Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Was nun? Zweiter Vortrag über das Verfassungswesen

19. November 1862

In meinem letzten Vortrage habe ich Ihnen, meine Herren, das Wesen der Verfassungen, und speziell auch der preußischen, entwickelt. Ich zeigte Ihnen, wie zu unterscheiden ist zwischen der wirklichen und der nur geschriebenen Verfassung oder dem Blatt Papier; wie die wirkliche Verfassung eines Landes immer nur in den realen, tatsächlichen Machtverhältnissen besteht; die sich in einer gegebenen Gesellschaft vorfinden. Ich zeigte Ihnen, wie die geschriebene Verfassung, wenn sie den tatsächlichen Machtverhältnissen der organisierten Macht der Gesellschaft nicht entspricht, wenn sie also nur das ist, was ich das »Blatt Papier« nannte, der Überwucht der organisierten Machtverhältnisse gegenüber rettungslos verloren ist, und zwar wie sie das notwendig und jedenfalls sein muß. Denn es nimmt dann, sagte ich, entweder die Regierung die Änderung der Verfassung vor, um die geschriebene Verfassung in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Machtverhältnissen der organisierten Macht der Gesellschaft zu setzen. Oder aber es tritt die unorganisierte Macht der Gesellschaft auf, beweist von neuem, daß sie größer ist als die organisierte und ändert dann notwendig die organisierten Machtverhältnisse der Gesellschaft, also die Verfassungspfeiler selbst, wieder ebensoweit nach links hin ab, als die Regierung es bei ihrem Siege nach rechts hin in dieser oder jener Form getan hätte.

Ich resümierte am Schlüsse meines Vortrags denselben in folgenden Worten: »Wenn Sie, meine Herren, den Vortrag, den ich Ihnen zu halten die Ehre hatte, nicht nur festhalten und sorgfältig durchdenken, sondern ihn zu allen seinen Konsequenzen fortdenkend entwickeln, so werden Sie zum Besitz aller Verfassungsweisheit gelangen. Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen; die wirkliche Verfassung eines Landes existiert nur in den reellen, tatsächlichen Machtverhältnissen, die in einem Lande bestehen; geschriebene Verfassungen sind nur dann von Wert und Dauer, wenn sie der genaue Ausdruck der wirklichen in der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse sind – das sind die Grundsätze, die Sie festhalten wollen.«

Wenn dies nun wahr sein soll, daß die Durchdenkung und Fortentwickelung dieses Vortrags zu allen seinen Konsequenzen Sie in den Besitz aller Verfassungskunst und Verfassungsweisheit setzen würde, so müßte dieser Vortrag, wenn Sie ihn zu seinen Konsequenzen fortentwickeln, auch imstande sein, den Weg, den sichern und alleinigen Weg anzugeben, auf welchem der gegenwärtig im Lande bestehende Konflikt einem für die Nation gedeihlichen und siegreichen Ausgang zuzuführen sei. Und in der Tat ist es ebendies, was ich heut leisten will. Ich will aus der Theorie heraus, die ich Ihnen entwickelt habe, das Mittel bestimmen, welches notwendig und allein zu einer siegreichen Beendigung des zwischen der Regierung und der Kammer eingetretenen Konflikts führen muß.

Ehe ich dazu übergehe, lassen Sie uns noch einen Blick darauf werfen, wie unbedingt wahr die Theorie ist, die ich damals über das Wesen der Verfassungen aufgestellt habe, und die ich meiner heutigen Untersuchung überall als die Seele derselben zugrunde lege. Sie wissen, meine Herren, wie überaus streitig jede politische Behauptung zwischen den entgegengesetzten politischen Parteien ist! Da ist nichts von dem, was von der einen politischen Partei als unbestreitbar wahr anerkannt wird, was nicht von der andern mit ebenso großer Bestimmtheit als durchaus falsch verworfen würde. Fast sollte man manchmal meinen – und schwache, skeptische Gemüter meinen dies daher wirklich –, es gäbe keine Wahrheit, keine einheitliche menschliche Vernunft mehr, wenn man sieht, wie grundsätzlich, mit welcher Verachtung und Erbitterung bei der einen Partei als absolut falsch betrachtet wird, was bei der andern ebenso entschieden als absolut erwiesen, als Axiom gilt. Nur der Wissenschaft ist es gegeben, in dieser grellen Dissonanz von Meinungen, in diesem unharmonischen greulichen Konzert von einander lügenstrafenden Behauptungen hin und wieder eine Wahrheit zutage zu fördern von einem so klaren und schlagenden Lichte, daß sich auch die entgegengesetztesten politischen Parteien ihrer Anerkennung nicht entziehen können. Solche Fälle bilden daher immer einen wahren Triumph der Wissenschaft und einen äußerst mächtigen Beweis für die Wahrheit einer Theorie. In der Tat aber ist einer dieser seltnen Ausnahmefälle gerade in bezug auf die Verfassungstheorie eingetreten, die ich Ihnen in meinem damaligen Vortrage entwickelt habe.

Ich gehöre, meine Herren, wie Ihnen bekannt ist, der Partei der reinen und entschiedenen Demokratie an.

Nichtsdestoweniger hat selbst ein meinen Parteiansichten so sehr entgegengesetztes politisches Organ wie die »Kreuzzeitung« nicht umhin gekonnt, die unbedingte Wahrheit der von mir aufgestellten Verfassungstheorie unumwunden einzuräumen. Sie widmet ihr in Nr. 132 (v. 8. Juni 1862) einen Leitartikel und nennt sie daselbst in ihrer Sprache: »Die Rede eines seinerzeit vielgenannten revolutionären Juden, der mit richtigem Instinkt den Nagel auf den Kopf getroffen und uns noch nicht alles gesagt hat, was er weiß und denkt.«

Letztern Fehler, wenn es einer sein soll, werde ich immer mehr und mehr ablegen. Die »Kreuzzeitung« kann sicher sein, daß ich ihre Ahnung erfüllen und sukzessive, je nachdem es an der Zeit sein wird, immer mehr alles sagen werde, was ich weiß und denke. Von ihrem Eingeständnis aber, mit meiner Verfassungstheorie den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben, nehme ich hiermit Akt.

Aber nicht nur die »Kreuzzeitung«, auch die Minister haben die Wahrheit der von mir entwickelten Theorie vollständig anerkannt.

Der Kriegsminister Herr v. Roon erklärte in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 12. September 1862, seine Auffassung der Geschichte gehe dahin, daß der Hauptinhalt der Geschichte nicht nur zwischen den einzelnen Staaten, sondern auch innerhalb eines jeden Staates selbst, nichts anders sei als der Kampf um Macht und Machterweiterung zwischen den einzelnen Faktoren.

Sie sehen, meine Herren, das ist genau, das ist mit denselben Worten eben die Theorie, die ich in diesem Frühjahr in meinem damaligen Vortrag in den Bezirksvereinen unter genauer historischer Entwickelung aufgestellt und als Broschüre veröffentlicht hatte.

Merkwürdigerweise sagt der Kriegsminister allerdings in derselben Auslassung und wenige Zeilen nach der ebenzitierten Stelle, es existierten in Berlin außerhalb des Abgeordnetenhauses Parteigänger, welche – ich zitiere jetzt seine eigenen Worte – »schriftlich und mündlich in Bezirksversammlungen und in der Presse die allerwunderbarsten und nach meiner Auffassung destruktivsten Tendenzen kundgegeben haben«.

Da in den hiesigen Bezirksvereinen bis dahin, soweit irgend bekanntgeworden, kein anderer Vortrag gehalten worden war, auf welchen jene Bezeichnung »destruktiver Tendenzen« irgend hätte bezogen werden können, und da ferner die ministerielle »Sternzeitung« damals meinen Vortrag, den ich in drei bis vier Bezirksversammlungen gehalten, zu wiederholten Malen destruktiver Tendenzen beschuldigt hatte, so erblicke ich hierin, verbunden mit dem Umstande, daß der Kriegsminister soeben den Grundgedanken jenes Vortrags als seine Geschichtsauffassung ausgesprochen hatte, zwingende Gründe, jene Beschuldigung des Kriegsministers, soweit sie die Bezirksversammlungen betrifft, eben auf diesen meinen in den Bezirksversammlungen gehaltenen Vortrag über Verfassungswesen zu beziehen. Nun muß ich es allerdings meinerseits als sehr wunderbar und merkwürdig bezeichnen, daß der Herr Kriegsminister genau dieselbe Geschichtsauffassung, genau dieselben Worte, die er in seinem Munde für konservativ hält, in meinem Munde destruktiv findet.

Ja, noch etwas Wunderbares und Merkwürdigeres ist geschehen. Der Kriegsminister macht nämlich bei derselben Gelegenheit der Kammer den Vorwurf, daß sie nicht jene Tendenzen, die sich in den Bezirksversammlungen und in der Presse kundgegeben, desavouiert habe. Es ist nun überhaupt nicht Sache der Kammer, mich zu desavouieren. Aber das Urkomische dabei ist, daß der Kriegsminister nicht sieht, wie er, indem er die Kammer auffordert, eine Geschichtsauffassung zu desavouieren, zu der er sich soeben selbst bekannt hat, dadurch geradezu auffordert, ihn selbst und seine eigenen Ansichten zu desavouieren!

Inzwischen, dies sind Ergötzlichkeiten, welche der Kriegsminister mit der Logik abzumachen hat, und die nichts zur Sache verschlagen; was zur Sache gehört, ist nur zu konstatieren, daß der Kriegsminister sich genau zu derselben Theorie über das Wesen der Verfassung bekannt hat, die ich in meinem damaligen Vortrage aufgestellt habe.

Nicht weniger ist der gegenwärtige Ministerpräsident, Herr v. Bismarck, so freundlich gewesen, und zwar im Namen des gesamten Staatsministeriums, Zeugnis für die Wahrheit meiner Geschichtsanschauungen abzulegen.

Sie wissen alle, daß es das in der Verfassung geschriebene unbestreitbare und unbestrittene Recht der Kammer ist, dem Staatshaushaltetat die Genehmigung zu erteilen oder zu verweigern.

Die Kammer hat nun von diesem Recht Gebrauch gemacht. Herr v. Bismarck bestreitet auch nicht eigentlich, daß dies das Recht der Kammer sei. Aber er sagt in der Sitzung vom 7. Oktober wörtlich: »Rechtsfragen der Art pflegen nicht durch Gegenüberstellung widerstreitender Theorien, sondern nur allmählich durch die staatsrechtliche Praxis erledigt zu werden.« Sehen Sie ein wenig genauer zu, meine Herren, so finden Sie, daß hier, nur in etwas verschleierten, verschämten Ausdrücken, wie es sich für einen Minister schickt, ganz meine Theorie entwickelt ist. Das Recht der Kammer übersetzt Herr v. Bismarck mildernd in den Ausdruck Rechtsfrage. Er leugnet nicht – wie könnte er auch? –, daß diese Rechtsfrage oder dieses Recht auf dem Blatt Papier oder in der Verfassung steht. Aber, sagt er, es steht eben nur auf dem Blatt Papier, das wirklich Entscheidende dagegen sei die staatsrechtliche Praxis. Mit dem milderen Ausdruck »staatsrechtliche Praxis«, mit dem, was wirklich geschieht und vor sich geht im Gegensatz zum bloßen Recht oder zu der Rechtstheorie, ist hier, wie Sie sehen; nur der Druck dessen bezeichnet, was ich deutlicher die realen, tatsächlichen Machtverhältnisse genannt habe. Ihr mögt, sagt Herr v. Bismarck also, aus dem Ministeriellen ins Unverblümtere übersetzt, das Blatt Papier für euch haben. Aber ich habe die realen, tatsächlichen Machtverhältnisse der organisierten Macht, Heer, Finanzen, Gerichte, unter mir, und diese realen, tatsächlichen Machtverhältnisse sind es, die in letzter Instanz doch das Entscheidende sind und die staatsrechtliche Praxis bestimmen.

Der Einspruch dieser realen, tatsächlichen Machtverhältnisse, sagt Herr v. Bismarck zu den Abgeordneten, setzt euer Recht zu einer bloßen Rechtsfrage herab, und diese selben Machtverhältnisse bürgen mir auch schon, daß die Sache nicht im Sinne eueres bloß theoretischen, bloß papiernen Rechts zu Ende gehen wird. »Allmählich«, sagt Herr v. Bismarck, »wird die staatsrechtliche Praxis diese Rechtsfrage, das heißt diesen Konflikt zwischen nur geschriebenem Recht und in Erz gegrabenen Machtverhältnissen in einem ganz andern Sinne erledigen.« Hierin liegt noch eine weitere Einsicht des Herrn v. Bismarck. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen in meinem letzten Vortrag auseinandersetzte, was ein konstitutioneller Präzedenzfall sei. Wenn ich einmal die Macht zu etwas habe, so habe ich das zweite Mal auch schon das Recht dazu. Ich zeigte Ihnen dies beispielsweise das letzte Mal an dem mittelalterlichen französischen staatsrechtlichen Grundsatz: »Das niedere Volk ist nach Willkür mit Steuern und Fronden zu belegen!« Dieser Grundsatz, sagte ich, war zunächst nichts anderes als der einfache »Ausdruck der tatsächlichen Machtverhältnisse in dem mittelalterlichen Frankreich. Das niedere Volk war im Mittelalter wirklich so machtlos gewesen, daß es ganz beliebig mit Steuern und Fronden belastet werden konnte; nach diesem tatsächlichen Machtverhältnis wurde nun auch immer verfahren. Das Volk wurde immer so belastet. Dieser tatsächliche Hergang gab die sogenannten Präzedenzfälle, die noch heutzutage in England in den Verfassungsfragen eine so große Rolle spielen. Bei diesem tatsächlichen Belasten wurde nun häufig auch, wie dies nicht anders sein konnte, die Tatsache, daß das Volk so belastet werden könne, ausgesprochen. Dies Aussprechen gab den staatsrechtlichen Grundsatz, auf den dann in ähnlichen Fällen wieder rekurriert wurde.«

Sie sehen, meine Herren, es ist offenbar dieselbe Ideenreihe, die Herr v. Bismarck im Sinne hat, wenn er behauptet, es werde allmählich durch die staatsrechtliche Praxis die Sache in einem ganz andern Sinne erledigt werden.

Wenn ich diesmal, 1862, will Herr v. Bismarck andeuten, die Macht habe, es durchzusetzen, so werde ich 1866, falls ich wieder gegen den Willen der Kammer das stehende Heer vermehren, falls ich wieder von der Kammer nicht genehmigte Ausgaben machen will, auch das Recht dazu für mich haben, denn dann werde ich mich, schon auf einen Präzedenzfall berufen können. Und wenn ich 1870 das Heer von neuem vergrößern und Ausgaben gegen die Kammern-Entscheidung machen will, so werde ich dann schon ein ganz unbestreitbares Recht für mich haben. Denn dann werde ich mich schon auf zwei Präzedenzfälle, auf eine vollständige »staatsrechtliche Praxis« berufen können.

Diese angenehme Hinweisung darauf, daß er nicht jetzt zum letzten Mal, daß er auch künftig das stehende Heer gegen den Beschluß der Kammer vergrößern oder sonstige Ausgaben, die von ihr verworfen wurden, bestreiten will, diese trostreiche Versicherung, daß er es allmählich zur unbestrittenen staatsrechtlichen Praxis bei uns erheben wolle, Heer wie Ausgaben gegen die Beschlüsse der Kammer zu vermehren – diese reizende Fernsicht ist es, durch welche Herr v. Bismarck die Kammer und das Land für den Eingriff in die papierne Verfassung oder die bloße Rechtstheorie trösten und schadlos halten will.

Zwar könnten Sie finden, daß dies ein wunderlicher Trost sei. Denn es ist gerade so, als ob ich Sie für jetzige Prügel, die Sie zu empfangen sich sträuben, dadurch geneigter machen wollte, daß ich Ihnen verspreche, Ihnen auch noch künftighin solche reichlich und in Menge erteilen zu wollen.

Allein bei alledem werden Sie aus dieser Betrachtung der Worte des Herrn Ministerpräsidenten dennoch ersehen haben, daß derselbe ein tiefer und feiner Kenner des Verfassungswesens ist, daß er ganz und gar auf dem Boden meiner Theorie steht, daß er vortrefflich weiß, wie die wirkliche Verfassung eines Landes nicht in dem Blatt Papier, sondern in den tatsächlichen Machtverhältnissen besteht, und nur aus diesen, nicht aus dem papiernen Recht, die staatsrechtliche Praxis, das, was wirklich geschieht, bestimmt wird, und daß er sich ausgezeichnet klar darüber ist, was Präzedenzfälle sind, wie sie entstehen und wie sie nachher verwertet werden.

Ich kann also Sie alle, meine Herren, und ganz besonders die hier anwesenden Vertreter der Polizeigewalt, darauf aufmerksam machen, daß ich mich auf einem von allen obersten Behörden im Staat anerkannten und durchaus unangreifbaren Boden befinde.

Sie dürfen sich übrigens nicht wundern, meine Herren, diese Klarheit gerade bei den Männern der Regierung zu finden. Ich habe Sie schon das letzte Mal darauf aufmerksam gemacht, daß die Fürsten sehr gut bedient sind, daß die Diener der Fürsten keine Schönredner, aber doch praktische Männer sind, die gleichviel ob mit mehr oder weniger ausgearbeitetem theoretischem Bewußtsein doch den Instinkt haben, worauf es ankomme.

Aber nicht nur die Ansichten der Männer der Regierung kann ich als Beleg für die Wahrheit meiner Theorie anführen, sondern, was noch von weit größerem Gewicht ist, die Ereignisse selbst haben, und zwar in der auffälligsten Weise, für sie entschieden.

Sie erinnern sich der Prophezeiung, die als dritte Konsequenz in meinem in diesem Frühjahr gehaltenen Vortrag entwickelt war.

Ich entwickelte Ihnen dort, wie und warum notwendig unsere jetzt bestehende Verfassung in ihrem Todeskampfe begriffen sei und warum sie schlechterdings in kürzester Frist entweder nach rechts hin von der Regierung oder nach links hin vom Volke werde abgeändert werden müssen, aber als diese jetzt bestehende bestimmte Verfassung unmöglich länger fortbestehen könne. Ich sagte damals wörtlich: »Die Verfassung liegt in ihren letzten Zügen; sie ist schon so gut wie tot; einige Jahre noch – und sie existiert nicht mehr.«. Ich wollte nicht zu sehr erschrecken und sagte darum: »einige Jahre noch.« Wie die Ereignisse zeigen, hätte ich sagen können: Einige Monate noch, und sie existiert nicht mehr.

Der Präsident des Abgeordnetenhauses selbst, Herr Grabow, hat jetzt in seiner Rede beim Kammerschluß konstatiert, daß die Verfassung »schwer beschädigt« worden sei.

Das Herrenhaus – ein selbst dieser Verfassung angehöriger Körper – hat durch sein Votum, welches den von der zweiten Kammer verworfenen Staatshaushaltsetat genehmigt, einen Verfassungsbruch begangen. Und noch viel ernster und schwerer ist der Eingriff, den die Regierung selbst in die Verfassung getan hat. Die Kammer hat die Ausgaben für die neue Militärorganisation verworfen – und die Regierung setzt dieselben dennoch auch seit dem Tage dieses Kammerbeschlusses nach wie vor fort, wie sie dies selbst erklärt hat.

Die Logik hat also recht behalten, meine Herren, die bestehende Verfassung ist eine, zur Zeit wenigstens und vorläufig, in der Wirklichkeit nicht mehr bestehende Verfassung, und die Geschichte hat meine Prophezeiung in bezug auf die Kürze der Zeit noch weit übertroffen.

Sie können also vollständiges Zutrauen haben in die unangreifbare Wahrheit der Verfassungstheorie, die ich Ihnen entwickelt. Und wenn sich nun aus einer so von allen Seiten und durch die Ereignisse selbst bestätigten Theorie mit logischer Konsequenz ein Mittel sollte ableiten lassen, wie in dem gegenwärtigen Konflikt der Sieg erlangt werden kann, so würden Sie getrosten Mutes sein können, meine Herren. Denn Sie würden dann mit derselben vollständigen Zuversicht überzeugt sein können, daß dieses Mittel, als aus dieser Theorie herausgeboren, auch das unbedingt zutreffende, das mit Sicherheit zum Siege führende sein muß.

Ein solches Mittel läßt sich nun aber allerdings aus dieser Theorie mit Evidenz entwickeln, und dies ist es, was den Gegenstand meines heutigen Vortrags bildet.

Stellen wir zunächst die Frage, wie sie gestellt werden muß. Bei allen Untersuchungen kommt es vor allen Dingen auf die Fragestellung an, und das falsche Resultat ist sehr häufig nur die Folge der falschen Fragestellung.

Diese Frage lautet also nicht so: Wie ist dieser Verfassung, das heißt dieser ganz bestimmten Verfassung vom Januar 1850 mit Haut und Haar, wie sie eben ist, zur dauernden Fortexistenz zu verhelfen? Wenn Sie die Frage so stellen wollten, meine Herren, so könnte allerdings ich sowenig wie irgendein anderer eine wahrhafte, eine andere als scheinbare Lösung geben, ebensowenig wie man durch Galvanisierung in einen Leichnam mehr als ein Scheinleben hineinbringen kann. So wird es, um nur ein Beispiel anzuführen, jedem von Ihnen klar sein, daß mindestens das Herrenhaus – welches ja auch einen Teil der Verfassung von 1850 bildet und welches seine Stellung dazu braucht, allen Beschlüssen des Abgeordnetenhauses systematisch entgegenzutreten – auf die Dauer nicht fortbestehen kann. Damit wäre aber immerhin schon die gegenwärtige Verfassung in einer ihrer wesentlichen Grundlagen aufgehoben. Inzwischen, so steht die Frage auch ja gar nicht für Sie. So interessiert Sie dieselbe nicht. Was interessiert Sie die Forterhaltung aller für Sie schädlichen Bestimmungen in der Verfassung? Was interessiert Sie zum Beispiel der Fortbestand des Artikels 108: »Eine Verteidigung des Heeres auf die Verfassung findet nicht statt«? Oder was interessiert Sie der Fortbestand des Artikels 111, welcher die Regierung ermächtigt, in gewissen Fällen den Belagerungszustand zu erklären und über ein halbes Dutzend gerade der wichtigsten Artikel der Verfassung außer Kraft zu setzen und die unverletzlichsten Rechte des Menschen und Bürgers zu verletzen? Oder was interessiert Sie die Forterhaltung des Artikels 106, welcher den Richtern die Prüfung der Rechtsgültigkeit königlicher Verordnungen verbietet? Oder was interessiert Sie die Forterhaltung des Artikels 109, welcher die Regierung in bezug auf die Vereinnahmung aller einmal bestehenden Steuern von der Genehmigung der Kammern entbindet? Alles dies sind aber nur einzelne kürze Belege dafür, daß die Forterhaltung dieser Verfassung mit Haut und Haar Sie ebensowenig interessiert, als sie auf die Dauer möglich wäre. Was Sie wirklich bei dem jetzigen Konflikt interessiert, ist vielmehr nur das eine: das absolute Recht des Volkes, das selbst in dieser Verfassung anerkannte Budgetbewilligungsrecht Ihrer Abgeordneten, ein Recht, das für alle Zeiten auch in alle künftigen Verfassungen würde aufgenommen werden müssen, zur Geltung zu bringen.

Die Frage also, wie sie wirklich für Sie steht, lautet demnach: Wie ist das Recht des Volkes, durch seine Abgeordneten Ausgabeposten des Staatshaushaltsetat zu verweigern, die ihm ungerechtfertigt erscheinen, durchzusetzen, zur Geltung und Wirklichkeit zu bringen?

Ich werde mich wieder, wie das letzte Mal, der indirekten Methode zur Entscheidung dieser Frage bedienen; das heißt ich werde zunächst zeigen, welche Mittel, wie plausibel sie auch scheinen möchten, nicht die angemessenen zu dem angegebenen Ziele sind.

Wenn ich nicht irre, so ist vielleicht von manchen daran gedacht worden, die Kammer müsse in der nächsten Session zu einer Steuerverweigerung greifen, um die Regierung zum Einlenken in die gesetzliche Bahn zu zwingen.

Allein dies Mittel, so klangvoll es in die Ohren tönen möchte, würde gleichwohl ein entschieden falsches, seinen Zweck vollständig verfehlendes sein.

Zunächst muß eingestanden werden, daß angesichts des § 109 unserer Verfassung es mehr als zweifelhaft ist, ob unserer Kammer überhaupt eine Verweigerung der zur Zeit einmal bestehenden Steuern zusteht.

Angenommen aber auch, daß dies umgekehrt stände, angenommen selbst, daß unsere Verfassung mit dürren Worten der Kammer das Recht der Steuerverweigerung zuspräche, so würde dennoch dieses Mittel ganz ebenso unpraktisch und machtlos sein.

Die Steuerverweigerung, die an und für sich noch nicht zu verwechseln ist mit einem Aufstand, ist ein besonders von England her sehr akkreditiertes, dort bestehendes legales Mittel, die Regierung zu zwingen, in irgendeinem Punkte dem Willen der Nation nachzukommen. Die bloße Androhung der Steuerverweigerung durch die Aldermänner der City hat bei Gelegenheit der Reformbill von 1830 genügt, die Krone dazu zu bestimmen, nachzugeben und einen Pairsschub vorzunehmen, um den Widerstand des Oberhauses zu brechen.

Da also dies Mittel in England so bewährt ist, so kann es nicht wundernehmen, daß manche auch jetzt wieder die Augen darauf richten, wie man es ähnlich schon im Novemberkonflikt des Jahres 1848 bei uns anzuwenden gesucht hat. Allein schon die von der Nationalversammlung 1848 beschlossene Steuerverweigerung – und die Nationalversammlung besaß, als konstituierende Versammlung, doch das unbedingte und unbestreitbare Recht zu einem solchen Beschluß – ist ohne allen reellen Erfolg geblieben, und ganz denselben und einen noch kläglicheren Ausgang müßte gegenwärtig jede gänzliche oder teilweise Wiederholung jenes Beschlusses nehmen.

Woher kommt dieser Unterschied, meine Herren, daß dieselbe Maßregel, die so effektvoll ist in England, so effektlos bleiben muß bei uns? An der Hand unserer Theorie wird Ihnen dies sofort durchsichtig werden. Sie werden bei dieser Gelegenheit sich zugleich ein wichtiges Stück unserer vergangenen Geschichte – den Ausgang des Novemberkonfliktes von 1848, – zur Klarheit bringen und sich ebenso vor Mißgriffen in der Gegenwart sichern.

Diejenigen nämlich, welche im November 1848 in der Steuerverweigerung als solcher eine wirksame Maßregel erblickten, und diejenigen, welche jetzt wieder die Augen hierauf richten, übersehen nichts Geringeres als den in unserer Theorie auseinandergesetzten Fundamentalunterschied einer wirklichen und einer nur geschriebenen Verfassung.

England ist ein Land, in welchem die wirkliche Verfassung konstitutionell ist, das heißt ein Land, in welchem sich demnach das Übergewicht der realen, tatsächlichen Machtmittel, auch der organisierten Macht, auf seiten der Nation befindet.

In einem solchen Lande muß es daher leicht sein, eine Steuerverweigerung durchzuführen. In einem solchen Lande kann die Regierung es nicht einmal auf die Probe ankommen lassen; sie muß schon bei der Drohung nachgeben. In einem solchen Lande wird die Steuerverweigerung auch gar nicht bloß dazu gebraucht, um Angriffe auf die bestehende Verfassung abzuwehren, sondern im Gegenteil, wie dies 1830 bei der Reformbill der Fall war, um dem Volke günstige Angriffe auf die Verfassung durchzusetzen. Sie ist das organisierte legale, friedliche Mittel, um die Regierung unter den Willen des Volkes zu beugen.

Ganz anders bei uns in Preußen, wo jetzt, wie im November 1848, immer nur eine geschriebene Verfassung oder Verfassungsbruchstücke bestehen und bestanden, alle tatsächlichen Machtmittel der organisierten Macht aber sich ausschließlich in den Händen der Regierung befinden.

Um sich dieses Unterschiedes ganz bewußt zu werden, brauchen Sie nur den realen Verlauf sich vorzustellen, den eine Steuerverweigerung in England und den eine solche in Preußen nehmen würde. Ich setze also den Fall, das englische Unterhaus beschlösse eine Steuerverweigerung, und die Regierung wollte dennoch gewaltsam die Steuer erheben. Der englische Steuerexekutor kommt zu mir und will exequieren. Ich widersetze mich, ich werfe ihn zur Tür hinaus. Ich werde vor Gericht gestellt. Der englische Richter aber spricht mich frei oder belobt mich noch, daß ich ungesetzliche Gewalt nicht geduldet habe. Der Steuerexekutor kommt wieder, verstärkt durch Soldaten. Ich widersetze mich weiter mit meinen Freunden und Hausleuten. Die Soldaten geben Feuer; sie verwunden und töten. Ich stelle sie vor Gericht; und obgleich sie sich auf den Befehl ihrer Vorgesetzten berufen, so werden sie, da ein solcher in England bei Handlungen gegen das Gesetz nicht deckt, einfach wegen Totschlags zum Tode verurteilt. Ich setze aber den Fall, ich habe mit meinen Freunden das Feuer der Soldaten erwidert und gleichfalls verwundet und getötet. Ich werde vor Gericht gestellt. Ich werde immer nach wie vor wegen Widerstands gegen ungesetzliche Gewalt freigesprochen.

Aber ferner. Weil diesen ganzen Verlauf jedermann in England kennt, weil somit von vornherein alle Chancen des Sieges auf Seite des Volkes sind, verweigert jeder die Steuern; alle tun es, auch solche, die indifferent wären oder lieber zahlen möchten; aber sie verweigern, um sich bei ihren Mitbürgern, die doch voraussichtlich Sieger bleiben werden, nicht verhaßt zu machen, um sich nicht als schlechte Bürger zu zeigen.

Aber weiter, welches Mittel hätte die Regierung, den Widerstand des englischen Unterhauses und Volkes zu brechen? Das Heer. Aber in England muß seit der Bill of Rights die Regierung jedes Jahr von neuem von dem Parlament die Erlaubnis erbitten, ein Heer zu halten. Diese Erlaubnis wird ihr jedes Jahr und immer nur auf die Dauer eines Jahres bewilligt durch die sogenannte mutiny-Akte, durch welche die Regierung zugleich für die Dauer dieses Jahres mit einer Disziplinargewalt gegenüber den Soldaten, die sonst nur unter den gewöhnlichen Landesgesetzen stehen würden, zur Bestrafung von Insubordination und Meuterei ausgerüstet wird. In derselben Akte wird zugleich die genaue Zahl der Truppen, welche der Regierung zu halten erlaubt wird, und ihre Bezahlung festgesetzt. Was würde also die Folge sein, wenn sich die englische Regierung mit dem Unterhaus in einem Kampf befände? Das englische Unterhaus würde einfach beim Jahresschluß die Erneuerung der mutiny-Akte verweigern und von Stund an könnte die Regierung kein Heer halten, dasselbe nicht zahlen, keine Meuterei mehr unterdrücken, keine Disziplinargewalt gegen die Soldaten anwenden, die beliebig auseinanderlaufen könnten und würden. Aber noch mehr. Ich sagte Ihnen, daß jährlich die Zahl der Truppen, welche der Regierung zu halten erlaubt wird, durch die mutiny-Akte festgestellt wird. Diese Zahl betrug im letzten Jahr (1861/62) für Großbritannien und sämtliche Kolonien, mit Ausnahme Indiens, nicht mehr als 99 000 Mann. Es kommen also, da die vielen und einer Truppenmacht besonders bedürftigen Kolonien Englands mindestens die Hälfte dieser Anzahl erfordern werden, nicht mehr als 50 000 Mann auf Großbritannien, das heißt auf eine Bevölkerung von 25 Millionen Einwohnern, und Sie werden begreifen, daß man bei solchem Zahlenverhältnis keinen Kampf mit der Nation wagen kann.

Und nun immer weiter von Wechselwirkung zu Wechselwirkung.

Weil es klar ist, daß fast alle sich der Steuerzahlung widersetzen werden, und weil hierdurch die Chancen, die schon von vornherein durchaus zugunsten des Volkes stehen, noch unendlich vermehrt werden, weil endlich die englische Regierung in England selbst nur ein Heer von so geringfügiger Zahl halten darf, kann die Regierung dort auch nicht einmal auf ihre eigenen Beamten, nicht einmal auf die Machtmittel, die sie wirklich hat, rechnen. Denn Sie begreifen, meine Herren, daß sich bei der Masse der Beamten ihr Verhalten in einem solchen Konflikt hauptsächlich nach der Meinung richtet, die sie darüber haben, wer von beiden, Regierung oder Volk, wohl Sieger bleiben werde. Wie auf der Börse hausse und baisse sich zum großen Teil danach bestimmt, welche Meinung die meisten schon beim Beginn der Börse darüber haben, ob hausse oder baisse triumphieren werde, so richtet sich zu einem guten Teil das Verhalten der Beamten und somit ein bedeutendes Element des wirklichen Sieges nach der Meinung, die sie darüber haben, wem der Sieg schließlich verbleiben werde. Glauben die Beamten, die Regierung werde Sieger bleiben, so sind sie eifrig, unerschütterlich, energisch. Sind die Verhältnisse der Art, daß sie die entgegengesetzte Ansicht haben müssen, so sind sie schwankend, wankend, protestieren, fallen ab, gehen über. Dies ist nur zu natürlich. Der eine will seine Knochen, der andere sein Amt und Gehalt, der dritte seine soziale Achtung nicht aufs Spiel setzen. Da nun die reale Position des englischen Volkes, wenn das Unterhaus eine Steuerverweigerung beschlösse, von vornherein so stark ist, daß jeder an seinen Sieg glauben muß, so würden die englischen Beamten in Masse von der Regierung abfallen, und es bliebe zuletzt der dortige Ministerpräsident, etwa mit einer Handvoll katilinarischer Existenzen, die nichts zu verlieren haben, allein übrig, um die Steuer einzutreiben, die Kanonen abzufeuern und die Leute einzusperren.

Und weil der casus dort realiter so stehen würde, würde eine vom englischen Unterhaus beschlossene Steuerverweigerung überhaupt schwerlich dazu gelangen, ausgeführt werden zu müssen. Die Regierung würde nachgeben, und alles liefe auf dem Wege einer friedlichen Demonstration ab.

Nun denken Sie sich aber einmal den Fall, eine preußische Kammer beschlösse, und wenn sie noch so sehr dazu berechtigt wäre, wie das im November 1848 der Fall war, eine Steuerverweigerung.

Niemand wird darüber zweifelhaft sein, daß die Regierung dennoch auf das allerernsteste an die Eintreibung der Steuern gehen würde. Ich werfe jetzt wieder den Steuerdiener hinaus. Ich werde vor Gericht gestellt und von unseren Richtern unbedenklich und trotz der schönsten Reden zu soundsoviel Monaten Gefängnis wegen Widerstands gegen die Regierungsgewalt verurteilt. Der Steuerdiener kommt wieder mit Soldaten, die auf mich und meine mich unterstützenden Freunde Feuer geben, verwunden und töten. Kein Mensch kann bei uns diese Soldaten oder Steuerdiener vor Gericht stellen. Sie haben einfach auf Befehl ihrer vorgesetzten Behörde gehandelt und sind dadurch gedeckt. Ich feuere aber zurück auf den Steuerdiener und die Agenten der bewaffneten Macht, ich verwunde und töte. Ich werde vor Gericht gestellt, einfach verurteilt und geköpft.

Und weil dies so ist, und weil also von vornherein alle Chancen gegen die Steuerverweigerer sind, wird überhaupt nur eine Minderzahl prinzipfester Charaktere die Steuerzahlung verweigern; und wiederum, weil dies so ist, wachsen um so mehr die Chancen der Regierung, die Steuereintreibung durchzusetzen, und wiederum, weil dies so ist und weil die Regierung auch bei uns nicht nötig hat, jährlich die Erlaubnis des Parlaments, um ein Heer von bestimmter Anzahl zu halten, und zur Bewilligung einer Disziplinargewalt gegen dasselbe nachzusuchen, und weil endlich unsere Regierung nicht, wie die englische, ein Heer von zirka 50 000 Mann auf 25 Millionen Einwohner, sondern ein stehendes Heer von über 140 000 Mann auf bloß 18 Millionen Einwohner zur Durchsetzung ihrer Maßregeln zur Hand hat (nach der neuen Armeeorganisation hat sie sogar ein stehendes Heer von zirka 200 000 Mann), so wird ihr auch die ungeheure Majorität ihrer Beamten in einem solchen Konflikt treu bleiben, und so vice versa immer im Kreis herum, und die Steuerverweigerung würde zu nichts anderem dienen, als gerichtliche Verfolgungen über unsere tapfersten Mitbürger zu bringen, wie das alles 1848 der Fall gewesen ist.

Sie ersehen hieraus, meine Herren, daß eine Steuerverweigerung als solche nur ein wirksames Mittel ist in den Händen eines solchen Volkes, welches bereits die realen Machtmittel der organisierten Macht auf seiner Seite hat, eines solchen Volkes, welches bereits in der Festung ist; daß sie aber ein ganz unwirksames Mittel ist für ein solches Volk, welches erst eine bloß geschriebene Verfassung hat und die Festung der realen Machtmittel erst erobern will.

An der theoretischen Unklarheit hierüber ist die 48er Nationalversammlung untergegangen. Bei einem Volke, welches erst in jene Festung eindringen soll, hätte die Steuerverweigerung nur dann überhaupt einen Sinn, wenn sie dazu dienen sollte, einen allgemeinen Aufstand zu entflammen.

Aber hieran, meine Herren, an eine Insurrektion wird unter den jetzigen Umständen hoffentlich wohl niemand denken. Aus Gründen, deren Entwickelung Sie mir erlassen werden, wäre sie in der momentanen Situation eine völlige Unmöglichkeit.

Anders stand die Sache bei der Steuerverweigerung vom November 1848. Bei der damals bestehenden allgemeinen Aufregung hätte eine siegreiche Insurrektion sehr wohl erfolgen können, und die damals von der Nationalversammlung dekretierte Steuerverweigerung hätte dann allerdings einen verständigen Sinn gehabt, wenn die Nationalversammlung konsequent weitergegangen wäre und den nationalen Aufstand dekretiert hätte. Das wurde inzwischen, wie Sie wissen, durch den von Herrn v. Unruh erfundenen passiven Widerstand, traurigen Angedenkens, verhindert.

Heute aber, wo, ich wiederhole es, der Gedanke an einen Aufstand in der momentanen Situation vollständig sinnlos wäre, und ein solcher Versuch nur der Regierung den Sieg in die Hände spielen würde – heute würde auch jeder Gedanke an eine Steuerverweigerung durchaus zweckwidrig sein.

Mit der Steuerverweigerung also ist es nichts; mit dem Aufstand ist es momentan auch nichts. Was bleibt übrig? Sind wir wirklich wehr- und mittellos?

Nein, meine Herren! Die Kammer besitzt vielmehr ein Mittel von unwiderstehlicher Macht und Wirksamkeit, ein Mittel, welches den Widerstand der Regierung unbedingt überwinden muß.

Dieses Mittel, welches in der Formel, in der ich es jetzt vorschlagen werde, gerade um die Einfachheit dieser Formel willen, Ihnen zunächst vielleicht völlig unverständlich erscheinen wird, besteht einfach darin: Die Kammer muß aussprechen das, was ist! –

Um zu wissen, was das heißt, um die Tiefe kennen zu lernen, welche durch diese einfache Formel bedeckt wird, müssen wir auf die Frage zurückgehen:

Was ist der Scheinkonstitutionalismus und wie entsteht er?

Die Beantwortung dieser Frage aber ist es eben, welche Ihnen aus meinem letzten Vortrag vollkommen klar sein muß.

Ich zeigte Ihnen damals, wie, solange der Grundbesitz und die Agrikulturproduktion die hauptsächlichste Quelle des gesellschaftlichen Reichtums ist, und diese vorwiegende Macht sich tatsächlich in den Händen des grundbesitzenden Adels befindet, die Verfassung eine ständische und das Fürstentum ein sehr beschränktes sein muß. Ich zeigte Ihnen ferner, meine Deduktionen Schritt für Schritt an der Hand der Historie belegend, wie mit dem Steigen der Bevölkerung und dem damit verbundenen Überhandnehmen der industriellen, bürgerlichen Produktion eine Verschiebung der gegenseitigen Machtverhältnisse zugunsten des Fürstentums beginnt, so daß, wenn die industrielle, bürgerliche Produktion zur vorwiegenden Quelle des gesellschaftlichen Reichtums geworden ist, das absolute Fürsten- oder Königtum eintreten und der Adel zu einem machtlosen Zierat des Thrones zusammenschrumpfen muß.

Ich zeigte Ihnen endlich drittens, wie bei der immer weiter und bis ins Riesenhafte fortschreitenden Entwicklung der Industrie und der Gewerbe, wie bei dem dadurch bedingten, immer gewaltigeren Anwachsen der Bevölkerung endlich ein Punkt eintreten muß, wo das Fürstentum auch nicht durch das Mittel des stehenden Heeres an diesem Machtfortschritt des Bürgertums in irgend gleichem Verhältnis teilzunehmen vermag, wie jetzt das Bürgertum, sich fühlend als den wahren Inhaber der gesellschaftlichen Macht, dieselbe auch nach seinem Willen verwendet und geleitet zu sehen fordern, und wie also in einer Gesellschaft, deren reale Machtverhältnisse sich allmählich so sehr verändert haben, der 18. März 1848 eintreten muß.

Aber ich habe Ihnen in jenem Vortrag auch gezeigt, meine Herren, daß und warum mit der noch so sehr überwiegenden gesellschaftlichen Macht des Bürgertums und selbst mit dem siegreichen Durchbruch desselben vom 18. März 1848 der Kampf noch durchaus nicht zu Ende ist und sein kann. Ich zeigte Ihnen nämlich, wie die in den Händen des Bürgertums befindliche gesellschaftliche Übermacht, so groß sie sei, eine unorganisierte ist, die in den Händen der Regierung aber befindliche Macht, wenn auch eine um noch soviel geringere, eine organisierte ist, welche also diszipliniert und täglich parat steht, den Kampf wieder aufzunehmen, und wie deshalb, wenn das Bürgertum seinen siegreichen Durchbruch nicht sofort und schnell benutzt, um auch die organisierte Macht in seine Hände zu bringen, der Absolutismus notwendig den günstigen Augenblick finden muß, den Kampf siegreich wieder aufzunehmen, und dann die obwohl größere Macht des Bürgertums auf lange Zeit niederzuhalten.

Auch ist dies bei uns wirklich eingetreten, und Sie alle erinnern sich des Datums dieses Ereignisses: die Kontrerevolution vom November 1848. –

Was wird denn nun aber der Absolutismus tun, wenn er eine solche siegreiche Kontrerevolution gemacht hat?

Der Absolutismus will sich fortsetzen. Das ist wahr. Wird er sich aber deswegen in seiner alten Form, als nackter, unverhüllter Absolutismus fortsetzen wollen? Wird er die Verfassung kassieren und ohne jede Verfassung in der frühern absoluten Weise fortregieren? Gott behüte! So dumm ist er nicht! Der Absolutismus hat nämlich notwendig durch seine einmalige Niederlage, bei uns also durch den 18. März, die Einsicht erlangt, daß ihm die unorganisierte gesellschaftliche Macht des Bürgertums im Grunde bei weitem überlegen ist, daß er es zwar in einer günstigen Stunde durch die Diszipliniertheit der organisierten Macht momentan geschlagen hat, daß aber das Bürgertum nichtsdestoweniger nach wie vor die zwar unorganisierte aber immerhin gesellschaftliche Übermacht darstellt; daß also jede Stunde ein neuer Konflikt eintreten könne, bei welchem er, der Absolutismus, von neuem unterläge, und wenn dies Unterliegen dann besser benutzt wird, für immer unterlegen wäre!

Der Absolutismus hat, nachdem er sich einmal der gesellschaftlichen Übermacht des Bürgertums bewußt geworden ist, irgendeine dunkle Ahnung davon, daß, wie ein Mensch nur einen Menschen, ein Affe nur einen Affen, ein jedes Wesen also nur ein ihm gleiches und nach seinem Ebenbilde zeugen kann, so auch auf die Länge der Zeit unvermeidlich die unorganisierte in der Gesellschaft herrschende elementarische Macht die organisierte Macht – oder die Regierungsform – als ein ihr Gleiches und nach ihrem Ebenbilde erzeugt.

Der Absolutismus hat von allediesem eine mehr oder weniger unklare Ahnung, denn die Männer der Regierung sind, wie ich Ihnen sagte, praktische Männer und haben den Instinkt, worauf es ankommt. Das weiß schon ein altes überaus wahres Volkssprichwort, welches lautet: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand.

In der Tat, ein Amt erzeugt gewisse Einsichten in einem Menschen durch die Lage, in die es ihn bringt, wenn er diese Einsichten auch nicht hatte, ehe er in das Amt kam. Dies ist wahr und notwendig, wie wenig Ahnung auch die Schwätzer von dieser Notwendigkeit haben.

Der alte Diplomat Talleyrand hat schon gesagt: on peut tout faire avec les bayonnettes excepté s'y asseoir – »man kann alles machen mit den Bajonetten, nur nicht sich darauf setzen«. Sie wissen, warum, meine Herren. Die Bajonette würden einem in das Sitzfleisch dringen. Talleyrand wollte in dieser witzigen Form ausdrücken, daß man wohl momentan alles mit den Bajonetten durchsetzen, sie aber nicht zu einer soliden dauernden Unterlage machen könne.

Der Absolutismus also, wie ungebärdig er sich auch stelle, hat durchaus kein Wohlgefallen an der prekären Existenz, sich in einem ausgesprochenen und erklärten Widerspruch mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu befinden und daher jeden Augenblick zu riskieren, daß ihm diese wie eine Lawine auf die Brust fallen und ihn zerschmettern.

Er hat daher nur ein einziges Mittel, um sich möglichst lange fortzusetzen: den Scheinkonstitutionalismus.

Sie wissen, worin dieser besteht.

Der Absolutismus erläßt eine Verfassung, in welcher er die Rechte des Volkes und seiner Vertreter auf ein winziges und von keiner einzigen reellen Garantie gesichertes Minimum reduziert und durch welche er also von vornherein den Volksvertretern teils die Möglichkeit, teils die Lust benimmt, eine selbständige Stellung gegen ihn einzunehmen. Jeden Versuch der Abgeordneten, den Willen des Volkes gegen die Regierung zur Geltung zu bringen, brandmarkt er unter dem Namen: »parlamentarisches Regime« – als ob nicht in der Tat im parlamentarischen Regime und nur in ihm das Wesen einer jeden wahrhaft konstitutionellen Regierung bestände. Endlich behält er sich innerlich vor, falls dennoch einmal die Volksvertretung zu einem unabhängigen, mit dem Willen der Regierung nicht übereinstimmenden Votum sich entschließen sollte, dasselbe wie nicht ergangen zu betrachten, gleichwohl aber immer das äußere Schaugepränge konstitutioneller Formen ruhig beizubehalten.

Sowie der Absolutismus diesen Schritt getan hat, sich als Scheinkonstitutionalismus zu konstatieren, hat er einen großen Vorteil erreicht und seine Existenz auf unbestimmte Zeit verlängert.

Wenn der Absolutismus in seiner alten, unverhüllten Weise fortexistieren wollte, würde er nicht auf eine lange Lebensdauer rechnen können. Der ausgesprochene, anerkannte Widerspruch zwischen ihm und dem gesellschaftlichen Zustande würde seinen Sturz zur unausgesetzten, fortwährenden Parole der Gesellschaft machen.

Die ganze Gesellschaft würde, ohne das andre zu können, durch die Natur der Sache selbst, gleichsam nichts anderes als eine große Verschwörung zum Sturz ihrer Regierungsform sein. Eine solche Situation kann keine Regierung auf gar lange Zeit aushalten! Eine Regierung kann mit Erfolg in einem ihr günstigen Moment ihr Heer zusammenraffen und einen siegreichen Angriff, eine siegreiche Kontrerevolution vornehmen. Schwieriger schon ist ihre Stellung, wenn sie der angegriffene, in der Defensive befindliche Teil und das Volk der Angreifer ist. Der Vorteil bei dieser Art von Kämpfen ist nämlich im allgemeinen stets auf Seiten des Angreifers und zwar deshalb, weil er es ist, der sich den ihm günstigen Moment aussucht. Dies ist der Grund, weshalb in diesem Jahrhundert meistens die Staatsstreiche der Regierung geglückt sind, aber ebenso auch meistens die Revolutionen des Volkes.

Inzwischen kann eine Regierung auch noch den Angriff des Volkes, den sie für einen bestimmten Zeitraum, zum Beispiel innerhalb eines oder einiger Monate, zu erwarten hat, mit Erfolg abwehren. Was aber für eine Regierung von der äußersten Schwierigkeit ist, ist, ganze Zeitperioden hindurch beständig gerüstet und auf dem Kriegsfuß zu stehen, um einen Angriff, der sie vielleicht gerade im mißlichsten Momente, im Augenblicke größter sonstiger Verwickelungen treffen kann, abzuwehren. Eine solche Situation ist für die Regierung auf die Länge der Zeit unhaltbar und daher auch unannehmbar.

Sowie dagegen eine absolutistische Regierung sich mit dem leeren Schein konstitutioneller Formen umgeben hat und nun innerhalb derselben den alten Absolutismus fortsetzt, hat sie einen entschiedenen Vorteil davongetragen. Denn jetzt ist durch die scheinbar glücklich erlangte Gleichartigkeit zwischen der Regierungsform und dem in der Gesellschaft herrschenden Stand der letztere in den Schlaf gelullt und befriedigt. Das, was erreicht werden soll, scheint ein schon Erreichtes zu sein. Diese Täuschung beschwichtigt den Kampf, lähmt ihn und stumpft ihn ab, macht Massen des Volkes teils zufrieden, teils gleichgültig und indifferent. Von jetzt ab drängen im ganzen nur noch die unbewußt in der Gesellschaft wirkenden Kräfte, nicht mehr das eigene Bewußtsein dieser Gesellschaft auf den Umsturz der Regierung.

Der Scheinkonstitutionalismus ist also – es ist sehr wichtig, meine Herren, dies festzuhalten – durchaus nicht eine Errungenschaft des Volkes, sondern im Gegenteil nur eine Errungenschaft des Absolutismus und die erheblichste Verlängerung seiner Lebensdauer.

Der Scheinkonstitutionalismus besteht hiernach, wie Sie gesehen haben, darin, daß die Regierung das ausspricht, was nicht ist; daß sie den Staat für einen konstitutionellen erklärt, während er in der Tat ein absoluter ist; er besteht in der Lüge.

Dieser Lüge und ihrer Macht gegenüber besteht das absolute, das schlechthin siegreiche Mittel notwendig in der Aufdeckung dieser Lüge; es besteht einfach darin, daß dieser Schein zerstört, die Fortsetzung der betörenden Form unmöglich gemacht und hierdurch ihre irreführende Wirkung auf Krethi und Plethi abgeschnitten wird.

Es besteht darin, die Regierung zu zwingen, der Verhüllung zu entsagen und sich auch formell vor aller Welt als das zu zeigen, was sie ist; als absolute Regierung.

Die Kammer, sagte ich, muß, und dies ist das unbedingte Siegesmittel, aussprechen das, was ist.

Das heißt, die Kammer muß unmittelbar nach ihrem Zusammentritt einen Beschluß erlassen, den ich Ihnen, größerer Deutlichkeit halber, gleich beispielsweise formuliert vortragen will.

Die Kammer müßte also gleich nach ihrem Zusammentritt folgenden Beschluß erlassen:

»In Erwägung, daß die Kammer die Genehmigung der Ausgaben für die neue Militärreorganisation verweigert hat; in Erwägung, daß nichtsdestoweniger auch seit dem Tage dieses Beschlusses die Regierung eingestandenermaßen diese Ausgaben nach wie vor fortsetzt; in Erwägung, daß, solange dies geschieht, die preußische Verfassung, nach welcher keine von der Kammer verweigerten Ausgaben gemacht werden dürfen, eine Lüge ist; in Erwägung, daß es unter diesen Umständen und solange dieser Zustand dauert, der Vertreter des Volkes unwürdig sein und sogar eine direkte Teilnahme derselben an dem Verfassungsbruch der Regierung in sich einschließen würde, durch weiteres Forttagen und Fortbeschließen mit der Regierung derselben behilflich zu sein, den Schein eines verfassungsmäßigen Zustandes aufrechtzuhalten, – aus diesen Erwägungen beschließt die Kammer, ihre Sitzungen auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so lange auszusetzen, bis die Regierung den Nachweis antritt, daß die verweigerten Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden.«

Sowie die Kammer diesen Beschluß erläßt, ist die Regierung unbedingt besiegt. Die Gründe sind einfach und liegen in dem Vorigen.

Dieser Beschluß der Kammer liegt durchaus in den Grenzen ihrer Rechtsbefugnisse; es ist ihm weder mit Staatsanwalt noch Gerichten beizukommen.

Die Regierung hat also nur eine einfache Alternative. Entweder sie gibt nach, oder sie gibt nicht nach. Gibt sie nicht nach, so muß sie sich also entschließen, ohne Kammer als nackte absolute Regierung zu regieren. Die Regierung hätte zwar ein drittes Auskunftsmittel, die Kammer aufzulösen. Aber dieses verdient kaum der Erwähnung, so flüchtig vorübergerauscht wäre es. Denn die neuen Abgeordneten würden sofort mit derselben Parole gewählt werden. Die neue Kammer würde sofort dieselbe Erklärung abgeben.

Es bliebe also dabei, daß die Regierung sich entschließen müßte, entweder nachzugeben oder für ewige Zeiten ohne Kammer zu regieren.

Letzteres, meine Herren, kann sie schlechterdings nicht. Tausend Gründe können Ihnen dies beweisen.

Werfen Sie Ihren Blick auf Europa, meine Herren. Wo Sie hinsehen, überall, mit einziger Ausnahme Rußlands, das aber eben auch ganz andere gesellschaftliche Verhältnisse hat als die anderen Länder, Staaten mit konstitutionellen Formen! Selbst Napoleon hat der konstitutionellen Scheinform nicht entbehren können. Er hat sich eine Deputiertenkammer gegeben.

Diese allgemeine Übereinstimmung zeigt Ihnen bereits als bloßes Faktum, daß – wovon Ihnen meine Theorie den klaren Grund in den gesellschaftlichen Bevölkerungs- und Produktionsverhältnissen aufgezeigt hat – in den heutigen Verhältnissen der europäischen Staaten eine Notwendigkeit vorliegt, vermöge deren schlechterdings nicht mehr ohne konstitutionelle Form regiert werden kann.

Sehen Sie auf Österreich, welches den schlagendsten Beweis für das bildet, was ich Ihnen heut entwickelt habe. Nach der bewaffneten Kontrerevolution des Jahres 1849 wurde in Österreich die Verfassung kassiert. Nicht das man in Österreich schlimmer und kontrerevolutionärer gewesen wäre als bei uns! Durchaus nicht! Die österreichische Regierung war nur naiver, weniger ausgewitzt als die unsrige. Wenige Jahre genügten daher – und die österreichische Regierung stellte ganz von selbst, ohne jeden Aufstand, ohne jedes Andrängen von Seiten des Volkes, die konstitutionelle Form wieder her. Das Amt hatte der österreichischen Regierung den Verstand gegeben, einzusehen, daß sie ohne konstitutionelle Scheinform, daß sie als erklärte absolute Regierung die prekärste Existenz von der Welt haben und sehr bald in Stücke brechen müsse.

Sagen Sie sich hiernach, wie unmöglich es wäre, daß gerade Preußen, gerade Preußen allein in dem ganzen Europa, Preußen gerade bei seinem kräftigen Bürgerstand, ohne konstitutionelle Form existierte!

Bedenken Sie ferner, wie schwach die preußische Regierung nach außen, wie unmöglich und unhaltbar ihre auswärtige diplomatische Stellung wäre, wie sie sich bei jeder Verwickelung die übermütigsten und unerträglichsten Fußtritte von Seiten der anderen Regierungen gefallen lassen müßte, wenn sie in diesem offen erklärten und permanenten Widerspruch mit ihrem eigenen Volke stände und also ihre Schwäche vor niemandem mehr verbergen könnte. Daß keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, dies sei ein unpatriotisches Räsonnement. Einmal hat der Politiker wie der Naturforscher alles zu betrachten, was ist, und also alle wirkenden Kräfte in Erwägung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten untereinander, der Gegensatz, die Eifersucht, der Konflikt in den diplomatischen Beziehungen ist einmal eine wirkende Kraft, und gleichviel, ob gut oder schlimm, müßte sie hiernach schon unbedingt in Rechnung gezogen werden. Überdies aber, meine Herren, wie oft habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille meines Zimmers bei historischen Studien mir die große Wahrheit auf das genaueste zu vergegenwärtigen, daß fast gar nicht abzusehen wäre, auf welcher Stufe der Barbarei wir, und die Welt im allgemeinen, noch stehen würden, wenn nicht seit je die Eifersucht und der Gegensatz der Regierungen untereinander ein wirksames Mittel gewesen wäre, die Regierung zu Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, meine Herren, ist die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die Existenz der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine Herren, die Geschichte genau und mit innerem Verständnis betrachten, so werden Sie sehen, daß die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa vorleuchtende sind, daß an der Notwendigkeit und Unverwüstlichkeit unserer nationalen Existenz gar nicht gezweifelt werden kann. Geraten wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in demselben wohl unsere einzelnen Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische, zusammenbrechen, aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche derselben unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein ankommen kann – das deutsche Volk! Richten Sie ferner den Blick, meine Herren, von den auswärtigen Beziehungen auf die inneren Verhältnisse, auf die Finanzlage. Vor 20 Jahren, im Jahre 1841, im absoluten Staat, betrug der veröffentlichte preußische Etat 55 Millionen.

Jetzt für das Jahr 1863 betrug das Budget der Regierung nicht weniger als 144 Millionen. In nicht mehr als 20 Jahren hat sich das Budget, hat sich die Steuerlast verdreifacht.

Eine Regierung, die ein solches Budget aufbringen muß, eine Regierung, die so dasteht, unablässig mit der Hand in jedermanns Tasche, muß auch mindestens den Schein annehmen, jedermanns Zustimmung dabei zu haben.

Wenn für die alten, einfachen, patriarchalisch beschränkten Verhältnisse, wenn für ein Budget von 55 Millionen, von welchen noch über ein Fünftel durch den Domänenertrag geliefert wurde, der patriarchalische Absolutismus genügte, so kann ein Budget von 144 Millionen in Preußen nicht mehr auf die Dauer durch einen einfachen Regierungsukas beigetrieben werden.

Vor allem aber, meine Herren, werfen Sie das Auge auf die oben aus unserer Theorie entwickelten Sätze, von welchen die soeben betrachteten Umstände nur einzelne reale Folgen sind, und wonach die Regierung sich unmöglich in den unverschleierten und offen zugestandenen Widerspruch mit dem gesellschaftlichen Zustand begeben kann. Wollte die Regierung dies dennoch tun, regierte sie in absoluter Weise ohne Kammern fort, – nun, so würde durch dieses von der Kammer ausgegangene Aussprechen dessen, was ist, durch den von der Regierung offen akzeptierten Absolutismus die Illusion getötet, der Schleier fortgerissen, die Unklaren zur Erkenntnis gebracht, die für feinere Unterschiede Indifferenten erbittert, die gesamte Bourgeoisie wäre von Stund an in den latenten, unausgesetzt wühlenden Kampf gegen die Regierung gerissen, die gesamte Gesellschaft wäre eine organisierte Verschwörung gegen sie, und die Regierung hätte von diesem Augenblick an nichts anderes mehr zu tun, als Astrologie zu treiben, um die bestimmte Stunde ihres Untergangs am Sternenhimmel zu lesen.

Dies ist die Macht des Aussprechens dessen, was ist. Es ist das gewaltigste politische Mittel! Fichte konstatiert in seinen Werken, daß »das Aussprechen dessen, was ist« ein Lieblingsmittel des alten Napoleon gewesen, und in der Tat hat er ihm einen großen Teil seiner Erfolge verdankt.

Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen was ist, und beginnt damit.

Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.

In der Tat, meine Herren, könnte und müßte ich fast hier schwere politische Anklagen erheben, wenn ich sie nicht der Einigkeit zuliebe, soweit es irgend möglich ist, lieber unterdrücken wollte. Jahrelang haben in der letzten Zeit seit und mit der neuen Ära – Führer der Volkspartei in der Presse – Sie würden auch, wenn ich die Rücksicht soweit triebe, keinen Namen zu nennen, doch wissen, daß ich die sogenannte »Volkszeitung« meine – ein System befolgt, welches geradezu in nichts anderem bestand, als in dem Aussprechen dessen, was nicht ist! Sie gingen von der Ansicht aus, man müsse vertuschen, verheimlichen und bemänteln; man müsse – meinten sie – der Regierung so lange einreden, daß sie eine konstitutionelle sei, bis sie wirklich selbst daran glaube! Sie wollten also die Regierung umlügen. Aber alle reellen Erfolge im Leben wie in der Geschichte lassen sich nur erzielen durch reelles Umarbeiten und Umackern, nie durch Umlügen! Diese Geistesärmsten sahen nicht, daß sie, ohne es zu wollen, Regierungsmenschen geworden waren, in bezug auf ihr Mittel sowohl, wie in bezug auf die Wirkung desselben. In bezug auf ihr Mittel, denn dieses war genau dasselbe, was wir als das Mittel des sich in Scheinkonstitutionalismus verhüllenden Absolutismus kennengelernt haben – das Aussprechen dessen, was nicht ist. In bezug auf die Wirkung dasselbe – denn diese Geistesärmsten sahen nicht, daß sie, um der Regierung in ihren Blättern vorzulügen, daß sie konstitutionell sei, dieselbe Lüge täglich dem Volke vorpredigen und ihr so endlich bei ihm wirklichen Eingang verschaffen mußten. Diese Geistesärmsten sahen nicht, daß sie ferner die Regierung durch diese Lüge nur ermutigen, fast selber staunend über den Kredit und den Nimbus, den man ihr bereitete, über die Aureole einer »Neuen Ära«, die man ihr aufs Haupt drückte, Schritt für Schritt auf der ihr so leichtgemachten Bahn des Scheinkonstitutionalismus weiterzugehen und sich endlich bis zu den Militärforderungen zu entwickeln. Diese Geistesärmsten, welche täglich in ihren Leitartikeln gegen Unsittlichkeit predigen, sahen nicht, daß die Lüge ein tief unsittliches Mittel ist, welches im politischen Kampfe wohl einer macchiavellistischen Regierungskunst, niemals aber dem Volke zugute kommen kann.

Diese Geistesärmsten sind es, welche einen sehr großen Teil der Verantwortlichkeit dafür tragen, daß die Dinge so kamen, wie sie gekommen sind.

Sie waren es, welche unter dem Ausruf: »Ehrenmänner! Die Minister sind Ehrenmänner! Vertrauen den Ministern!« in ihren Leitartikeln die Kammern dazu trieben, dem scheinkonstitutionellen Ministerium Schwerin-Patow die provisorischen Geldforderungen für die Armeereorganisation zu bewilligen, die damals viel leichter zu verweigern waren. Sie waren es, die somit die Schuld tragen, daß, was ohne die provisorische Geldbewilligung unmöglich war, die Armeereorganisation überhaupt eingeführt werden konnte und daß wir jetzt an diesem schweren Konflikte stehen.

Friede, meine Herren, der Vergangenheit!

Aber um so unerbittlicher, um so eifersüchtiger lassen Sie uns in dem schweren Kampfe der Gegenwart darauf halten, daß nicht wiederum durch eine Politik verlogener Bemäntelung das Volk um sein Recht betrogen werde.

Ich habe Ihnen das Mittel entwickelt, welches den unbedingten und sichern Sieg des Volkes nach sich ziehen muß. Wirken Sie dafür. Es soll eine Wechselwirkung bestehen zwischen den Abgeordneten und der öffentlichen Meinung. Erheben Sie dies Mittel, das wir gefunden haben, zur Agitationsparole. Verbreiten Sie dieselbe, streiten Sie für dieselbe in dem gesamten Kreise Ihrer Bekannten, an öffentlichen und Privatorten, im ganzen Bereiche Ihres Einflusses: Betrachten Sie jeden als einen, sei es bewußten, sei es unbewußten, Gegner der guten Sache, der dieses Mittel nicht ergreifen will.

Das entwickelte Mittel ist das einzige, welches die Kammer hat. Welches andere Mittel hätte sie? Es wäre, wie auf der Hand liegt, die kläglichste und absurdeste Illusion, wenn die Kammer glaubte, dadurch, daß sie forttagt und fortfährt, andere, etwa alle Forderungen des Ministeriums zu verweigern, dieses zwingen zu können. Wenn man die erste unbestritten verfassungsmäßige Weigerung der Kammer mit Füßen tritt und darüber hinweggeht, als existierte sie nicht, wie ist es möglich, daß die zweite oder dritte oder vierte Verweigerung der Kammer eine größere Wirkung hätte? Vielmehr würde man sich nur gewöhnen, unbequeme Beschlüsse der Kammern wie nicht ergangen zu betrachten. Regierung wie Volk würden sich daran gewöhnen. Die süße Gewohnheit der Verachtung der Kammerbeschlüsse, würde sich festsetzen und beim Volke – und zwar mit Recht fast in noch höherem Grade als bei der Regierung. Eine Kammer, die einwilligte, wenn man ihre verfassungsmäßigen Beschlüsse mit Füßen tritt, weiter zu raten und zu taten mit der Regierung, ihr Rolle fortzuspielen in dieser Komödie des Scheinkonstitutionalismus, würde dadurch der schlimmste Komplize der Regierung sein. Denn sie würde eben dadurch der Regierung ermöglichen, unter dem fortdauernden Scheine der konstitutionellen Form die konstitutionellen Rechte des Volkes zu vernichten. Die Kammer wäre dann aber noch viel strafbarer als die Regierung. Denn viel strafbarer noch als mein Gegner ist der eigene Vertreter meiner Rechte, wenn er meine Rechte verrät.

Noch schlimmer womöglich wäre es, wenn die Kammer sich in dieser Frage auf einen sogenannten Kompromiß, wie zum Beispiel den der zweijährigen Dienstzeit, einlassen wollte. Besonders dagegen, meine Herren, erheben Sie laut Ihre Stimme: Es gibt überhaupt keinen Kompromiß in dieser Frage. Würde zum Beispiel von der Regierung der Kompromiß der zweijährigen Dienstzeit angeboten und die Kammer ginge hierauf ein, so wäre um eines zwar an sich nicht unwichtigen, aber im Verhältnis zur ganzen Frage doch nur überaus unbedeutenden Punktes willen das Interesse des Landes preisgegeben und verraten. Denn wenn die Armeeorganisation mit der Beschränkung auf zweijährige Dienstzeit angenommen würde, so wäre immerhin die Landwehr – das ganze erste Aufgebot, welches die wirkliche Wehrkraft des Landes bildet – forteskamotiert, sie wäre zur Kriegsreserve gezogen, unter Linienoffiziere gestellt. Wir hätten keine Landwehr mehr. Neben dieser Kapitalfrage aber, ob das Land seine Landwehr behalten soll oder nicht, schwindet die andere Frage, ob der Dienstpflichtige 2 oder 3 Jahre zu dienen hat und ebenso die Kostenfrage in ein Nichts zusammen.

Aber endlich sogar die Landwehrfrage kommt jetzt nur in zweiter Linie in Betracht.

Was durch den Verlauf, den die Sache genommen, jetzt in erster Linie steht, das ist die konstitutionelle Grundfrage: Ist die Regierung gezwungen, Ausgaben einzustellen, deren Genehmigung von der Kammer verweigert ist? Die Regierung hat trotz dieser verweigerten Genehmigung, als existierte dieselbe gar nicht, die Ausgaben fortzusetzen erklärt. Wenn in dieser Lage der Sache die Kammer sich zu irgendeinem Kompromiß herbeiließe, wie zu dem der zweijährigen Dienstzeit, so wäre das nicht mehr ein Kompromiß, ein Vergleich; es wäre ein gänzliches Preisgeben des öffentlichen Rechts. Es würde dann die Bismarcksche staatsrechtliche Praxis glücklich Platz gegriffen haben, welche lautet: Wenn die Regierung sich in einem Konflikt mit dem verfassungsmäßigen Recht der Kammern befindet, so müssen diese nachgeben. Dies wäre es, was durch diesen Präzedenzfall festgestellt wäre.

Betrachten Sie daher jeden geradezu als einen bewußten, oder als einen unbewußten und dann noch viel gefährlichern Feind der guten Sache, der hier von einem Kompromiß spricht.

Unser Mittel, meine Herren, ist aber auch jedenfalls unschädlich. Es kann nichts verderben, denn das wird jeder von Ihnen einsehen: Ist die Regierung so fest zum Absolutismus entschlossen, daß sie sogar, falls die Kammer jene obige Erklärung erläßt, nicht nachgibt und ohne Kammer in unverhüllt absoluter Form weiter regiert – nun, dann würde die Kammer auch ebensowenig und noch viel weniger durch nachgiebiges Forttagen mit der Regierung dieselbe von dem absolutistischen Scheinkonstitutionalismus herunterdrängen und zu einem Eingehen auf wahrhaften Konstitutionalismus bewegen können; sie würde der Regierung nur das Mittel geben, die Komödie des Scheinkonstitutionalismus fortzuspielen. Diese ist aber noch weit verderblicher als der offene Absolutismus. Denn sie verwirrt die Volksintelligenz und depraviert wie jedes auf Lüge beruhende Regierungssystem, die Sittlichkeit des Volkes.

Das Mittel ist also auch in jedem Falle für das Land unschädlich. Es ist selbst ungefährlich für die Abgeordneten, und es gehört nur Klarheit und Energie, aber kein großer Mut dazu, sich dazu zu entschließen. Das einzige Opfer, welches es den Abgeordneten auferlegt, ist: schlimmstenfalls auf einige Zeit der Wichtigkeit einer offiziellen Stellung zu entsagen!

Das Mittel ist endlich, wie ich Ihnen früher gezeigt, schlechterdings notwendig und in allen Fällen siegreich. Eben deshalb ist anzunehmen, daß die Regierung, wenn es angewendet wird, von selbst vor demselben zurückweicht.

Vielleicht aber – und dies wäre gar sehr zu Ihrem Vorteil, meine Herren, – vielleicht gibt sie nicht augenblicklich nach, sondern bleibt einige Zeit hartnäckig, ohne Kammern fortregierend.

Es wäre dies gar sehr zu Ihrem Vorteil, sage ich. Denn umso mehr demütigt sich dann die Regierung vor der Majestät des Volkes, wenn sie später umzukehren sich gezwungen sieht. Umso mehr erkennt sie dann die gesellschaftliche Macht des Bürgertums als die ihr überlegene Macht an, wenn sie erst später umkehrend, sich vor Volk und Kammer beugen muß. Dann werden Sie, meine Herren, in der Lage sein, Ihrerseits und siegreich Ihre Bedingungen zu stellen. Dann werden Sie in der Lage sein, das parlamentarische Regiment, ohne welches nur Scheinkonstitutionalismus bestehen kann, zu fordern und durchzusetzen. Dann also kein Versöhnungsdusel, meine Herren. Sie haben jetzt hinreichende Erfahrungen gesammelt, um zu sehen, was der alte Absolutismus ist. Dann also kein neuer Kompromiß mit ihm, sondern: den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust!


 << zurück weiter >>