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Kinderjahre im Schwäbischen Land

Die Lang'schen Vorfahren. – Ausplünderung eines derselben durch Fürst Ullrich von Oettingen. – Der Großvater Johannes Lang. – Erste Erinnerungen. – Geachtete Stellung des Vaters. – Teuerung. – Aufnahme im Hause des Oheims. – Am Hoflager des Fürsten von Wallerstein. – In Trochtelfingen. – Die Freileute. – Landwirtschaftliche Aufgaben und allerlei Streiche. – Die Lektüre im Haus des Oheims. – Einiges von den Bauern. – Religionsunterricht. – Privatstunden bei einem Vettern.

 

Ich bin geboren den 7. Juli 1764 zu Balgheim, einem Dorfe zwei Stunden über Nördlingen, auf der Straße nach Donauwörth, in der Landschaft des sogenannten Rießes ( Rhaetia), einer der schönsten und gesegnetsten von Schwaben, in der auch, ungeachtet ihrer doppelten Begrenzung durch Franken und Baiern, ein reiner schwäbischer Geist mit echter schwäbischer Sprache herrschte.

Die Gegend gehörte zu dem Fürstentum der ausgestorbenen evangelischen Fürsten von Öttingen zu Öttingen, das alsbald von der katholischen Linie der Grafen von Öttingen zu Wallerstein in Besitz genommen wurde; jedoch lange Zeit, bis auf erfolgten Vergleich, unter Widerspruch der gräflichen Linie von Spielberg, jetzt das fürstliche Haus Öttingen-Spielberg genannt.

Mein Vater, Konstantin Lang, geboren 1732, war Pfarrer des Ortes Balgheim, mein Großvater, Johann Lang, Kammerdirektor des Grafen von Wallerstein über seine ergriffenen Ötting-Öttingen fürstlich und Wallersteinisch gräflichen Lande, wohnhaft zu Öttingen, geboren im Jahre 1696 und von mir persönlich noch wohl gekannt; so nahe können sich Menschen fast aus drei Jahrhunderten her die Hände bieten! – Meine Mutter, namens Sophie, war die Tochter des württembergischen Oberamtmannes Buttersack zu Weiltingen, aus einem von Mömpelgard heraus versetzten Geschlecht, das seinen schwäbisch-verkehrten Namen wahrscheinlich von der französischen Stadt Podensac erhalten. –

Auf einer stattlichen Schweinehetze begab es sich einst, daß mein Urgroßvater, der Jäger Johann Konrad Lang, sich bei seinem fürstlichen Gebieter zu Rorbach heftig darüber beklagte, daß er unter allen seinen sonst rüstigen Buben leider einen einzigen (meinen Großvater Johann) habe, der zu allem ganz und gar unbrauchbar sei. Nicht einmal zum Haferschneiden wiss' er sich anzuschicken, viel weniger eine Sau oder einen Hirsch zu fangen, worauf dann der Bescheid des Fürsten war: »Wißt Ihr was? Laßt den Kerl Lateinisch lernen: so will ich ihn zu einem Schreiber machen.« Unerachtet des vermeintlichen früheren Ungeschickes brachte es gleichwohl dieser Herr Johannes Lang verhältnismäßig in wenigen Jahren zum Beamten der adeligen Güter Polsingen und Obermögersheim, und endlich, mit Beibehaltung dieser Ämter, zum Geschäftsmann und Vertrauten des Grafen Karl Anton von Wallerstein in demjenigen Augenblick, wo er 1731 Besitz von dem angefallenen Fürstentum Öttingen-Öttingen nahm.

Sterbend im Jahre 1744 hinterließ derselbe einen einzigen Sohn, den jungen Grafen Maximilian Ignaz, unter Vormundschaft seiner Mutter, einer geborenen Gräfin Fugger, die mit Beirat ihrer Ötting-Öttinger Räte, und besonders auch des Herrn Johannes Lang, gegen den Bruder des Verstorbenen, den Grafen Philipp Karl, ein Erstgeburtsrecht durchsetzen wollte, während die Wallersteinschen Räte, nicht nur wankend in ihrer Ansicht, sondern sich vielmehr offenbar hinneigend zur Partei des rüstigen Oheims, die Sache des jungen Grafen gänzlich aufzugeben im Begriff standen.

Der Tod des jungen Grafen machte dem Streit ein Ende, und jedermann hielt bei dem Grafen Philipp Karl, als dem nun unstreitig alleinigen Regenten, den ihm widerwärtig gewesenen Herrn Johannes Lang für verloren. Zwar begab auch er sich mit den anderen Räten zur Huldigung des neuen Herrn in die Burg, aber er wurde von dem Grafen nicht eines Blicks gewürdigt, nicht zur Huldigung aufgerufen, und als man sich hierauf unter Vorsitz des Grafen zu den Beratungen niederließ, ihm ebensowenig ein Stuhl geboten, so daß er sich schweigend hinter den Armsessel des Grafen zog. Eine Stunde und mehr gingen also vorüber, bis sich der Graf plötzlich erhob, und sich rasch gegen Herrn Johannes Lang umwendete mit den Worten: »Was steht Er hier? – Warum will Er mir nicht schwören? – Glaubt Er nicht, daß ich die Treue gegen Seinen alten Herrn zu schätzen wisse?« – und in demselben Augenblicke stellte er ihn den erstaunten Räten als den neuen Direktor der beiden Kammern zu Öttingen und zu Wallerstein vor. – Herr Johannes Lang, voll des Schreckens, seine Herren Vettern und Gevattern in solcher Art zu überspringen, wandte alle Beredsamkeit an, sich diese Auszeichnung zu verbitten, selbst bei der Tafel noch drückte er sich auf den untersten Platz, und fuhr denselben Abend, gleichsam flüchtend, nach seinem Wohnsitz in Öttingen zurück. Allein am folgenden Tage schon stieg ein schwerbewaffneter Reiter vor seiner Tür ab, kam mit klirrenden Sporen die Treppe heran und übergab mit aufstampfendem Fuß das schriftliche Dekret, überschrieben: »An meinen Kammerdirektor Johannes Lang, er mag wollen oder nicht:« und dazu ein französisches Brieflein des Grafen: A Monsieur Lang, Directeur de ma chambre, bon gré ou malgré lui.

Ursachen, lieber nicht zu wollen, waren freilich in des Herrn Johannes Lang eigenem Hause zu finden gewesen, in dem Schicksal seines Schwiegervaters, meines Urgroßvaters Georg Balthasar Greiner, der mit Aufopferung seiner markgräflich-ansbachischen Dienste in Berolzheim, nach Öttingen als fürstlicher Steuersekretarius und Rentmeister gezogen war. Die verschwenderischen und geldarmen Herren der damaligen Zeit suchten immer geflissentlich wohlhabende Männer an das Ruder ihrer Geschäfte zu bringen, dieselben gleichsam wie Hofjuden für ihren persönlichen Kredit zu benützen, am Ende den ausgedrückten Schwamm hinwegzuwerfen und eine andere Henne auf die Brut zu setzen.

So erging denn auch an Herrn Balthasar Greiner folgender Befehl:

Von Gottes Gnaden, Wir Ullrich Ernst Fürst von Öttingen zu Öttingen (und das und das und so weiter).

Lieber, Getreuer! Nachdem Unsere Fürstliche Gemahlin Durchlaucht eine Reise ins Bad nach Pirmont vorzunehmen gnädigst beschlossen haben, hiezu aber noch ein Reisegeldzuschuß von 500 Dukaten in Gold unumgänglich erforderlich ist, also befehlen Wir dir in Gnaden, besagte Summe aus deiner Amtskasse, in Ermangelung deren aber aus eigenen Mitteln, binnen 24 Stunden, bei Vermeidung der Exekution, herbeizuschaffen.

Der erschrockene Rentmeister säumte nicht, angesichts dessen mit schweißtriefender Stirne seinen Gegenbericht zu machen, daß gestern noch der getreue Knecht 150 Gulden aus seinem eigenen Säckel in die Hofküche gesendet, um nur den gewöhnlichen Markteinkauf nicht einstellen zu müssen, und daß aus seiner Amtskasse zu einem Geld für die fürstliche Badelust gar keine Aussicht sei. In eiligster Kabinettsexpedition erfolgte hierauf der Bescheid:

Wir usw.

Lieber, Getreuer! Nachdem Wir aus deinem untertänigsten Bericht de dato hesterno et praesentato hodierno in Gnaden ersehen haben, daß Pars prima Rescripti nostri nicht in Anwendung zu bringen, also hat es bei Parte secunda desselben sein unausbleibliches Bewenden.

Das heißt, die 500 Dukaten mußten auf eigenen Kredit des Rentmeisters herbeigeschafft werden, und so ging es in der Regel, wenn der damalige Hofjude Rothschild unmittelbar vom Fürsten auf seine Kasse gestellte Wechsel vorzeigte, die Herr Balthasar Greiner als Rentmeister akzeptieren mußte. Und kam es dann zur Wechselklage, so bestanden immer Partiales und Inpartiales, daß nicht der Durchlauchtigste Aussteller, sondern der treugehorsamste Akzeptant zu pfänden sei. So stand endlich der geplagte Mann nach vieljährigem Geflick, hilflosen Zu- und Abrechnungen, während ihm oft auch mehrere Jahre hin nicht einmal seine eigene Besoldung blieb, in der verzweifelten Lage, dem Fürsten seine völlige Entkräftung und das große persönliche Guthaben an ihn vorzustellen, ein Guthaben, das wir, als seine Nachkommen, später auf mehr als 27 000 Gulden, ohne laufende Zinsen, berechneten. Der Fürst, den aus dem ganzen Vortrag wohl nichts weiter schmerzte, als die Gewißheit, daß es nun mit allen weiteren Vorschüssen an Se. Durchlaucht ein Ende sei, entließ ihn auf seinem Schloß zu Aufkirchen mit dem Bescheid: »Geht nur immerhin nach Haus, es soll eine Resolution nachfolgen, mit der Ihr zufrieden seid«; und diese kam auch auf dem Fuße nach, also und dergestalt:

Wir usw.

Nachdem Wir Uns in Gnaden entschlossen haben, sowohl bei Unserm Zivil- und Militäretat eine Reduktion vorzunehmen, worunter auch Ihr begriffen seid; also wollen wir Euch solches in Gnaden unverhalten usw. –

Und damit Lied ein Ende! Die Erben produzierten die ausgestellten Hypotheken auf zwei fürstliche Ämter, Öttingen und Kirchheim, sie erhielten kaiserliche Exekutionsmandate, aber der Erfolg war kein anderer, als daß sie hundert Jahre lang mit lauter leeren Liquidationen eine auf die andere herumgetrieben wurden. Endlich verglich ich mich im Jahre 1813 namens sämtlicher Mitinteressenten mit der jetzigen Wallersteinischen Regierung auf die Summe von 3000 Gulden, und verhandelte, weil ich auch da dem Landfrieden nicht recht traute, das ganze um 2400 Gulden bar an den Hofjuden Pfeiffer zu Weikersheim.

Bei seinem neuen Herrn in Wallerstein fand jedoch Herr Johannes Lang eine ziemliche Neigung zu einer besseren Wirtschaft. Die Diener, wenn auch nicht alle die klügsten, waren in der Regel doch alle ehrlich, bescheiden, zufrieden. Kleine Geschenke zu nehmen, hielt man nicht für sträflich. Der Bauer gab sie gern und lieber, als jetzt die großen Sporteln, für die er nicht einmal mehr ein freundliches Gesicht erhält. Die Kinder der Diener, männlichen und weiblichen Geschlechts, konnten fest auf eine fortschreitende erbliche Versorgung rechnen, dafür ward aber auch ihnen männiglich ein unverwüstlicher Respekt für alles, was fürstlich und gräflich hieß, eingeprägt.

Der Ton im Hause des Herrn Johannes Lang war eigentlich ein altfranzösischer. Kein Tag ermangelte der regelmäßigen Früh- und Abendbesuche; jeder Morgengruß wurde mit Leckereien und Likören, jeder Abendgruß mit einem Glas Wein empfangen, kein Fremder ohne Nötigung zum Tisch entlassen. Öffentliche Gesellschaftshäuser für die höheren Klassen gab es nicht. Alle Abende sammelten sich beim Haupt der Familie die zerstreuten Glieder derselben und die vertrauten Freunde. Außerdem stand das Haus jedem Bekannten offen, aber ohne ängstliches Zusammenladen und Zusammentreiben. Tabak, Bier, deutsche Karten – kamen nicht an den Tag. Der Anzug hatte eine gewisse butzliche Zierlichkeit; nicht leicht wagte einer in Stiefeln und Überrock zu erscheinen. Zum Tanz gelangte man nur bei festlichen Hochzeiten, oder wenn reisende Tanzmeister unter den Augen der Hausmütter für eine aus Bäslein und Vetterlein zusammengestoppelte junge Welt ihre Lehrstunden eröffneten. Der gewöhnliche Ort des Empfangs, der Versammlungen und Unterhaltung war das geräumige, mit Porträts wohlverzierte Zimmer der Hausfrau; der übrige ängstliche Hausjammer mit Waschen, Plätten, Nähen hatte sich in die Gesinde- und Kinderstuben gezogen. So führte Herr Johannes Lang sein öffentliches und häusliches Leben über zwanzig Jahre lang in stiller geregelter Ordnung fort, als ihm eines Morgens, plötzlich beim Erwachen alle Erinnerung der ihm sonst geläufigen deutschen und französischen Sprache entfallen war, so daß er sich den Genossen des Hauses von nun an in lauter unbekannten Tonen zu verständigen suchte. Alle Kenntnis der Buchstaben war ihm mit einemmal entfallen, und ihm durchaus nichts mehr beizubringen: so auch der Zahlen, des Geldes. Nur noch den deutschen Schmerzensruf »Hundsfötter« wußte er manchmal glücklich hervorzubringen. Dabei blieb ihm aber die Kenntnis seiner Freunde, alle und jede Erinnerung, die sich nicht auf bloße Zeichen, die Buchstaben, bezog; mit Anteil und Verstand hörte er allen Erzählungen und Vorlesungen in beiden Sprachen zu. Nach mannigfaltigen vergeblichen Beratungen wendete man sich endlich an den berühmten Arzt Tissot in Lausanne, der diese Krankheit auch in seinen Werken umständlich beschrieben, aber ohne weiteren günstigen Erfolg, als daß wir vernahmen, man könne die Krankheit mit einem recht passenden Namen »Sprachamnesie« benennen. Derselbe Unfall, fast ganz mit den nämlichen Umständen, hat auch, wie ich später in Raderi Bavaria pia S. 147 gefunden, den berühmten Jesuiten Theodoricus Canisius betroffen, als er den Tod seines Bruders Peter Canisius vernommen. Canisius hatte von da an noch sieben Jahre, mein Großvater aber nur noch vier zu leben. Er starb den 6. Januar 1773 zu Wallerstein; bei Spöckbuger ist sein Lebenslauf gedruckt erschienen. –

Ich lag noch in der Wiege, als mein Vater von der Pfarrei Balgheim im Herbst 1764 eine Stunde weiter nach Mönchs-Deggingen befördert wurde. Eine freundliche Wohnung, an einen Berg gelehnt, mit einer weiten Aussicht in das herrliche Rieß, am Abhang des Bergs liebliche Vogelbeerbäume, deren rote Früchte das Kinderauge entzückten. Hinter dem Haus Garten und Laubwald, und gegenüber, noch etwas höher gelegen, das Benediktinerkloster Mönchs-Deggingen, boten gewiß für die früheste Entwicklung eines jungen Geschöpfes das günstigste Äußere dar. Der erste Strahl meines einzelnen Bewußtseins reicht wohl hinauf bis in mein zweites Jahr, wo ich mich erinnere, auf dem Arm des Kindermädchens aufs heftigste gegen das Herabtragen von der steinernen Treppe ins Dorf hinunter mich gesträubt zu haben, und dann etwa ein Jahr später, wo alles ängstlich von den Fenstern aus einen fernen Brand betrachtete, ich aber ungestört das vergoldete Spielzeug meines Schlittens mit vermeintlicher hoher Kunst umher in der Stube lenkte; der Begriff eines Brandes blieb mir aber lange nachher noch fremd, und ich konnte mich nicht genug verwundern, sogenannte arme abgebrannte Leute, wenn sie milde Gaben einsammelten, so gesund und frisch umherwandeln zu sehen. Ein dritter Standpunkt meiner Erinnerung ist, wie ich ob der Leckerei von ausgesetztem Mäusegift erwischt, mit Heulen und Wehklagen des ganzen Hauses überfallen, und von dem herbeigerufenen Arzt mit warmer Milch, mir zum höchsten Ekel, übertränkt worden bin, während ich nicht enträtseln konnte, was denn der ganze geschäftige Jammer bedeuten sollte, der auch glücklicherweise ohne weitere Folgen blieb. Da mein älterer Bruder, Ludwig, für mich schon zu groß und wild, mein nachältester, Christian, aber bei den Großeltern in Öttingen war, so blieb mir kein tauglicher Spielgenosse, und ich beschäftigte mich meistenteils allein mit Kieselsteinen, mit der Katze, mit Anschauung eines aus Ton gebildeten, prächtig rotschnabligen Pelikans auf dem Ofen, und mit dem vielfachen Rot der an der Wand hängenden bunten Bilder. Es bedurfte aber auch nicht einmal dieser kunstreichen Stücke. An der bloßen weißgetünchten Bühne schwebte für mich und über mir eine zahllose kleine Welt von Mäuschen, Kätzchen, Engeln, Affen und Bärengesichtern, und erst unter dem Birnbäume liegend und in die Wolken geschaut, welch eilende Züge von Riesen, Teufeln, Reitern und ganzen Schlössern flogen da vorüber, daß ich weinen mußte, wenn Knecht oder Magd auf hartnäckigem Leugnen bestanden, daß so etwas nirgendwo zu sehen sei. Als Knabe von vier Jahren hatte ich bereits von meiner Mutter das Lesen erlernt, eine Sache, die mir an sich sehr langweilig und albern vorkam, wozu ich mich aber doch durch die schönen Bilder des ABC-Buchs locken ließ. Beim Buchstaben St war ein Stadttor gemalt, und ich konnte das Ende der Buchstabierübung kaum erwarten, um nur in einen Winkel zu eilen, und stundenlang zu betrachten, wer alles zu diesem gemalten Tor hinein- und herausginge. Daß es da an passierenden Menschen und Tieren, Wagen und Reitern nicht fehlte, damit kam meine Einbildung dem kahlen Maler sehr zu statten.

Alle Wochen brachte mir der Nördlinger Bote um ein paar Pfennige ein mit Hasen, Pferden, Hirschen, Uhu und Geiern bemaltes Blatt, und diese Freude ließ sich nur dadurch steigern, daß mir erlaubt war, mit verbesserndem Pinsel den Hasenschwanz und den Gaul zinnoberrot zu übermalen. Ein gewisses stolzes Vergnügen empfand ich, wenn mich mein Vater an der Hand mit auf einen seiner Spaziergänge führte, aber es wurden dabei viele Künste versucht, um es so zu lenken, daß der Gang seine Richtung auf den fernen Trupp weidender Schäflein oder einen von Klapprosen oder Kornblumen blinkenden Acker nahm. Auch in die Kirche nahm er mich zuweilen mit, doch wär' mir darinnen die Weile immer etwas lang geworden, hätten mich nicht, außer der Orgel, auch noch die Spatzen und Schwalben ergötzt, die schwirrend in der Kirche hin und her über den Kopf meines Vaters flogen.

Mein Vater, ein Mann von mittlerer Größe, hager, schwarz von Haaren, geboren den 5. April 1733 zu Obermögersheim im Fürstentum Ansbach, war für die Geschäfte der Feldwirtschaft ebenso verwahrlost, wie weiland Herr Johannes Lang als Knabe in Morbach; aber sonst ein Tausendkünstler im Zeichnen, im Papierausschneiden, im Nachbilden aller Tiere aus Ton oder Brot, welches ich ihm als Kind schon und bloß mit den Augen abgelernt; dazu war er ein sehr guter Lateiner, in Jena gebildet, ein Hebräer, Syrer, Chaldäer, und ein gründlicher Mathematiker. Diese Eigenschaften machten ihn im Kloster sehr beliebt, wo er den jungen Mönchen nachholenden Unterricht in den orientalischen Sprachen und der Mathematik gab, die Bibliothek musterte, für gute Ausgaben von Kirchenvätern sorgte, und sonst viele seiner Nachmittage beim Abt, oder in der allgemeinen Gesellschaft des Refektoriums zubrachte. Mir selbst, wenn ich ihn zuweilen begleiten durfte, wollten der Mönche kalte Gesichter, die sonderbare Kleidung, die niedergesenkten Augen, die gedämpfte Stimme, die leisen Schritte nicht zusagen, auch nicht in der Klosterkirche die Lichter bei Tag, die goldenen und silbernen Zieraten und die Bilder mit verzücktem Antlitz und grausenvollen Martern, wohl aber die roten, die blauen und die gelben Fahnen, und im Klostergarten auf langem Beete die dichte Saat von Pfingstnelken, aus denen mir immer mein reichlicher Strauß zuteil wurde. Den Mönchen war das freundschaftliche Leben mit meinem Vater auch noch darum sehr angenehm, weil es ihnen zugleich Gelegenheit gab, außerhalb des Klosters ein anständiges Haus zu besuchen, wo sie meine Mutter, ihrem ganzen Wesen und Bilde nach eine echte Französin, die als Hausfrau gern eine Gesellschaft um sich sammelte, ungezwungen und gastfrei empfing. Doch hatte sie zuweilen ihre Launen, wo sie die zur Kühlung an die Fenster gestellten heißen Kuchen schleunigst hereinzunehmen befahl, damit sie ihr, von den Klosterfenstern aus gesehen, heute keine ungelegenen Besucher zuzögen.

Selbst die Synagoge des Orts besuchte mein Vater an manchen Abenden, wo ihm die Vorsteher ehrenhalber ihre Psalmen und heiligen Bücher entgegenbrachten, aus denen er zu ihrer Freude das treffende Pensum des Tages in hebräischer Sprache laut vorlas. – Bei so vielen Mitteln, die Freundschaft seiner Nebenmenschen zu verdienen, verzieh man ihm die aufwallenden Heftigkeiten seines Gemütes und sein kühnes Anrennen gegen alles, was ihm Bosheit oder Dummheit schien. Auf das Ermahnen ängstlicher Vettern und Gevattern schwieg er eine Zeitlang bei vorkommenden Gelegenheiten ganz und gar, machte aber, sich selbst unbewußt, dabei solche drohende und verwegene Gesichter, daß man ihn bat, er möchte von nun an nur wieder sprechen, weil der Ausdruck seiner stummen Mienen noch zehnmal gefährlicher erscheine.

Einem solchen stillen Glücke fehlte nichts, als die Dauer. Plötzlich auf einer übermäßigen Anstrengung eines fernen Ganges von einem hitzigen Fieber ergriffen, fiel mein Vater in wenig Tagen als eine Beute des Todes am 19. Mai 1770 in seinem 38. Jahre, mit Hinterlassung sieben lebendiger Kinder, davon ich das dritte war, und eines noch ungeborenen, jetzt meines noch einzig übrigen Bruders, des fürstlich von Taxisschen Hofchirurgen Konstantin Lang in Regensburg. Auch von meinem Vater gibt es einen gedruckten Lebenslauf, Öttingen 1770, bei dessen Anzeige Ernesti in seiner neuesten theologischen Bibliothek, II, 271, des Verstorbenen als eines Mannes von bestem Geschmack erwähnt, »dessen Gelehrsamkeit einem Professor der Theologie und dem vornehmsten Superintendenten hätte Ehre machen können, und der das Muster gegeben, wie es anzufangen sei, auch als bloßer Landpfarrer noch recht gelehrt zu werden.«

Das mir hier zum erstenmal erschienene Bild des menschlichen Todes ließ mich ohne allen Eindruck. Ich sah die letzten schnellen Atemzüge eines weitgeöffneten Mundes, die feierliche Segnung eines Nahestehenden, das Händeringen der andern, und mischte in ihr Wehklagen und Schluchzen auch mein ängstliches Weinen, aber die Bedeutung des Ganzen blieb mir fremd. Selbst die Art, wie man einen Menschen in den Sarg legte, ins Grab versenkte und mit Erde überschüttete, fiel mir nicht auf. Ich als Kind, dessen Phantasie neben sich und über sich alles Leblose lebendig und zu seinem Mitgespielen machte, ich kannte keinen Tod; und da man mir in der gewohnten Kindersprache sagte, der Vater sei verreist, er sei jetzt dort oben im Himmel, so ließ ich's auch ganz ruhig dabei bewenden, und sah nur zuweilen nach ihm unter den Wolken.

Der gesetzmäßige Nachsitz Das Recht der Witwe, noch eine bestimmte Zeit im Genuß der Gebührnisse, Amtswohnung usw. ihres Mannes zu verbleiben. Hrsg. meiner Mutter fiel gerade in die unglückselige Teuerung der siebziger Jahre. Man mußte jetzt das eigene Leid vergessen, um für die Scharen der Armen, welche das Haus gleichsam bestürmten, das täglich in Menge gebackene Brot auszuteilen. Das Kloster und die eigene Guttätigkeit unseres Hauses zog die Leute meilenweit herbei. Meine Mutter, die schon in ihren glücklichen Zeiten die Freigebigkeit und Gutmütigkeit etwas leidenschaftlich übte, fand einen eigenen Trost für ihre Lage darin, ihrer Wohltätigkeit gar keine Grenzen mehr zu setzen. Zu den Hungrigen kamen nun auch noch Kranke und Kreißende, und verlangten eingelassen zu werden. Ich erinnere mich, häufig beinahe ganz Nackte gesehen zu haben. Im Kloster ging es noch ärger zu, und wenn dort die Mütter für ihre auf diesen Jammerfahrten neugeborenen Schmerzenskinder Speise und zugleich die Taufe verlangten, so schickten die Mönche zu meiner Mutter, der Protestantin, heraus, daß sie doch kommen und den armen Bettlern Pate sein möchte. Einige von diesen ihren saubern Paten, die schon das eiserne Schicksal zum Gaunerleben bestimmte, wurden später in Baiern aufgehängt.

Um meine Mutter, die nach geendigtem Nachsitz in die Stadt Öttingen zog, zu erleichtern, wurden ihr der älteste Sohn, Ludwig, von meinem Großvater in Weiltingen, zwei Geschwister, der schon genannte Christian und meine Schwester Magdalene, von meinen Großeltern in Öttingen abgenommen – ich aber, und zwar über dieses Herausreißen aus meiner alten Umgebung sehr verstimmt, an meinen Taufpaten und Oheim, Herrn Georg Heinrich Lang, Pfarrer zu Bühl, abgeliefert. Dieser jüngste Bruder meines Vaters, nachher in der theologischen Literatur nicht unbekannt, zuletzt mecklenburgischer Titularkirchenrat und Hofprediger der protestantischen Prinzessin von Taxis, war ein lebensmunterer Mann, mit schönem gesellschaftlichem Talente in Musik und Sang, gewandt in Spöttereien und Witzworten, ein vorzüglicher Redner, etwas eitel, gutherzig und höfisch. Mit dieser Verpflanzung in einen neuen Boden fing erst ein recht zusammenhängendes Bewußtsein meiner selbst und eine gewisse Selbständigkeit an, die ich unter väterlichen oder mütterlichen Händen wahrscheinlich viel später, vielleicht in der Art gar nie würde erhalten haben. Mein erster Eintritt im Hause zu Bühl geschah mit einer Art Mißbehagen, die alsbald in Widerwillen überging, als die erste Aufgabe war, hinter dem von einer Kindermagd geführten Wägelein des Sohnes Wilhelm herzugehen und das Fuhrwerk nachzuschieben: der erste Dienst, den ich einem anderen Geschöpf habe leisten müssen. Doch gewann ich bald wieder meine frische Munterkeit. Dieser Sohn Wilhelm war ein sehr leidendes und verkrüppeltes Kind, aber dabei über sein Alter klug und stark im Gemüt. Da ich nun bald bemerkte, welche freundliche Gesichter der Mutter, und welch belohnende Auszeichnungen und Gaben mir zuteil wurden, wenn Mosje Wilhelm mit mir auf gutem Fuße stand, und der heimkehrenden Mutter freudig die Kurzweil rühmte, die ihm durch mich zuteil geworden, so wurde von mir ein wirkliches Studium daraus, alle Tage einen neuen Spaß in abenteuerlichen Erzählungen, verwegenen Knabenkünsten, Gestaltungen aus Brot, Karten und Papier, Nachäffung von Menschen und von Tieren, und possierlichen Auslegungen oder närrischen Darstellungen der vielfach vorhandenen Bilderbücher zu machen. Ein gewisser teilnehmender Sinn für Kranke, und eigene Politik, sie zu behandeln, ist mir auch zeitlebens geblieben. –

Zum Lernen wurde ich übrigens soviel wie ganz und gar nicht angehalten. Man wollte dem Mosje Wilhelm die Freude nicht verderben, wenigstens in diesem Punkte einiges vor mir voraus zu haben, was ich ihm doch in kurzer Zeit immer wieder abgelauert habe. Zu meiner Wissenschaft des Lesens hatte ich nun auch – ich erinnere mich aber nicht, unter wessen Anleitung – die Kunst einiger Schriftkratzung gefügt; doch gedenke ich noch der vergeblichen Mühe, die ich mir einmal gab, das Wort Katechismus schreibend zusammenzusetzen, dafür ich schlechterdings nichts anderes, als Kati, kiti, keti herauszubringen wußte. Oft gehörte es aber auch zu meinen Schauspielkünsten, mich gegen Mosje Wilhelm ungeschickter zu stellen, als es vielleicht der Fall war.

Es währte aber nicht lange, als sich die Szene für mich neuerdings dadurch veränderte, daß mein Oheim und Pflegevater, Herr Georg Heinrich Lang, im Jahre 1771 nach Hohenaltheim kam: hoch auf einem Berg die weit ins Land sehende Kirche, am Fuß das Sommerschloß, die Gärten und Marställe des Fürsten von Wallerstein, dessen großer Hofstaat, das Militär, die Musiker und die verheirateten Diener die meisten wohnbaren Häuser des Dorfs besetzt hatten, und wo sich auch für beständig ein adeliges Wöllwarthisches und Schottisches Haus, ein Schloßverwalter und Hofgärtner, ein Apotheker, ein Forstmeister, ein Revierförster befanden. Wie starrten meine Augen die Läufer mit silberbefranzten Schürzen, die Mohren, die riesenmäßigen Hunde an, wie rannten wir, wenn ein Ruf verkündete: der Fürst! der Fürst! sei zu sehen, ein großer Mann in meinen Augen schon deswegen, weil er meiner Meinung nach so schöne Spielsachen hatte; dann in den Gärten die Aloen, die so großen Disteln, die Pomeranzen, (wie ich glaubte, bittere Äpfel,) die gestutzten Alleen, der Hofnarr in Stein gehauen! Die Tochter des Hofgärtners, ein gebildetes, aber schon alterndes Mädchen, beschenkte mich mit Obst, mit Figuren von Porzellan, lehrte mich Rosen, Nelken, Stieglitze zeichnen. Im Zimmer pfiffen allzumal Gimpel, Star, Drossel und Fink; und in der Ecke standen die Spazierstöcke des Kunstgärtners – Himmel! mit welcherlei Köpfen von Pferden, Hunden, Mohren, Türken! In der Bildergalerie, die in der Mitte des Gartens war und immer offenstand, beschaute ich die Apostel und Patriarchen in ihren massivgoldenen Heiligscheinen, Löwen, Bären, lachende und weinende Gesichter, daraus ich mir neuen Stoff zu Verkleidungen und Fratzen für Mosje Wilhelm sammelte. Nichts aber, was ich seitdem jemals in der Welt gesehen, hat den Eindruck auf mich gemacht, als an dem Tage, wo der Fürst seine neue Gemahlin, eine Prinzeß Taxis, heimführte (4. September 1774), der in allen seinen Bogengängen, Lauben und Gebäuden mit flimmernden Lampen erleuchtete Garten – mir eine Zaubergrotte, ein Wald von lauter Christbäumen – und dann hinter dem aufgezogenen Vorhang des Marionettentheaters diese mir unbegreifliche Puppenwelt mit ihrem seltsamen Hüpfen, ihren Sprüngen, Boxen und Bücklingen. Von der Rede selbst faßte ich im Übermaß meines Erstaunens nichts auf.

Dem Mosje Wilhelm, der alles dies wenig selbst mitansehen konnte, wurde ich durch meine gelieferten Schilderungen nur noch unentbehrlicher, jedoch zog ich mir vielen Verdruß dadurch zu, daß ich von seinen vielen Singvögeln, die er hatte, und die ich füttern mußte, von einer Zeit zur anderen wieder einen armen Teufel herausfliegen ließ; und doch hatte ich bei dieser frühzeitigen Liberalität den Unfall, daß mir ein armer Fink verdurstete, den ich ein paar Tage hintereinander übersah. Ich möchte mir heute noch darüber Ohrfeigen geben.

Den ganzen Tag fehlte es nicht an Morgen-, Mittag- und Abendbesuchen; am Sonntag nach der Kirche waren es ordentliche Assembleen von Beamten, Geistlichen, Forstleuten, die in der Absicht kamen, sich später bei Hof sehen zu lassen. Mein Oheim selbst wurde häufig zur Tafel geladen, und fand sich dann durch einige freundliche Worte des Fürsten sehr beglückt.

Mich dabei etwas schärfer in Zucht und Lehre zu nehmen, ergab sich wenig Zeit und Gelegenheit, jedoch wurden mir noch ein paar Hausämter aufgeladen: als Gartenverwalter die Blumen zu begießen, die Beete auszugrasen, die Wege zu bahnen, die Raupen vom Kohl zu lesen, Bohnen und Zuckererbsen anzubinden, und dann, als Gouverneur des Taubenhauses, für ordentliche Sperre und Fütterung zu sorgen. Als solcher verwünschte ich alle Gäste, die ich im Verdacht hatte, daß sie allenfalls Appetit zu meinen Tauben hätten. Im außerordentlichen Dienst wurde ich auch mit Erbsen- und Linsenklauben, und in der Spinnstube mit Haspeln und Spulen beschäftigt. – Ungefähr um diese Zeit hätte vielleicht der Zufall über mein ganzes Leben anders beschlossen, wenn man nicht gezaudert hätte, ihn zu ergreifen. Meine Mutter, die als Tochter eines württembergischen Beamten den Versuch machte, bei dem Herzog Karl eine kleine Pension zu erjagen, wurde damit in Gnaden abgewiesen, jedoch unter der Hand bedeutet, daß der Herzog wohl geneigt sein würde, mich in sein Lieblingsinstitut, die Akademie, unentgeltlich aufzunehmen. Weil aber die Zöglinge exerzieren und Uniform tragen mußten, so hielt die Befangenheit meiner Verwandten so etwas für ein verstecktes Soldaten- und Werberwesen, gegen dessen damaligen Zwang die Schwaben überhaupt einen großen Widerwillen hegten. Ich zweifle auch selbst, ob die Art dieser Erziehung mir freudig zugesagt hätte, vermutlich wäre ich wegen meines natürlichen Talents im Formen und Bossieren zu einer Künstlerwerkstätte abgegeben worden, aus der ich am Ende wohl auch nicht ohne Namen hervorgetreten sein würde.

Da ich mich als Gesellschafter von Mosje Wilhelm so sehr hervorgetan, so zog mir dieses nun auf alle Wochen ein paarmal die schmeichelhafteste Einladung zu, im Hause des ersten Ritters, des Reichsfreiherrn von Wöllwarth, Erb- und Majoratsherrn von Fachsenfeld usw., dessen einzigem Sohn und Stammhalter Spielgesellschaft zu leisten.

Es war dieser ein schwächliches dummes Püppchen, aus dem alles Feuer und Leben hinausgeblasen schien, in verbrämter Kleidung und mit einem stolzen Federhut. Er hatte einen trefflichen Hofmeister, namens Kramer, nachmals Hofkammerrat des Fürsten, der mit besonderer Vorliebe auch an mir zuweilen schnitzelte. Das Bewußtsein, wie wenig ich noch selbst gelernt, machte mir den Anblick eines fremden Hofmeisters immer etwas schauerlich und dabei zu einem Gegenstand des Neides. Der junge Baron sprach am liebsten mit mir von seinem Reich Fachsenfeld, von den Schirmhaltern seines Stammbaumes, vom Anteil, den das Haus Wöllwarth am Mond hätte, davon es wenigstens ein hohles Stück im Wappen führte, und dann von des Schulmeisters Bärbelchen. Als die gnädige Frau Großmama mit Erstaunen bemerkte, daß ich beim Spielen im Hof ihrem hochadeligen Großsohn zur rechten Hand gestanden, und ihm auf der Treppe sogar vorausgelaufen, wurde ich sehr heftig von derselben ausgefizt, und auf die geziemende Submission gegen adelige Knaben verwiesen. Das Schicksal hat aber doch gewollt, daß ich die usurpierte rechte Hand auch in der Folge über den Herrn Baron habe behaupten können. Er selbst fragte mich, warum sich denn mein Großvater nicht hätte adeln lassen? Ich antwortete – der Himmel weiß, nach welcher kindischen Fiktion, vielleicht weil ich etwas vom persönlichen und Dienstadel gehört – er hätte es getan, aber nur auf die Hälfte. Das habe er dumm gemacht, meinte der Herr Baron, und mir selbst fing's auch an ärgerlich zu werden, daß er nicht auch noch die vermeintliche andere Hälfte daran gewendet, welche mich in Besitz eines Federhutes und eines Hofmeisters versetzt haben würde.

Es war Zeit, daß ein neues Ereignis eine Veränderung in unserem Haus hervorbrachte, sonst möchte mich vielleicht dieses fortwährende Begaffen eines leichtfüßigen Hofwesens verkümmert haben. Es starb der Superintendent Schöner zu Trochtelfingen, Schwiegervater meines Herrn Oheims, und so sehr sich dieser auch in den Strahlen der Hohenaltheimer Hofsonne gefiel, so hatte doch die stattliche Pfründe mit ihrer Art von bischöflichem Inful für einen jungen lebenslustigen Mann auch wieder ihren großen Reiz. Der Bewerbung bei solchen Verhältnissen fehlte es nicht an Erfolg. Unser Aufzug geschah im Jahre 1774. Da befand ich mich also wieder auf einem neuen Fleck des wunderbarlichen Schwabenlandes, etwa vier Stunden vom alten Wohnsitz entlegen, aber gleichsam wieder in einer Insel von anderer Sitte, Sprechart und menschlicher Sippe. Das lange, lange Dorf mit zwei Kirchen, wohl an ein Dutzend Wirtshäusern, und einer Bevölkerung von 1000 Seelen, lag schon über das sogenannte Rieß hinaus, im Anfang des Härtsfeldes, das sich in immer weiterer Erhöhung an die württembergische rauhe Alb hinzog, und gehörte zu dem Wallersteinischen Landesanteil, der jetzt unter Württembergischer Hoheit steht. Im 14. Jahrhundert hauste hier und zu Ederheim die reiche schwäbische Familie von Emershofen. Durch Verkauf des Orts an die Grafen von Öttingen im Jahre 1372 und durch neue Vergebungen und Belehnungen derselben an die Herren von Ellrichshausen, Zipplingen, Gussingen, Haussen, Herkheim, entstanden eine Menge neuer Nebenschlösser, welche bei den vielfach erfolgten neuen Veränderungen und Teilungen am Ende meistens von den Bauern selber ausgekauft wurden; doch blieben bis zur neuesten Zeit noch zwei alte Sitze, das untere Schlößlein, in welchem der Wallersteinische Forstmeister wohnte, und das obere, welches dem Bader Storch gehörte, wie er behauptete, einem Abkömmling der anderen Dorfjunker, vielleicht der Herkheimer, wie er denn auch noch in der Kirche seinen ausgezeichneten Ehrenstand mit dem Storche als Wappen hatte. Das Dorf, welches durch die Verbannung seiner Junker seinen Zustand auf keinen Fall verschlimmerte, gewann noch dazu eine eigene republikanische Gestaltung. Die ganze Dorfpolizei und Gemeindeverwaltung lag in den Fünfern, das ist fünf Gemeindemännern, welche die alten fünf Schloßbesitzer vorstellten, und denen der Fürst von Wallerstein ein Jahr ums andere, durch seinen Forstmeister im unteren Schloß, und den Bader im oberen, als Sechser vorstand. Alle Jahr ging die neue Wahl der Fünfer vor einer eigenen fürstlichen Regierungskommission, nach abgehaltenem förmlichen Gottesdienst, vor sich, dem zuletzt ein stattliches Mahl folgte. Ein solcher Ort, worüber keinem anderen eine Dorfherrschaft zukam, und der durch seine selbstgewählten Verwalter das Gemeindewesen und alle kleinen Rügen besorgte, dabei alle und jede Hantierung nebst der abgabefreien Brauerei unzünftig treiben konnte, hieß ein Freidorf. Die Fünfer versammelten sich teils vorberatend bei ihrem Sechser, teils alle Sonntage in ihrem Häuschen auf dem Kirchhof, und je nachdem hierbei Sachen vorkamen, forderte der Gemeindeflurer beim Ende des Gottesdienstes auch die herausgehenden anderen Gemeindemänner auf, im Umkreis stehenzubleiben, mit dem lauten Ruf: »Wer zur Gemeinde gehört, der bleibe stah'n.« (Der uralte Umstand.)

Leider gehörte zu dieser Gewerbsfreiheit auch der freie Bettel, welcher freilich nicht von den meist wohlhabenden Inwohnern selbst, aber von den angrenzenden, meist katholischen und höchst armseligen Dörfern auf eine unglaubliche Art betrieben wurde, besonders von dem nächstliegenden Ort Flochberg, über dem sich die stattlichen Ruinen einer alten Grafenburg erhoben. In den Hütten des sogenannten Dorfes, und in den Ruinen selbst, die man daher mit Sicherheit ohne größere Gesellschaft nicht besteigen konnte, hauste eine Überzahl von lauter Schindern oder sogenannten Freileuten; in ganzen Rotten, die Mütter mit der Wiege auf dem Rücken, der Vater mit mehreren an sich gelockten Hunden am Strick, die Mädchen meistens blühende und gesunde Gestalten mit dem Strickstrumpf im Arm, andere große Buben mit Hausrat und Dingen auf dem Karren und im Schnappsack, denen es durchaus an den Ursprungszeugnissen ermangelte, dazu noch mit Dudelsack, Pfeifen und Geigen behangen, zogen sie die Landschaft auf und ab. Trotzig pochten sie an Fenster und Tore: »Unserer sind so viele Köpfe, gebt uns hiernach Brot, Eier, Schmalz.« Hinter der nächsten Hecke wurde Lager gemacht, Hunde und Menschen tanzten am Ende bei der Fiedel und Sackpfeife: man schlief im Mondenschein, oder forderte den Bauern hervor, daß er seine Scheunen öffne. Dafür war es wohlgetan, seine Häuser desto befestigter zu halten. Vor allen Fenstern hatten wir eiserne Gitter, Querbalken vor Türen und Läden.

Die schönsten, wunderbarsten Berggestalten lagen vor mir, aber ich durfte es nicht wagen, ohne eine mannhafte Begleitung meine romantischen Spaziergänge weit über die Dorfflur in jene Gegenden hin zu richten, sie hätten sonst nicht sowohl meine kleine Habe, als mich selbst gestohlen. Denn sie standen in großem Verdacht, daß sie gesunde und wohlgebildete Kinder für entferntere andere Banden, oder als überseeische Handelsware entführten. Meiner Mutter selbst ist wenigstens einer meiner jüngeren Brüder plötzlich und auf immer entkommen, nicht ohne Argwohn, daß er unter den Händen dieser fürchterlichen Menschen zugrunde gegangen. Es ereignete sich ein paarmal, daß sie in der Karwoche mit großen Zügen herbeikamen, um in der zum großen Unglück auch noch als Wallfahrt berühmten Flochberger Kirche dem Pater ihre Sünden zu beichten, und ihn dann nach erhaltener Absolution in den Osterfeiertagen rein auszuplündern. Alles dieses hat sich unstreitig jetzt durch Abschaffung der Wallfahrt, durch Herstellung einer guten Landstraße, durch zweckmäßige Bettel- und Vagantengesetze, vorzüglich aber durch Kultivierung der wilden Schloßberggebäude und Wälder und ihre Verleihung an die Inwohner glücklich geändert, so daß eine Gegend, die zu meiner Zeit eine Räuberhöhle war, dem Wanderer jetzt als ein lieblicher Park mit lauter netten und freundlichen Häusern erscheint.

Aber auch manche Sitten in unserem Dorfe selbst trugen noch Spuren an sich von einer früheren Zeit der Faustgewalt. Die Braut wurde in der Mitte von zwei handfesten Burschen, mit breiten Sarassen bewaffnet, zum Altar geschleppt, und war sie aus einem fremden Dorf, von einem Trupp rasender Reiter abgeholt, vom ersten Ankommenden, den sie mit einer bänderreich verzierten Henne schon unter der Haustür erwartete, ergriffen, aufs Pferd geworfen, und so in sausendem Galopp, unter ängstlichem Flattern der bebänderten Henne, vor das Haus des Bräutigams gebracht, der nicht immer das Glück hatte, auf diese Art seine Braut selbst heimzuführen.

An diese Bilder einer leider nicht bloß romantischen Räuberei hefteten sich auch mannigfaltige, in dem Dorf einheimische Sagen von wunderbaren großen Schlangen, die mit dem Bauer friedlich unter einem Dache gewohnt, mit den Kindern aus einem Topf Milch gesogen, Kronen auf dem Haupt getragen, sie im Spiel mit den Kindern zur Seite gelegt und frommen Mütterchen Schätze verraten.

Außerdem gehörte zur beliebtesten Unterhaltung der Jäger die Geschichte von Hans Däumling, dem kleinen Bauernknaben, den sein Vater, wenn er zur Arbeit fuhr, ins Ohr seines Ackergaules gesetzt, von welchem Standpunkt aus er seine mannigfaltigen Schwänke und Abenteuer gespielt. Auch ward es damals noch vergönnt, tanzende Bären und Kamele mit rotwamsigen Affen auf ihren Höckern zu schauen.

Die als sehr fett ausgeschrieene geistliche Pfründe zu Trochtelfingen begründete sich auf eine weitläufige Feldwirtschaft, durch freiwillige oder herkömmliche Dienstleistungen der Bauern betrieben, nebst bedeutenden Gülten Naturalabgaben. Hrsg. und Zehnten. Herr Georg Heinrich Lang verstand aber von der Landwirtschaft nicht nur gar nichts, sondern noch weniger als nichts; desto mehr hingegen die auf dem Haus erzogene Frau Lang, die mich hierbei zu ihrem Lehrling und Gehilfen erkieste. Als solcher hatte ich alle Abende mit ihr die erforderlichen Fuhren und Handdienste für den anderen Tag zu ermessen und dann im Dorf zu bestellen, in aller Frühe nachzuschauen, ob jeder zur Stelle sei, die Saatgetreide abzugeben, das Korn auf den Böden abmessen zu lassen, die Äcker auszuzehnten, die Dreschregister zu führen. Ich ließ auch aus natürlicher Neugierde und Geschäftigkeit keine Feldarbeit unversucht, wurde aber übrigens, vielleicht ob meines zu weit getriebenen Diensteifers und der Begierde, der Frau Muhme es ja überall nach dem Willen zu tun, von dem Dienstvolk nicht selten als ein rothaariger Sakerment, meinen Ohren wohl vernehmlich, verwünscht.

Allerdings habe ich mir vorzuwerfen, begreife auch nicht, wie ich dazugekommen, daß ich mir, besonders gegen solche, denen ich nicht wohlgewollt, manchmal recht geflissentliche und freventliche Lügen erlaubt. Zu meiner Entschuldigung möchte ich freilich anführen, daß wohl alle Kinder, ihrer feurigen Einbildungskraft sich hingebend, gern etwas lügen. Nachdem ich's indessen bei ein paar Fällen ein wenig zu arg gemacht, und bei der Konfrontation sehr schlecht bestanden, so wurde stracks, und im Angesicht der Beleidigten, eine strenge Disziplin mit mir vorgenommen, welches mich für die Zukunft zu einer mehr prosaischen Anschauung der Dinge brachte. Im Gegenteil fiel ich bald darauf in einen entgegengesetzten Fehler, nämlich daß ich die Sünden des Dienstvolks, besonders des weiblichen, wenn sie mir schmeichelten, vertuschte.

Natürlich konnte ich so meine Zeit nicht mehr dem Mosje Wilhelm widmen, der sich auch mit eigener Lektüre, Musik und Zeichnen beschäftigte, und dem ich in meiner Jugendkraft zu wild, ja sogar, nach dem natürlichen Laufe der Dinge, ein Gegenstand der Eifersucht ward; und da ich auch eine alte Hausbase und Beschließerin, die Jungfer Dorothea Schöner, ob ihrer keifenden und polternden Allerweltsgeschäftigkeit, wobei sie mich gewöhnlich tyrannisierte, in einer Knabenposse, betitelt: »Das Tischdecken«, lächerlich gemacht, so wurde ich nun ein Stichblatt von täglichen Angebereien und Beschuldigungen. Allen Unfug, allen Schaden, der sich im Hause entdeckte, hatte ohne weiteres ich, der Karl, getan. Weil sich aber mein Herr Oheim zu häuslichen Angelegenheiten auf seiner Studierstube nicht leicht hergab, so benutzte man zu der Anklage die Zeit des Mittags- oder Abendmahls, während man mich unter einem hinterlistigen Vorwande hinausschickte. Der Erfolg, ohne Zulassung irgend einer Verteidigung, äußerte sich dann gewöhnlich durch zorniges Hinwegschaffen vom Tisch, oder durch das Versprechen, daß der Herr Oheim, sintemal er sich beim Essen selbst nicht erzürnen wolle, mich dafür nach Tisch recht ordentlich durchpeitschen werde, welches aber nicht ein einzigesmal zugetroffen, teils weil es wohl nicht immer ernst war, ich aber andernteils in solchen Fällen mich in meine Schlafkammer mit abgelassenem Schloß und vorgeschobenen Riegeln und Balken so lange verrammelte, bis meine Frau Muhme, die meiner nicht entraten konnte, durch die vorteilhaftesten Kapitulationen und Absolutionen und nachgeholten ausgesuchten Mittagsrationen mich wieder zur Übergabe bewegte. Doch dadurch, und weil man mich öfters auch zum Strafessen beim Gesinde verurteilte, oder mit angedrohten Schlägen zum Hinunterwürgen von Speisen zwingen wollte, die mir ein für allemal und auch jetzt noch widerstehen, wurde mir der Akt des Mittagsmahls überhaupt so zuwider, daß ich mich oft lange Zeit unter mancherlei Vorwänden davon abstahl, und auf meine eigene Faust von dicker Milch, Obst, Eiern, die mir die Bäuerinnen schenkten, und von Spatzen lebte, die ich auf dem Kornboden mit der Pelzkappe fing und mir in der Küche als Braten zurichtete.

Von Geld wußte ich keinen Gebrauch zu machen, und ließ die mir an Neujahrs-, Geburtstags- und anderen Gelegenheiten geschenkten Schatzgelder auf Tisch und Bänken sogleich liegen und verkommen. Vieles Herzeleid verursachten mir auch die Zeichenstunden, die ein alter zitternder Zeichenmeister dem Mosje Wilhelm gab, und denen ich mit beiwohnen mußte. Statt Häuser, Vögel, Bäume, wie ich vorher schon versucht, mußte ich jetzt Tag für Tag nichts als Nasen, Mäuler, Ohren, Füße und Fußstümmel mit einem daumdicken Kreuzerbleistift auf ein Packpapier hinschmieren, die dann der Meister ohne alle Ausbesserung und Nachhilfe in der Regel mit einem Kreuzstrich wieder vernichtete und verdammte, dagegen die Arbeiten des Mosje Wilhelm mit seinem Rötel gänzlich zu kunstgerechten Gestalten umänderte, womit dann dem Maler der mütterliche Dank in Erbsen, Linsen und Krautköpfen nicht ausblieb.

Mit desto größerer Leidenschaft griff ich dagegen an den Regentagen, wo es auf dem Felde nichts zu besorgen gab, und den ganzen Winter hindurch nach allen und jeden mir nur immer lesbaren Büchern, wobei mir aus der Bibliothek des Mosje Wilhelm das Elementarwerk von Basedow, der Kinderfreund, Raffs Geographie und Naturgeschichte usw. sehr zu statten kamen, ja ich suchte zuweilen, ohne alle Kenntnis der Grammatik, mit Hilfe eines bloßen Lexikons, Feuer aus den Kieselsteinen lateinischer Bücher herauszuschlagen, stoppelte mir einen Sinn aus einzeln erhaschten Worten zusammen, konnte mich aber nicht genug über das vermeintlich schlechte Wörterbuch beschweren, in welchem natürlich die wenigsten Worte, so wie sie dastanden, zu finden gewesen. Ich las mit unendlichem Vergnügen alle ins Deutsche übersetzten Werke der Madame Beaumont, die Fabeln von Lafontaine, von Gellert, – und konnte mich bei der Treuherzigkeit, womit besonders der erstere erzählte, schwer davon abwendig machen lassen, daß nicht die Steine, die Hunde, die Störche wirklich sollten gesprochen haben, so daß ich oft lange in den Stallwinkeln lauschte, um auch etwas zu erschnappen; die Bibel, das Epos des alten und das Lehrgedicht des Neuen Testaments, die biblischen Geschichten mit Bildern, Arndts wahres Christentum, Auszüge aus dem Talmud und Alkoran. Ich las ferner das Kabinett der Feen, wie die Tausend und eine Nacht, die Vorübungen von Müller, die Bremer Nachrichten, die alten unschuldigen Nachrichten von Tenzel, und dazu auch noch die Berliner Bibliothek. Nur mit Brockes' irdischem Vergnügen in Gott, das mir mein Herr Oheim schenkte, vermochte ich nicht durchzukommen. Das Rechnen lernte ich für mich selbst aus einem Handbuche; ja sogar aus dem Durchstöbern der Kirchenregistratur kriegte ich in etwas die Amtssprache weg, und setzte den Bauern, die mich höflichst bitten ließen, Kaufbriefe, Heiratsbriefe und letzte Willen auf, so daß die Gerichte selbst lange nicht wußten, was für ein Winkeladvokat doch im Dorf versteckt sein möge.

Während der Winterabende wurden vom Oheim im Kreise der Familie laut vorgelesen die Schriften von Lavater, Claudius, Stilling, Niemeyer, der Don Quixote, die Brüder Gerundio, Siegwart, Sebaldus Nothanker und manche andere Romane von Wetzel, Sattler usw., auch der deutsche Merkur, die Göttinger Musenalmanache, und sehnlichst erwarteten wir mit jedem Nördlinger Botentag die Deutsche Chronik von Schubart, der kurz vor seiner Gefangenschaft auch in unserem Hause auf Besuch war, und sehr gelegentlich meinem Oheim mich als einen solchen Stein empfahl, der durch gute Schleifung einen großen Gewinn verspreche. Durchstreifende Zigeuner, die meine Hand erhaschten, sagten mir gleichfalls daraus wahr, daß ich angeblich steinreich, ein Mann von drei Frauen und ein Reichshofrat werden sollte. Auf diese erfreulichen Zusicherungen der Zigeuner dünkte es mir billig, nun auch schon in etwas zum voraus, wenigstens bei den Bauernjungen, auf einen größeren Respekt zu bestehen, und ihnen den Hut, den sie nicht freiwillig vor mir ziehen wollten, herunterzureißen und auf die Straße zu werfen. Es kam darüber einigemal zu blutigen Zeremoniellstreitigkeiten, denen einige diplomatische Bauernköpfe damit auszuweichen suchten, daß sie, im Vorbeigehen an mir, ihr Haar kämmten oder sich hinter den Ohren kratzten, so daß ich die sehr zweideutige Manipulation nehmen konnte, wie ich wollte. Endlich aber setzte der kleine Dorfusurpator seine Ansprüche dennoch durch, und weiter, als er selbst gedacht, sogar bei den großen Bauern. Desto schlechter waren freilich die übrigen Anstalten, um zu einem größeren Ziele zu gelangen, nämlich ein planmäßiger Unterricht in den Wissenschaften, besonders in den gelehrten Sprachen. Bis zum vollendeten zwölften Jahre blieb ich hierin mir selbst überlassen. Mein Herr Oheim, gleichwie er ohnedem keine Gabe und Geduld zum Unterricht hatte, behauptete noch obendrein, daß ein voreiliger der allerunnützeste, und noch dazu verderblich und erstickend sei, ja von Zeit zu Zeit wurde die Drohung, mich in eine Schule zu stecken, welches mir wirklich selbst als etwas ganz Fürchterliches vorkam, nur als ein wirksames Abschreckungsmittel gebraucht. An dem Religionsunterricht ließ mich mein Oheim bei den für die Dorfjugend angestellten häuslichen Katechisationen ganz leisen Anteil nehmen, ohne daß mir je die Zumutung geschah, den Katechismus auswendig zu lernen und mit den anderen darüber Rede zu stehen. Da ich hierbei eine Menge Dinge vernahm, die mir ganz unglaublich und unmöglich schienen, so harrte ich öfters, daß mein Herr Oheim sie in der folgenden Stunde widerrufen und gestehen würde, daß er nur habe versuchen wollen, ob damit solche kluge Kinder, wie wir, könnten aufs Eis geführt werden. Der geistliche Herr fand sich jedoch mit mir durch die Erklärung ab: die alte Welt habe unstreitig ihre Nachrichten und Lehren vielfach in besonderen Bildern und rätselhaften Sprüchen hinterlassen. Es sei dem menschlichen Verstande, sofern er erst zu seiner Reife gelangt, allerdings vorbehalten, davon den echten und inneren Sinn aufzufassen. Inzwischen tue man wohl daran, sich vorderhand den Kopf nicht damit zu zerbrechen, sondern immer auf den wahren Kern, das ist, auf die natürlichen Gebote der Tugend und der Sittlichkeit, zu sehen. Einen anderen Eindruck machten aber diese Katechisationen, den man natürlich am wenigsten bezweckte, nämlich, daß ich mich in meine mir gegenüberstehende Mitkatechumenin, ein schwarzbraunes Bauernmädchen, so innig verliebte, daß ich vor ihren Blicken immer errötete, von ihr träumte, zwar mit ihr selbst die wenigsten Worte zu wechseln mir getraute, sie aber immer durch andere Mädchen, die übrigens mein Geheimnis schlecht bewahrten, begrüßen ließ.

Glücklicherweise fügte es sich, daß ein Vetter, Herr Konrad Lang, Oberjägersohn aus Rorbach, ein himmellanger wacklicher Mann, von der Universität Tübingen zurückkehrte, zu seiner eigenen weiteren Ausbildung meinem Oheim anbot, bei ihm zu bleiben und zugleich meinen Privatunterricht zu übernehmen. Ich ergab mich den neuen Lehren mit höchster Freude und Anstrengung. Nach kurzer Vorbereitung aus der Grammatik meines Namensvetters, des Herrn Joachim Lang, ging es alsbald zum Übersetzen aus den Strothischen Chrestomathien, sodann der mir äußerst lieblichen Fabeln von Phaedrus, worauf in kurzer Zeit auch die Übungen der Rückübersetzung ins Lateinische folgten. Eine ganz neue Welt schloß sich mir auf, und mit Ungeduld berechnete ich den Zeitraum, binnen welchem ich vermeinte, mit meinem Herrn Privatlehrer alle Autoren, die es nur gebe, durchgelesen zu haben. Es war daher sehr überflüssig und unverständig, daß er mich bei diesem Trieb doch einmal wegen eines sehr schlechten und überhudelten Exerzitiums mit Schlägen mißhandelte. Voreilige Lehrer sollten sich sehr hüten vor solchen Mißgriffen, deren Eindruck oft über ein halbes Jahrhundert durch auf ihrem Angedenken lastet.

Nachdem ich mich nun dem vierzehnten Jahre näherte, und Herr Konrad Lang einen Ruf nach Öttingen als Rektor des Gymnasiums erhielt, so war, um meinen Unterricht nicht unvollendet zu lassen, das Zweckmäßigste, daß man ihm mich mitgab in die Stadt, wo ich bei ihm wohnen, und die Schule besuchen, bei meiner Mutter aber essen sollte. Für Bücher und andere Bedürfnisse sorgte die gesamte Hand von Mutter, Großmutter und Oheim. Kurz vor meinem Abgang von Trochtelfingen, am Palmsonntag 1778, wurde auch, in Gemeinschaft der übrigen Kinder des Dorfs, der Akt der Konfirmation mit mir vorgenommen, wobei mein Oheim mich das von dem Metropoliten Plato Lewschin zu Moskau für den Großfürsten Paul aufgesetzte umständliche Glaubensbekenntnis »Auch in meine Seele«, vor dem Altare und an der Spitze der anderen Kinder, wörtlich wiederholen und vorsprechen ließ.


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