – ich beharre auf dem Worte – das wissen Sie nur unvollständig, denn Sie sind unerfahren.«

»Allerdings nicht so erfahren wie Sie, der uns früher oft von seinen Heldentaten in der Liebe erzählt hat.«

»Bleiben wir bei der Hauptsache. Ich werde Sie achten, hegen und pflegen wie meinen Schatz, und da ich weltkundig bin, wie Sie selbst sagen, so werde ich dies auch können. Reichen Sie mir getrost Ihre Hand!«

Dabei streckte er ihr die seinige entgegen.

Vrony rückte ihren Stuhl so, daß sie sich von ihm entfernte, und sagte ganz ruhig: »Das werde ich nicht tun, Herr Graf von Warren. Sie waren uns früher ein willkommener Hausfreund, mit welchem ich mitunter scherzte; aber ich habe Sie nie geliebt und liebe Sie jetzt noch weniger als sonst. Nie aber werde ich einen Mann heiraten, den ich nicht liebe.«

»Dann würden Sie notwendigerweise eine alte Jungfer werden, denn der Mann, welchen Sie lieben, das heißt zu lieben glauben, der steht im Begriffe, sich mit einer andern zu verheiraten, mit einer französischen Marquise d'Outretombe, wenn Sie's noch nicht wissen sollten.«

Vrony bebte zusammen wie ein Espenlaub vor dieser dreisten Äußerung, aber sie antwortete ganz gefaßt: »Ich wünsche nur, daß jene Marquise jenen Mann glücklich mache, und wünsche außerdem, daß Sie mich jetzt verlassen.«

Sie stand auf. Warren ergrimmte über solchen Widerstand und unterdrückte mühsam eine brutale Erwiderung. Er unterdrückte sie, weil ihm doch sein Verstand sagte: Ein Wort der Beleidigung führt noch weiter ab von meinem Ziele.

Er blieb unschlüssig stehen. Da zeigte sie mit dem Arme nach der Tür. Die harmlose Prinzessin erschien plötzlich ganz und gar wie eine Prinzessin, welche einem Zudringlichen die Tür weist.

»Ihr braver Vater«, sprach er darauf, »wird mir's nicht glauben wollen, daß sein geknicktes Alter kein Gehör findet bei seiner Tochter.«

Damit ging er. – Diese letzten Worte waren der einzige Stachel, gegen welchen ihr Widerstand schwach war.

Ein tiefer Seufzer rang sich aus ihrer Brust, und sie ging langsam ans offene Fenster. So sonnig, warm und üppig lag das Tal vor ihr, eine Grasmücke sang vom nächsten Baum ihren schwellenden Liedesanfang – »Und ich muß so leiden in jungen Jahren,« sagte sie vor sich hin, »ist es denn nicht genug, daß ich das Liebste verloren habe und entbehren muß, soll ich auch noch – o du lieber Gott, beschütze du mich davor!«

Da klopft es an die Tür. Der kleine Doktor aus dem Städtchen trat ein. Knothe hieß er, und war wohl sechzig Jahre alt, Jährchen pflegte er zu sagen, denn er war ein heiteres Gemüt und sagte zu allen Patienten: »Kleinigkeit! Kleinigkeit! Das wird bald vorüber sein.« Jetzt aber kam er in einem Auftrage, den er nicht heiter fand, aber doch ausführen mußte, und er sprach:

»Verzeihen Sie, durchlauchtige Prinzessin, daß ich mit meiner kleinen Person zudringlich hier hereintreten muß. Durchlaucht, unser allergnädigster Landesvater und dero leiblicher Vater, haben's befohlen.«

»Mein Vater?«

»Jawohl! Ich soll seiner durchlauchtigen Tochter eine species causae auseinandersetzen, wie es mit seinem Befinden steht, und daß besondere Maßregeln getroffen werden müssen zu besserem Fortbestande.«

»Was heißt das? Ist meinem Vater –«

»Etwas zugestoßen? Nein, o nein! Nichts Neues! Er hat im Gegenteile die schwere Trauerzeit leidlich überstanden, der Appetit ist wieder da, und er speist mitunter sogar ausgiebig. Der Durst ferner ist ihm nie abtrünnig geworden. Aber – aber –«

»Aber?«

»Aber der nervus hypochondriacus ist aufgereizt und muß beschwichtigt werden, um ein gleichmäßiges Wohlbefinden wieder herzustellen.«

»Was heißt das?«

»Das heißt eine ärgerliche Schwermut, man kann sagen Melancholie überfällt ihn jeweilig, wie ein Marder das Huhn, will sagen wie ein Raubtier, welches an unserem Blute nagt. Das Blut Seiner Durchlaucht muß durchaus amelioriert werden. Von gichtischen Bestandteilen gar nicht zu reden, aber Leber und Galle müssen aufgefrischt werden durch ein herzhaftes Mineralwasser. Ich habe dazu nach reiflicher Überlegung das berühmte Sprudelwasser in Böhmen – ich stamme von da und kenne es – vorgeschlagen, welches in Karlsbad wunderbar aus der Erde, ja sogar aus dem Wasser des Flusses in die Höhe springt.«

»Also mein Vater soll nach Karlsbad, um das dortige Wasser zu brauchen?«

»Strikte, Prinzessin, baden und trinken, und damit dies Experiment – ein solches ist es – gedeihe, darum wenden wir uns an Sie.«

»Warum an mich?«

»Die richtige Stimmung und Gemütsverfassung ist absolut notwendig, wenn der Sprudel nützen soll. Der Mensch nun, auch ein fürstlicher Landesvater, muß sich ruhig und behaglich fühlen, wenn er an den Sprudel kommt. Seelenruhe, Seelenruhe muß vorhanden sein, sonst wird der Sprudel ein mineralisches Gift, ich sage Gift, und zerstört kurzweg das ganze Menschenkind, wie gesagt auch ein landesherrliches.«

»Das glaube ich wohl. Wir sollen also beflissen sein, meinen guten Papa bei guter Laune zu erhalten?«

» Rectissime.«

»Und dazu sendet Sie mein Vater zu mir?«

»Sendet, ja.«

»Er fürchtet also von mir –?«

»Nicht doch, nicht doch! Nur eine causa doloris liegt vor.«

» Causa doloris heißt Ursache des Schmerzes –«

»Bewunderungswert! Auch klassischer Sprache mächtig! Ja, ja! Diese causa ist ein Wunsch Serenissimi, ein unwiderstehlicher Wunsch, und wenn die durchlauchtigste Prinzessin diesen Wunsch, wie es scheint, absolut ablehnen, dann ist's um besagte Seelenruhe geschehn, und die notwendige Karlsbader Kur wird eine eminente und imminente Gefahr.«

»Und was ist das für ein Wunsch?«

»Das zu artikulieren, geht wohl über meine medizinische Befugnis hinaus. Serenissimus wird in nächster Stunde selbst hier erscheinen und den Wunsch aussprechen, was man artikulieren nennt –«

»Geplausch, Geplausch! Nicht drauf hören, Prinzeß, nicht drauf hören!«

Diese Worte wurden scharf geschrien von Frau Susanne, welche mit ihrem Söhnchen Nikodemus ins Zimmer trat. Nein, nicht bloß trat, sondern wehte und rauschte, insofern von heftiger Bewegung Rock und Brusttuch flogen. Nikodemus neben ihr mußte kurzen Trab gehen, um Schritt zu halten. Er gestikulierte wie seine Mutter mit beiden Armen, und sein gutmütiges Gesicht versuchte zornig auszusehn. Mit Genauigkeit wiederholte er jedes Wort seiner Mutter, er schrie also auch: »Geplausch! Geplausch! Nicht drauf hören, Prinzeß, nicht drauf hören!«

»Sie sollten sich was schämen,« fuhr Susanne fort, »Sie gelehrter Pflasterschmierer, unserer liebwerten Prinzessin so auf den Leib zu rücken und in dem Komplotte mitzutun!«

»Komplotte mitzutun!« wiederholte Nikodemus.

Was nun folgte aus dem beredten Munde Susannens, war zu lang und kam zu schnell, als daß er immer mit fortgekonnt hätte. Nikodemus hatte eine schwere Zunge, er konnte nicht schnell sprechen, mußte sich also mit einzelnen, besonders ausdrucksvollen Worten begnügen, und nur das Schlußwort seiner Mutter, das Wort »Skandal«, wiederholte er mit Empfindung.

»Aber, Frau Susanne, wie können Sie sich unterstehen?« rief endlich der Doktor und stieß mit seinem Stocke auf, daß es knallte.

»Unterstehen? Sie sollen noch mehr erleben! Ich hab' alles nebenan in meiner Küche gehört – warum schreit Ihr wie die Mandelkrähen! – Alles hab' ich gehört, was der Fürst und der Graf mit Ihnen, Sie Zwergdoktor –«

»Zwergdoktor!« schrie Nikodemus.

»Recht, Nikodemus! – Was Ihr abgekartet habt, 's ist ein komplettes Komplott, und ein erbärmliches!«

»Erbärmliches!« schrie Nikodemus.

»Denken Sie nur, Prinzessin, verkuppelt soll'n Sie werden an den Grafen, den Schürzenjäger –«

»Schürzenjäger!«

»Und dazu soll dieser Zwerg hier aus dem Städtchen drunten helfen. Den Vater soll er krank machen, als ob er auf dem letzten Loche pfiffe –«

»Loche pfiffe –«

»Recht, Nikodemus! Loche pfiffe, wenn Sie ihm nicht den Willen täten. Sterben, absolut sterben würd' er sonst. Himmlischer Vater, solch gotteslästerliches Zeug pantschen sie zusammen!«

»Pantschen sie zusammen!«

»Wie ein freches Bauernmädel pantscht, das sich für eine Köchin ausgibt. Und 's ist alles verlogen, Prinzeßchen, alles! Der Allergnädigste kriegt nur Verstockung, wenn er zuviel Fettes ißt. Das gibt man ihm halt nicht mehr, und dann wird's holla mit der Stockung. Der und sterben! Der stirbt noch lange nicht! Ich kenn' ihn ja genau, der ist ein Riese, straf' mich Gott, der stirbt an so was nimmermehr, auch wenn Prinzeß zehnmal nein sagt, und sie soll, um nicht ins Malheur zu geraten, nein sagen, partout nein sagen!«

»Partout nein sagen!« rief Nikodemus und geriet wegen des Wortes Malheur ins Schluchzen, wodurch der Redestrom Susannens unterbrochen wurde, denn sie klopfte ihm sanft auf den Rücken. Das war ihr Mittel, ihn zu beruhigen, und es wirkte auch jetzt.

Diese Pause benutzte Knothe, der Doktor, zu einem heroischen Abgange. Er sprach gar nicht, zuckte aber gegen die Prinzessin auf eine so heftige Weise die Achseln, daß seine verachtende Empörung hinreichend sichtbar wurde, demonstrierte alsdann mit seinem Stocke gegen Susanne und Nikodemus, daß dieser einige Schritte seitwärts sprang, verbeugte sich endlich vor der Prinzessin und verschwand.

Kaum war er aber hinaus, so erschien auf der Türschwelle die mächtige Figur Immanuels XIX. Man konnte sie ein wenig vornübergebeugt und konnte die Gesichtszüge ein wenig erschlafft finden. Jedoch nur einen Augenblick. Als er sah, daß der Doktor Knothe so dünn und so still als möglich an ihm vorüberschlüpfte und mit zuckendem Ärmchen auf Susanne rückwärts wies, und als er sah, wie Susanne und Nikodemus die Hände hoch hielten, wie siegreiche Gladiatoren, da wußte der Herrscher augenblicklich, was hier die Glocke geschlagen und was da zu tun sei. Er reckte sich in die Höhe und ging schallenden Schrittes zu Susanne und Nikodemus. Da nahm er flugs beide Menschenkinder bei den Ohren, das reife weibliche beim linken, das kaum männliche beim rechten Ohr und führte sie bis zur Tür. Nikodemus schrie sogleich lamentabel, aber er kam nicht auf gegen den Schlachtruf Immanuels XIX., gegen die donnernden Worte: »Hinaus, Bagage!«

Hiermit war sein Wortschatz erschöpft, und er mußte an der Türschwelle Susannens Schwertmaul über sich ergehen lassen, welches ihm klägliche Altersschwäche ins Antlitz schleuderte und außerdem das abscheuliche Wort »Rabenvater«.

»Rabenvater!« schallte es noch draußen dünn aber deutlich von Nikodemus herein.

Dieser letzte Ruf des angehenden Jünglings schien Immanuel XIX. besonders zu ärgern, denn er machte eine heftige Armbewegung. Dann aber ließ er sich erschöpft auf einen Stuhl fallen, daß dieser krachte, und blickte kopfschüttelnd auf seine Tochter.

Endlich, nachdem er tief Atem geschöpft, sprach er: »Du warst immer ein so gutes Kind, Vrony, und auf einmal wirst du widerborstig gegen deinen alten, kranken Vater!«

»Aber Vater –«

»Ich bin krank!« rief er heftig, »das kann kein vernünftiger Mensch bestreiten. Das Essen schmeckt mir kaum noch, und im Weintrinken soll ich kindisch Maß halten wie eine Jungfer, damit der Alp von mir weiche. Ich sage dir, Kind, dieser Alp ist da, und wenn er sich mir auf den Leib setzt, dann drückt er so, daß ich alle Courage verliere. Ich bitte dich, ein Immanuel ohne Courage! Da kann das Ende nicht weit sein, der Tod selber! Ich muß also als Landesvater und Familienhaupt Vorsorge treffen für die nächste Zukunft, und deshalb mußt du rasch heiraten, rasch! Der fabelhafte Kurfürst hat dich sitzen lassen, wie deine selige Mutter vorausgesagt – sie wußte eben alles! – er hat dich, geradeaus gesagt, schmählich sitzen lassen. Der souveräne Anstand verlangt, daß man das gar nicht aufkommen läßt, daß man's gar nicht eingesteht, sondern sogleich einen Riegel vorschiebt, kurzum, daß man sofort eine Ehe schließt, als ob man lange vorher nichts anderes gewollt hätte. Und das geht auch, der Mann ist zur Stelle! Was hast du denn gegen den Grafen?«

»Ich liebe ihn nicht.«

»Dummes Zeug! Glaubst du etwa, deine Mutter hätte mich geliebt, oder ich hätte deine Mutter geliebt, als wir uns heirateten? Kein Gedanke! Die Liebe kommt nach der Hochzeit, verlaß dich darauf, sie kommt! Und Warren ist ein kraftvoller, bildschöner Mann. Deine Mutter und ich haben uns hinterher rechtschaffen geliebt, und jetzt heul' ich erbärmlich darüber, daß ich sie verloren hab'. So wird's dir auch ergehn, wenn er vor dir stirbt.«

»Meine Mutter würde diese jähe Verheiratung gewiß nicht zugegeben haben.«

»Das kann sein; aber jetzt ist sie fort, und ich bin nahe an die Grube gedrückt, jetzt heißt's Testament machen. Sollst du ledig zurückbleiben, wenn sie mich einscharren? Kannst du mein Land regieren? Possen! Ein Frauenzimmer regiert ein Land nimmer! Das ist ein alter Wahrspruch der Immanuele. Und weil das die Leute wissen, so werden sie über dich herfallen mit Forderungen und Prozessen, bis dir nichts mehr übrig bleibt vom Fürstentume und von deiner Gesundheit. Ich will aber, daß du gesund bleibst und mit Behagen lebst als letzter Sproß unseres Hauses, wie wir Immanuele alle gelebt haben seit Kaiser Karl dem Großen. Damit Punktum. Komm her, du kleiner Fratz, gib mir die Hand und sag' ja.«

»Nein, lieber Vater, darauf geb' ich nicht die Hand und sag' nicht ja.«

Er fuhr hoch in die Höhe und sah sie starr an. Es schien mehr Verwunderung zu sein als Zorn, was ihm das Wort verschlug. »So rundweg nein?« stammelte er fast, »dem regierenden Herrn gegenüber?«

»Es sind erst einige Monate,« sprach Vrony, »daß meine gute Mutter gestorben ist. Wir sind selbst äußerlich noch in tiefer Trauer, da soll, weil du verstimmt bist – denn du bist nur verstimmt –«

Er stöhnte.

»Da sollen Pauken geschlagen und Trompeten geblasen werden zur Hochzeit des Kindes!«

»Die kann man ja weglassen!«

»Das ist wider die Natur, ist wider Sitte und Schicklichkeit, welche ein Landesfürst hochzuhalten verpflichtet ist.«

Er senkte sein Haupt; das hatte getroffen.

»Ich bin sonst gewiß nicht stolz,« fuhr sie fort, »aber die Prinzeß wegzuwerfen für einen armen Grafen, das tät ich höchstens, wenn ich den Grafen liebte. Ich tu's jedoch nicht für einen Mann, der nur unser Fürstentum einstecken will bei dieser Gelegenheit.«

Sie sprach das alles ganz ruhig; sie war ein Charakter geworden, und der schwache Vater mußte ihr eigentlich recht geben. Das tat er auch. Aber nun kam die größere Gefahr für sie, nun wurde er weich, und zu ihrem Schrecken wehmütig. Nun bat er sie, bat sie flehentlich, und die Tränen liefen ihm wirklich über die Wangen, er bat sie wie ein Kind.

Das kam von der Schwermut, von dem verfluchten Alp, wie er seine Hypochondrie nannte, und diesem wehmütigen Bitten gegenüber wurde Vrony entwaffnet. Sie brach auch in Tränen aus, fiel ihm um den Hals und versprach alles, alles.

 

7.

Claire Tissot war es endlich einmal gelungen, etwas Vorteilhaftes anzustellen, sie hatte ihrem Bruder, dem Sekretär des Kurfürsten geschrieben, daß Prinzeß Veronika den Grafen von der Warren heiraten müßte, und daß Immanuel XIX. mit dem jungen Ehepaar und mäßigem Gefolge in nächster Woche nach Karlsbad reisen werde, um durch das dortige Wunderwasser von einem beschwerlichen Alpdrücken erlöst zu werden.

Dieser Brief brauchte glücklicherweise nicht viel Zeit; er fand den Bruder Tissot in der Hauptstadt des Kurfürstentums, wohin er mit dem Kurfürsten vor einigen Tagen zurückgekehrt war.

Diese Nachricht schlug ein wie eine Bombe in den Kreis derjenigen, welche neben dem Sekretär Tissot und dem Leibjäger Golz eine Partei Vrony bildeten. Es gehörte namentlich dazu der alte General Wolkenburg und der Leibarzt des Kurfürsten mit Namen Wachtelheim. Sie waren sämtlich entsetzt über die nahende Gewißheit, daß der Kurfürst die französische Marquise d'Outretombe heiraten werde. Er war zwar allein zurückgekehrt in seine Hauptstadt, aber man wußte, daß ihm die Marquise binnen wenigen Tagen nachkommen und daß alsdann die öffentliche Verlobung folgen würde. Tissot antwortete seiner Schwester auf der Stelle:

»Liebe Claire! Die Nachricht von der Verheiratung der Prinzessin Veronika mit dem Grafen Warren ist, Gott sei Dank! noch vor Torschluß angekommen. Wir sind soeben hier eingetroffen. So höre: die französische Marquise d'Outretombe hat unsern guten jungen Herrn mit allen Künsten der Koketterie gekapert auf ihrem Schlosse bei Grenoble. Er hat ihr wahrscheinlich seine Hand versprochen, und wir glauben, daß er sich sehr übel dabei befindet. Er ist blaß und mager geworden und ernährt sich ungenügend. Der Leibarzt Dr. Wachtelheim hat auch schon von einer Badekur gesprochen, ehe der Brief ankam. Also nach Karlsbad geht Ihr? Das ist uns ein Fingerzeig: Wachtelheim verordnet nun unserem Herrn ebenfalls Karlsbad. Dort können sie endlich wieder zusammenkommen. Jetzt liegt nur die Aufgabe vor, Eure schreckliche Verheiratung mit dem Grafen Warren zu hintertreiben. Das kannst und mußt Du bewerkstelligen! Du mußt der Prinzessin sagen, daß Du genau von mir wüßtest: der Kurfürst liebe diese Marquise gar nicht, er liebe im Innersten seine Vrony, aber die Künste dieser Französin, welche um jeden Preis Kurfürstin werden will, haben ihn durch lauter Täuschungen umgarnt. Die würden alle zerrissen werden, sobald er Vrony wiedersieht. Die Prinzessin solle sich nur frei halten bis zur Ankunft in Karlsbad. Dort sprengt er gewiß die französischen Fesseln entzwei. Dasselbe mußt Du dem Fürsten Immanuel sagen, welcher ja doch seine Tochter lieber zur Kurfürstin machen wird, als zur Gräfin Warren. Geh' sogleich ans Werk und schreibe uns, was Du ausgerichtet. Hier bei uns geht jetzt alles sehr schnell, der Kurfürst ist in seinen Nerven so aufgeregt, daß er jetzt alles plötzlich macht.«

Leider war Claire Tissot damit zufrieden, daß sie ein einziges Mal etwas Gescheites angestiftet hatte. Sie war ein gelehrter, aber ganz beschränkter Kopf. Zu ihrer Beschränktheit gehörte der Grundsatz, daß sie sich mit keinem Worte, ja mit keiner Miene in das Familienleben ihrer Herrschaft mischen dürfe. Sie sagte also zum Briefe ihres Bruders: »O nein, das darf ich nicht«, und sie verschwieg den wichtigen Brief vollständig, obwohl sie das Leiden der armen, ganz schweigsam gewordenen Vrony täglich vor Augen sah.

Am Tage, da der Brief Tissots an seine Schwester abgegangen, war der Kurfürst in der Dämmerung des Sommerabends in seine Hauptstadt zurückgekehrt. Er empfing nur den Kanzler für eine Viertelstunde und zog sich in sein Zimmer zurück. Die Marquise war unterwegs, ihm in seine Hauptstadt zu folgen.

Er war frei von bestimmten Versprechungen, aber er hielt sich für verpflichtet, ihr seine Hand anzutragen.

Die heimischen Räume muteten ihn an wie ein Zauber der Kindheit. Er atmete tief auf, und aller französische Schimmer, welchem er so lange unterworfen gewesen, wich von ihm wie ein niederfallender Nebel.

Der warme Sommerabend lockte ihn ans offene Fenster. Seine Wohnung war in einem hohen Erdgeschosse, und vor dem Fenster lag ein baumreicher Garten und Park. Die Lindenbäume blühten hier noch – der Sommer war eben zurück neben dem des Dauphiné – und ihr Duft drang zu ihm herein. In geringer Entfernung schlug eine Nachtigall.

»Daheim! Daheim!« sprach er leise, und wie dazu gehörig stand Vronys Gestalt vor ihm.

Er hatte nicht nach ihr gefragt, er wußte nichts, als daß die Mutter gestorben, und hielt es für unmöglich, jetzt an sie zu schreiben, nachdem er so lange – »treulos! treulos!« sagte er unumwunden – geschwiegen. Aber alle Macht liebender Erinnerung kam jetzt über ihn wie eine große Meereswoge, und er brach in die Worte aus: »Sehen, sprechen mußt du sie, um sie zu versöhnen. Denn du liebst sie ja doch, wenn sie auch nicht dein Weib werden kann. Sehen und sprechen! Morgen wirst du allein, ganz allein zu Pferde hinüberjagen.«

Dies war der Entschluß, mit welchem er sich zur Ruhe legte, und am andern Morgen wachte er auf mit diesem Entschlusse und ging in den Garten hinaus, den alten Andreas zu suchen, welchem er ja bei seiner Abreise Aufträge gegeben hatte für die kleine Prinzessin.

Die Sonne schien schon warm und trocknete den Tau der Nacht. Er atmete die frische Wärme in vollen Zügen, und da, ja da am Gebüsch sah er auch schon den alten Gärtner an seinen Blumen. Das nahm er für ein Vorzeichen des Glücks. Er hatte ihm aufgetragen, jede Woche frische Blumen und Pflanzen hinüber zu bringen an sein Mühmchen, darunter die schönsten Topfgewächse, welche in Blüte traten. Von ihm wollte er hören, wie's drüben stand, eh' er zu Pferde stiege.

»Nun Andreas,« rief er, »hast du jede Woche meinen Auftrag erfüllt und frische Pflanzen und Blumen der Prinzessin Veronika gebracht?«

»Zu Befehl, Hoheit, jede Woche.«

»Und wie steht's drüben? Hat man sich getröstet über den schweren Verlust der guten Mutter? Sind alle gesund geblieben?«

»Nein, Hoheit, ach nein!«

»Wie denn?«

»Ich bin erst in der vorigen Woche drüben gewesen. Lieber Herrgott! Es geht da alles drunter und drüber.«

»Wieso denn?«

»Der alte Reichsfürst – übrigens ist er noch gar nicht richtig alt – der hat seine Courage verloren.«

»Seine Courage?«

»Ja, so sagt er und so sieht's auch aus. Sonst war er doch ein tapferer Herr und ritt und jagte und befahl wie einer. Jetzt steigt er auf kein Pferd mehr und sagt, es säße ihm ein Alp auf dem Magen, der mache ihn verzagt und jämmerlich. ›Von ihm,‹ sagt er, ›sei auch nichts mehr zu erwarten, und deshalb müsse alles über Hals und Kopf in Ordnung gebracht werden für die Prinzessin.‹«

»Die Prinzessin?«

»Ja, deshalb ist's so jählings gekommen, daß er sie mit dem Grafen verlobt hat.«

»Verlobt? Mit –?«

»Mit dem Herrn Grafen von der Warren, und die Hochzeit sollte gleich folgen. Zu Ende der Woche wird sie wohl vor sich gegangen sein.«

Wenn ein Blitz vor ihm in die Erde gefahren, der Kurfürst hätte nicht mehr erschrecken und zurückprallen können. Vrony verheiratet!

Es ist ja unsere Eigenschaft, daß wir den Wert eines Besitzes erst recht erkennen, wenn wir den Besitz verloren haben.

So ging es dem Kurfürsten Karl. Erst nach vierundzwanzig Stunden war er für die Getreuen zu sprechen, ein wortkarger, künstlich beruhigter, hoffnungsloser Mann.

Die Getreuen rechneten fest auf die Tätigkeit der Claire Tissot; sie wußten nichts von den gefährlichen Zuständen, welche Vrony bedrohten, sie hatten nur vor, den Kurfürsten für eine Badereise nach Karlsbad zu gewinnen.

Das schien auch erreichbar zu sein, da der Leibarzt des Kurfürsten, Doktor Wachtelheim, zu der kleinen Verschwörung gehörte, welche Tissot und Golz angezettelt, und für welche sie auch die wichtige Person des alten Generals Wolkenburg gewonnen hatten.

Der Kurfürst war in seinem Nervenleben tief angegriffen. Das fühlte er, und so hatte er nichts einzuwenden gegen eine Karlsbader Kur.

Nun sollte er nach dem Rate der Verschworenen der Marquise melden, daß sie seines Unwohlseins wegen ihre Herreise aufschieben möchte.

Dazu sagte er kurzweg »nein«. Ein Fürst müßte unter allen Umständen Wort halten, »auch« – fuhr er nach einer Pause fort, – »auch wenn man's ihm nicht halte.«

Nun entwickelte General Wolkenburg die Stimmung, welche in der Hauptstadt herrschte in bezug auf die Marquise und in bezug darauf, daß man fürchtete, sie wäre zur Landesmutter ausersehen. Diese Stimmung sei feindlich gegen die Marquise. Man hätte gehofft, der Landesvater würde ein benachbartes liebwertes Landeskind in ihre Mitte führen.

Der Kurfürst zuckte zusammen und unterbrach den alten Herrn, welchen er sonst hochachtete. Dann sagte er: »Das habt Ihr nicht allein gewünscht! Wünsche sind Träume, Träume sind Schatten. Bleiben wir bei der Wirklichkeit. Ihr verkündet meiner französischen Freundin, einer Frau von großen Geistesgaben und von großer Anlage zur Regierung eines Landes, einen ungünstigen Empfang in meiner Hauptstadt? Mag sein. Ihr urteilt ohne nähere Kenntnis. Aber ich will unter solcher Stimmung die Dame solchem Vorurteile nicht jählings aussetzen, ich will Euch Zeit geben zur Berichtigung solchen Vorurteils. Ich will ihr entgegenreisen und sie davon abhalten, unsere Landesgrenze jetzt schon zu überschreiten. Ich will sie einladen, mit nach Karlsbad zu kommen, ich will sie bis dorthin begleiten. Sie, General, mögen sich ebenfalls nach Karlsbad begeben, um die Dame kennen zu lernen, Sie selbst werden dann das Vorurteil berichtigen.«

»Jedenfalls, Hoheit, bleibt sie nur eine französische Marquise, bleibt unter dem Stande eines Kurfürsten des heiligen römisch-deutschen Reiches.«

»Haben Sie mir nicht neulich das Avancement eines Offiziers zu hoher militärischer Stelle vorgeschlagen, der ein zweifelhafter armer Ritter war? Hat er Ihre großen Erwartungen nicht erfüllt?«

»Er hat sie erfüllt.«

»Nun also! Taten erheben. Die Marquise wird das bestätigen. Ich fahre morgen nach Straßburg, um die Dame dort zu erwarten. Auf Wiedersehen in Karlsbad.«

Das war alles, was die Verschworenen erreichen konnten. Sie hofften aber doch, die Mariage noch zu sprengen, weil Golz steif und fest dabei blieb, es sei keine rechtschaffene Liebe von seiten des Kurfürsten, es sei nur Verwirrung und Verführung. Er sei ja immer in nächster Nähe des Herrn gewesen, er müßte es ja wissen.

Nach dieser Behauptung des Leibjägers Golz schloß der General und der Leibarzt: Das System dieser Kokette hat darin bestanden, den jungen Herrn wohl anzulocken, sich ihm aber nie hinzugeben, weil seine Hand nur dadurch zu erreichen wäre, daß erst die Ehe ihm die Hingebung bringen könnte. Der Kurfürst sei aber gar nicht so sinnlich geartet, daß dieser Punkt ein entscheidender bei ihm werden müßte.

Sie hatten auch nicht ganz unrecht. Aber sie hatten ja keine Ahnung, wie es jetzt in seinem Innersten aussah. Die Herzensfrage war untergegangen. Daß sie so untergehen gekonnt, schrieb er seiner Person zu, seiner unzureichenden Persönlichkeit, welche man im Handumkehren vergessen könnte. Diese so unzureichende Persönlichkeit müsse sich als Landesfürst Hilfe suchen, Hilfe und Ergänzung. Eine überlegene Frau müsse mit ihm regieren. Dies möglich zu machen, sei seine Pflicht.

Mit solchen Gedanken kam er nach Straßburg. Gleichzeitig mit ihm traf die Marquise ein. Er begrüßte sie mit der Einladung, ihn nach Karlsbad zu begleiten.

Der Arzt nötige ihn dahin, und er hoffe, es werde ihr nicht unangenehm sein, sogleich ein breites Stück des Deutschen Reiches kennen zu lernen.

Letzteres fand sie lächerlich, und die ganze Nachricht empfing sie mit Unwillen. Sie übersah auf der Stelle, was gemeint wäre, und ihre erste Regung war, in hohem Tone dem ganzen Verhältnisse ein Ende zu machen.

Sie war eigentlich von demselben gelangweilt. Ihre sinnliche Natur, »Penthesilea« pochte bereits ungeduldig gegen diese platonische Liebeswerbung eines ersichtlich blöden deutschen Jünglings. Ja, er hatte ihr anfangs gefallen, aber seine Schönheit war ihr fad geworden. Jener deutsche Edelmann, welcher ihren Ruf beschädigt hatte, stand viel reizender in ihrer Erinnerung, und sie dachte mit Sehnsucht an ihn zurück. »Warum ihn nicht jetzt herbeirufen, da sie durch das Marquisat vermögend geworden?«

Strengen Ausdrucks blickte sie auf den verlegenen Kurfürsten und war im Begriffe, rundweg mit ihm zu brechen.

Warum zögerte sie? Weil sie eine herrschlustige Natur war, und weil sie hartnäckig an einem begonnenen Werke festhielt. Dessen sind die Frauen gar oft fähig, eigentlich fähiger als die Männer. Sie haben weniger Gedanken, halten sie aber gewöhnlich mit Zähigkeit fest. Regentin eines großen Landes zu werden, – und den Regenten selbst in den Hintergrund zu schieben, werde ja bei dem Kurfürsten ein leichtes sein! – das war nun einmal ihr Ziel geworden.

»Geduld!« sagte sie sich also jetzt doch, und beklagte als höfliche Französin nur, daß der Mangel an Gesundheit Seiner Hoheit dabei eine Rolle spielte.

Nun, die Reise war für beide Teile eine Geduldprobe. Schlechte Landstraßen und fast täglicher Wechsel der Landeshoheit erregten ihren Spott und Verdruß. Das Deutsche Reich war eben hundertfach gespalten, und wie oft war da Mautgeld zu bezahlen, und wie oft hatte die eben gültig gewesene Münzsorte keine Geltung mehr! Und schön konnte sie auch die Landschaften nicht finden im Vergleich zu ihrem malerischen Dauphiné. Es waren ja auch nicht die schöneren Teile des Deutschen Reiches, durch welche sie zogen; ihr Tadel weckte aber doch den Widerspruch des Kurfürsten, und so gab's viel unerquicklichen Streit.

Wie hätte auch der Kurfürst angetan sein können zu behaglicher Stimmung! Er war so traurig. Nach dem Verluste Vronys hatte er eigentlich nur das Bedürfnis, allein zu bleiben. »Aber die Pflicht« – wiederholte er sich immerfort – »die Pflicht des Regenten verlangt mehr.« Er war ein Pedant in der Form und in Grundsätzen. Bildung und Grundsätze in erster Linie zu pflegen war seine Lebensweisheit geworden. Wer aber Bildung und Grundsätze auch da voranstellt, wo es gar nicht nötig ist, der verliert die natürlichen Freuden des Lebens, der ist eben ein Pedant.

Einen großen Teil des Weges machten sie zu Pferde, und als sie endlich auf der südlichen Höhe von Karlsbad ankamen und in das bewaldete Tepltal und auf das Städtchen hinabblickten, da gestand die Marquise zu, die Lage sei nicht übel.

Karlsbad war damals nur ein Städtlein, und die Zahl der Kurgäste, welche sich einfand, war gering. Aber es waren diese Kurgäste vorzugsweise vornehme Leute, welche mit großem Train von Wagen, Pferden und Bedienten einzogen und durchschnittlich ein ganzes Haus in Beschlag nahmen, da sie auch alles für Küche und Keller mit sich brachten.

Ein solches Haus bezog der Kurfürst am Markte. Das Haus daneben bezog die Marquise, und es wurde eine Verbindungstür in die Grenzmauer beider Häuser gebrochen, um den gegenseitigen Verkehr zu erleichtern.

Vor den Fenstern hatte man den mäßig hohen Schloßberg vor Augen, auf dessen Gipfel einen alten Schloßturm mit geringem Anbau. Von diesem Schloßturme hatten die Stadtmusikanten einen starken musikalischen Lärm gemacht, als die Wagen der beiden Herrschaften hereingefahren waren. Abends folgte vor der Häuserfront ein feierliches musikalisches Ständchen, ein zwiefaches, erst vor dem Hause des Kurfürsten, dann vor dem Hause der Marquise.

Das erfreute den Kurfürsten, die Marquise aber nicht. Sie war nicht musikalisch und wußte die Kunst der böhmischen Musikanten nicht zu würdigen. Der Kurfürst dagegen liebte die Musik, schickte den Musikanten ein reichliches Geschenk hinab und ließ sich noch ein Stückchen ausbitten. Wie glücklich hatte er einst dem Harfenspiel und dem Gesange Vronys zugehört!

Er schlief wenig die Nacht hindurch und stand mit der Sonne auf. Beim Sprudel fand er seine Leute, den General Wolkenburg und den Leibarzt Dr. Wachtelheim. »Wenig trinken, Hoheit!« sagte dieser, »nur wenig trinken.« Man trank damals überhaupt wenig und badete vorzugsweise. Wolkenburg, welcher Karlsbad kannte, führte ihn dann umher und zeigte ihm die Örtlichkeit. Der Sprudel, nur nach der Flußseite offenliegend, steckte zwischen Häusern und war nur leicht überdacht. Von ihm aus nach Süden hörten die Häuser bald auf, und die jetzige alte und neue Wiese waren unbebaut, waren beinahe noch Wiesen, welche nach starken Regengüssen die Tepl wehrlos überschwemmte. Die jetzige Johannesbrücke, allerdings in dürftigem Zustande, führte von der Sprudelseite, d. h. vom linken Flußufer hinüber zum Ende der Stadt, d. h. zu einer engen, kurzen Gasse, welche auf den Markt mündete. Auf dem Wiesenplane, der jetzigen alten Wiese, ließ man sich in Zelten und anderen flüchtigen Deckungen nieder, wenn man sich im Freien aufhalten wollte.

Hier errichtete man auch soeben ein stattliches Zelt für den Kurfürsten. Von hier aus ging man am Flusse aufwärts, wenn man weiter hinaus wollte. Ein leidlicher Fußpfad führte am Bergwalde rechts zu einer freien Aussicht auf schön geformte Berge. Dort stand ein alter Stall für Postpferde, und dort hatte man eine Halle von Baumstämmen errichtet für die wenigen Herrschaften, welche ganz im Freien frühstücken wollten. Die Dienerschaft brachte das Frühstück herausgetragen, und der Wirt aus der Posthalle erhielt ein Trinkgeld für seinen Unterstand. Für die bescheidenen kleinen Kurgäste besorgte er auch seit einiger Zeit warme Getränke zum Frühstück. Das Gebäck brachten sie sich aus der Stadt mit. Diese Unterstandshalle wurde das Posthäuschen genannt. Das rechte Flußufer, mit seinen Höhen näher ans Wasser herantretend und zum Teile dicht bewaldet, zum Teil mit Felsen besät, war damals ziemlich ungangbar.

Ein wenig rückwärts vom Posthäuschen stiegen damals wie heute, entfernter vom linken Flußufer, die schöneren Waldhügel in die Höhe, welche man damals wie heute Berge nannte. Dorthin führte jetzt Wolkenburg den Kurfürsten, um ihn zu orientieren, denn der Kurfürst wollte und sollte lange Spaziergänge machen.

Erst nach zwei Stunden kehrten sie zum Zelte auf der alten Wiese zurück. Die Marquise war noch nicht aufgestanden als sie ankamen, und sie mußten auf ihr Frühstück warten, im stillen höchst ungehalten über diese Verzögerung, denn der Frühstückshunger ist für die Sprudeltrinker der ungestümste.

Endlich kam sie in Begleitung eines alten sehr behenden Männchens mit der ausgeprägten Physiognomie eines Südfranzosen, mit scharfer Nase, scharfen Zügen, scharf vordringenden schwarzen Augen. Es war der alte Gutsdirektor des verstorbenen Marquis d'Outretombe, welcher an sie übergegangen und soeben aus dem Dauphiné angekommen war, um Befehle seiner Herrin einzuholen. Sie schien sehr zufrieden mit ihm zu sein, und auf das Zelt zuschreitend, hörte sie seiner Rede aufmerksam zu. »Kontrakt! Kontrakt!« schien der Mittelpunkt seiner Rede zu sein, und die Marquise sagte: »Still!« als der Kurfürst ihr entgegenkam.

Sie stellte ihn flüchtig vor als Herrn Palmier und sah sich um in dem Karlsbader Tale, einen großen Fächer vor ihr Antlitz haltend. Die Sommerfrische war schon sehr warm zwischen den Waldhügeln.

»Dort, wo Sie den Dampf aufsteigen sehen,« sprach der Kurfürst nach der Begrüßung, »dort ist der berühmte Sprudel. Wollen Sie ihn in näheren Augenschein nehmen?«

Sie wandte den Kopf rückwärts dahin, wohin der Kurfürst gezeigt. Man sah da die Luft mit Dampf erfüllt und inmitten dieses Dampfes die weiße, siedend heiße Wassergarbe des Sprudels, welche in die Höhe bäumte. Auch nebenan im Flußbette sah man armsdicke Ströme hervorbrechen.

»Merkwürdig!« sagte die Marquise, bezeigte aber kein Verlangen, dem Naturwunder näher zu gehen, was den Hungrigen sehr angenehm war.

Sie hatte für Naturerscheinungen überhaupt nur ein geringes Interesse; die Menschen interessierten sie mehr.

Den General Wolkenburg, welchen der Kurfürst ihr vorstellte, betrachtete sie aufmerksam, und er schien ihr nicht zu gefallen. Er trug auf einem mittelgroßen, starken Körper einen Kopf, welchen man altmodisch nennen mochte mit seinen starken Zügen, großer Nase und kleinen Augen. Sie speiste ihn vornehm ab und ging ins Zelt, an welchem sie sogleich zu tadeln fand, daß die Leinwanddecke zu dünn sei, die Sonne schimmere ja hindurch.

Der Kurfürst befahl sogleich, daß die Decke verdoppelt werden sollte. Man setzte sich zum Frühstück. Als sie zu ihrem Sessel schritt, flüsterte ihr Palmier zu: »Der General ist eine wichtige Person!« Deshalb redete sie ihn nun während des Frühstücks zu wiederholten Malen an, und zeichnete ihn aus durch schmeichelhafte Höflichkeit. Das verstand sie vortrefflich. Der alte Herr wurde auch ein wenig berauscht davon; er war bei aller Strenge nicht ohne Eitelkeit.

Sein Vorwurf gegen die Marquise, als einem fremden Lande angehörend, unterschied sich übrigens von unserer jetzigen Anschauung. Der Begriff einer Nationalität war damals noch etwas verschwommen, er ist in Deutschland eigentlich erst in den Freiheitskriegen gegen den ersten Napoleon wach und klar geworden. Der abweisende Ausdruck des Generals lautete: Sie ist eine Fremde mit verdächtigen Sitten.

Jetzt hatte sie aber einen bestechenden Eindruck auf ihn gemacht, und als der Kurfürst beim Fortgehen halblaut zu ihm sagte: »Nun, alter Herr, was meinen Sie von ihr?« da erwiderte Wolkenburg:

»Imponierend, Hoheit! Sie versteht zu repräsentieren, ja noch mehr. Darin haben Hoheit recht.«

»Nun also! Machen Sie die Bekanntschaft dieses Palmier! Er ist ersichtlich dazu herbeschieden, den Heiratskontrakt zu entwerfen. Lassen Sie sich seinen Entwurf zeigen!«

»Hoheit?«

»Ich hab' keinen Grund mehr, zu zögern.«

Doktor Wachtelheim und Golz waren schwer betroffen, als ihnen Wolkenburg dies mitteilte.

»Ich konnt' mir's abklavieren,« rief Golz heftig, »daß es so nahe wäre, abklavieren an der mageren Madelon. Denn die ist jetzt ganz aus dem Häuschen vor Vergnügen, und erlaubt sich sogar, mir Zärtlichkeiten zuzumuten, der kluge Balg!«

Nachmittags war großes Diner beim Kurfürsten. Auffallenderweise ließen Wolkenburg und Palmier, welche beide geladen waren, ein wenig auf sich warten. Sie hatten den Heiratskontrakt miteinander diskutiert, und Wolkenburg erschien sehr aufgeregt. Er aß fast gar nichts und trank nur.

Gegen Ende der Mahlzeit klang der Tusch vom Schloßbergturm wieder herunter.

»Neue Gäste!« sagte der Kurfürst.

»Aber eine melancholische Weise«, bemerkte Doktor Wachtelheim.

»Trotzdem gute Musik! Auch die Frau Marquise wird sich daran gewöhnen«, entgegnete der Kurfürst.

Die Marquise lachte und rief: »Wer weiß! Aber man gewöhnt sich ja an alles.«

Dieser Willkomm vom Turme herab galt einer Kutsche und einem offenen Wagen. In der Kutsche saß Immanuel XIX. und seine Tochter, in dem offenen Wagen Susanne, Nikodemus, eine weibliche und eine männliche Dienstperson. Immanuel XIX. mußte es sparsam geben, denn bares Geld war nicht häufig in seiner Kasse.

Warren war nicht dabei, er wollte zu Pferde kommen. Seine Verheiratung mit Vrony war noch nicht vollzogen, weil Vrony im letzten Augenblicke mit einer Energie dagegen aufgetreten war, welche den Vater bestürzte. Sie hatte gesagt: »Du bist krank, mein armer Vater! Während der Krankheit darf man keine wichtigen Entschlüsse fassen, denn solche Entschlüsse sind auch krank. Warte deine Genesung ab! Vielleicht findest du sie in Karlsbad. Dann wollen wir ernsthaft die Frage besprechen. Ich bin gesund, und ich sage jetzt ganz bestimmt nein. Ich weiß, daß meine selige Mutter auch nein sagen würde.«

Das hatte Immanuel XIX. irre gemacht und unsicher. Deshalb hatte er zu Warren gesagt: »Zwingen kann ich sie nicht; du mußt warten. Sag' mir nichts Ärgerliches! Ich halt's nicht aus, und dann nimmt sie dich gewiß nicht, wenn ich nicht mehr da bin.«

Vrony war nicht nur hierin, sie war in allen Punkten die Herrin des Hauses geworden. Ihr Liebesunglück hatte das Herz zugeschlossen, ihr guter Verstand war ganz frei geblieben. Sie hoffte nichts mehr für ihr Gemüt, aber die anderen Dinge wollte sie für ihren Vater und für sich streng und kräftig ordnen. Denn – sagte sie zu sich – ich bin kein Mädchen mehr, ich bin nur noch ein neutrales Menschenkind.

Am Karlsbader Tore – die kleine Stadt hatte damals noch Tore – fragte ein älterer Bürgersmann, ob die Herrschaft schon Wohnung hätte.

»Nein; wir suchen eine einfache, welche nicht zu teuer ist.«

Immanuel XIX. stöhnte über diese Rede seiner Tochter; das bringe ja herunter.

»Hinauf, Vater, warte nur!«

Am Kirchenplatze, welcher am rechten Flußufer vom Sprudel in die Höhe steigt, wies ihnen der Bürgersmann ein kleines Stockwerk mit drei Zimmern und Gelaß für die Dienerschaft. Vrony fragte nach der Küche. Sie war auch da, und Vrony mietete die Wohnung. Zugleich gab sie ein Trinkgeld und trug dem Bürgersmann auf, den Badearzt für ihren Vater zu schicken.

Nun wurde mit Hilfe der Susanne, des Nikodemus und der Dienerschaft die Wohnung eingerichtet, und als gegen Abend der Badearzt kam, war alles in Ordnung.

Vrony gab diesem Arzte Bescheid über die Gebrechen ihres Vaters, da Immanuel XIX. mehr fluchte als schilderte, und dadurch den Arzt nur verwirrte. »Kurzum,« war der immerwährende Ruf des alten Fürsten, »viel, sehr viel Sprudel!«

»Nach Umständen baden und trinken,« erwiderte der Arzt, »morgen früh nur drei Becher Sprudel, gegen Mittag ein Bad, fleißiger Aufenthalt in frischer Sommerluft und absolute Mäßigkeit im Essen und Trinken!«

»Weiter nichts?!« rief Immanuel XIX. ironisch in seiner Erbitterung über solch ein unwürdiges Leben.

»Weiter nichts«, sagte der Arzt. »Sie sind –«

»Durchlaucht bin ich, Mann!«

Der Arzt verbeugte sich und fuhr fort: »Durchlaucht haben ersichtlich keine schwere Krankheit, haben aber schwer gegessen und getrunken und wahrscheinlich Kummer erlebt –«

»Na, ob!«

»Das hat Stockung im Unterleibe hervorgebracht und Leber wie Galle alteriert. Das bringt der Sprudel in Ordnung, aber langsam.«

Der Prinzessin hatte der Arzt gefallen, und sie führte ihren Vater am andern Morgen sehr früh zum Sprudel. Susanne war ausgeschickt, einen Trinkbecher zu kaufen; sie brachte gleich zwei der Sicherheit wegen. Vielleicht tränke die Prinzessin auch gegen den häuslichen Kummer, oder Nikodemus, welchem eine Auffrischung not täte. Denn sein öfteres Schluchzen bezeuge ja, daß er ganz wie Durchlaucht am Gemüt leide, »natürlich!« setzte sie hinzu. Vrony lächelte ein wenig und ließ auch den zweiten Becher füllen.

Sie stand, vor diesem Naturwunder des mit Getöse aufspringenden heißen Wassers voll Bewunderung, ja faltete die Hände. Sie gab nicht acht, als der Vater voreilig trank. Er schrie ungebärdig auf, das siedend heiße Wasser hatte ihm naturgemäß Mund und Gaumen verbrüht. Entrüstet schüttete er den Inhalt des ganzen Bechers fort mit dem Kraftspruche »Das Zeug sei nicht zu brauchen.«

Vrony hatte not, ihn zu einem neuen Becher und zu kleinen Schlucken des Wassers zu bewegen. »Wie schmeckt's denn, Papa?«

»Erbärmlich, wie eine jämmerliche Hühnerbrüh.«

»Nein,« sagte sie, indem auch sie nippte, »nein, wie eine schwache Hühnerbrüh, ganz gut.« Dabei gab sie unbedacht den vollen Becher an Nikodemus zum Ausschütten und redete dem Vater zu, sich zu setzen und ganz langsam zu schlürfen.

Nikodemus schoß mit seinem Munde auf die Stelle des Bechers los, welche Vronys Mund berührt hatte, schlüpfte beiseite und trank mit Todesverachtung. Er verbrannte sich arg, hustete und pustete so still als möglich und gab nicht nach, bis er den ganzen Becher geleert hatte. Er ahnte die Folgen nicht. Zunächst war er wie berauscht und reichte seiner erstaunten Mutter den Arm, ganz wie ein Kavalier. Der Sprudel wirkte bedenklich in ihm, er hielt sich aber auch unter ausbrechendem Schweiße tapfer, bis Durchlaucht seine drei Becher unter stetem Schelten erledigt und sich aufgemacht hatte zum Promenieren.

Glücklicherweise richtete Immanuel XIX. seine Schritte von der Kirche aufwärts, dort war es unwegsam und waldig. Dort konnte Nikodemus, mit Anstand, sich in die Büsche schlagen, und es dauerte lange, bis er wieder zum Vorschein kam. Dabei hatte er ein bleiches, leidendes Aussehen. Es wurde nicht bemerkt, da Susanne nach Hause gegangen war, um das Frühstück zu kochen und dann auf die Wiese jenseits der Tepl zu bringen.

Die Familie wußte nicht, daß es auf dieser rechten Seite des Flusses unwegsam war, indes sie das linke Ufer hätte wählen sollen. So verspätete sie sich.

Susanne kam, wie verabredet, auf die alte Wiese und trug ihren großen Korb mit dem Frühstück, Warmbier und weißes Brot. Da sie ihre Herrschaft nicht sah, ging sie auf das schönste Zelt los, als das geeignetste für ihre Herrschaft, und setzte ihren Korb in das noch leere Zelt des Kurfürsten.

Endlich kamen auch Immanuel XIX. und Vrony am linken Ufer daher. Sie hatten weit draußen einen schmalen Steg gefunden, welcher über den Fluß hinüberführte. Ungeduldig kam Immanuel XIX. daher, er war des Frühstücks höchst bedürftig und schrie fast seiner noch hübschen Köchin entgegen: »Grüß' Gott, Susanne, 's ist die höchste Zeit! Das heiße Wasser macht einen Wolfshunger.«'

Da trat aber der gestrige Bürgersmann, welcher ihnen die Wohnung verschafft hatte, bescheiden heran und fragte, ob sie eingeladen wären?

»Wieso?«

»Ja, das Zelt gehört dem Herrn Kurfürsten, und in einer halben Stunde kommt er daher, frühstücken.«

»Was für ein Kurfürst?«

»Der Kurfürst Karl, welcher mit einer französischen vornehmen Dame im ›Löwen‹ am Markte wohnt.« Sie wohne zwar eigentlich im anstoßenden Hause, aber es sei in dies Nebenhaus eine Tür durchgebrochen worden, damit man bequem zueinander könne.

Vrony schrie auf: »Fort, fort, Vater, um des Himmels willen!«

»Aber mein Frühstück!«

»Draußen, dem Stege gegenüber, am Waldsaume, hab' ich ein Häuschen gesehen, da saßen Leute beim Frühstück –«

Er fluchte gottlos, aber sie zog ihn fort, weil er zugeben mußte, daß man mit dem treulosen Kurfürsten nichts zu tun haben könnte. Susanne und Nikodemus folgten erstaunt und trugen den Korb gemeinsam, »denn er ist schwer,« sagte Susanne, »und dir, Demel, tut eine erwärmende Arbeit not, denn du siehst ja wieder einmal aus, wie der blanke Käse.«

Nach einer halben Stunde kam der Kurfürst mit den Seinigen, und sie erfuhren nichts von dem Vorfalle. Erst eine Stunde später erschien die Marquise, allem Anscheine nach gelangweilt von diesem Badeleben. Sie war wenigstens verdrießlich und sagte im Vorübergehen zum General Wolkenburg, er möge doch heute ein Ende machen mit der Kontraktfassung. Sie ging auch bald wieder, weil sie Briefe zu schreiben hätte. Auf einen Wink des Kurfürsten trug ihr Golz tief mürrisch ein Bukett nach; er hätte es lieber in die Tepl geworfen.

Als sie bis zum »Löwen«, der Wohnung des Kurfürsten, gelangt war, da kam ein Reiter aus der engen Gasse daher, welche noch heute zum Markte führt, und hinter ihm ein Reitknecht. Es war Graf von der Warren.

Die Marquise sah zu ihm hinauf, er sah zu ihr herab, und plötzlich schrie sie: »Frédéric!« und er schrie: »Louise!« sprang vom Pferde, faßte ihre beiden Hände und wurde flugs in ihre Wohnung gezogen, eilig und außerordentlich lebhaft.

Golz sah und hörte das. »Kurios!« sagte er, »Frédéric, Louise! Frédéric war der Graf Warren, und der schreit ohne Umstände Louise – so heißt sie also – und faßte sie ohne Umstände bei den Händen! Der kennt sie! Und so gut. Ganz vergnügt fuhren sie ab ins Haus!«

Was die Hauptsache, was der Name Louise bedeutete, davon hatte er keine Ahnung; aber erzählen mußte er doch die Sache sogleich.

Er kehrte also um. Da kam aber Madelon und faßte ihn bei der Hand. Sie hätte ihm was zu sagen, er solle in ihr Zimmer kommen!

Zu sagen? Ja, da lag die Schwierigkeit. Sie hatte ein paar deutsche, er ein paar französische Worte gelernt, aber das gegenseitige Verständnis war doch noch sehr lückenhaft. – »Heißt die Frau Marquise Louise?« fragte er. Sie wurde über und über rot und sah dadurch viel hübscher aus, als gewöhnlich. Sie tat, als hätte sie die Frage nicht verstanden, wie das herkömmlich war, und gab keine Antwort, aber sie war so zutunlich, daß ihm ganz warm wurde. Am Ende verstand er auch, was sie halb deutsch, halb französisch hervorbrachte. Ihre Herrschaften würden sich nächster Tage heiraten, ob sie beide, der Golz und die Madelon, das nicht auch tun wollten?

»Heiraten,« schrie er, »Sie ist wohl verrückt; ich bin ja schon zehn Jahre verheiratet!«

»Ah, ce monstre!« schrie nun sie und stieß ihn von sich. Lachend ging er ab.

Er ging nach dem Zelte zurück, fand aber nur noch den Doktor. Der Kurfürst und Wolkenburg waren auf den Hammerberg hinaufgestiegen. Er erzählte also nun dem Doktor, was er gehört und gesehen. Dieser sagte aber auch nur »Kurios!« und setzte erst nach einer Pause hinzu: »Holla, ich erinnere mich: der Warren ist lange in Frankreich gewesen. Wär' das eine alte Liebschaft? Ich werd's dem Kurfürsten beizubringen suchen.«

Der Name Louise, die Hauptsache, blieb unbeachtet.


»Fort! fort!« hatte Vrony gerufen, und sie hatte mehr damit gemeint, als Entfernung von dem Zelte. »Fort aus Karlsbad!« rief es mit hundert Stimmen in ihr. Aber war das möglich? Die Kur des Vaters war so notwendig! – Es war nicht möglich. – Und allein lassen konnte sie ihn auch nicht. – Es blieb nichts übrig, als sich mit allen Mitteln verborgen zu halten. – Aber wie lange konnte das gelingen in dem kleinen Orte? – Sie war ratlos.

Im Zimmer der Marquise dagegen, wohin sie den Grafen Warren geführt, ging es höchst vergnügt zu. Warren war wirklich der deutsche Edelmann, mit welchem sie die Liebschaft à la régence geführt hatte, und sie war entzückt, ihn wiederzusehen.

»Ah!« rief sie, »bin ich dieses Verhältnisses satt mit dem blutlosen Kurfürsten! Denke dir; über einen Handkuß hinaus hat es dieser Bräutigam nicht gebracht! – Und du hast dich gar nicht verändert, nein, doch! zum Vorteil, du siehst frischer und rüstiger aus.«

»Natürlich, denn auch ich hab' eine Braut!«

»Was? – Wen denn?«

»Die kleine Prinzessin, welche dein Kurfürst heiraten sollte. Aber bei mir sieht's noch karger aus, als bei dir: sie sträubt sich geradezu gegen mich.«

»Das ist wirklich pikant.«

»Jawohl. Aber sicher ist bei alledem nichts, als unsere noch lebendige Zuneigung. Ja? Ist sie wirklich noch vorhanden?«

»Vollständig, Frédéric, was mich betrifft. Bei uns zulande kommt man immer auf seine erste Liebe zurück. – Und du?«

»Ich finde dich reizender, als je!«

»Warum aber sagst du, daß nur unser Verhältnis sicher wäre?«

»Du wirst den Kurfürsten nicht kriegen, und ich –«

»Warum soll ich ihn nicht kriegen?«

»Weil es zutage kommen wird, daß du nicht die Therese, sondern die Louise bist.«

»Wodurch soll es zutage kommen?«

»Schon vor der Trauung muß ja in den Ehepakten dein Taufname genannt werden.«

»O, das verhindert mein kluger Palmier!«

»Bei der Trauung kann es kein Mensch verhindern, und da tritt dein Kurfürst vom Altare zurück.«

»Das tut er schwerlich! Er fürchtet nichts so sehr als einen Skandal.«

»Der Pfarrer aber wird deinen Taufschein verlangen!«

»Und wenn ich keinen habe?«

»So kannst du doch kaum dem Sakramente gegenüber einen falschen Namen angeben!«

»Das wird nicht nötig sein. Meine Mutter heißt Therese, und von ihr haben wir beide Schwestern den Namen Therese erhalten, nur mit dem Unterschiede, daß ich Louise Therese heiße, und meine Schwester Therese Marie heißt, und ich Louise gerufen worden bin, sie aber Therese. Ich lüge also gar nicht, wenn ich dem Pfarrer versichere, daß in meinem Taufschein Therese steht.«

»Und wenn die Schwester auftaucht?«

»Ach, die steckt im Kloster und bleibt zeitlebens darin stecken!«

»Und wenn's trotz alledem früh oder spät verraten wird, was für ein Gesicht machst du dem Kurfürsten gegenüber?«

»Ich lache. Durch ihn selbst verführt, sei ich in den Roman hineingeraten und habe ihn fortgehen lassen, weil mir der Kurfürst gefallen. Er wüßte ja am besten, sag' ich, aus unserem tugendhaften Umgange, daß ich verleumdet worden sei, oder im schlimmsten Falle, daß ich zur Tugend bekehrt worden sei, vorzugsweise durch seinen Umgang!«

Dabei lachte sie und umarmte ihren Grafen mit aller Zärtlichkeit.

Er lachte auch, sagte aber doch: »Nein Louise, ich glaube nicht an ein solches Gelingen. Beschäftigen wir uns also mit der Frage: Was geschieht mit uns beiden, wenn die Bombe platzt? Nach unseren Nachrichten heißest du ja Marquise d'Outretombe, was hat das für eine Bewandtnis?«

Sie erzählte es ihm, wie sie's dem Kurfürsten erzählt hatte.

»Ei, du besitzest also jetzt ein Marquisat, und wenn ich meine Grafschaft verkaufe, da können wir standesgemäß miteinander leben, nachdem wir uns ehrbar verheiratet haben.«

»O nein, mein Herr! Ich will Kurfürstin werden! Solche Macht ist was wert. Und du bewirbst dich ja um die kleine Prinzessin. Soviel wirst du doch vermögen, ein unerfahrenes Landprinzeßchen zu erobern! Die Länder grenzen aneinander, die Entfernung der Residenzen ist, wie ich höre, gering, da besucht man sich oft, man sieht sich –«

Da klopfte es. Madelon war's. Der Reitknecht spektakele unten, er wisse nicht, wohin er mit den Pferden solle, er warte schon eine Stunde.

»In irgend einem Stalle soll er sie unterbringen und nach seinem Herrn soll er hier im Hause fragen«, rief die Marquise und setzte hinzu: »Unten in unserem Hause stehen ja Zimmer leer, nicht wahr?«

»Ja, zwei.«

»Sie wird Graf Warren beziehen, miete sie auf der Stelle!«

 

8.

Vrony war mit den Ihrigen unbehelligt am rechten Ufer nach Hause gekommen, und da sie nichts weiter tun konnte, so tat sie doch nun alles mögliche, um sich und den Vater unzugänglich zu machen. Susanne, Nikodemus und die beiden Dienstleute wurden also beauftragt, jeden Besuch abzuweisen mit der Antwort: »Die Herrschaft ist abgereist, und wir wissen noch nicht, ob und wann sie zurückkehrt.«

Auch dem Grafen Warren – der kam ja gewiß – sollte dies gesagt werden.

»Ach, wie weit kann das helfen!« sagte sie sich selbst hoffnungslos – »was dann, wenn es scheitert? Ruhe, Entschlossenheit, Stolz,« – so schloß sie.

Das Schicksal gab sich wirklich alle Mühe, den jungen Charakter dieses Mädchens in kurzer Frist fest zu gestalten.

Ein Trost blieb ihr – der Vater. Diesmal erwies er sich gar nicht schwach, denn seine Standesehre kam ins Spiel. Diesmal äußerte er sich als reichsfreier Fürst, und stärkte Vrony mit den Worten: »Kommt er mir in den Wurf, dieser wetterwendische Kurfürst, da werd' ich ihm zeigen, daß das Haus der Immanuele ebenso alt ist wie das seinige, wenn nicht älter.«

Zunächst mußte die Entdeckung von Warren ausgehen. Er wußte, daß sie dahergereist waren, er mußte sie aufsuchen, wenn er nicht die Verbindung ganz aufgeben wollte. Und das wollte er nicht, da Louise darauf beharrte, Kurfürstin zu werden.

Er kam auch gleich in Rede; Golz hatte ihn gesehen. Als der Kurfürst von seiner Hammerbergtour zurückkam, war er schweißtriefend – Wachtelheim hatte starke Bewegung vorgeschrieben. Es führte nur ein steiler Fußpfad da hinauf, und an Wege durch die Wälder hatte damals noch niemand gedacht. Die Menschen gingen überhaupt in jener Zeit noch nicht soviel spazieren wie jetzt, Genuß an Naturschönheit und Spazierengehen ist modern in Deutschland. Noch zu Anfang unseres Jahrhunderts erregte ein Lord Findlater großes Aufsehen in Dresden und Karlsbad, als er Anlagen machte, um Naturreize zu genießen. Selbst der Sprudel trieb die Patienten nicht hinaus; er wurde von vielen noch im Bett getrunken und im Bette verdaut. Der aufgeklärte Doktor Wachtelheim machte eine Ausnahme mit dem schweißtriefenden Kurfürsten, welcher jetzt seinen Golz zum Umkleiden herzurief.

Da erzählte denn dieser Leibjäger, was unterdessen vorgegangen, und da sagte er: »Der Graf Warren ist angekommen.«

»Was? – Mit seiner Frau?«

»Nein, allein, zu Pferde mit seinem Reitknecht. Hat denn der eine Frau?«

»Freilich.«

»Na, um so schlimmer! Denn als er die Marquise sah und diese ihn, da schrien und taten die ja beide, als ob sie Mann und Frau wären, und hinein ging's ins Zimmer auf Stunden lang, der Reitknecht wußte sich gar keinen Rat mit den Pferden. Der Graf ist auch eingemietet hier daneben im Hause der Marquise.«

»Die kennen sich?«

»Na und wie!«

Aber vom Zuruf »Louise« sagte der oberflächliche Berichterstatter kein Wort.

Warren seinerseits, welchem der Reitknecht den Mantelsack gebracht, kleidete sich um in seiner Wohnung zu ebener Erde und überlegte: »Was nun?« Den Fürsten Immanuel und Vrony sogleich aufzusuchen, dazu paßte doch die Stimmung nicht ganz nach den Umarmungen Louisens. Und wo wohnte Immanuel? Das mußte ausgeforscht werden. Zunächst, wo speisen? Er hatte Hunger. Die Gasthöfe aber galten für mißlich – ach, beim Kurfürsten, der war ja da. Den begrüßt man und läßt sich zur Tafel laden.

So nahm er sich vor. Erst wollte er sich rasch das Städtchen betrachten und strich durch die Gassen. Da, vor einem Lebkuchenladen sah er Nikodemus stehen. Der naschhafte Schlingel hatte sich einen Lebkuchen gekauft und verzehrte ihn, indem er am Sprudel vorüber nach dem Kirchenplatze hinauf schlenderte. Der Törichte! Diese Speise paßte gar nicht zu seinem Magen, welcher durch das Sprudeltrinken tief erschüttert war. Er hatte auch im Vorbeigehen mißtrauisch auf die sich aufbäumende Sprudelsäule geblickt, aber den ihm nachgehenden Grafen hatte der Dummkopf nicht gesehen. Dieser folgte ihm in einiger Entfernung, um die Wohnung des Reichsfürsten zu erfahren, da der Junge doch wohl in der Heimkehr begriffen wäre. Und allerdings ging er oben gegenüber der Kirche in ein Haus und kam nicht mehr zurück. »Da wohnen sie also!« sagte Warren und ging nun des Diners wegen stracks in die Wohnung des Kurfürsten.

Golz im Vorzimmer übernahm die Meldung. Dem Kurfürsten war dieser Besuch höchlich zuwider, aber er konnte ihn füglich nicht abweisen. So standen sie denn einander gegenüber, und der Kurfürst fragte: »Was für eine Krankheit führt denn Sie unmittelbar nach so wichtigem Ereignisse hierher in den Badeort?«

»Welches Ereignis meinen denn Hoheit? Und krank bin ich gar nicht.«

»Und sind Sie allein gekommen?«

»Allein!«

»Und nicht krank? Was führt Sie also her? Warum haben Sie so rasch Ihre junge Frau verlassen?«

»Meine junge Frau? Ich hab' noch keine Frau.«

»Sie haben – Sie sind nicht mit Prinzessin Veronika verheiratet?«

»Nein.« – Mehr wollte er nicht sagen.

Der Kurfürst war wie von einem elektrischen Strahle durchzuckt und brachte kein Wort heraus.

»Zur Gesellschaft des kranken Fürsten Immanuel komme ich her. Er ist sehr melancholisch und braucht –«

»Des Fürsten Immanuel?!«

»Ja.«

»Der ist hier?«

»Ist hier mit Prinzessin Veronika.«

Da war es heraus. Der Kurfürst meinte zu taumeln. – Er wollte allein sein, beeilte sich also mit der herkömmlichen Einladung zur Tafel und machte eine Abschiedsbewegung.

Warren ging mit dem Gedanken: Dieser Fant ist immer noch verliebt in die Vrony, und Louise wird scheitern. Er kehrte nun zum Kirchenplatze zurück, um seinen Besuch abzustatten.

Vor dem Kurfürsten wankte wirklich die ganze Welt. Was da alles vorgegangen, seit er vom Jagdhause fortgefahren, war das nicht alles ein schwerer Traum? Freilich! Törichte Pflichten hatte er sich auferlegt gehabt, rein törichte! Solch einen Pflichtennarren habe der Traum gepeinigt – endlich; endlich sei er erwacht, Gott sei Dank!

»Golz! Golz!« rief er mit schallender Stimme.

Golz stürzte herein. Er meinte, es sei was Schreckliches im Werke.

»Golz, Prinzeß Vrony ist in Karlsbad!«

»Ho! Das wäre ein Glück.«

»Das wäre? Tor! Das ist ein Glück! Geh' zu ihr! Aber wo wohnt sie?«

»Ihr Bräutigam, der Warren, wird's wohl wissen.«

»Bräutigam? Meinst du? Aber geheiratet hat er sie noch nicht, er selbst hat's gesagt.«

»Die Frau Marquise würde es auch nicht gern sehen.«

»Ja so, die, die Marquise. Das wird jetzt – aber warum soll die's nicht gern sehen.«

»Ich hab' ja Hoheit schon gesagt, daß sie und der Graf einander sehr gut kennen. Wie die sich beide ihre Namen zuriefen, das war schon eine lange Bekanntschaft.«

»Ihre Namen?«

»Ja. Frédéric hier und Louise da!«

»Louise? – Bist du verrückt? – Wer rief Louise?«

»Der Graf.«

Der Kurfürst pausierte. Dann ging er ganz nahe zu Golz und sagte: »Therese wird er gerufen haben.«

»Nein, Louise hat er gerufen. Er schrie so, daß man's genau verstehen mußte, wenn man nicht taub war. Therese klingt ja ganz anders.«

Neue Pause.

»Ruf' mir den General Wolkenburg!«

Golz ging. Der Kurfürst rührte sich nicht. Nach einiger Zeit nahm er seinen Kopf in beide Hände, als wollte er alle Gedanken eng zusammenhalten.

Wolkenburg trat ein. Der Kurfürst sprach nicht. Wolkenburg fing also an:

»Ich wollte selbst um Audienz bitten, Hoheit, wegen des Palmier. Das ist ein unverschämter Gesell, beruft sich aber dabei auf kategorischen Auftrag der Frau Marquise. Hoheit! Ich gestehe meine Schwäche ein: diese Dame hat mich einen Augenblick durch Schmeichelei betört, aber ihre Forderungen für das Heiratsinstrument haben mich ernüchtert. Hoheit können sie nicht bewilligen!«

»Das ist erwünscht, alter Freund! Ich steh' in einer Wolke, die donnert und blitzt. Ich hoffe, sie reinigt die Luft, und wir sehen klar, wenn sie vorübergezogen ist. Still sein und prüfen, heißt unsere Aufgabe. In der Kontraktsfrage tun Sie nichts mehr, und wenn der Palmier drängt, so sagen Sie, Sie hätten seine Forderungen unverschämt gefunden, und ich wäre derselben Meinung.«

»Dem Himmel sei Dank, Hoheit!«

»Wir sprechen weiter darüber; die Prüfung kostet Zeit. Jetzt bitt' ich, mir den Golz wieder hereinzusenden.«

Golz kam, der Kurfürst trug ihm auf, sogleich die Wohnung des Fürsten Immanuel XIX. beim Grafen zu erfragen und um Auskunft zu bitten, wann der Kurfürst dem Fürsten seinen Besuch machen könne.

Golz eilte fort. Aber wo gleich den Grafen finden? »Ach was,« sagte er sich, »in dem kleinen Orte wird's ja keine Hexerei sein, die Wohnung eines Fürsten zu entdecken!«

Er strich durch die wenigen Gassen und sah sich die Häuser an. So kam er auch auf den Kirchenplatz hinüber hinter den Sprudel auf der rechten Teplseite. Und richtig! Da saß Susanne mit ihrem Nikodemus und der Dienerschaft auf einer Bank vor der Tür. Das Stadtleben in den Häusern nicht gewohnt, hatte sich Susanne von dem sonnigen Sommertage herauslocken lassen in den Schatten des Hauses, um frische Luft zu atmen nach der Speisung; denn ihr Herr Fürst speiste frühzeitig – der Sprudel hatte ihm den Hunger wiedergebracht – er hatte ausgiebig gespeist, und ihre Pflichten als Oberköchin waren erfüllt.

Golz sah sie, sie sah ihn an. Er klatschte vergnügt in die Hände, sie ließ ihren bekannten Schrei los, und sagte zu Nikodemus: »Jetzt halt's Maul!«

Golz hatte sich die Aufgabe leichter gedacht, als sie war. Susanne empfing ihn mürrisch und erklärte, ihre Herrschaft sei verreist.

Umsonst setzte er ihr auseinander, daß er, Golz, ja immerfort für die Prinzessin gewesen sei und auch gearbeitet habe, und daß jetzt alles in Ordnung käme – Susanne blieb steif und wies ihn ab.

Diener halten oft den Zorn ihrer Herrschaft gegen Auswärtige zäher fest, als die Herrschaft selbst es tut.

Kurz, Golz mußte unverrichteter Sache abziehen, er meldete aber dem Kurfürsten: »Wahr ist's gewiß nicht, daß sie abgereist wären.«

Bei der Tafel des Kurfürsten ging es bald darauf wunderlich her. Der Kurfürst fragte den Grafen Warren, ob es wahr sei, daß Fürst Immanuel abgereist wäre?

»Gewiß nicht,« antwortete der Graf, »aber man hat vor einer Viertelstunde auch mich unter diesem Vorwande abgewiesen.«

»Ich höre mit Vergnügen,« sagte der Kurfürst zur Marquise, »daß Graf Warren ein alter Bekannter von Ihnen ist.«

»Jawohl!« rief sie fröhlich und reichte dem neben ihr sitzenden Grafen die Hand.

Sie war innerlich so vergnügt, daß sie gar kein Hehl machte aus ihrer Vorliebe für den Grafen. Oder sie war so klug, solche Unbefangenheit für das beste Mittel zu halten, daß niemand was Arges zu denken brauche.

Der Kurfürst behandelte sie kalt, vornehm, wortkarg und fragte sie beim Schluß der Tafel, ob sie noch immer keine Nachricht von ihrer Schwester Louise habe.

»O doch! Es geht ihr gut.«

Darauf reichte sie fröhlich dem Grafen ihren Arm und ließ sich durch die neue Verbindungstür in ihre Wohnung führen, ihm zuflüsternd: »Sie wittern Unrat, aber heraus kommt er nicht mehr, auch wenn er ihn aufdeckt.«

Nach der Tafel setzte sich der Kurfürst an seinen Schreibtisch und schrieb einen langen Brief an den Marquis d'Aubigny in Lothringen. Dann ließ er seinen Sekretär Tissot rufen, diktierte ihm die Adresse, nachdem der Brief in ein starkes Kuvert gelegt und gesiegelt war, und befahl, daß das Schreiben unverzüglich durch einen reitenden Kurier befördert werde. Der Kurier sollte auf Antwort warten und sie schleunigst bringen.

Wie sah es denn in ihm aus? Zornig nach der einen Seite. Ein entsetzlicher Verdacht war in ihm rege geworden. Er zürnte der Verdächtigen und zürnte sich selbst. »Denn«, sagte er für sich, »nur dein übertriebener Eifer für Staatsräson und äußerlichen Anstand hat so was möglich gemacht!« Wehmütig aber blickte er auf die andere Seite, denn da trat Vronys Bild an sein Herz. Er überflutete jetzt von Reue, von Sehnsucht, von süßem Gefühl. Du mußt dich schämen, vor ihr zu erscheinen,« rief er, »ja, aber du hast die Strafe verdient. Trage sie und suche gut zu machen! Golz! Golz!«

Golz kam. »Frage, forsche, wohin sie zu gehen pflegen, der Fürst und die Prinzessin, kurz, wann und wo man ihnen begegnen kann. Geh!«

Golz ging. Er setzte seine Hoffnung auf den klugen Nikodemus. Diesen scharfsinnigen Jüngling mußte er erwischen. Er stieg also wieder zum Kirchenplatze hinauf; es wurde eben dunkel. Susanne saß nicht mehr vor der Tür, aber Nikodemus saß noch da. Ein paar Karlsbader Gassenjungen fesselten seine Aufmerksamkeit. Sie spielten mit einem Kreisel und schalten auf das schlechte Pflaster, welches den Kreisel zu unordentlichen Sprüngen verleitete.

Im Nu saß Golz neben Nikodemus und hielt ihn fest, als er aufspringen wollte. »Du brauchst nicht fortzulaufen,« sagte Golz, »wir wissen ja alles, wir wissen, daß die Herrschaft nicht verreist ist und daß sie jeden Morgen dort drüben hinter der alten Wiese spazieren geht.«

»Dort drüben geht sie nicht,« schrie rechthaberisch Nikodemus, »sie geht auf dieser Seite!«

»Falsch! Hier auf dieser Seite ist gar kein Weg und kein Steg.«

»O ja, oben hinter dem Marienbilde geht ein schmaler Fußweg durch die Bäume hinunter zum Posthäuschen.«

»Wieder falsch! Auf dieser Seite gibt's kein Posthäuschen.«

»Nein, es führt aber ein Steg hinüber.«

»Nikodemus, du bist ein hoffnungsvoller Jüngling!«

Und sitzen ließ er den Jüngling, ging aber flugs über die Johannisbrücke hinüber und in langen Schritten auf der alten Wiese hinaus an der Tepl hin, bis er das Posthäuschen fand. Hier fragte er, ob nicht ein stattlicher Herr mit schöner junger Dame zum Frühstück dagewesen. – »Ja.« – Und diese Nachricht brachte er seinem Herrn noch vor dem Schlafengehen.

Am anderen Morgen nahm der Kurfürst alle seine Kraft zusammen – denn er fürchtete sich ein wenig – und ließ sich durch Golz da hinaus führen. Immanuel XIX. aber und Vrony kamen nicht.

Susanne hatte Vrony erzählt, daß Golz dagewesen und daß sie ihn wie den Grafen Warren abgewiesen. Vrony wollte nun doppelt vorsichtig sein und führte an diesem Morgen den Vater rückwärts nach Norden hinaus nach dem Egertale, wo die Tepl in die vorüberfließende Eger fällt und man einen prächtigen Anblick des Erzgebirges hat. Aber es war ganz unwirtlich da draußen, wo weder Haus noch Hof bestand. Das Frühstück mußte also daheim eingenommen werden, und das mißfiel dem alten Herrn höchlich; er wollte durchaus im Freien frühstücken. Am anderen Morgen nahm er also gar keine Notiz von Vronys Einreden und ging den alten Weg zum Posthäuschen.

Dort saßen sie denn, Vrony über und über beängstigt, Papa aber in guter Laune. Der Sprudel bekam ihm vortrefflich, und er verzehrte unter dem Waldschatten vor dem Häuschen einen großen Haufen weißen Brotes, nur ein Stück Fleisch vermissend. »Morgen,« rief er munter, »verlang' ich vom Doktor, daß er mich Schinken essen läßt zum Frühstück.«

Der Kurfürst war schon unterwegs nach dem Posthäuschen und wurde ungeduldig, als ihn Wolkenburg mit langen Schritten einholte, um ihm mitzuteilen, daß der Palmier ihn jetzt am frühen Morgen aufgesucht und nach dem Heiratsinstrumente gefragt habe. »›Es ist unbrauchbar‹, habe ich ihm geantwortet. – ›Oho!‹ rief der Patron und lachte impertinent, indem er äußerte: ›Das wird sich finden. Man spielt nicht mit Damen von hohem Stande eine öffentliche Komödie.‹«

»Das hat er gesagt?«

»Das hat er gesagt, und zwar in frechem Tone. Die Marquise muß etwas in petto haben. Liegt irgend ein positives Versprechen vor von Hoheit?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Wahrscheinlich würde sie den Warren benützen, unsern Landsmann, um mit Ausbruch eines Skandals in hohen deutschen Kreisen zu drohen.«

»Sie glauben? Wir sprechen später darüber. Jetzt Adieu!«

Seine Sinne drängten nach den schattigen Bäumen hinaus neben dem Poststalle, er lief wie ein Botenläufer, Golz, sonst ein guter Fußgänger, konnte ihm kaum folgen. Plötzlich blieb er stehen. Er sah das Häuschen und die Tische vor demselben unter den Bäumen. – »Das ist der Fürst Immanuel,« rief er, »nicht wahr, Golz?«

»Freilich ist er's.«

»Aber ich sehe die Prinzessin nicht.«

»Ja doch! Sie sitzt hinterm Baume.«

»Nein, das ist eine Dame –«

»Verlassen sich Hoheit darauf, sie ist's! Aber sie ist jetzt wie eine Dame gekleidet, nicht mehr, wie auf dem Jagdhause, in der Landestracht.«

»Sie ist's! Über und über schwarz. Jetzt seh' ich ihr Antlitz. Sie legt ihre Hand auf den Arm des Fürsten.«

»Er wird nicht soviel Backwerk essen sollen.«

Pochenden Herzens ging er zu dem Paare. Vrony sah ihn und tat einen leisen Schrei.

Da stand der Kurfürst vor ihnen und grüßte mit der Hand und sprach: »Willkommen!«

»Haltung, Vater!« flüsterte Vrony.

»Sollst dich wundern!« murmelte er, blieb sitzen und erwiderte rauh: »Was heißt das: willkommen?«

»Ich heiße Sie und die Prinzessin willkommen hier im Tepltale, wo wir beide Stärkung suchen.«

»So?«

»Ist es erlaubt, mich zu Ihnen zu setzen und zu fragen –« da stockte er aber, denn er war gar nicht berufen, zu fragen, wie es ihnen ergangen sei. Er setzte sich trotzdem.

»Was fragen?« schnauzte Immanuel XIX.

»Zunächst, ob der Sprudel wohltut?«

»Das tut er.«

»Und die Prinzessin –«

»Die trinkt keinen! Ich bin fertig, Vrony, wir können gehen.«

Er stand auf und reichte seiner Tochter den Arm, über die Achsel zurückbrummend: »Gott befohlen!« Und so ging er.

Der Kurfürst suchte aufspringend Vronys Auge. Er fand es nicht; sie sah zur Erde oder in die Ferne.

Er blickte ihr tief betroffen nach und blieb unschlüssig stehen.

»Die Prinzessin sieht größer geworden aus in dem vornehmen Kleide –« sagte Golz in gedämpftem Tone.

Der Kurfürst schwieg und ging langsam bis zu dem Stege, welcher hinüberführte aufs andere Ufer und über welchen das Paar schritt, der alte Fürst voraus, denn der Steg war schmal.

Der Kurfürst sah ihnen unverwandt nach, bis sie drüben hinter Bäumen und hohem Buschwerk verschwanden.

Er schritt dann am linken Ufer nach der alten Wiese hinab und sah starr in den plätschernden Teplfluß, welcher nach Karlsbad eilte.

Beim Zelte angekommen, wo ihn Doktor Wachtelheim und die Dienerschaft zum Frühstück erwarteten, machte er eine ablehnende Handbewegung und sagte: »Ich frühstücke heute nicht.«

»Das tut nicht gut«, entgegnete der Doktor.

»Das mag wohl sein«, sprach der Kurfürst und ging in seine Wohnung. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb einen langen Brief an Vrony, sein Unrecht eingestehend und um Verzeihung bittend, aber standhaft seine innige Liebe beteuernd.

Golz trug den Brief hinauf zum Kirchenplatz, brachte ihn aber wieder zurück. Immanuel XIX. in eigener Person habe den Brief uneröffnet zurückgebracht und mürrisch gesagt: »Wir sind hier zur Kur und erledigen keine Geschäfte.«

Der Kurfürst legte den Brief traurig auf den Schreibtisch, griff nach dem Stocke und sprach: »Ich gehe spazieren, es soll niemand auf mich warten – auch mit dem Diner soll nicht auf mich gewartet werden.«

Er ging auf den Schloßberg hinauf in den Wald, welcher dort bis dicht an die Stadt heranreichte.

Golz sah ihm betrübt nach und sagte einige Minuten später: »Da muß man was tun! Die ganze Wirtschaft ist doch nichts weiter, als eine Liebeströdelei, und das ist doch eigentlich nur dummes Zeug. Der alte Fürst muß dreinfahren! Der ist ja doch auf der Jagd ein ganz findiger Herr, er wird auch hier die Fährte finden, damit die jungen Leute zum Schuß kommen.«

Entschlossen ging er zum Kirchenplatze hinauf; aber es gelang nicht. Susanne stellte sich breit vor die Tür, den Eintritt » partout« verwehrend, und Nikodemus gebärdete sich leidenschaftlich.

Da blieb nichts anderes übrig: er mußte Susanne für Immanuel XIX. hinnehmen und ihr auseinandersetzen – sie wird's schon weiter sagen! – was auf dem Spiel stünde und was zu tun wäre. Das sollte sie dem Fürsten und der Prinzessin begreiflich machen. Dies hörte Susanne mit Verständnis an, nachdem sie den widerbellenden Nikodemus auf den Mund geschlagen, und als Golz mit den Zwangsmaßregeln schloß, wenn ihre Herrschaften nicht zusammenkämen, da wurde sie nachdenklich. Golz sagte nämlich: »Wir Kurfürstlichen sind ja hundertmal stärker als ihr. Wir schießen nicht nur alles Grenzwild unbarmherzig nieder, so daß Immanuel XIX. nicht einen Hirsch mehr übrig behält, nein, wir sperren auch die Grenze völlig zu. Euer Holz darf nicht mehr heraus, und dann nimmt Immanuel XIX. keinen Groschen Geld mehr ein; wir lassen auch nichts mehr hinein zu euch, kein Gewürz, keinen Kaffee, keinen Wein, kein feines Gemüse, und dann wollen wir sehen, was die berühmte Köchin Susanne Gansweiler kochen wird. Abgesetzt wird sie alsdann!«

Mit diesem Pathos ging er ab, und Susanne ging hinein zur Prinzessin, ihr das alles erzählend und zum Frieden ratend. – Es machte keinen Eindruck, und Susanne sagte beim Herauskommen zu Nikodemus: »Verstockt ist sie geworden, unsere Prinzessin, ich kenne mich nicht mehr aus in ihr.«

»Recht hat sie!« sagte Nikodemus.

»Schweig still, Affe,« schrie sie entrüstet, »du weißt nicht, woher du stammst.«

Erst nach Sonnenuntergang kam der Kurfürst zurück und verspeiste stumm ein Abendessen, welches man ihm vorsetzte.

Er war sanft und schien ruhig. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. »Du bist der Schuldige« – lautete das Resultat – »du mußt geduldig die Schuld tragen, und wenn du ihre Verzeihung nicht erringst nach Ablauf eines Jahres, so wirst du deinem Bruder die Herrschaft abtreten und dich in die bescheidenste Einsamkeit zurückziehen.«

Kurz, er war ein verzweifelnder Ritter geworden, der sich allen Demütigungen unterwirft. Aber werben wollte er dies Jahr lang unverdrossen, wie zur Minnezeit. Beruhigt legte er sich schlafen, und am andern Morgen wollte er wieder hinaus zu dem schattigen Posthäuschen, jeder schlimmen Behandlung gewärtig.

Der Doktor Wachtelheim hielt ihn auf am nächsten Morgen; er untersagte ihm das Trinken des Brunnens. Bei seiner aufgeregten Stimmung könnte es ihm schaden.

»Das hab' ich schon von selbst unterlassen. Ade, Doktor!«

Er kam zu zeitig draußen an, es waren noch keine Frühstücksgäste da. Wird sie denn überhaupt kommen?

Diese Frage hatte guten Fug. Vrony wäre am liebsten nicht mehr gekommen. Aber der Vater saß auf hohem Rosse: die Behandlung, welche er gestern dem Kurfürsten angetan, hat seinem Stolze geschmeichelt, er war durchaus geneigt, den Stolzen weiter zu spielen. Also wieder zum Posthäuschen! Das Frühstück da draußen war ihm ein angenehmes Bedürfnis geworden.

Außerdem hatten Susannens Mitteilungen doch einige Wirkung geübt auf Vrony. Die freundschaftlichen politischen Beziehungen zwischen dem Kurfürstentum und dem Fürstentum brauchten ja doch nicht zerstört zu werden, wenn sie auch persönlich die intimen Beziehungen zu Vetter Karl zurückwiese. An ihrem wahren Verhältnis zu diesem Vetter würde durch kühle Höflichkeit ja doch nichts geändert.

War sie also wirklich entschlossen, ihn völlig abzuweisen? Sie war es, obwohl sie ihn noch liebte.

Die einsame schmerzliche Entwicklung, welche ihr in überraschender Folge aufgenötigt worden war, hatte sie in einen Idealismus hineingejagt, aus welchem sie keinen Ausweg sah, als die Entsagung. Untreue bringt Tod! Das war ihr Glaubensbekenntnis.

Gleichgültiger, geselliger Verkehr, wenn er nicht zu vermeiden ist, braucht nicht ausgeschlossen zu werden – das war ihr Gedanke, als sie dem Vater nicht mehr widersprach und zum Frühstück mit ihm hinausging.

Der Kurfürst sah sie kommen. O, wie klopfte sein Herz! Sie erschien ihm in dem weiten schwarzen Gewande, mit dem Strohhute gegen die Sonne, nahezu ehrwürdig.

Er rüttelte sich zusammen und ging ihr entgegen. Beide respektvoll grüßend.

Immanuel XIX. nahm die Begrüßung vornehm hin, ohne zu sprechen. So mußte denn heute die Tochter reden auf seine Anfrage, wie es den Herrschaften erginge.

»Es geht uns gut«, sagte Vrony.

»Also der Sprudel wirkt günstig auf das Befinden Ihres Herrn Vaters?«

»Es scheint so! Die Schwermut, welche ihn geplagt, weicht allmählich.«

»Hunger hab' ich!« rief er und fiel über das Frühstück her, welches Susanne und Nikodemus auspackten.

Man setzte sich. Der Kurfürst fuhr aber sogleich wieder von seinem Sessel auf. Erschreckt sah er die Marquise d'Outretombe mit Warren daherkommen, unter lautem Gespräch und Gelächter.

Sie war gegen Gewohnheit früh aufgestanden und hatte die eleganteste Morgentoilette angelegt, weil sie durch ihre Madelon – die Dienerschaft erfährt ja alles! – von dem Frühstück und der Zusammenkunft des Kurfürsten und der Prinzessin Nachricht bekommen hatte. Das Landgänschen vor dem sentimentalen Kurfürsten bloßzustellen durch überlegenes, geselliges Benehmen, wohl auch durch Geist und Witz, das schien ihr eine ganz annehmbare Morgenunterhaltung. Das Gänschen würde ja genötigt werden, französisch zu sprechen, und das versprach eine für dasselbe beschämende Wirkung.

So kam sie herangerauscht. Der Kurfürst, dies alles wohl auch voraussehend und fürchtend, war nicht mehr imstande, die Bewegung abzulenken; er stieß die ängstliche Rede hervor: »Da kommt die Marquise d'Outretombe, darf ich sie der Prinzessin Veronika vorstellen?«

Vrony erschrak auch im ersten Augenblicke. Die rasche Fassung, welche ihr Charakter in den letzten Wochen gewonnen, war doch nicht so weit gefestigt, daß sie sich mit Zuversicht einer geselligen Szene aussetzen mochte, in welcher die geübte Französin sicher überlegen war, namentlich da sie ihre Muttersprache dabei ins Feld führen konnte.

Aber der Funke Zorns blitzte in Vrony auf, des Zorns gegen die siegreiche Fremde, welche ihr Lebensglück zerstört hatte, und sie schwieg nur eine kurze Weile auf die Frage des Kurfürsten. Sie sah ihn dabei zum ersten Male fest an und sagte: »Ich trage kein Verlangen, die Bekanntschaft dieser Dame zu machen.«

Da stand sie vor ihr in all ihrer herausfordernden Sicherheit: »Hoheit, der Herr Kurfürst haben wohl die Güte, mich mit der Prinzessin bekannt zu machen.« Das Wort »vorstellen« vermied sie absichtlich.

Der Kurfürst konnte sich nicht weigern und nannte ihren Namen.

Vrony nickte leicht mit dem Kopfe und blieb sitzen.

Die Marquise zuckte mit den Lippen und sah ärgerlich auf Warren. Der verstand den Wink und stellte ihr einen Sessel.

»Prinzessin sprechen Französisch?« sagte die Marquise herablassend.

»Ich spreche Französisch, wenn man Deutsch nicht versteht. Die Frau Marquise aber versteht ja doch wohl unsere Sprache?«

»O nein! die ist mir zu schwer.«

»Es ist schwerer, Französisch zu lernen, als Deutsch zu lernen.«

»Oh, oh! das bezweifle ich.«

»Um zu bezweifeln, muß man vergleichen können, wenn man aber nur eine Sprache kennt, scheint mir das Vergleichen kaum möglich.«

Das sprach Vrony ruhig, langsam und in korrektem Französisch.

Die Marquise zog die Augenbrauen zusammen; der Kurfürst strahlte.

Es entstand eine Pause. Warren wollte sie verdecken und fragte den alten Fürsten: »Wie wirkt der Sprudel?«

Immanuel XIX., sorgfältig mit seinem Frühstück beschäftigt, hatte den Mund nicht frei und hatte den Grafen auf dem Striche, weil er sich da mit der Französin einführte und ihn nicht aufgesucht hatte. Er wußte nichts davon, daß auch er im Vorzimmer abgewiesen worden war. In solcher Lage und Stimmung brummte er unwirsch, mit Gebäck im Munde: »Der Sprudel ist mein guter Freund, und gute Freunde sind heutzutage weiße Schwalben.«

Der Kurfürst wollte das Gespräch wieder französisch in Gang bringen und bemerkte: »Die Prinzessin kommt aus der Einsamkeit und ist schwer zu gewinnen für geselliges Leben.«

Das verstimmte wieder Vrony wie eine herausfordernde Entschuldigung und brachte sie in Nachteil, denn sie lenkte ihre Aufmerksamkeit ab und drängte sie in peinliche Gedanken. Sie schwieg völlig und ließ der Marquise vollen Spielraum, geistreich zu sprechen über solch ein deutsches Badeleben in schlechten Wohnungen und unter Mangel an unterhaltender Gesellschaft. In Frankreich würde man da bald Reunions stiften zur Abhilfe, aber dies dürftige Karlsbad habe nicht einmal einen Saal für Zusammenkünfte. »Bei uns würde man durch Tanz und Spiel die Langeweile vertreiben.«

»Die Frau Marquise langweilt sich also hier in Karlsbad?« sagte endlich Vrony, indem sie von der Marquise auf den Kurfürsten blickte.

Das war wirklich eine unangenehme Frage, da jedermann Vronys Augen folgte und auf den Kurfürsten schaute.

Die Marquise beantwortete sie auch nicht, sondern stand auf und empfahl sich mit einem kurzen: »Auf das Vergnügen –«

»Sie nicht wiederzusehen!« murmelte Immanuel XIX. Er murmelte ja deutsch, was sie nicht verstand.

Vrony war auch bei diesem Abschiede sitzen geblieben, und hatte wieder nur leicht mit dem Kopfe genickt.

»Wenn du fertig bist, Vater,« sagte sie jetzt, »so laß uns gehen, dein Bad wartet.«

»Ist das eine Arbeit, um den Alp loszuwerden!« stieß er stöhnend hervor und nahm den Arm seiner Tochter zum Fortgehen. Sie grüßte stumm den sich verbeugenden Kurfürsten und schritt mit ihrem Vater von dannen.

Voll Begeisterung sah er ihr nach. Sie hatte die hochfahrende Marquise geschlagen, sie war eine Fürstin! »Und du Tor,« sagte er sich, »du hast deshalb – und hast sie verloren, denn sie zürnt nicht bloß, du bist ihr ein gleichgültiger Mensch.«

So sprach er, faßte sich aber doch in der nächsten Stunde ein Herz, in ihre Wohnung einzudringen, um ihr seine Sünden zu bekennen.

Umsonst. Er wurde nicht vorgelassen. Aber den Besuch des Morgens vor dem Posthäuschen wehrte sie in den nächsten Tagen nicht ab. Sie sprach da ganz ruhig mit ihm, aber stets kalt abweisend, sobald er nur mit einem Worte auf ihr näheres Verhältnis eingehen wollte.

Immanuel XIX., welcher zuhören mußte, schien gar nicht zuzuhören, er war wie ein fremder Wilder gegen den Kurfürsten und wurde von Tag zu Tag mürrischer. »Nichts hält mehr Stich auf dieser Welt,« murrte er endlich in ihr Gespräch hinein, »auch der Sprudel nicht! Vrony, ich bleib' nicht mehr lang'!«

Die letzten Worte waren ein neuer Schreck für den Kurfürsten. Was dann?

Und nun kamen auch noch graue Regentage, welche keinen Menschen aus dem Hause ließen. Die Tepl schwoll hoch an und riß den Steg an dem Posthäuschen hinweg; das ganze Badeleben geriet ins Stocken.

Der Kurfürst wußte nicht, wo ein, wo aus. Er war so lediglich voll von seiner Liebessorge, daß die Marquise kaum noch für ihn vorhanden war. Er sah sie nur noch bei der Mittagtafel, und sie widmete sich ganz ihrem Verkehr mit dem Grafen Warren.

Der Verdacht, welchen der Name Louise geweckt, blieb unberührt in seinem Sinne liegen. »Es scheint ja unmöglich!« sagte er sich, um nur jeden Gedanken los zu werden. Übrigens muß ja die Antwort auf den Kurierbrief an den Marquis, ihren Vater, die nötige Aufklärung bringen, setzte er hinzu, um seine Untätigkeit in dieser Frage zu beschönigen.

Da kam ein Brief seines Bruders Fritz. Der lautete:

»Verzeih', daß ich so spät auf Deinen Pariser Brief antworte. Ich hatte Dringenderes zu tun, als Briefe schreiben. Ich sage Dir, wirklich Dringenderes! Aber Deinem Auftrage bin ich redlich nachgekommen. Du wirst erstaunt sein, wie ich ihn ausgeführt habe. Nächster Tage bin ich in hoher eigener Persönlichkeit bei Dir, um mündlich Bericht zu erstatten. Schriftlich müßte ich ein Buch schreiben und dazu habe ich, weiß Gott, keine Zeit. Es liegt mir auch daran, mit leibhaften Augen zu sehen, was Du für ein Gesicht machen wirst, wenn ich als fragwürdiger Kronprätendent vor Dir erscheine. Bis dahin liebe mich getrost als Deinen, in allem Ernste hoffnungsvollen Bruder Fritz.«

»Spottvogel!« rief der Kurfürst. »Was denn für einen Auftrag? Ah! ah!« – Jetzt erst fiel dem arg zerstreuten Manne ein, daß er die Adresse Louisens von ihm gewünscht hatte. Die weiß ja offenbar die Marquise längst, sie sagte ja neulich, daß es ihr wohl ergehe.«

Am nächsten Frühstücksmorgen aber – es schien endlich die Sonne wieder und die Reichsfürstlichen waren am linken Ufer hinausgekommen – erzählte er doch seinen Brief dem Fürsten und der Prinzessin. Sie waren ja doch alte Bekannte und Gönner seines Bruders, Vrony war dem Fritz am Ende mehr! – Und in der Tat, Vrony sah ihn endlich einmal aufmerksam an nach seiner Mitteilung über Vetter Fritz und sagte nach einer Weile: »Es wird mich freuen, den lustigen Vetter Fritz einmal wiederzusehen.«

Ihn, den ernsthaften Vetter Karl, wiederzusehen, hatte sie aber gar nicht gefreut!

An diesem Tage war er bei der Tafel von unverkennbar scharfer Laune.

Das schien die dreiste Marquise herauszufordern, und sie war unverschämt genug, die Worte an den General Wolkenburg zu richten: »Wie lange werden Sie denn noch, General, meinen bevollmächtigten Palmier auf Bescheid warten lassen? Eine Dame aus ihrer Heimat entführt und dem Gerede der Welt preisgegeben, ohne der ritterlichen Pflicht nahe zu treten, das müßte ja doch die ganze Welt illoyal nennen!«

Das war zuviel. Da fuhr denn endlich der Kurfürst von seinem Sessel in die Höhe. Die ganze Tafel folgte, und mit starker Stimme sprach er: »Madame, an Ihnen liegt es zunächst, einen Verdacht zu zerstreuen, welcher den Gipfel von Illoyalität in sich schließt!«

Hell auflachend rief hierauf die Marquise: »Graf Warren, fragen Sie doch als Kavalier einer beleidigten Dame, was für ein Verdacht –«

Da öffnete sich die Tür und des Kurprinzen fröhliche Stimme rief: »Grüß Gott, Bruder Kurfürst, da bin ich, und bringe dir was mit aus Savoyen, wohin du mich geschickt. Tritt ein, mein Schatz!«

Und neben ihm erschien eine schöne junge Dame.

»Therese!« schrie die Marquise.

»Louise!« rief die junge Dame und eilte zur Marquise wie zur Umarmung. Die Marquise aber wich zurück.

»Das trifft sich ja wunderbar,« sprach der Kurprinz Fritz mit Nachdruck, »wahrhaftig wunderbar. In deinem Auftrage, Bruder Karl, hab' ich in Savoyen eine Louise d'Aubigny gesucht und habe eine Therese d'Aubigny gefunden. Die hab' ich mit Entzücken geheiratet. Und nun find' ich hier bei dir die gesuchte Louise, potz tausend, tausend!«

»Madame!« rief der Kurfürst gegen die Marquise, »Sie haben sich erlaubt –«

»Still! Ganz still!« entgegnete sie hoch erhobenen Hauptes, »ich habe mir nicht erlaubt, Sie allein haben die Verwechslung auf dem Gewissen. Sie allein! Habe ich mich jemals Therese genannt? Niemals! Ich wurde kopfüber in das Spiel hineingezogen und Neigung hielt mich fest. Neigung allein war mein Unrecht, denn diese Neigung war oberflächlich, sie ist verflogen links und rechts, bei Ihnen und bei mir, und so bleibt mir nichts übrig, als mich zurückzuziehen und dem Manne zu folgen – aber nein, nein,« unterbrach sie auf einmal mit hochfahrender Gebärde ihren Gedankengang – »dreimal nein! Es bleibt mir übrig und es ist mein Recht, an die Ritterlichkeit eines deutschen Kurfürsten zu appellieren. Sie, Hoheit, haben mich hier vor aller Welt eingeführt als Ihre –«

Da verstummte sie plötzlich und ihre Augen starrten regungslos auf die neuerdings geöffnete Tür. In dieser Tür erschienen ihre Eltern, der Marquis und die Marquise d'Aubigny, und Vater und Mutter riefen einstimmig »Louise!« Die Mutter wiederholte mit tränenweicher Stimme »Louise!«

Die Marquise d'Outretombe war wie vom Donner getroffen.

Ihre Mutter, die alte Frau, schritt langsam auf sie zu und sagte in einem Tone tiefsten Schmerzes: »Meine Tochter, was tust du uns an!«

Es entstand eine Pause. Totenstille herrschte. Ein Schluchzen unterbrach sie. Louise d'Outretombe war die Schluchzende. Sie stürzte ihrer Mutter zu Füßen; sie sprach kein Wort.

Die Mutter hob sie auf. Louise küßte ihr heftig die Hände, wendete sich um und stürzte zur Tür hinaus, welche in ihre Wohnung führte. Graf Warren folgte ihr.

 

9.

Der Marquis und die Marquise d'Aubigny, sowie ihre Tochter Therese standen einen Augenblick betroffen still bei dem eiligen Fortstürzen Louisens; dann eilten sie ihr nach.

Auf einen Wink des Kurfürsten entfernte sich die Tischgesellschaft; die beiden Brüder, der Kurfürst Karl und der Kurprinz Fritz, blieben allein.

»So sehen wir uns wieder, Fritz! Ich habe mein ganzes Leben verspielt.«

»Warum nicht gar! Jetzt bist du ja von dieser argen Frau befreit und der Weg ist eben. Hätte ich geahnt, wer diese Frau sei, welche man mir in Briefen von zu Hause Marquise von Outretombe nannte, so wäre ich dir früher zu Hilfe gekommen. Ich war aber selbst über und über in Aufregung. Deinem Wunsche gemäß suchte ich die savoyischen Klöster ab, nach einem Fräulein von Aubigny forschend. Ich fand sie bald; aber nun ging's bei mir los! Dieses schöne, weiche, fromme Fräulein eroberte mein Herz. Nichts dabei von italienischen Schultern und Büsten; rein das Gemüt, die unschuldigste Liebenswürdigkeit, ganz verwandt mit unserer Vrony, bemächtigte sich meiner. Ihre alte Tante lag im Sterben, ja sie starb, wir hatten sie begraben und Therese meinte nun, auf der Stelle Nonne werden zu müssen. Ich war natürlich außer mir: solch ein liebreizendes Geschöpf Nonne! Unseren ganzen Religionsunterricht, soviel ich noch davon wußte, setzte ich in Bewegung. Aber den verstand sie nicht, es sah zum Verzweifeln aus. Endlich verstand sie doch, daß ich sie liebte und daß es das Gescheiteste wäre, die religiöse Debatte aufzuschieben und die fromme Mutter zu befragen, zu dem Ende aber die Tochter in anständiger Weise nach Lothringen zu bringen. Dies geschah unter allen üblichen Vorsichtsmaßregeln; wir kamen gesund zu den Eltern, und die fromme Mutter hatte gar nichts einzuwenden gegen unsere Verheiratung, welche der aufgeklärte Vater sogleich ins Werk setzte. Wir tranken vorher alle einen Schluck aus der heiligen Quelle, und der Marquis setzte mit guten Gründen seiner Frau auseinander: dieses Brunnens wegen sei damals ein Rad deines Wagens zerbrochen, damit erst der Kurfürst und dann ich, der Kurprinz, dies Wasser kennen lernten zu unserer Erbauung. Darauf folgte die Heirat. Ich sage dir, das ist eine prächtige Erfindung; verschaff' sie dir auch! Und nun kam dein Kurier mit dem Verdacht: Deine d'Outretombe sei Louise d'Aubigny. ›Oh!‹ schrie der Vater, ›oh!‹ die Mutter, und die ganze Familie flog mit Kurierpferden hierher, um dich zu retten, dich und die Ehre des Namens d'Aubigny. Jetzt ist's geschehen, und nun sprechen wir von deiner Hochzeit! Wie steht's mit Vrony? Sie hat's wohl übel genommen, dieses Herumreisen mit der Louise?«

»Das hat sie!« Traurig erzählte jetzt der Kurfürst, wie es zwischen ihm und Vrony stände, daß sie ihn trocken zurückweise, und daß sie in Karlsbad sei.

»Hier ist sie? Vortrefflich! Das bring' ich in Ordnung. Morgen früh gehe ich zu ihr. Über meine Untreue, wird sie lachen – sie hat mich immer ausgelacht – und in solcher Stimmung wird sie dir verzeihen.«

Wenn das so schlankweg gegangen wäre!

Am andern Morgen war die Marquise Louise d' Outretombe mit dem Grafen Warren abgereist, und der Kurprinz, von Golz geleitet, schritt wohlgemut zum Posthäuschen hinaus. Der Kurfürst sollte erst nach einem Stündchen hinauskommen zur Schlußszene.

Darin hatte der Kurprinz recht: Vrony empfing ihn heiter; ließ sich die Katastrophe vom Abend vorher erzählen und zeigte einen angemessenen Anteil an dieser Erzählung, welche der zuhörende und frühstückende Immanuel XIX. skandalös nannte. Alsdann ließ sie sich sogar bewegen, mit ihm unter einen abseits stehenden Baum zu gehen und sich neben ihm auf einer Knüppelbank niederzulassen, während der Vater allein weiter frühstückte. Hier aber, obwohl sie ihn freundlich aufmerksam machte auf die prächtigen Waldberge, welche kreisförmig das Tepltal zu schließen scheinen, was dem Kurprinzen in diesem Augenblicke recht gleichgültig war, hier scheiterte sein Beginnen total, zu seinem Erstaunen. Er fing immer von neuem an, er sprach wie ein Buch für seinen Bruder, sie aber schwieg wie eine Nonne, und ihr letztes Wort – er hoffte das Beste, denn er sah eine Träne in ihrem Auge – ihr letztes Wort war ein sanftes » Nein«.

Als er aufschrie und es nicht glauben wollte, da erhob sie sich und sagte noch einmal, diesmal ganz fest: »Nein!«

Der arme Kurfürst kam eben daher, als sie zu ihrem Vater zurückkehrte, und er fand seinen Bruder bestürzt. »Ich bin abgeblitzt, Karl, versuch' dein Glück selber!«

Tief atmend trat der Kurfürst mit seinem Bruder zu den Reichsfürstlichen. Er grüßte und sprach sanft wie ein Lamm. Immanuel XIX. war kurz angebunden, denn »auch der Sprudel halte nicht Wort«, und Vrony war um kein Haar anders, als die Tage vorher, ruhig, ja freundlich sprechend, aber jede Annäherung ablehnend.

Und so schied man uneins. Ja noch schlimmer: Vrony reichte dem Kurprinzen die Hand zum Abschiede, gegen den Kurfürsten aber verneigte sie sich beinahe förmlich, wenn auch mit einiger Freundlichkeit im Antlitz. Es war indessen mehr Wohlwollen als Freundlichkeit.

Der Kurprinz war geradezu verblüfft. »Dies ist unsere Vrony, die kleine Prinzessin?! Die ist ja zehn Jahre älter geworden.«

»O nein,« seufzte der Kurfürst, »sie ist schöner als je.«

»Das ist auch wahr, aber widerspricht nicht: ihr Alter steckt anderswo! Geduld, Karl, Geduld! Verzagen ist unseres Hauses Sache nicht. Ich schick' ihr meine Frau. Da sieht sie, was für ein herrliches Ding das anspruchslose Weib ist. Dann schick' ich ihr meinen Schwiegervater, der ist die Weisheit selber, der wird die so klug gewordene Prinzessin überzeugen. Zu allerletzt auch noch meine Schwiegermutter, die himmlische Seele selber, an der wird sie erkennen, was fromme Weiblichkeit alles verzeiht.«

Leere Hoffnungen! Am andern Tage kamen Vrony und ihr Papa nicht zum Frühstück vor dem Posthäuschen, sondern fuhren aus Karlsbad zum Tore hinaus, heimwärts ins stille Reichsfürstentum. Immanuel XIX. hatte die Kur satt gekriegt, die nichts nütze, und Vrony war ganz einverstanden mit der Heimreise.

»Was nun?« – »Wir reisen auch heim,« rief der Kurprinz, als die Abreise der Reichsfürstlichen offenbar wurde, »wir reisen sogleich auch heim und führen von dort die weitere Belagerung. Ich richte meine Frau ein auf meinem Gute an der Grenze des Reichsfürstentums, die Eltern, Marquis und Marquise, gehen mit, und wir alle – dich, Karl ausgenommen – besuchen Immanuel XIX. und seine Prinzessin mit Feierlichkeit. Die Prinzessin Veronika muß uns Gegenvisite machen, und wir bekehren sie. Verlaß dich auf uns.«

Der sanguinische Kurprinz versprach zuviel. Er hatte keine Vorstellung von der Mädchenseele Vronys. Einsam war Vrony aufgewachsen unter dem Fittich einer edlen Mutter, einer Mutter, welche frühzeitig auf volles Lebensglück verzichtet hatte, denn sie hatte geliebt und war verraten worden. Ihre Ehe mit dem Fürsten Immanuel war eine Vernunftheirat gewesen. Daher die Stimmung ihres ganzen Lebens. »Wenn das Ideal verloren geht,« hatte sie wie oft zu Vrony gesagt, »dann zieh' dich auf dein Herz zurück und entsage allen weltlichen Vorteilen! Sie bringen nur Enttäuschungen; der stille, reine Schmerz erhebt uns.«

Solch eine ideale Luft wehte im Innern Vronys. Die Liebe ihres Vetters Karl war ihr alles gewesen, ihre Liebe für ihn, seine Liebe für sie. Wankte die eine oder die andere, dann gab's keinen Halt, dann fiel das Ideal vom Altar herab, dann gab's nur Entsagung, wie einst für ihre Mutter, dann bleibt nichts übrig, als ein einsames Stilleben. Vetter Karls Liebe aber hatte gewankt, darüber blieb ihr kein Zweifel übrig, äußere Zufälligkeit nur hatte ihn von jener Marquise getrennt. Ob sie ihn trotzdem noch liebte, das wußte sie selbst nicht, und sie wagte es nicht, ihr Herz danach zu befragen.

So war sie beschaffen, als beide Familien, die kurfürstliche und die reichsfürstliche, in ihren Heimatsorten wieder angesiedelt waren.

Im kurfürstlichen Schlosse der Hauptstadt blieben der Kurfürst, dessen Bruder mit seiner Frau, der Marquis und die Marquise d'Aubigny einige Wochen vereinigt, für den Kurfürsten eine wohltuende Gesellschaft. Der Marquis mit seinem geläuterten Geschmack und feinen Verstande, und die alte Marquise mit ihrer milden, jedermann wohltuenden Frömmigkeit wirkte günstig auf seine hoffnungslose Stimmung. Vor allem aber wurde ihm seine Schwägerin Therese lieb und wert durch ihr anspruchsloses, sanftes Wesen. Sie erinnerte ihn oft an seine frühere, jetzt verlorene Vrony. Das erhöhte wohl seinen Schmerz, aber es verklärte ihn auch.

Ein verklärter Schmerz drängt Geist und Gemüt des Menschen zu hohen Zielen; er trieb ihn an, durch ein edles, wohltuendes Wirken darzutun, daß er wohl gefehlt habe, aber nicht in gemeiner Absicht. »Für deinen Staat« – sagte er sich – »hast du dich verleiten lassen, deiner echten Liebe den Rücken zu kehren und einer unechten Ehe zuzustimmen; so beweise nun wenigstens, daß dein Staat den Vorteil gewinne, um deswillen du dein Glück geopfert hast.«

Er gab sich ganz der Regierung des Kurfürstentums hin, er arbeitete mit seinen Räten früh und spät, er bereiste sein Land, um überall mit eigenen Augen zu sehen, er unterrichtete sich genau über alles, was der Regent in Frankreich unternahm, und vermied sorgfältig alles, was dort fehlschlug in gewagten Experimenten.

Der strebende Jüngling erschien bei aller Tätigkeit wie ein stiller, schweigsamer Mann, aber er wurde ein Mann.

An Vrony dachte er nur noch wie an ein unwiederbringlich verlorenes Glück, und er lächelte traurig, wenn sein Bruder Fritz immer noch wiederholte: »Ich bring' euch doch noch zusammen!«

Der Kurprinz betrieb das auch in der Tat lebhaft und nickte zustimmend, als sein Schwiegervater, der alte Marquis sagte: »Systematisch muß das geschehen, mein junger Herr Sohn, systematisch. Es ist schwer, sehr schwer. Die junge Liebe eines Mädchens ist der poetische Eigensinn. Der ist wie ein Element und läßt nicht mit sich unterhandeln; den muß man untergraben, den muß man erobern wie eine Festung. Das junge Mädchen denkt: ›Du darfst nicht andere Götter haben neben mir!‹ Das denkt sie, ohne es vielleicht zu wissen. Man muß ihr also zeigen, daß der Kurfürst keine anderen Götter gehabt hat. Das ist die Aufgabe. O, das wäre ein Kunstwerk, wenn die beiden jungen Leute doch noch zusammen kämen! Vrony, die natürliche Begabung, und der Kurfürst, die gebildete Natur! Gehen wir ans Werk! Bringen Sie uns auf Ihr Gut hinaus, welches an der Grenze liegt! Dort haben wir es näher, das eigensinnige Mädchen, und können die Belagerung anfangen. Vielleicht umsonst, jawohl! Aber auch der bloße Versuch wird uns glückliche Täuschung bringen, und ach! selbst das glücklichste Leben besteht ja nur aus glücklichen Täuschungen!«

Dem entsprechend war das Gut des Kurprinzen an der Grenze des Immanuelschen Fürstentums zum Aufenthalte eingerichtet für das junge Ehepaar und die Schwiegereltern, und man zog hinaus. Nur der Kurfürst blieb in der Hauptstadt.

Von jenem Gute aus wurde sogleich ein gemeinschaftlicher, ganz formeller Besuch unternommen bei Immanuel XIX.

Der Marquis, die Marquise und Therese wurden vorgestellt. Der Fürst empfing die Gäste steif – »bocksteif«, sagte Susanne ärgerlich – und entschuldigte sich mit schweren Regierungsgeschäften, welche ihn abriefen.

Vrony aber erfüllte alle Formen der Geselligkeit, und die fremden Leute gefielen ihr allmählich. Der Marquis besonders mit seinem feinen Entgegenkommen, mit seinem maßvoll verständigen Wesen und mit seiner Kunstliebe. Dazu gehörte ja auch die Musik. Er sah die Harfe. Für dies Instrument schwärmte er und beschwor Vrony, etwas zu spielen. Sie mußte nachgeben, und die französischen Herrschaften applaudierten vor Entzücken. Applaus gefällt auch einem strengen Wesen, er gefiel auch Vrony und blieb nicht ohne Nachwirkung, als der Besuch wieder fort war.

Bisher war sie der Harfe aus dem Wege gegangen, aus Furcht vor Rührung. Jetzt nahm sie das Spiel wieder auf als eine Kunstübung, wie der Marquis gesagt hatte, und sie nahm es dankbar hin, daß ihre Stimmung dadurch erweicht würde.

Vom Kurfürsten war nur gesprochen worden wie von einem außerordentlichen Regenten, als welcher er sich jetzt zur Freude des Landes entpuppte. »Das verdankt er uns Franzosen« – hatte der Marquis gesagt – »wie hat er aber auch bei uns studiert! Alles, was er bei uns anfing, hatte sein Staatswesen zum Zweck, auch seine Annäherung an meine schlimme Tochter, welche freilich große Anlagen zum Herrschen hat, kam nur daher.« Letzteres hatte er halblaut seitwärts zu den Seinigen gesagt, aber Vrony hatte es wohl gehört, und dies alles hatte ihr wohlgetan.

Sie war deshalb gern bereit zum Gegenbesuche, obwohl Immanuel XIX. von dieser Unbequemlichkeit nichts wissen wollte. Sie fuhr allein hinüber nach Friedrichsruh, wie der Kurprinz sein Gut jetzt nannte.

Woran dachte sie auf der einsamen Fahrt? An den Kurfürsten. Aber keineswegs an den einstigen Liebhaber, o nein! lediglich an den neuen Regenten, welcher sich als solcher ungemein hervortat. Auch der Doktor Knothe aus dem Städtchen hatte schon davon erzählt.

Als man sie in Friedrichsruh kommen sah, wollte der Kurprinz sofort seinen Bruder aus der Hauptstadt herbeirufen lassen, denn man würde die Prinzessin, sei es mit Gewalt, einige Tage festhalten. Aber der Marquis widersetzte sich und sagte: »Das wäre viel zu früh.«

Er hatte nach Frankreich an seine Tochter Louise geschrieben und erwartete von ihr einen wichtigen Brief. Mit diesem Briefe wollte er die unmittelbare Belagerung eröffnen.

Als Vrony da war, wurde er kleinlaut und gestand seinem Schwiegersohne, daß dieser Mädcheneigensinn kaum zu besiegen sein werde. Das sah er, obwohl Vrony sehr freundlich war und sich leicht bestimmen ließ, einige Tage zu bleiben. Just die ruhige Ebenheit ihres Wesens benahm ihm die Hoffnung.

Auf Vrony machten übrigens die Bewohner von Friedrichsruh fortdauernd einen wohltätigen Eindruck, besonders auch dadurch, daß von ihrem persönlichen Verhältnisse zum Kurfürsten kein Wort gesprochen wurde. Sie ahnte nicht, daß dies die ausgegebene Parole des Marquis war. Dagegen wiederholte der Marquis mit Stolz, daß der Kurfürst alle besseren Pläne des Regenten energisch zur Ausführung brächte, und immer höher wüchse als schöpferischer Landesherr.

Eine Stunde, bevor Vrony wieder heimkehren wollte, kam der erwartete Brief von Louisen. Nachdem der Marquis ihn gelesen, steckte er ihn in die Tasche und ließ sein Pferd satteln. Der Kurfürst hatte ihm ein ruhiges Tier ausgewählt, welches dem normännischen Hengste ähnlich war, und hatte den Reitknecht genau unterrichtet, wie dem alten Herrn das Auf- und Absteigen zu erleichtern wäre. Dies Pferd und der Reitknecht standen bereit, als Vrony in ihren Wagen stieg, und jetzt fragte der Marquis höflichst, ob er sie nicht begleiten dürfte.

Das wurde mit Dank angenommen, und so ritt er neben ihrem Wagen her. Vrony ließ langsam fahren, und der Marquis drückte in beredten Worten sein Wohlgefallen aus, wie er es ja trefflich verstand, über die malerischen Waldlandschaften, durch welche der Weg führte. »Diese Wälder«, sagte er, »haben Sie voraus vor uns Franzosen; wir sind verschwenderischer umgegangen mit unseren Holzbeständen.«

»Dafür sollen Sie auch Ihr Land mehr kultiviert haben.«

»Die Schönheit hat nicht dabei gewonnen! Apropos, Ihr Juwel an malerisch geschlossener Landschaft soll ja ein Jagdhaus sein; können wir nicht daran vorüber kommen?«

»Gewiß; es ist nur ein kleiner Umweg.«

Man bog links ab, und bald darauf saß er neben ihr auf der Steinbank der Veranda.

Unbedacht hatte sie ihn dorthin geführt; als sie aber dort saßen, kam die Erinnerung stürmisch über sie, die Erinnerung an ihre Liebesszene mit dem Kurfürsten just an diesem Platze. Sie wurde ganz still und ließ den Marquis ohne Erwiderung auseinandersetzen, wie reizend auf dieser Stelle Wiese und Wald wäre und Licht und Schatten wechselten im warmen Sonnenlichte.

Sie fürchtete sich, zu sprechen, denn Tränen drohten ihre Stimme zu ersticken.

Der kluge alte Herr sah das und ergriff ihre Hand. Mit sanfter Stimme sprach er: »Weinen Sie getrost. Tränen sind der Tribut, welchen wir alle zahlen, und er erleichtert unsere Trauer. Ich alter Mann habe leider keine mehr, und ich brauchte sie doch so sehr für das Leid um meine Louise, welche so leichtfertig dahin lebt. Ich habe sie verzogen, und das benimmt mir das Recht, sie zu schelten und der Welt auseinanderzusetzen, daß man ihre Fehler übertreibt. Mit dem Kurfürsten zum Beispiel hat sie sich nichts vorzuwerfen, als einen natürlichen Ehrgeiz. Der Zufall hat das Mißverständnis hervorgebracht, und sie ist nur aus Ehrgeiz zu schwach gewesen, es aufzuklären. Edlere Herzensempfindungen sind bei ihr gar nicht in Frage gekommen und nicht mißbraucht worden; denn es ist eigentlich von Liebe gar nicht die Rede gewesen zwischen ihr und dem Kurfürsten.«

»Sie meinen –?«

»Urteilen Sie selbst! Gerade das hatte ich ihr vorgeworfen, und gerade darüber schreibt sie mir heute« – er zog den Brief aus der Tasche, wollte ihn aber gleich wieder in die Tasche stecken, indem er sagte – »verzeihen Sie dem Vater, welcher Sie mit seiner Tochter behelligt und mit ihrer Verteidigung, welche Sie wenig interessieren wird –«

»O doch!«

»Sie sind eben gütig für einen leidenden Vater. So hören Sie denn!«

Und er las aus dem Briefe: »Glaube mir, mein immer gnädiger Papa, es ist alles über mich gekommen wie ein Verhängnis des Zufalls. Von Liebe hat ja zwischen mir und dem Kurfürsten nie etwas verlautet. Ein unüberlegtes Wort von ihm hat uns äußerlich so nahe zueinander gebracht. Ich klagte, daß ich keine männliche Reisebegleitung hätte nach meinem neuen Besitze im Dauphiné. Das war eine galante Herausforderung von mir, ich geb' es zu, und ebenso, aber unbedacht, galant erbot er sich zu meinem Begleiter. Ich sah bald, daß es ihm leid war. Seine Galanterie hat es kaum zu einem formellen Handkusse gebracht. Er wurde mit jedem Tage trockener und förmlicher, man sah's deutlich: er wäre gern befreit gewesen von meiner Nähe. Und hier, Papa, tadelst Du mich mit Recht, daß ich ihn nicht entließ. Aber es war mir eine unwiderstehliche Lockung, Regentin eines Staates zu werden, selbst neben einem Manne, der mich gar nicht liebte, ja der mich wohl allmählich gehaßt hätte –«

»Ach,« unterbrach er sich und ließ den Brief sinken, »sie wollte eben von Jugend auf immer hoch hinaus, und ich –«

Da hob er den Kopf, blickte auf die sonnenhelle Wiese hinaus und rief plötzlich in ganz anderem Tone: »Schauen Sie, schauen Sie, Prinzessin, da treten zwei, drei Rehe aus dem Waldesdunkel hervor in den Sonnenschein und sehen sich um, o, das ist ein reizendes Bild! Und das ist wohl ein Vogel, der so eintönig hämmert und nach welchem die Rehe rückwärts hinaufblicken, wie heißt er wohl?«

»Specht.«

»Das ist ein schweres Wort für mich mit einem ch. Graziös, graziös sind diese Rehe ohne Schwanz. Wie kann man nur so elegante Tiere zur bloßen Unterhaltung totschießen! Ich hab's nie getan, ich bin grundsätzlich nicht Jäger! Ah! die Rehe wenden sich gegen Osten hinüber, dort führt mein Weg vorbei, dort will ich ihnen in der Nähe begegnen, ade, Prinzessin! Verzeihen Sie, daß ich Trauriges mit Ihnen besprochen habe! Die Welt ist schön, auch für einen alten Gesellen, wie ich bin, und die Jungen gar sollen sich das Leben nicht verleiden lassen, auch wenn sie Dummheiten gemacht haben. Ich muß schließlich auch meiner Louise verzeihen, was bleibt mir übrig! Obenein sehe ich aus dem Schlusse des Briefes« – jetzt steckte er ihn ein – »daß ihr Herz doch nicht liebeleer ist. Sie spricht von diesem Grafen Warren mit einer Wärme und erbittet sich – am Ende gibt man die Einwilligung zu dieser Heirat, und alles kommt in Ordnung. Aber wenn ich den Rehen noch begegnen will, muß ich – Ade! Ade! Meine Empfehlungen an Herrn Papa, und Ihnen, geliebte Prinzeß – heitere Stimmung!«

Damit ging er und ritt heim, zufrieden in sich hineinlächelnd über die Bresche, welche er da gelegt hatte in die Liebesanklage gegen den Kurfürsten.

Vrony war so betroffen gewesen von dieser zufälligen Mitteilung, daß sie gar nichts hatte erwidern können. Der Marquis hatte ihre Hand geküßt und war verschwunden, ehe sie sich von der Steinbank erhoben hatte.

Jetzt stand sie aufrecht da, und holte tief Atem, als ob ein Gewicht von ihrer Brust genommen wäre. Ein unerklärliches Wohlsein zog durch ihre Adern, durch ihr Gemüt.

Sie dachte gar nicht daran, daß in der Mitteilung des Marquis eine Absicht liegen könnte. Er war ja ein so ruhiger, Vertrauen erweckender alter Herr, und es war ja von ihr, von Vrony, gar nicht die Rede gewesen, sondern von seiner Tochter allein. Alles, was sie, die Vrony, angehen konnte, war ja nur ihr Gedanke; ihr Verhältnis zum Kurfürsten hatte ja der Marquis mit keiner Silbe berührt.

»Das ist dir vom Himmel gefallen!« dachte sie und stieg in den Wagen, um heimzufahren.

Unterwegs wurde es dunkel, und der Mond stieg auf am Horizont. Sein Schein zitterte durch die großen Waldbäume, die links und rechts am Wege standen, wie ein Spiel lachender Geister. Vrony kam es wenigstens vor, als lachten sie. Und dabei war es auch geisterstill. Nur die Heidelerche, der späteste Abendvogel, rief noch mitunter dazwischen. Ihre kurzen, raschen Rufe klangen, als fragte sie: »Nun, wie steht's?«

»Besser steht's!« antwortete es in Vrony ganz unwillkürlich.

»Herr Gott!« schrie sie plötzlich laut auf, »dann hast du ja dem Vetter Karl unrecht getan.« Sie schrie so laut, daß der Kutscher die Pferde anhielt und sie ihm zurufen mußte: »Nur weiter, weiter!«

»Bitt'res Unrecht!« wiederholte sie sich leise. – »Aber warum hat er mir das nicht klar gemacht? – Er hat's nicht gekonnt, du selbst hast ihn ja nicht reden lassen, hast ihn nicht angehört! – Na, da hätte er es schreiben sollen! – Er hat dir ja einen Brief geschrieben, den hast du nicht angenommen, und der Brief war dick. Du bist schuld, das Unrecht liegt bei dir.«

Und das sonst so gewissenhafte Mädchen freute sich darüber, daß sie unrecht gehandelt, es war gar nicht zu verkennen; sie freute sich darüber. Denn als sie oben ankam, wo ihr Vater unter der Linde saß, da fragte sie ihn fröhlicher als seit Monden nach seinem Befinden.

»Der Pflasterkasten hier sagt, es ginge mir besser«, antwortete Immanuel XIX. und wies auf den kleinen Doktor Knothe, welcher mit seinem großen Stocke dastand und schnupfte.

Es war nämlich ein ungewöhnlich warmer Sommerabend mit Vollmond, und alles war im Freien. Susanne und Nikodemus saßen sogar auf dem blanken Erdboden, nur wenige Schritte vom Fürsten. Sie pellte Erbsen aus den grünen Schoten, und Nikodemus hielt die Schüssel unter, damit die Erbsen hineinfielen. Der Mondschein verklärte alles, auch den Nikodemus und die grünen Erbsen.

Doktor Knothe rechnete aber nicht auf eine Verklärung durch den Mond, er wußte sich in üblem Gedächtnisse bei der Prinzessin seit jener mit Warren zusammenhängenden Szene auf ihrem Zimmer, und er dachte an schleunigen Abschied, als die Prinzessin auftrat. Zu seiner allgemeinen Rechtfertigung ließ er nur noch folgende Worte zurück:

»Der Pflasterkasten hat Durchlaucht zum Sprudel geraten, als Durchlaucht der Lebensgefahr nahe waren und uns alle in Verwirrung setzten. Der Pflasterkasten kann jetzt feststellen, daß der Sprudel, wie immer, nachträgliche Wunder wirkt und Seine Durchlaucht von hypochondrischem Alp befreit, hochdieselben aber dem erquicksamen Leben wiedergegeben hat. Der Pflasterkasten empfiehlt sich also mit einigem Stolze.«

Und er stolperte im Mondenschein hinunter nach dem Städtchen, seinen Stock den Berg hinab wie einen Alpenstock handhabend.

»Hansnarr!« murmelte Immanuel XIX. und setzte laut hinzu, gegen seine Tochter gewendet: »Verhindern hat er aber doch nicht können, daß der Alp anderswohin gefahren ist, und daß der Kurfürst dich hat sitzen lassen.«

Ein unanständiges Lachen folgte auf diese Äußerung. Es ging von Nikodemus aus, welcher immer feindlich gesinnt war gegen eine Verheiratung der Prinzessin.

Susanne gab ihm einen so nachdrücklich verweisenden Stoß, daß er die Schüssel fallen ließ und die grünen Erbsen sich zerstreuten.

Immanuel XIX. machte dazu die brummige Bemerkung: »Die Erziehung dieses Jungen macht seiner Mutter wenig Ehre.«

»Seinem Vater auch nicht!« gab sie zurück.

Dadurch wurde Vrony verscheucht. Sie ging auf ihr Zimmer, trat ans offene Fenster und blickte auf den mondbeschienenen Buchenwald. Dann ging sie langsam im Zimmer umher, und als sie vor der Harfe vorüberkam, griff sie seufzend in die Saiten.

»Spiel' was!« rief der Vater von unten herauf, als er den Harfenton gehört hatte. »Spiel' was Frisches, damit das Gesindel hier unten ruhig wird!« Er liebte zuweilen die heitere Musika.

Und Vrony trug die Harfe ans vordere Fenster und spielte.

»Muntrer! Muntrer!« rief er, und sie spielte auch munter.

Unter demselben Mondschein kam der Marquis nach Friedrichsruh, und als er erzählt hatte, wie geschickt er seinen Schachzug angebracht und wie augenscheinlich günstig er gewirkt, da war großer Jubel, und der Kurprinz behauptete: »Morgen kommt sie und kapituliert.«

Der Sanguiniker hatte unrecht: sie kam nicht. Es vergingen mehrere Tage und sie kam nicht. Man wurde bestürzt in Friedrichsruh. Nur der Marquis gab die Hoffnung nicht auf. »Aber auch, wenn sie endlich kommt,« sagte er, »wird sie sich noch nicht unbedingt ergeben. Ein verletztes Mädchenherz klammert sich zuletzt immer noch an den Mädchenstolz. Vrony wird sich jetzt sagen: Vielleicht kommst du nun zu spät. Der Kurfürst läßt ja gar nichts mehr von sich hören, er kommt mit keinem Schritte nach Friedrichsruh, wo er mir doch einmal begegnen könnte. Er ist ganz Staatsmann, und alles andere ist ihm Nebensache geworden. Wer weiß, ob nicht mein so schroff abweisendes Betragen Gedanken erweckt hat, welche ihn gänzlich von mir abgewendet haben? Was spielte ich dann für eine klägliche Rolle, wenn ich auf einmal nachgiebig erschiene! So –« fuhr der Marquis fort – »so kann's in ihr aussehn. Deshalb müssen wir uns ein letztes Mittel vorbereiten.«

»Was denn für eins?« fragten die Marquise, Therese und der Kurprinz.

»Sie, lieber Fritz, müssen eiligst in die Hauptstadt reisen und Ihren Bruder sprechen. Sagen Sie ihm nichts von Vrony, als daß sie still und schwermütig dahin lebe, daß wir sie selten sehen und liebhaben. Alsdann – hat er Ihnen nicht in Karlsbad erzählt, daß er einen langen Entschuldigungsbrief an die Prinzessin geschrieben?«

»Ja, und daß Vrony denselben uneröffnet zurückgesendet.«

»Vortrefflich! Diesen Brief bringen Sie uns! Der Kurfürst wird ihn als schwärmerischer Ritter sorgfältig aufbewahrt haben und wird Ihnen denselben nicht verweigern, wenn Sie ihm sagen: Dieser Brief könnte in Ihren Händen doch noch einmal ein Mittel zur Versöhnung bieten.«

Der Kurprinz stieg sogleich zu Pferde. Ehe er ihm aber die Sporen geben konnte, winkte der Marquis vom Fenster aus, er möge warten. Eilig kam der alte Herr zu ihm und sagte ihm noch etwas. Der Kurprinz schrie auf, schwieg eine Weile und sagte endlich: »Schwiegerpapa, Sie sind ein gefährlicher Politikus, ich besorg' es!«

»Und kommen Sie bald zurück!« schloß der Marquis, »denn sie bleibt gewiß nicht aus, und wir behalten sie hier.«

Der Kurprinz bestellte noch, daß ihm für die Rückkehr Relaispferde nachgeschickt würden, und jagte davon.

Auch in den nächsten zwei Tagen kam Vrony nicht nach Friedrichsruh. Ihre Gedanken waren so wie der Marquis vermutet hatte; sie fürchtete, es könnte nun zu spät sein.

Jetzt wurde auch der Marquis unsicher. Aber am dritten Tage kam sie endlich doch. Sie hatte etwas Unruhiges, etwas Ängstliches. Übrigens war sie jedoch anders, als bisher; sie war gar nicht mehr verschlossen, sie war sogar redselig und verkehrte herzlich mit der Marquise und Theresen.

Nur auf den Marquis blickte sie manchmal nachdenklich, und wenn sie allein mit ihm war, da schien es, als ob sie ihm etwas Besonderes abfragen wollte. Aber sie fragte nicht.

Daß der Kurprinz zu seinem Bruder nach der Hauptstadt geritten war, das bewegte sie sichtlich, und sie sagte auf einmal zum Marquis: »Der Kurfürst kommt doch nicht etwa mit seinem Bruder hierher?«

»O nein!« erwiderte der Marquis.

Und doch wollte sie plötzlich heim.

»Sie sollten den Kurprinzen erwarten, Prinzessin,« sagte der Marquis, »er hat gegen mich geäußert, daß er Ihnen etwas zu übergeben habe.«

»Was denn?«

»Das weiß ich nicht; er tat geheimnisvoll.«

Sie blieb. Der Marquis meinte, daß er zuweilen ein leises Zittern an ihr bemerkte. Dies Zittern war ganz unverkennbar, als ein Reiter in den Hof sprengte und der am Fenster stehende Marquis rief: »Es ist der Kurprinz.«

Er trat ein und sah gegen seine Gewohnheit sehr ernsthaft aus.

Er begrüßte alle stumm und reichte Vrony nicht die Hand, wie er sonst immer tat. Dann wandte er sich zu seiner Frau und umarmte sie. Diese flüsterte ihm zu: »Der Vater hat mir alles gesagt, nur die Mutter weiß es nicht. Aber Frédéric, ist's nicht unrecht?« Er schüttelte mit dem Kopf und wendete sich zum Marquis mit den Worten: »Mein Bruder ist unverändert, erschreckend ernsthaft und nur Regent. Was Sie nach Ihrem Pariser Briefe vermuteten, ist leider eingetroffen. Ich habe Karl nur ein paar Minuten gesprochen, und zwar Ihretwegen, liebe Muhme –«

»Meinetwegen?« rief Vrony, rot und blaß werdend in jäher Folge.

»Ja. Ich will's Ihnen sagen, aber –« und dabei wendete er sich an die übrigen, »es wird der Prinzessin wohl lieber sein, wenn ich's ihr allein sage.«

Die drei übrigen verließen das Zimmer; Vrony sank auf einen Sessel.

Der Kurprinz blieb vor ihr stehen und sprach: »Ehe ich eine neue alarmierende Nachricht in der Hauptstadt vernommen, meinte ich – und deshalb war ich hingeritten – Euer zersprengtes Verhältnis, das Verhältnis zwischen Ihnen, Muhme, und meinem Bruder, zu einem klaren Abschlusse zu bringen. Mein Schwiegervater hat Ihnen Aufschluß gegeben über seine Tochter Louise. Er hat Ihnen dargetan, daß nie ein eigentliches Liebesverhältnis zwischen ihr und meinem Bruder bestanden hat. Ein neuer Beweis dafür ist ein neuer Brief von ihr, in welchem sie anzeigt, daß sie den Grafen Warren geheiratet habe. Trotz dieser Aufklärungen sind Sie, liebe Muhme, in Ihrer Verschlossenheit geblieben, vielleicht in der Zweifelhaftigkeit. Wahrscheinlich haben Sie eben meinen Bruder nicht so geliebt, wie er sich eingebildet hat, und nicht so, wie er Sie liebte – – Sie machen eine ablehnende Bewegung? Nein? Liebe Muhme, Ihre Haltung seit Karlsbad spricht nicht für Ihr Herz. Dort hat Ihnen mein Bruder – es war das erste, was er mir bei meiner Ankunft sagte – einen langen Brief geschrieben, in welchem er, wie er sagt, alles ehrlich dargelegt hat, was mit ihm vorgegangen, und diesen Brief haben Sie ihm uneröffnet zurückgeschickt. Ist's nicht so?«

»Ja.«

»Diesen Brief, sagte ich mir, muß Prinzessin Veronika lesen, ich muß ihn besitzen. Dann erst kann mein Bruder sagen: Es ist alles klar zwischen mir und der einstigen Vrony. Wenn die jetzige Veronika ihn gelesen und auf der Trennung beharrt, so ist jeder Zweifel darüber gehoben, daß ihr Herz den Kurfürsten Karl niemals geliebt hat. Hier ist der Brief, lesen Sie ihn!«

Vrony hatte ihn genommen, aber sie schwieg und sagte erst nach langer Pause: »Hier nicht. Ich will nach Hause. Bitte, lassen Sie meinen Wagen anspannen!«

Der Kurprinz ging, um das zu bestellen. Sie blieb regungslos sitzen; nach einer Weile betrachtete sie den Brief und steckte ihn ein. Dann stand sie auf.

Jetzt trat der Marquis ein. »Sie wollen fort, Prinzessin?«

»Ja.«

»Hat Ihnen der Kurprinz die große Neuigkeit mitgeteilt?«

»Neuigkeit?«

»Der Regent von Frankreich hat dem Kurfürsten eine Prinzessin von Geblüt angetragen zur Frau, eine junge schöne, scharmante Person. Das gehört zu den Geniestreichen dieses Orleans. Nein zu sagen, ist immer unangenehm, und der Kanzler des Kurfürsten soll für Ja stimmen.«

»Der Wagen kommt!« meldete der eintretende Kurprinz. Seine Frau und die alte Marquise kamen mit ihm. Sie umarmten Vrony mit großer Wärme und Herzlichkeit. »Gott liebt sie«, sagte die alte Frau.

Vrony ließ alles fast regungslos über sich ergehen, sie sah ohne Blick umher, und wurde es lange nicht gewahr, daß der Marquis ihr seinen Arm bot zum Geleite an den Wagen.

»Auf baldiges Wiedersehn!« rief der schalkhafte alte Herr, als die Pferde anzogen.

Die Marquise und Therese winkten mit der Hand und Taschentuch. Nur der Kurprinz stand da ohne Bewegung.

Vrony sah alles mit unbeweglichem Auge und erwiderte gar nichts. Sie war wie gelähmt.

Die Nachricht von der französischen Prinzessin als Braut des Kurfürsten hatte diese Lähmung verursacht.

Da war nun alles wieder in den Abgrund gestürzt! – Sie gestand sich's vielleicht nicht ein, aber sie wußte es, daß die Versöhnung mit Vetter Karl in ihr vollendet wäre, und daß nur der Weg zu glücklicher Begegnung noch im Zweifel bliebe. Und nun! Der Kurfürst hatte ja kein Zeichen von ihrer Wandlung und konnte jetzt blindlings hineingeraten in eine bloß politische Heirat! Trostlos!

Der Wagen sauste dahin durch den Wald, in welchem die volle Sonne lag; die Lichter und Schatten tanzten verwirrend vor ihren Augen.

»Ach,« rief sie, »der Brief!« und riß ihn auf. Die Sehkraft reichte kaum zu bei der Erschütterung durch den polternden Wagen, aber vom ersten Worte an waren all ihre Sinne gebannt an diese Schriftzüge des geliebten Vetters. Zweimal, dreimal wurde der ganze Brief durchflogen und – genossen, ja, genossen! Der warme Hauch jener Zeit in Karlsbad, wo er sie zum erstenmal wiedergesehen, ruhte darin, wie der Sommer jetzt die Waldluft erfüllte, so echt, so überzeugend, so ganze, volle Liebe! Die Erzählung vom Verhältnisse zur Marquise d'Outretombe, ganz so, wie in dem Briefe, welchen ihr Vater vorgelesen, nichts, nichts von eigentlicher Neigung des armen Vetters, der willenlos fortgezogen wird, alles klar, klar; »er hat nie jemand geliebt, als dich. Du kannst glücklich sein und ihn glücklich machen, wenn nicht –«

Aber auch dies »wenn nicht« trat in den Hintergrund. Der ideale Zug ihres Wesens brachte es zuwege, daß die drohende äußere Wirklichkeit nur noch wenig bedeutete. In Wahrheit hatte sie ja ihren geliebten Vetter wieder, in Wahrheit sangen ja alle Vögel des Waldes um sie her: die Liebe siegt, die Liebe siegt in alle Ewigkeit!

»Links hinüber, Jakob, zum Jagdhause!« rief sie dem Kutscher zu, als der Nebenweg sichtbar wurde.

Dort in der Einsamkeit, wo ihre Liebe die erste Blüte aufgeschlossen, dort wollte sie einkehren und überdenken, was nun zu tun sei. Denn sie fühlte sich entschlossen, nun selbst etwas zu tun, nun selbst mit ihren Geständnissen vor Vetter Karl zu treten.

»Dein Vater wird jetzt nachmittags nicht da sein« – dachte sie – »als du fortfuhrst, hat er von einem Kapitalhirsch gesprochen, welcher abgespürt worden sei, und der Vater stört dich auch nicht, er wird dich verstehn; nur die lange Claire wäre im Wege –«

So kam sie ins Jagdhaus. Es war ganz leer bis auf Susanne und den wahrscheinlichen Nikodemus, welcher nicht sichtbar war. Der Vater war wirklich hinaus mit der ganzen Jägerei, den Kapitalhirsch zu erjagen.

»Einen kleinen Tisch mit Schreibzeug, liebe Susanne, auf die Veranda! Ich muß rasch einen Brief schreiben.«

Susanna brachte das Verlangte und zog sich zurück. Vrony aber setzte sich in den vollen Sonnenschein hin und schrieb und schrieb lange, lange, lange, alles schildernd, was in ihr vorgegangen seit ihrer Liebesszene auf dieser Veranda.

Wenn sie nur fertig wird mit diesen Geständnissen! Denn gleich nach ihrer Abfahrt von Friedrichsruh hatte sich dort das Unerwartete ereignet: der Kurfürst war plötzlich angekommen, war trotz des langen Weges zu Pferde angekommen.

Sein Bruder Fritz hatte ihm ja erzählt bei Abverlangung des Briefes, daß der kleine Paradiesvogel Vrony – er drückte sich wie Susanne gern derber aus als schicklich – in der Mauser liege.

Schweigend hatte ihm der Kurfürst den Brief gegeben, und erst als Fritz fortgeritten, war es ihm klar geworden, jetzt sei der Moment gekommen, selbst einzutreten in die Entscheidung.

Er hörte aufmerksam zu, als ihm der alte Marquis schilderte, wie die Wandlungen in Vronys Seele gefördert worden wären durch seine Maßregeln, und wie man als letzten Druck die Prinzessin von Geblüt erfunden.

»Nein,« rief der Kurfürst, »das ist unrecht! Hinweg mit der Unwahrheit! Fritz, laß mir ein frisches Pferd satteln! Warum das arme Kind quälen?«

»Aber wie zur Entscheidung kommen?« rief der Kurprinz, nachdem er zum Fenster hinaus das Pferd befohlen hatte.

»Wie zur Entscheidung?« sagte der Kurfürst, »durch mich! Ich reite hinüber.«

Und er ritt. – Als er an den Nebenweg kam, welcher zum Jagdhause führte, hielt er still. Er betrachtete das Fahrgeleise im festen Sande und meinte zu entdecken, daß hier ganz vor kurzem ein Wagen abgebogen sei. Eine innere Stimme sagte ihm: Das ist ihr Wagen; dort, wo wir uns gefunden, dort wird sie sein! Und er gab seinem Pferde die Richtung nach links.

Sein Herz war voll, sein Mut verwegen, und alles nahm er für gute Vorbedeutung, auch ein Auerhuhn, das von einem hohen Fichtenbaume vor ihm aufflog und die Richtung nach dem Jagdhause nahm. Dann hörte er rechts aus dem tiefen Walde Signale von Jagdhörnern. »Das ist Immanuel XIX., welcher jagt«, rief er. »Vrony wird allein sein.« Und er beschleunigte sein Roß.

Ungesehen, unaufhaltsam kam er in den Hof und brachte sein Pferd eigenhändig in den Stall. Dann ging er auf das Mittelgebäude zu, wo der Salon und die Veranda. Da saß schlummernd in einem Winkel Susanne. Sie erwachte vom Geräusch der klingenden Sporen, sah ihn groß an, faltete die Hände, ohne aufzustehen, und sprach leise: »Himmlischer Vater, du kannst alles am besten!« – Er fragte ebenso leise: »Da?« – und sie zeigte nickend auf die Tür des Salons.

Er trat ein und sah draußen auf der Veranda die schreibende Vrony. Um kein Geräusch zu machen, trat er sehr vorsichtig auf und kam so unbemerkt bis zu ihr, welche, in ihr Schreiben vertieft, nichts hörte und nichts sah.

Erst als er dicht bei ihr war, sprach er mit herzlichem Tone: »Vrony!«

Ein Schrei, ein Freudenschrei, und sie stand aufrecht vor ihm.

»Hast du verziehen?« fragte er, die Arme öffnend.

Lautlos sank sie an seine Brust. Ein wohltätiger Tränenstrom erstickte ihre Stimme.

»Hast du verziehen?« wiederholte er leise.

»Du hast mir zu verzeihen,« sagte sie endlich und erhob ihr Antlitz, ihn mit nassen Augen anblickend, »mir muß verziehen werden, denn ich war verstockt.«

»Und will die kleine Prinzessin meine große Kurfürstin werden?«

»Aber die Prinzessin von Geblüt?«

»Sie mag bleiben, wo der Pfeffer wächst!«

»Wächst der in Frankreich?«

»Jawohl, ich hab's erfahren – dafür wirst du mich glücklich machen.«

»Und du erst mich – Still! der Vater!«

Drüben aus dem Walde kam Immanuel XIX. hoch auf schwerem Rosse über die Wiese geritten; hinter ihm seine Jäger mit einem riesengroßen Hirsch, welchen der alte Herr mit fester Hand geschossen. Er war weitsichtig und erkannte schon von ferne den Kurfürsten und sein Kind. Karlsbad aber hatte seinen Geist so aufgeklärt, daß der auf der Stelle wußte, was die Glocke geschlagen. »Hussa!« schrie er mit mächtiger Stimme nach vorwärts; »Halali blasen, ihr Esel, das heißt Fanfare!«

Die Jäger bemerkten auch, was vorging, und bliesen unglaublich und schossen ihre Gewehre in die Luft.

Von diesem Lärm erwachte auch Nikodemus, welcher auf dem Polsterstuhl seiner Mama in der Küche sein Nachmittagsschläfchen gehalten. Er sprang auf, er witterte Unheil, er stürzte heraus, schob die entgegentretende Mutter Susanne unehrerbietig zur Seite, riß die Tür auf zum Salon und sah nun draußen auf der Veranda das für ihn schmerzliche Bild; der Kurfürst hatte seinen Arm um die Prinzessin geschlungen, und der heransprengende Immanuel XIX. schrie: »Segen, Segen!« – Das Herz des nun hoffnungslosen Jünglings war erschüttert, und er brachte nur die Worte hervor: »O Jemine!«


 << zurück weiter >>