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schwamm drüber«, nickte das Schlabbergretchen, welches vor Weihnachten auf den Hof kam, um das Kerbkleid der Bäuerin zu verändern – es hatte sich wieder einmal erwiesen, daß der Kätta vom Spaß des Bauern was übriggeblieben war – »Schwamm drüber, sagte der alte Herr Fuchs, als er die Ente gefressen hatte, und leckte sich das Maul.«
Mit dieser Redensart pflegte die Nähfrau jede Neuigkeit zu beschließen; sie gebrauchte sie täglich wohl zwanzigmal und einiges darüber; ihre Spucke war lang, ihr Faden kurz und sehr flink; wenn die Schere zu klappern anfing, schien es, als ob es die Fortsetzung wäre, mindestens aber das gleiche Geschäft, das ihre Zunge betrieb.
Sie schob ihre Kaffeetasse zurück und stülpte das Kümpchen um, strich mit der Hand die Krümel vom Tisch und packte ihr Flickzeug aus: »ist der Mann da bald fertig mit Schmieren?« fragte sie ungeduldig und rückte die Stahlbrille weiter nach vorne auf ihren Nasenknopf; ihre Augen rollten über den Rand und blieben auf Aladin sitzen, der die Nähmaschine bediente und mit dem Ölkännchen knackte.
»Gleich«, sagte die Liesa für ihn und fragte ablenkend: »wär' ein Ei zum zweiten Frühstück richtig?«
»Mit Speck. Allmächtiger Gott!« schrie das Schlabbergretchen entsetzt und blickte Aladin an, der gerade den Kopf in die Höhe hob – »wie kann nur einer so schwarze Stoppeln auf seinen Backen haben!«
»Er will sich halt einen Bart wachsen lassen«, sagte die Liesa tröstend.
»So?« spitzte das Schlabbergretchen und erläuterte unbarmherzig ihre Ansicht von Aladins Bart: »dann wird von seiner Visage nicht mehr viel übrigbleiben – es ist allerdings auch nicht schade – und seine Nase steht mitten drin, wie der Storch im Salatbeet. Jawohl!« Sie rückte den Stuhl an die Nähmaschine, setzte sich, holte das Schiffchen heraus und fing zu spulen an; einer der roten 210 Zwillinge suchte in das schwingende Rad zu greifen, der Lückenbüßer schubste ihn weg und rief mit durchdringender Stimme: »und deine Nase, Gretchen, sitzt wie die Wachtel im Bratspeck, hat neulich der Onkel gesagt.«
Die Frau erstarrte, nahm Hände und Füße von der Nähmaschine herunter, zog die Brille ab, legte sie fest zusammen und blickte den kleinen Burschen an, als ob sie ein Meerwunder sähe. »So einer«, sagte sie dann überwältigt und schlug ihm eine Ohrfeige hin, daß er fast in die Ecke geflogen wäre, »so einer kommt und getraut sich, das Lückenmaul aufzutun. So ein Dreckfink, ein Fundevogel –«, sie wollte noch weiterschimpfen, als Aladin vor ihr aufwuchs:
»Und sonst? was bin ich sonst noch?« fragte er drohend und senkte den Schnabel des Ölkännchens auf ihre dicke Brust, als wolle er sie durchbohren.
»Ihr? ja, wer spricht denn von Euch?« retirierte das Schlabbergretchen und kollerte mit gesträubten Federn noch ein paar Töne in sich hinein, um gleich darauf, als die Bäuerin mit der Lappenkiste hereinkam, um so gellender loszukreischen: »adjö, wenn eins, was hier arbeiten will, an seinem Leben bedroht wird! Also Kätta, ich gehe. Kein gicks und kein gacks. Und wenn ihr alle, wie ihr da seid, vor mir auf den Knien herumrutscht.« Sie bückte sich, zog die Pantoffeln aus, die sie beim Nähen zu tragen pflegte, und wollte nach den Schnürschuhen greifen, aber schon hatte der Lückenbüßer das Paar an die Brust gerissen und schrie verzweifelt: »ach Schlabbergretchen, ich will es gewiß nicht wieder sagen . . . du kannst mir auch ruhig noch was geben . . .«, er drehte sich um und streckte ihr eifrig den runden kleinen Hintern entgegen; das Höschen spannte sich straff über den zierlichen Backen und war überall ausgewachsen; hier und dort saß ein lieblos umstochener Flicken, neben welchem das Zeug wieder faserte, ein frischer Winkelriß half dem Hemde, mit Macht an das Licht zu kommen. 211
»Nein – solche Flicken zu setzen!« sagte das Gretchen empört und trieb rasch ihre fromme Entrüstung mit hoch erhobenem Stecken auf eine andere Flur. »Habt ihr das so in der Schule gelernt? hä, Liesa?«
Das Mädchen errötete – mehr aus Furcht, der Junge könnte jetzt wieder verderben, was er gewonnen hatte, als daß es sich für die Flicken schämte, und erwiderte: »wenn's halt mal schnell gehen muß –«
Die Nähfrau sah sie von oben bis unten wie der Lehrer den Stolz auf der Eselsbank an: »aus dir wird im Leben nichts Rechtes, nein, nein. Du kriegst auch keinen Mann.« Klipp klapp, jede Hoffnung war abgeschnitten. »Und wenn dich einer löffelweis nähme, so müßte er hinterher schlicksen und sich selbst auf den Rücken schlagen.«
»No, no«, brummte hinten die Kätta und wehrte mühsam die Kinder ab, die über die Lappen herfielen; »ich heirate aber die Liesa doch«, japste der Lückenbüßer und sah zwischen den Beinen durch; das Gretchen setzte sich hochbefriedigt wieder zur Nähmaschine, Aladin blickte gehässig auf ihren Scheitel herunter, der rosa wie Ferkelhaut glänzte, und schien durchaus nicht gewillt, seiner Feindin das Feld zu räumen. Die Spule surrte und wurde dicker, plötzlich hatte die Nähfrau das unangenehme Gefühl, daß ihr was in den Nacken giekste – wahrhaftig: da stand ja der Kerl noch immer und machte Augen wie einer, der sich vergreifen wird.
Na? wollte sie giftig spötteln, ich soll Euch wohl Abbitte leisten? doch die Zunge nahm den Faden nicht mit: ihre Öse war leer; das Wichtigste fehlte – daß es dem Schlabbergretchen überhaupt einmal daran fehlen würde, hätte niemand, sie selber zuletzt, jemals zu denken gewagt. Courage, Gretchen! sagte sie sich. Und wenn du das neue Fädchen aus Spucke drehen mußt!
»Aha, Ihr möchtet Euch vorstellen, gelt?« fragte sie langgezogen; ihre Stimme war süß wie Sirup und schleppte hinter dem Ausgeschöpften klebriges Zuckergarn her. 212
Aladin gab keine Antwort und sah sie durchdringender an: gleich würde Blut fließen, wenn er noch länger seinen Blick auf ihr Kernfleisch setzte.
»Aber laßt nur«, winkte sie scheinheilig ab. »Ich komme, glaub' ich, von selber darauf, wenn ich mal nachdenken darf. Ja so: Ihr seid doch der Knecht mit dem komischen Namen – wartet – –«
»Jean heißt er. Das ist doch nicht komisch!« gellte der Lückenbüßer.
Sie zuckte, ihr Gedanke riß ab, weil was wie ein winziger Knoten hineingekommen war. »Du darfst dir ja vieles erlauben!« fuhr sie gereizt auf den Kleinen los. »Bei andern Leuten –«
»Ich weiß schon, Gretchen«, sagte die Kätta spöttisch, »die Kinder sind dort immer am schlimmsten, wo man gerade schafft.«
Das hätte sie nicht behauptet, lenkte die Nähfrau ein. »Zum Beispiel dem Postboten Müller seine – ach richtig!« rief sie erfreut, »das war natürlich die Müllern, die mir von dem Mann da erzählte.«
»Marsch!« brüllte plötzlich die Kätta und packte ihre Brut an dem Genick. »Hinaus mit euch Quälsäcken allen!« sie war jähzornig, wie nur verschlossene Menschen jähzornig werden können. Auch der Lückenbüßer entwischte geschickt durch die geöffnete Tür, die Bäuerin kramte zu ihrer Beruhigung eine Lage Wolle hervor, die schon lange hätte gewickelt sein sollen, und winkte Aladin, ihr zu helfen – er nahm zwei Stühle und stellte sie mit dem Rücken gegeneinander; dann strammte er die Wolle darüber: »so«, nickte er zu der verblüfften Frau und wandte sich wieder gelassen dem Schlabbergretchen zu. »Und was hat denn die Müllern von mir gewußt?« fragte er aufnahmewillig.
»Ach«, sagte die Nähfrau liebevoll und blickte ihn tückisch an, »ich bin ja eigentlich keine von denen, die so etwas weiter erzählen – besonders wenn es andern 213 gefährlich werden könnte.« Sie schaute triumphierend herum, schob den Busen zurecht und setzte ihn fest auf die Platte der Nähmaschine, dann rückte sie ein zu säumendes Stück unter die hüpfende Nadel und fuhr wie von ungefähr fort: »denn daß es nicht so ohne sein kann, einen Mann auf dem Hof zu verstecken, der was Politisches angestellt hat – na, das sagt sich doch jedes Kind.« Die Naht war brummend heruntergelaufen, jetzt kam eine andere dran; aber vorher machten das Rad und die Zunge noch eine genußvolle Pause . . .
»Irrtum«, erwiderte jetzt die Kätta mit ihrer tiefen Stimme. »Wir haben nichts zu verstecken, der Erlenhöfer und ich.«
»Sag nur noch«, nickte das Gretchen freundlich: »außer dem, was du unter den Röcken hast – und auch das nicht mehr allzulange.« Sie lachte, es war jedoch fast ein Quietschen, wie wenn man etwas Luft aus dem Aufblasschweinchen herausläßt. »Aber damit du es weißt, von wem ich eigentlich spreche: Aldin heißt er oder so ähnlich« –
»Nein«, sagte der Betroffene ruhig, »der Mann heißt Aladin.«
Einen Augenblick lang war es vollkommen still, dann fing, wie im Einverständnis mit ihm, die Kätta ihrerseits an: »er hat uns hier die Dränage wieder in Ordnung gebracht und die Scheuer ausbessern helfen; das Dach war nicht mehr ganz dicht.«
»Aber jetzt«, fuhr Aladin fort, »ist dieser Mann nicht mehr hier. Ich habe ihn übrigens kennengelernt und bin in der letzten Nacht, in der er da einquartiert war, wo ich nachher hingelegt wurde, mit ihm zusammengewesen. Wir haben uns gut verstanden«, er wurde kühner, lachte ein wenig, »und da ist mir natürlich auch manches im Schlaf zu Ohren gekommen, was einer bei Tage nicht sagt.«
»Ach«, fragte das Schlabbergretchen, außer sich vor Begierde, »was war denn das beispielsweise?« 214
Nein, nein, erwiderte Aladin und blinzelte zu der Liesa hinüber, das geniere ihn nun zu sehr.
»Wieso denn?« platzte die Nähfrau mit ihrer Meinung heraus, »wenn es bloß ein Fememord war?«
»Ein – Fememord –?« staunte Aladin blöde. »Aber so was! mir hat der Kerl nur erzählt, wie er die Weibsleute drankriegt und sich nachher vorm Heiraten drückt« . . .
»Dann habt Ihr wohl«, sagte das Gretchen verdattert, »mit dem Teufel im Bett gelegen und gemeint, es wäre ein Hund.«
Aladin blickte ihr starr ins Gesicht. »Wahrhaftig«, gab er dann leise zu und bemühte sich, zu verbergen, daß seine Lippe ganz steif war. »So muß das gewesen sein.«
»Seht ihr!« nun war sie befriedigt. »Und jetzt will ich euch doch mal alle über den Mann konfirmieren –«, sie zog die Lappenkiste herbei und stülpte sie wollüstig um. »Also, der Schinderhannes ist gar nichts gegen den Aldin.«
»Aladin!«
»Aladin oder Aldin – der Name wird immer geschenkt, sagt der Philipp von Goddelau.«
»Der – Philipp? meint Ihr den Irrenwärter mit dem kurzgeschnittenen Bart?«
»Ja. Aber der ist jetzt nicht so wichtig. Der Schinderhannes, der Aladin –«, sie wühlte ein schwarzes Stück Tuch heraus, ein rotes blieb daran hängen – »der soll ja mindestens siebzehn Morde auf dem Gewissen haben.«
»Neunzehn«, verbesserte er.
»Ach, wirklich?« Ein hölzernes Nadelbüchschen mit schlechter Verschraubung ging auf und streute den Inhalt umher: dicke Nadeln und dünne, in einer saß noch der Zwirn. »Also neunzehn.« [Es war ihr bereits wieder verlorengegangen, daß der andere, seiner Erzählung nach, nichts wollte erfahren haben.] »Auch einen Geheimbund hat er gestiftet und Versammlungen abgehalten. Nun, davon wißt ihr ja mehr als ich – –«, sie sah zu der Kätta hinüber, die Bäuerin schlug ihr den Blick in die kleinen Augen zurück und erwiderte: 215
»Freilich, freilich. Der Wachtmeister hat sich Mühe gegeben. Man sagt auch: wer sucht, der findet.«
»Und ob!« spann Aladin weiter. »Zuerst mal den Fememörder. Den haben sie gleich erschossen: wenn Ihr nachher hinaus müßt, Gretchen, könnt Ihr noch an der Abortwand die getrockneten Blutflecken sehen. Dann alle neunzehn Leichen. Die waren im Keller versteckelt und in Sackleinwand eingenäht. Auch ein Frauenzimmer von Eurer Statur soll darunter gewesen sein; die hatte statt der Zunge ein rostiges Messer im Maul.«
Die jungen Weiber kreischten entzückt, das Gretchen bebte vor Wut; es hatte das Ärgste für möglich gehalten und fiel nun über die Schwelle seiner eigenen Gutgläubigkeit.
Unbekümmert fuhr Aladin fort: »das alles ist aber das Schlimmste noch nicht. Diese Leichen nämlich, stellt euch mal vor, hatten jede ihr Nummernschildchen: die gleiche Nummer trug dann das blaue Fettöpfchen auch, das zu der betreffenden Leiche gehörte, die in Stücke gemacht und abgebrüht war – kein bißchen Fleisch hing mehr dran.«
»Hör auf!« rief die Bäuerin angeekelt und fühlte, wie schon ihr Magen schrecklich zu würgen begann; die Liesa war blaß geworden, das Gretchen dunkelgefleckt.
Erbarmungslos ließ sich Aladin treiben: »das soll aber gar nicht schlecht munden. Ganz ähnlich wie junge Kapaunen, hat mir ein Schwarzer erzählt, der den feinen Unterschied kannte. Etwas Knoblauch und Majoran drantun, das Fett schön ablaufen lassen –«, er nahm die Butterdose vom Tisch und klapperte mit dem Deckel gegen den Untersatz, – »hat's geschmeckt, Fräulein Schlabbergretchen?« fragte er fast geheimnisvoll und machte verliebte Augen; dann setzte er die Dose zurück, stemmte die Hände fest auf die zitternde Nähmaschine und beugte sich nach vorne – – die Nähfrau legte den Kopf in den Nacken und hielt ihm den speckigen Hals hin, als ob sie auf der Stelle geschächtet werden solle. 216
»Ja – so eine Dicke wie Ihr«, murmelte Aladin und kam ihr langsam näher; seine Augen bedeckten sich immer mehr, die ihrigen waren weit aufgerissen und fingen, indem sie sich seitwärts drehten, das schwarze Fensterkreuz; hatte die Frau bis dahin seine grausigen Späße zuerst mit Neugier und dann voll Empörung angehört, so schien sich jetzt mitten in ihrem Gehirn etwas anderes vorzubereiten: aus Ahnung und Furcht, die einander durchdrangen, formte sich ein Erinnerungsbild und deckte sich mit dem Mann; vielmehr, es deckte ihn in der Art, wie die Kleider von Ausschneidepuppen das farblose Musterbild – nicht genau, denn die Ränder des unteren verrutschten immer wieder und sahen ungeschickt vor. Es war offensichtlich: das zweite Bild war nur von ungefähr richtig und allzu knapp geschnitten; ihr Gedächtnis reichte nicht aus.
»Schöne Frau«, brummte Aladin zärtlich und neigte das stoppelige Gesicht immer tiefer zu ihr herunter: »ich möchte Euch nackt auf die Waage setzen und als Lebendgewicht verkaufen.« Er schnellte plötzlich wieder zurück und legte zwei lässige Finger an einen gedachten Mützenrand: »Schaffner ist nämlich mein Name – weil Ihr es wissen wolltet.«
»So –? Schaffner?« fragte das Gretchen heiser und stand von ihrem Stuhl auf – dieser Stuhl war ein Drudenstühlchen geworden und sie selber eine Prophetin, die gleich etwas aussprechen würde.
»Schaffner«, hörte die Liesa sich sagen und fühlte, daß ihre Torheit jetzt wieder zwei Flügel um einen Menschen schlug, der es nötig hatte, beschützt zu werden, »Schaffner kann doch wohl jeder heißen – hier herum und in Worms und Mainz –«
»Heißen sie öfter so.« beendete Aladin.
»Ja. Aber es gibt nur einen im Ried, der solche Späße machte«, verkündete die Nähfrau mit prall erhobenem Finger und schien aus ihrer Fülle feierlich aufzuwachsen. »Das ist der Schaffner, der früher die Wurst in den 217 Narrenkasten geliefert hat und jetzt selber dort, allerdings nur in der Siechenabteilung, sitzt.«
»Und Ihr meint, ich wäre mit dem verwandt?« erkundigte sich der Mann.
»Wie ein Ei mit dem andern!«
»Na«, spottete die Kätta erregt, »dann braucht ja die Verwandtschaft noch nicht vom gleichen Nest zu sein.« Zwar wußte sie kaum, was sich so in ihr wehrte, über Aladin klar zu sehen, doch machte sie triebmäßig Staub um ihn, wo immer sein Name fiel.
»Wer weiß!« entgegnete Aladin mit fürchterlicher Ruhe. »Ich suche nämlich schon lange mein Nest, und da ich«, fügte er, sinnlos verwundert über den Gleichklang hinzu, »nun doch einmal so heiße – –«
»Macht denn der Name die Herkunft, oder die Herkunft den Namen?« fragte die Bäuerin ärgerlich; dem Schlabbergretchen hingegen schien der Weizen jetzt schnittreif zu werden, und vorsichtig, um keinen Halm zu verlieren, hielt es sich still am Rande des angesetzten Gesprächs.
»Wenn man«, entgegnete er verstockt, »jenem Philipp vertrauen kann, den die Frau da vorhin genannt hat, so ist das ganz einerlei. Man heißt eben, wie man muß – und muß vielleicht, weil man so heißt«, wiederholte er, tief in Gedanken, den Ausspruch des Irrenwärters, der bis heute mit ihm gegangen war: auch er ein Teilchen Erinnerung, das ihn trug und ihm weiterhalf.
»Philipp hin, Philipp her«, entgegnete heftig die Kätta, »da könnte ja jeder Schaffner kommen und sagen: ich bin du.«
»Ja, ja«, erwiderte er gequält und fühlte, wie sich alles wieder in ihm verwirrte. »Schaffner ist ein gebräuchlicher Name – und selbst, wenn so ein Schaffner mit Vornamen Peter hieße, so schlösse ihm dieser Umstand die Himmelstür noch nicht auf.«
»Also wirklich«, stöhnte das Schlabbergretchen und schwappte auf ihren Stuhl zurück – »Ihr seid dieser 218 Peter Schaffner . . .«, sie stockte, zur rechten Zeit fiel ihr ein, daß der Lückenbüßer ausgeschwatzt hatte, sein Verteidiger hieße Jean: woran war man nun eigentlich?
»Natürlich«, sagte der Mann erleichtert. »Natürlich bin ich der.«
Er ist es also doch nicht, dachte die Nähfrau enttäuscht. Sonst hätt' er's nicht zugegeben. Am besten war es wahrscheinlich, man stellte ihm eine Falle. »Dann hat Euch wohl Euer Gewissen wieder hierher getrieben?« fragte sie menschenfreundlich.
»Mein Gewissen hat mich getrieben«, erwiderte Aladin. Er sah in ihr stumpfes Krötengesicht, das sie ihm zugedreht hatte: wie es da mit geöffnetem Maul aus dem Schlamm des Dorfklatschs hervorquoll, war es eines von jenen Tieren, die in den Brunnen gehörten, wo der Anfang des Lebens ruhte.
»Na, seht Ihr, mich legt Ihr nicht noch mal herein«, badete sich das Gretchen in seiner Geschicklichkeit. »Schnickschnack. Ihr seid nicht der Schaffner Peter: sonst wüßtet Ihr, daß Ihr schon lange alles zurückbezahlt habt.«
[Ich habe noch gar nichts zurückbezahlt, sagte inwendig Aladin.]
»Was soll er denn auch zurückbezahlt haben?« fragte die Bäuerin; sie war beruhigt, weil sie fühlte, daß alle im Dunkeln tappten; ja, mehr noch: von der Laterne, die der Mann in den Händen hielt, völlig verblendet wurden.
[Wahrhaftig, Gott hatte das Erdöl entzündet, das er suchen gegangen war. Nun brannte Aladins Wunderlampe ganz dicht vor seiner Brust.]
»Nein!« rief das Schlabbergretchen erstaunt. »Wißt Ihr denn nicht mehr die böse Geschichte von dem Metzger, der seinen Sohn auf den Viehmarkt ausgeschickt hatte und ihn nicht wiedersah?«
Die Bäuerin schüttelte stumm den Kopf, es wurde sehr still, nur ein Zweig, den der Wind gegen das Fensterglas 219 peitschte, klopfte mit harten Knospen leise von draußen an . . .
»Nun, dann will ich es euch erzählen«, begann das Schlabbergretchen und legte die fetten Hände in den breitgeöffneten Schoß . . . »Dieser Metzger war ein komischer Mann. ›Lustig‹, sagte er jedesmal, bevor er die Würste anschnitt, ›vielleicht sitzt der Däumerling drin.‹ Wenn junge Mädchen im Laden waren, machte er Späße wie der da –«, sie zeigte auf Aladin – »und wehe, wenn sie nicht lachten! dann wußten am nächsten Tag alle, wer gerade ihr Bettschatz war. Seine Frau«, fuhr sie fort und senkte die Stimme, »soll er, weil sie nicht lachen konnte, gar totgekitzelt haben – ich weiß ja nicht, ob es wahr ist, aber der Kleine, der Peter, der nachher abhanden kam, hat es öfter im Ort erzählt. Der Mann blieb dann Witwer, es fand sich wohl keine, die immerzu lachen mochte – –«, die Nähfrau hielt plötzlich inne, fiel aus dem Erzählton und sagte trocken: »weißt du, Kätta, das Mensch von dem Lumpenmüller wär' die Rechte für ihn gewesen. Denn das Lachen hat ja der Lückenbüßer, wie die Leute behaupten, von ihr.«
»Die Laura war damals noch selber ein Kind«, gab die Bäuerin kurz zurück, »und gehört jetzt gar nicht hierher.«
»Natürlich«, grinste das Gretchen boshaft – seine Fratze gerann: dieser greuliche Kerl machte ihr wieder Augen. »Na, einerlei«, fuhr sie fort und wetzte ihre Zunge, »der Sohn wurde größer und schien sich ganz gut mit seinem Vater zu stehen; der Alte strich ihn heraus wie einen Pferderücken und prahlte im Wirtshaus mit ihm; dabei soll er recht ärmlich gewesen sein und blaß von der vielen Wurst. Eines Tages – da war er so sechzehn, siebzehn, vielleicht auch schon achtzehn Jahre – tat der Vater ihm Geld in die Ledertasche und gab ihm den großen Treiberstecken zum erstenmal in die Hand: so, damit dürfe er nun zum Wormser Viehmarkt fahren; zwei Schweine, ein Rind, ein Kalb, und was weiß ich sonst 220 noch, erhandeln, das übrige Geld dagegen auf der Sparkasse niederlegen – und dieses übrige Geld war, wie man hinterher sagte, wahrhaftig kein Katzendreck; auch ist ja der Alte durch den Verlust an den Bettelstab oder zum mindesten ins Siechenhaus gekommen, denn daß er zu saufen anfing, war schließlich ganz natürlich, das tat er schon immer ein wenig, aber später sagte er jedesmal, wenn ihn der Pfarrer ermahnte: »mir ist noch was hängengeblieben, das muß die Gurgel hinunter . . .«
Aladin lachte so unvermittelt, daß sie alle zusammenfuhren, und fragte: »was war denn das wohl, das ihm hängengeblieben ist?«
»Ich weiß es nicht«, sagte das Gretchen empört, »vielleicht hustet Ihr mal für ihn.«
»Ja?« grinste er eigentümlich und steckte beide Fäuste nachlässig in die Taschen; sie folgte ihm mit den Augen, dabei schien ihr noch etwas einzufallen: »richtig«, schwatzte sie aufgeregt weiter, »›wenn einer meinem Sohn zufällig sollte begegnen‹, sagte der alte Schaffner, ›und er hätte sich sehr verändert oder steckte in einer Uniform [ich meine nur: beispielsweise], so soll er ihm, wenn er Geld zählt, auf den Daumen der rechten Hand sehn – da fehlt die Kuppe; die habe ich ihm versehentlich mit dem Hackmesser abgeschlagen; sowas kriegt niemals mehr die richtige Form zurück und ist ein Erkennungszeichen.‹«
»Ach!?« rief die Liesa und suchte vergeblich den Mund wieder zuzumachen; kaum, daß die Nähfrau weitererzählte, klappte er unbewußt auf.
»Aber Gretchen, du hast doch vorhin behauptet, der verlorengegangene Sohn habe alles zurückbezahlt?« wollte die Bäuerin wissen.
»Langsam, sagte der Fuchs zu den Gänsen. Jede kommt an die Reihe. Also: es wurde Abend, der Metzger ging vor die Türe und sperrte den Laden zu. ›Nachbar! habt Ihr's gehört‹, fragte er alle Leute, ›mein Sohn, dieser Satanskerl, sollte man's glauben, bleibt über Nacht in 221 der Stadt. Na warte, dir wird mein Stecken über den Rücken fahren!‹ Aber die Nacht ging herum, und als es Morgen wurde, war der Peter noch immer nicht da. ›Der Satanskerl läßt es sich wohl sein in Worms und verjuxt mir mein Geld mit der langen Jule oder der dicken Male, gleich rechter Hand hinter dem Dom!‹ rief der Alte den ersten Radfahrern zu, die auf die Arbeit fuhren. [Von da ab, müßt ihr wissen, nannte er seinen Sohn überhaupt nur noch ›Satanskerl‹.] Am Nachmittag war der Laden sehr voll und auch in den nächsten Tagen; die Schelle bimmelte immerzu – ›lustig!‹ sagte der Metzger, indem er die Würste anschnitt, ›vielleicht steckt der Däumerling drin.‹ ›Das werden wir schon herausbekommen, wo Euer Däumerling steckt‹, tröstete ihn der Ortsgendarm und wollte Bericht aufnehmen. ›Untersteht Euch!‹ brüllte der Alte ihn an und war durch nichts zu bewegen, dem Gendarm ein vernünftiges Wort ins Büchelchen mitzugeben. ›Wo habt Ihr ihn hingeschickt?‹ fragte der Mann. ›In die Hölle‹, sagte der Metzger und gab keine Antwort mehr.
Nun, die Behörde brachte auch wirklich nichts an das Tageslicht, obwohl sich hier und dort Spuren fanden: so sagte zum Beispiel der Jude, bei dem der Peter den Ochsen und das Kälbchen erhandelt hatte – denn er hatte wahrhaftig das Vieh gekauft, an die Bahn getrieben und eingeladen, es kam auch ganz richtig an – ja, also der Jude sagte, daß sich immer wieder ein Mann an den Jungen herangedrängt und auf ihn eingesprochen, ihn an dem Ärmel gezupft und sich schließlich nach französischer Art in seinen Arm gehängt habe. Seine Aussage wurde nachher von einem Mädchen bestätigt, das den Metzgerssohn, der Beschreibung auf dem Vermißtenblatt nach, wiedererkannt haben wollte. Jenes Weibsbild, ich brauche wohl nicht zu sagen, zu welchem Stand es gehörte, war um den Viehmarkt gestrichen und dem Jungen, der einen sehr blöden und freundlichen Eindruck machte, hinterher nachgegangen – doch hatte es 222 ihn im Gedränge verloren und erst ein paar Stunden später hinterm Dom zu Gesicht bekommen. Da stand er und starrte nach oben, wo der Schafbock zwischen den Löwen sitzt – – aber nun waren es zweie, die neben ihm, vielmehr rechts und links von dem jungen Metzgerssohn standen und ihm den Arm um die Schulter legten, ganz merkwürdig sah das aus. Nun, dann sei sie an ihnen vorbeigeschwänzelt und habe versucht, zu zwitschern; doch hätte der Schaffner noch immer sprachlos nach oben gestiert, und die Männer, eigentlich müsse man sagen: die Herren, denn sie seien recht fein gekleidet gewesen, hätten mit roten Gesichtern ganz rasch auf ihn eingesprochen. Aufgefordert, die Herren zu beschreiben, hatte sie nur gesagt: ach, da sei nichts Besonderes dran gewesen; schwarz, wie die Leute hier meistens sind, ein bißchen kleiner, ein bißchen fixer – weiter wär' ihr nichts aufgefallen. Gut; also da war man wieder am Ende. Die Behörde schlug noch ein paarmal mit dem Flegel auf leeres Stroh, aber von dem, was heraussprang, wurde der Gickel nicht satt.
So wär' wohl der Peter für immer verscharrt und vergessen geblieben, wenn der alte Schaffner nicht eines Tages – es waren seitdem schon Jahre vergangen – einen Geldbrief aus Tunis erhalten hätte, dann einen aus Algier und aus Marokko: woher die gelben Besatzungskerle später gekommen sind. Es stand zwar kein Absender hinten drauf, aber das Geld, gewechselt, stimmte auf Heller und Pfennig. Da wußte man nun endlich, wo der Barthel den Most zu holen hatte, und daß der Peter bei den Franzosen in der Fremdenlegion gelandet war. »Dort wird er dann wohl auch«, beendete das Gretchen kopfnickend seine Erzählung, »den Weltkrieg mitgemacht haben . . .«
»Das glaube ich kaum«, sagte Aladin. »Es gibt ja auch Schreiberstuben für unsichere Kantonisten. Aber vielleicht hat ihn später das Besatzungsheer wiedergebracht. Wenn Ihr über das Griesheimer Lager geht, könnt Ihr 223 hinter dem Militärgefängnis – ach nein«, verbesserte sich der Mann, »da könnt Ihr gar nichts mehr sehen. Da sind ja, dem Friedensvertrag zufolge, die Baracken niedergerissen worden, worin die deutsche Legion lag. Den Grundriß sieht man allerdings noch –«, er lachte mit rauher Stimme, »aber wer weiß, wie lange?«
»Ihr kennt Euch gut auf dem Lager aus!« sagte das Schlabbergretchen mit falscher Bewunderung und sah ihn gedankenvoll an.
»Das kennt doch jedes Griesheimer Kind wie seinen Hosensack«, fuhr die Bäuerin rasch dazwischen. »Übrigens hab' ich gehört, daß jetzt eine Fliegerschule dort eingerichtet wird.«
»So?« fragte das Gretchen unbeteiligt. »Was aber den alten Schaffner betrifft, so hat ihm das Geld zu nichts weiter verholfen, als daß er's hinunterschwemmte. Auch in der Heil- und Pflegeanstalt konnten sie ihm das Trinken nicht mehr vollkommen abgewöhnen. Nur der Philipp, nach welchem Ihr vorhin fragtet«, wandte sie sich zu Aladin, »durfte sich, wenn der Alte das böse Tier gehabt hat, in seine Nähe wagen.«
»Hat er das Tier denn jetzt nicht mehr?« erkundigte sich der Mann.
Das Schlabbergretchen zuckte verächtlich mit den gepolsterten Schultern. »Wenn einer erst mal so richtig sein Schlägelchen in den Beinen spürt – aber, falls Euch dran liegen sollte, das ganz genau zu erfahren, so müßt Ihr halt nicht mich, sondern den Philipp Allwissend fragen – –«
»Allwissend?«
»Na ja, das ist sein Unname doch. Den hat ihm ein Narr mal gegeben: der Mann weiß alles, hat er gesagt; wenn der zu erzählen anfängt, stehen die Toten auf.«
»Die Toten«, wiederholte der verlorene Metzgerssohn. [Er saß auf der Bank neben Philipp, der langsam zu reden anhub, während sie beide mit ruhigen Augen auf das kalkhelle rheinische Hügelland und die feinen, 224 dunkleren Türme der Katharinenkirche am westlichen Horizont schauten, wo die Sonne hinunterging: »Das Hauptheer Gustav Adolfs war schon vorübergezogen . . .« wahrhaftig, es war vorüber; und nun folgte die tiefe Geschichte von dem Namen, dem Blut und der Erde des pfiffigen Hostienbäckers, der die Erde, um sie vor Schimpf zu bewahren, in seinen eigenen Leib – und sein Blut in die Erde verwandelt hatte, als die Messe zu Ende war.]
»So ist es«, bekräftigte festen Tones das Gretchen seinen Bericht. »Und wenn es sich wirklich genau so verhält, wie dieser Narr da gesagt hat, wird wohl der Philipp auch wissen, wann der Schaffnerssohn wiederkommt. Der Alte wartet bloß noch darauf.«
»Der wartet?«
»Freilich. Und dann, soll er einmal geäußert haben, hackt er dem Satanskerl außer dem Daumen noch beide Hände ab . . .« Die Nähfrau wandte sich wieder mit einem Ruck zur Maschine; sie hatte schon allzuviel Zeit verloren und mußte, wenn sie nicht fertig wurde, das Kleid mit nach Hause nehmen. »Schwamm drüber, sagte der alte Herr Fuchs, als er die Ente gefressen hatte, und leckte sich das Maul« . . . Ihre Füße fingen zu treten, die Spulen zu rattern an; Aladin schob sich, die Hände noch immer in den Taschen, leise zur Tür hinaus – –
Das Rattern und Summen der Nähmaschine erfüllte hernach ohne Unterlaß diesen schwatzhaft begonnenen Tag; es erzählte, während das Rad sich drehte, mehr als das Gretchen in allen Tagen auf der Zunge getragen hatte – doch, was es berichtete, summte und brummte, verstand niemand außer ihm selbst. Es drang durch die Ritzen, die Schlüssellöcher und lief bis hinaus auf den Hof und in die Werkstatt hinein, wo Aladin auf einem Schemel saß und mit dem Spitzbohrer gleichfalls Lärm und dazu noch Splitterchen machte . . . bis plötzlich der Lärm verstummte und er vorsichtig Daumen und Zeigefinger mit zwei Lederhütchen bedeckte: das eine 225 verbarg und das andere täuschte; so waren sie wie Geschwister, die einander verschworen sind. Selbst als die Nähmaschine verstummt und Aladin im Begriff war, sich auszuziehen und schlafen zu legen, wagte er nicht, diese Hütchen von seiner Hand zu nehmen, obwohl sie ihm fremd und unbequem waren und ihn lange am Einschlafen hinderten. Sieh da, dachte er ganz erstaunt, was ihm heute lästig war, wäre ihm früher ein willkommener Anlaß gewesen, sich gründlicher zu verstecken; aber nun – er bewegte die einzelnen Finger und fand keinen Vorwand mehr, sie länger zu verbergen. Im Gegenteil: wenn er sich jenes Gespräch mit der Nähfrau wieder vor Augen stellte, so dünkte ihm, daß kein andrer als er es bis dahin getrieben hätte, wo das Licht in der Lampe von selber anging, wie der Schein in den Kandelabern der Straßen, die von den Städten aus über Äcker, an Strömen vorüber und zwischen Wiesen mit buckligen Salweiden laufen . . .
Er wollte es so. Er wollte den Weg und den ausgebreiteten Schein, unter welchem die Krume lebendig wird: rauh, aufgebrochen, durchwurzelt von zarten, aber kräftigen Fäserchen, die das Wasser nach oben führen. Wasser ist alles, dachte der Mann: Wasser zum Waschen, Wasser zum Trinken, Wasser, um sich darüber zu beugen und sein Spiegelbild auszuhalten. Nun sah er sich selbst mit verschwimmenden Rändern, die sich dehnten und blasser wurden, als habe ihm jemand mitten ins Herz einen grauen Feldstein geworfen: dieser Stein war der Schlaf, der sein waches Bewußtsein hinunter zum Grunde nahm, während wie silberne Lichter auf der geglätteten Fläche die Träume darüberspielten . . .
Sie waren zuerst so unbestimmt, daß sie nicht hafteten, und liefen durcheinander, um sich gleich wieder aufzulösen; dann wurden sie fester und tauchten tiefer; sie gruben sich mit den flüchtigen Zehen in den schwarzen, schlammigen Boden und wurden zu Wasserpflanzen, hernach zu Wasserbäumen mit grünen, perlenden Ästen 226 – jedes Bläschen war eine Welt im Kleinen, und indem sich die Träume vereinigten, wurden sie alle zusammen zu einem Weltenbaum. Kein Geschöpf, das Aladin kannte, welches dort nicht hinauf- und hinunterstieg – man mochte ihn wohl auch »Erinnerung« nennen, dachte der Träumer und griff in die Zweige, welche scharf und stachelig waren. Es schmerzte, doch fühlte er deutlich, daß jener Baum, ganz ähnlich wie die Algen das Brunnenwasser, auch diese größere Flut am Verfaulen gehindert hatte . . . Indessen aber der Traumbaum von Menschen und Tieren durchwandelt wurde, schien er selbst immer fester zu werden; er gewann eine eigentümliche Form: ein Gesicht, dessen Stirn von dem Bogen der Äste sehr breit gebildet wurde und dessen Augen, mit Wasser erfüllt, eisblau und fürchterlich klar durch das Spiel der Geschöpfe blickten. Es war das Gesicht des Philipp Allwissend, und im Erkennen wurde dem Träumer jene zarte und schneidende Freude zuteil, welche Schmerz, mit Erleuchtung vermischt, den Menschen zu bringen pflegt.
»Da bist du also wieder«, sagte der Philipp Allwissend ohne Verwunderung.
»Wahrhaftig: da bin ich wieder«, entgegnete Aladin.
»Ein Glück«, fuhr der andere fort und lächelte jetzt so verschmitzt, wie wohl der Hostienbäcker im Ried gelächelt hatte, »daß ich euch damals beide auseinandergehalten habe –«, er streckte die Arme weit von sich fort, als wolle er zeigen, in welche Entfernung er Sohn und Vater gedrängt, und daß er sie an den Enden der Arme voreinander verborgen hatte: nicht anders wie Regen und Sonne im gleichen Wetterhäuschen.
»Schon damals hast du mich also erkannt!« rief Aladin staunend aus.
»Wie heute«, sagte der Philipp Allwissend, »und wie in Ewigkeit . . .«
»Ja«, flüsterte Aladin bebend, »wenn du zu erzählen anfängst, stehen die Toten auf.«
»Die Lebendigen, Peter«, sagte mit tiefer, 227 geheimnisvoller Stimme der wunderliche Mann. Eine Weile wurde es still zwischen ihnen, nur das Wasser bewegte sich sanft und spülte durch Philipps Finger stets neue Gegenstände – »nimm!« forderte der Allwissend den träumenden Menschen auf und warf ihm etwas zu; er wollte es fassen und griff daneben – »die Hütchen ab!« rief der Philipp – – aber plötzlich war zwischen ihm und dem andern der kleine Lückenbüßer und machte den Mittelsmann. Immer weiter und weiter: ein Stein und der nächste verband sich mit dem ersten; Aladin mauerte Kirche und Schule, das Rathaus, das Spritzenhaus, Plätzchen und Straßen – – und mauerte sein Dorf. Es war nicht schön, es war nicht sehr groß, aber der Lückenbüßer klatschte entzückt in die Hände und rief: »was du alles kannst!«
In diesem Augenblick schwebte das Dorf, rund um sich kreisend, empor; jedes Haus hatte winzige Ruderfüße, ganz ähnlich wie Glockentierchen, und drehte sich mit dem Ganzen – so zeigte sich das Erbaute noch einmal von allen Seiten, bevor es nach oben entschwand. Tief unten stand Aladin, sah in die Höhe und fühlte, wie seine versunkene Heimat wieder ans Tageslicht kam. Er hob die Hände, und siehst du: da war noch ein unbedeutender Stein, den er einzufügen vergessen hatte – »halt! haltet!« hörte sich Aladin rufen, doch das Dorf schwebte fühllos weiter und schien den Verlust des Steines nicht mehr bemerken zu wollen – – »ich bin es doch! ich,« rief der Mann verzweifelt: und von der gleichen Kraft, die das Dorf mit Macht in die Höhe sog, wurde Aladin angenommen; er fühlte noch, wie ihn ein Wirbel packte und unwiderstehlich drehte; Mund, Nase und Ohren füllten sich rasch mit dem unbarmherzigen Wasser, Aladin wußte: dies war sein Ende, obwohl er, je schwerer er wurde, immer weiter nach oben schwebte. Dann durchbrach er die Traumesfläche . . .
Indem er erwachte, fühlte er schon, daß er nicht lange geschlafen hatte und die Nacht wohl kaum in der Mitte war: 228
Er hörte die Stalltür klappen, das schwache Licht der Laterne ging über den Hof und zum Haus hin – der Bauer hatte, bevor er sich legte, noch einmal nach dem Braunen gesehen, der trotz des trockenen Futters öfter an Blähungen litt. »Krepieren –«, dachte der Erlenhöfer mit tiefer Erbitterung und sagte dieses Wort noch ein paarmal laut vor sich hin; es tat ihm wohl und erleichterte ihn, als ob ihm ein Fremder die Qual seines Daseins bestätigt hätte. Jawohl. Krepieren würde der Gaul wie das Schwein, das den Klicker gefressen hatte, bevor sein Fett auf der Höhe war; krepieren würde der ganze Hof, wie eine verdurstete Kuh, der das Wasser am Maul vorbei- und in den Steuertrog lief, damit die Faulenzer trinken konnten, ohne gepumpt zu haben. Er stöhnte leise. Warum, warum? Warum ging es stets weiter mit ihm bergab, als ob das Grundwasser, das die Dränage jedes Jahr aus dem Keller holte, den Erlenhof doch noch am Ende zu sich herabziehen sollte? Das machten nicht die Steuern allein und nicht der verdammte Zufall, wenn's überhaupt sowas gab. Das ging nicht nur nach dem Einmaleins – nein, nein, das gründete tiefer, dort, wo die Zahlen zu Ende waren und nur noch das Beten half. Das Beten? was man so beten nannte, wenn der Gaul einen Blähbauch bekam. Redensarten. »Der Herrgott meint's gut«, pflegte die Kätta zu sagen, wenn die Sonne am Waschtag schien. Der Herrgott. Den würden gerade die alten Windeln bekümmern, die auf dem Rasen lagen. Er seufzte und hing die Laterne neben der Haustür auf. Bald brauchte die Kätta neue. Die erste Serie stammte noch immer von dem leidigen Lückenbüßer. Wenn er ihn und das Kind in der Frau mit den andern zusammenzählte – was, war er schon wieder am Rechnen? doch kam er nicht davon los.
Zuerst die Zwillinge: ja, die waren vom selben Stück Zeug abgeschnitten; hätte der eine nicht ungleiche Ohren und der andre ein Pfefferfleckchen unter der Nase gehabt, so wüßte er heute noch nicht, welcher Franz 229 und welcher Johannes hieß. Dann folgte das Magdalenchen mit dem Böswettergesicht. Es war der Mutter am ähnlichsten und konnte von einer zur andern Minute so entsetzlich jähzornig werden, daß man es, um ihm zu helfen, auf Schultern und Rücken schlagen mußte, damit es die Luft nicht verlor. Zuletzt der Jüngste: das Karlchen; der kam auf den Vater des Bauern heraus und schien genau so ein Dickkopf zu sein – eigentlich, dachte der Erlenhöfer, hätte er doch nun von jeder Sorte und alles doppelt genäht: die Kätta glaubte, das nächste Kind würde wieder ein Mädchen werden. Aber nein, es ging immer weiter. Der Hof nahm ab und die Kinderzahl zu. Das eine stieg, und das andere sank, als ob dies zwei Waagschalen wären. Sinken und Steigen . . . so war das Leben, und das Leben, dünkte dem Bauern, wollte beides mit gleicher Kraft. Da half kein Wille und auch nicht der Umstand, daß der Sohn es genau so machte wie sein verstorbener Vater, der es wieder von seinem Vater und von allen Voreltern hatte. Oder sät einer plötzlich gegen den Wind? Legt er Bohnen, bevor die kalte Sophie ihre Röcke geschüttelt hat? Alles geschieht, wie es immer geschah – aber was gestern ans Tageslicht wollte, will übermorgen sterben. Das gehört zu dem Leben, das sitzt mitten drin, dagegen ist kein Kräutchen gewachsen: das Leben will leben, das Leben will sterben – »laß mich schlafen«, sagte sein Vater, der ohne Krankheit gestorben war, und drehte sich gegen die Wand . . .
Schlafen – – dachte der müde Mann. Schlafen und Untersinken. »Nein!« sagte er laut zu sich selber und stärkte sich flüchtig an diesem Wort, wie es ihm vorher wohlgetan hatte, ein paarmal »krepieren« zu sagen. Aber gleich fiel wieder die Nutzlosigkeit des Widerstands über ihn und warf alles über den Haufen. Was half es, daß er sich aufrecht hielt, wenn in ihm und außer ihm etwas war, das nicht mehr mitmachen wollte? Denn er fühlte, obgleich nur dumpf, und ohne daß er sich dieses Gefühl 230 hätte beweisen können: in seinem Dasein, auf seinem Hof hier und mitten in seinem Bett war die Kraft, die nach unten zog. Kätta! jawohl die Kätta und keine andere – sie, welche immer die Hand in den schmerzenden Rücken stemmte, wenn er was von ihr wollte, und trotzdem Kinder um Kinder kriegte, doch nicht eines mit solcher Wonne wie damals den Lückenbüßer.
Das war aber, dachte der Bauer zornig, ihre verrückte Art: sich gerade an das zu hängen, was wild gewachsen war, obwohl sie sich selber nichts gönnte und jeden Pfennig dreimal herum und wieder in die Faust hineindrehte, bevor sie sich endlich entschloß, ihn für was anderes auszugeben als für Seife, Soda und Salz. Geschmack von diesen drei Dingen kam dem Bauern bös auf die Zunge, er spuckte über den Hof hin und zog die Haustür von innen zu; dabei erinnerte sich der Mann, wie er einmal bei ihr auf den Boden gespien und den Speichel hernach verächtlich mit der Sohle verrieben hatte: soviel wäre ihm seine Schwägerin, die Laura, heute noch wert! Da war die Kätta wie eine Katze auf den Erschrockenen zugefahren und hatte ihn angefaucht, daß ihm Hören und Sehen verging; er begriff es wahrhaftig heute noch nicht, daß eine Frau, die so ordentlich war, diese Schneppe in Schutz nehmen konnte. Aber immer wieder erlebte der Mann dieselbe Sache mit ihr: ob es sich nun um den Bankert oder die Liesa gehandelt hatte – vielleicht weniger um die Liesa, dachte der Erlenhöfer, denn die war ihr zu untertänig – es brauchte nur einer zu wuchern wie unbeschnittene Bäume und den allzu eifrigen Samen über den Zaun zu werfen: so sah sie auf seine Taten hin, wie Kinder ins Unterholz blicken. Selbst dieser Niemand, der Aladin, der sich jetzt Schaffner nannte, konnte sich drauf verlassen, daß die Kätta, obwohl sie ihn anfangs durchaus nicht zu leiden schien, ihm Unterschlupf bieten würde, solange es notwendig war; sei es nur, daß sie die Feinde wie eine wilde Glucke von seiner Spur ablenkte, indem sie zu lahmen vorgab – er lachte 231 kurz und heftig: die Verschwörernacht stand ihm vor Augen und was ihm seine Frau darüber berichtet hatte.
Aber Aladin hin und her. So nützlich ihm der Mann in praktischen Dingen auch war – er hatte von ihm genug. Je länger er mit ihm zusammenlebte, desto weniger wurde er klug aus ihm; auch war ihm, hol's der Teufel, die Sache bald zu gefährlich und riß da und dort Löcher auf. Schon sickerte überall etwas durch; nichts Bestimmtes natürlich – doch um so schlimmer, denn jeder wußte was anderes und wollte dem Kerl, wie damals der alte Scherenschleifer, irgendwo und wann mal begegnet sein. Es sollte ihn nicht wundern, wenn heute das Schlabbergretchen, das Klatschmaul, das verdammte, seine Seele verschworen hätte: sie kenne ihn, ei natürlich, er habe ihr doch als Junge über die Schuhe gepißt. Nein, nein, das tat auf die Dauer nicht gut – –
Nun stieg der Erlenhöfer langsam die Treppe hinauf, die Bohlen knackten, sein Knie knackte mit, in den Wänden sirrte und rieselte es, wie es schon immer gerieselt hatte: auch damals, als er den Aladin mit sich zum Boden hinaufnahm, um ihm die Flinte zu zeigen, hatte es so getan; doch dünkte ihm, daß das Gewisper der Wände die ganze Zeit über still gewesen und erst heute wieder erwacht sei. Ihn schauderte. Guck, und da stand ja das Fenster am ersten Absatz offen – sollten die Fledermäuse denn in den Milchtopf fallen? Was, Fledermäuse! besann sich der Bauer. Die hingen doch schon lange in der Scheuer nebeneinander. Wie müde mußte er sein, daß er mit offenen Augen das schwarze Geflatscher sah. »Fort!« sagte der Erlenhöfer gepeinigt und wischte sich mit dem Ärmel über das rauhe Gesicht, aber es wollte nicht helfen, daß er von außen verscheuchte, was innen in ihm geschah. Kätta . . . dachte der Bauer wieder; dieser Name glitt ihm gedankenlos von den krummen Schultern herunter wie ein allzu beladener Sack: was hatte er doch seit vielen Jahren in ihn hineingestopft! Hartes und Weiches, keins überwog, und allmählich 232 wurde für ihn seine Last zu etwas, worauf man auch ab und zu den schweren Kopf legen konnte. War ihr Name mehr Sack, mehr Kissen für ihn? er hätte es jetzt nicht mehr sagen können – nur, daß er Gewicht hatte, fühlte er deutlich und war auch gerecht genug, einzugestehen, daß alles, was ihm zuviel gewesen, dort hinübergewandert war . . .
Ob die Kätta schon schlief? dann wird er sie wecken und fragen, was das Gretchen heute wieder gewußt hat; er selber machte sich immer fort, wenn die Weibsleute unter sich, das hieß aber: mit dem ganzen Dorf und allem, was passierte, beim Kaffee zusammen waren. Der Bauer bückte sich auf der Schwelle und zog die Stiefel aus; seine Frau: die konnte nicht leiden, wenn der Mistgeruch in das Schlafzimmer kam.
[Aladin . . . Kätta. Kätta . . . Aladin; er merkte es gar nicht, daß seine Gedanken beständig dazwischen pendelten, als wäre der eine Name mit der Kraft des andern geladen und stieße ihn dorthin zurück.]
Aber die Kätta schlief nicht, sondern saß hoch in den Kissen; sie hatte, obgleich ihr mit jedem Kind die Frucht immer tiefer nach vorne rutschte, stets heftige Atembeschwerden, sobald sie von neuem schwanger war – vielleicht auch, dachte der Bauer, wie alle Männer denken, war es nur Einbildung, Angst vor der Zukunft und dem, was sie wieder als neue Last in ihre Arme legte.
»Was macht denn der Braune?« fragte die Frau.
»Ein paar Winde sind abgegangen«, versetzte der Bauer mürrisch; es klang so, als ob der ganze Gaul ein einziger Windsack wäre und nur wie aus Versehen was hätte streichen lassen.
Sie schwiegen ratlos, dann meinte die Frau: »versuch es doch mal mit dem Pulver, auf das dein Vater geschworen hat.«
»Ach«, sagte der Bauer und gähnte, »das Alte hilft auch nicht mehr.« Er warf seine Jacke unten aufs Bett, die 233 Strümpfe neben den Stuhl. Mochte der Kleiderkram kreuz und quer und durcheinander liegen – es kümmerte ihn so wenig, wie es ihn früher gekümmert hatte, als er noch hitzig gewesen war und nicht rasch genug zu der Frau kommen konnte – ja, dachte er und lachte so höhnisch, daß die Kätta erschrocken zusammenfuhr, das war freilich ein anderer Grund.
»Natürlich«, bellte sie, jetzt erst gereizt, »du weißt ja alles besser. Du bringst ja den Hof so weit in die Höhe, daß der Herrgott im nächsten Frühjahr die Bäume kappen muß.«
»Halt dein Maul –!« schrie der Bauer außer sich. »Ich könnte sonst noch vergessen, daß du was Kleines hast.« Er zitterte unter dem Nachthemd und ließ die erhobene Hand langsam heruntersinken; die Frau kroch ein Stückchen zusammen, doch konnte sie es nicht missen, ihm noch was aufs Brot zu schmieren:
»An das Kleine hättest du denken sollen, bevor du es gemacht hast«, zischte sie ohne Stimme, »dann wäre ihm später wohler.«
»Da hast du recht«, gab er bitter zurück, »dann wäre uns allen wohler.«
Sie lagen nebeneinander und redeten in die Luft. Keiner sah nach dem andern hin – wozu auch? Jeder glaubte seinen Bettgenossen zu kennen: diesen anderen Mann, diese andere Frau, und zwischen ihnen war gar nichts, was sie verbunden hätte, wenn sie so eifern mußten: nicht der Hof, nicht die Kinder – im Gegenteil. Das türmte sich wie ein Haufen Erde, der von beiden Seiten höher geschippt und aufgeworfen wurde.
»Mach das Licht aus«, sagte endlich der Mann; er war zu faul, zu zerschlagen, um noch einmal aufzustehen und den Knipser herumzudrehen, der sich neben der Tür befand. Sie schob die Beine langsam unter der Decke hervor und ging ächzend auf platschenden Füßen quer durch das Zimmer hin; dabei kam sie an kleinen Blumentöpfen mit Mistbeeterde vorüber, worin ihre 234 Stecklinge saßen, und an den hölzernen Kästen, in denen die Pelargonien den leichten Winterschlaf hielten. Gewohnheitsmäßig bückte sie sich, um die braunen Blättchen herauszulesen und den Boden ein wenig aufzukratzen, ob er noch Feuchtigkeit hätte; doch verweilte sie länger als sonst bei ihrer Beschäftigung – sei es, daß sie noch trotzte oder daß sie den Rat und die Liebe, die der Mann nicht annehmen wollte, an was anderes hergeben mußte.
Er fühlte es. »Laß doch das Dreckzeug«, sagte er ungeduldig. »Die Fensterbretter brechen bald ab von deinen Blumenscherben, aber immer mußt du noch Stecklinge schneiden und Knollen im Keller haben, sonst ist dir ja nicht wohl.«
Sie hob das blasse Gesicht, das jetzt vom Bücken gerötet war, und sagte mit flehender Stimme: »die meisten sind wieder verfault, ich weiß gar nicht, woran das liegt – und an den Gladiolenknollen im Keller müssen Mäuse gewesen sein.«
»Meint'swegen«, knurrte der Bauer; er wußte genau, was jetzt kommen würde, und warf sich auf den Bauch. »Das Licht aus –«, befahl er von neuem. Sie gehorchte und stieß auf dem Weg zum Bett einen der Töpfe an, blieb stehen und schien ihn aufzurichten oder die Erde fester an den jungen Steckling zu drücken; der Mann grub sich tief in die Kissen ein, um nichts mehr vernehmen zu müssen, neben ihm knackte das Ehebett – »hör doch mal!« bettelte nun die Kätta; ihre Stimme drang wie durch Wasser zu ihm – nein, nein, sie sollte ihm endlich sein bißchen Ruhe lassen . . . Ach, Ruhe! dachte der Bauer verzweifelt und fühlte, daß sie, je mehr er sie suchte, sich um so weiter von ihm entfernte; dabei zog es ihm in den Beinen, als ob er Blei darin hätte: immer tiefer und tiefer und stärker nach unten – er stöhnte und warf die Decke zurück, richtig, fast hätte er ganz vergessen, nach dem Schlabbergretchen zu fragen, und was sie von Aladin wußte. 235
Er stützte den Arm auf, legte den Kopf in seine zerschundene Hand und sagte, aber noch immer ins Leere: »was hat euch denn heute das Gretchen mal wieder weisgemacht?«
»Ach«, gab die Kätta eifrig zurück – sie dachte: spricht er nur erst mit mir, so bringe ich ihn herum; dabei wuchsen prächtig geflammte Gladiolen vor ihren Sinnen auf – »sie hat halt wie immer von allem geschwätzt, was den Leuten so manchmal passiert. Zuerst von der Vogels Anna, die den Weibern, wenn sie mit Knöpfen und altem Gummiband geht, die Karten auf den Tisch schlägt, damit sie nur recht viel kaufen. Die kam also neulich zu einem Mann, der allein in der Küche war, und fing dort an zu behaupten, gleich neben dem roten König läge ein schwarzes Mädchen – der Mann nahm es wörtlich, es ging nicht gut aus; und jetzt sagen sie alle, wenn dieser Mann, er heißt nämlich Ochs, ihnen am Acker begegnet: ›wie kommt der Ochs in das Vogelnest?‹ ja – wie die Leute so sind. Dann hat sie von meiner Freundin, der Krummacher Marie, erzählt, daß die Baugenossenschaft jetzt ihr Haus versteigern läßt, weil sie die Zinsen nicht aufbringt; der Mann ist doch arbeitslos.« Sie verstummte, und rückte noch einmal leise den Angelhaken, bevor sie ihn emporzog: »nun, das ist eigentlich alles – –«
Der Bauer fühlte, da war nichts zu machen. Abkaufen mußte er ihr, was er gern wissen wollte.
»So, so – die Krummacher Marie?« begann er bedächtig den Handel, »hast du von der nicht im vorigen Jahr die Tulpenzwiebeln bekommen?«
»Ja. Aber da bin ich hereingefallen«, erwiderte die Kätta; man merkte jetzt ihrem Atem an, daß sie dem Ziel ihrer Wünsche besinnungslos näher kam. »Papageientulpen sollten es sein, so rotgefleckte, hat sie gesagt, mit zausigen Blumenblättern – nachher waren sie einfach gelb.«
»Ja, ja, die Zwiebel hat sieben Häute«, erwiderte der 236 Bauer, »und was drinnen steckt, sieht man ihr außen nicht an. Auch der Name, der auf dem Zettelchen steht, macht noch lange nicht Salomons Garten aus. Da schreibt mancher was auf sein Tütchen –«, er schwieg und lauerte still.
»Der Name«, sagte sie widerwillig, »wird oft für eins und das andre gegeben, aber irgendwas muß doch wohl dran sein, wenn man ›Tulpe‹ für eine Tulpe sagt.«
»Ja: Tulpe ist Tulpe«, meinte der Bauer, »nur das Unkraut hat viele Namen und heißt heute so, morgen so.«
Sie wußten beide, wen sie jetzt meinten, aber keiner wollte dem andern ein wenig näher kommen. So standen sie denn mit erhobener Hacke einander gegenüber: der Bauer, um jenes Unkraut und seine bleiche, leuchtende Blüte erbarmungslos niederzuschlagen; die Kätte, um den Schlag, wenn er käme, noch einmal abzulenken – ja, »Unkraut hat viele Namen«: jener Ausspruch brannte in ihrem Herzen, unter dem jetzt ein anderes pochte, und entzündete das Geflecht ihrer durch diese Schwangerschaft wieder angeschwollenen Adern; ein wilder Duft umnebelte sie und schien aus geöffneten Kelchen Versprechungen zu verströmen, die niemals erfüllt werden konnten – aber wann wurde in ihrem Leben auch jemals etwas erfüllt?
»Das ist nicht nur bei dem Unkraut so . . .«, brachte sie mühsam hervor, »auch die Hasen wechseln im Winter den Pelz, und wer verfolgt wird, muß sich verstecken, einmal scheren, einmal den Bart wachsen lassen; mal Hans, mal Peter heißen.«
»Mal Schaffner, mal Aladin«, ergänzte der Bauer hart.
»Du hast ihn ja haben wollen«, sagte die Bäuerin schadenfroh.
»Und du nimmst ihn plötzlich in Schutz!« brach der Mann in der Dunkelheit los.
»Wieso denn?«
»Ja: wieso denn?« äffte der Bauer ihr nach. »Aber ich weiß auch genau, warum«, fuhr er fort und ließ seinen 237 Feuerwagen ohne Hemmschuh hinuntersausen. »Bloß weil der Kerl an dem Lückenbüßer, an diesem Wegerich, dieser Quecke, an deinem Kräutchen Rühr-ihn-nicht-an einen Narren gefressen hat. Der Große am Kleinen, das paßt ja ganz gut: der eine ist aus der Kanone gefallen – der andere aus dem Franzosensack.«
»Das ist nicht wahr!« schrie die Kätta rasend und zog die Beine vor Wut an den Leib, dessen Wölbung sie schon berührten. »Die Laura hat sich bloß nicht verteidigt, als mein Bruder, der Narr, sie fortgejagt hat –«
»Weil sie huren wollte, die Sau!« tobte der Erlenhöfer. »Da wird sie wohl auch vorher nicht immer gebetet haben. Aber du, du glaubst ihr natürlich!«
»Und ich sage dir«, brüllte die Frau zurück, »daß der Peter sowenig ein Hurenkind ist, wie der Aladin ein Franzose – –«
»Das weiß ich doch«, stutzte der Bauer, »daß der kein Franzose ist.«
»Und ich weiß wahrscheinlich noch mehr«, sagte die Kätta heiser. Sie war jetzt erschöpft, ihre Kraft ließ nach. Einerlei, was aus dem Aladin wird, dachte sie ausgehöhlt, wenn bloß der Kleine . . . ja, was denn? sie gab sich keine Rechenschaft mehr und wußte nur, daß sie für dieses Kind den Fremdling verraten hatte.
»Was weißt du denn?« keuchte der Bauer und warf sich auf die Seite; sie roch seinen Mund, er war ihr so nah, daß sie wieder zu hassen begann.
»Ach«, sagte sie stumpf und verloren, »warum fragst du denn nicht die Liesa, die war doch auch dabei.« Sie wußte natürlich ganz genau, daß das unmöglich war: die Liesa behielt kaum zwei Sachen auf einmal, verwechselte alles und brachte das Garn stets mit dem Hanf durcheinander.
Er wollte auffahren, nahm sich zusammen und fing es besser an: »aber Kättchen«, tat er ihr freundlich – sie schauderte, rückte der Bettkante zu und ballte ihre Hände; dabei merkte sie, daß ihr ein welkes Blättchen darin 238 sitzengeblieben war. Die Frau besann sich, fühlte erstaunt eine schwache Erleichterung, ein halbwegs eingelöstes Versprechen, einen aufgenommenen Wunsch. So jammerte sie mit jener Stimme, welche Frauen, um ihre Männer zu quälen, eigens erfunden haben:
»Jetzt heißt es ›Kättchen‹. Natürlich. Wo du was von mir willst. Aber ich: ich soll es mal wagen, ein paar lumpige Essigrosen in meine Beete zu setzen, gleich wirst du wieder grob.« Nein, nein, jetzt ließ sie nicht locker; jetzt hatte sie ihren Mann wie niemals in den Fäusten – und so billig, wie sich der Bauer das mochte vorgestellt haben, gab sie den armen Schächer, den Aladin, nicht her.
»Ich habe ja gar nichts dagegen«, knurrte der Erlenhöfer, »wenn du dir Samen bestellst.« [Aber Thomasmehl, dachte er ganz tief innen, und Kali wäre besser. Er begriff sich nicht, daß er nachgab, und begriff erst recht nicht die Kätta, welche sonst so ein Sparbrotchen war. Doch wenn es an ihren Garten ging, gab es immer denselben Krach.]
»Auch Rittersporn und Studentenblumen?« fragte sie aufgeregt. Ihre Stimme, die sonst fast so tief wie die Stimme des Bauern war, kam höher und höher hinauf.
»Von mir aus«, sagte der Mann gepreßt.
»An den Rändern pflanze ich wieder Phlox und im Schatten ein paar Balsaminen. Es soll auch, hab' ich gehört, eine neue Sorte Gladiolen geben, ganz weiße mit roten Spitzen – und Dahlien, ja – – sehr viele Dahlien müssen es wieder sein . . .«
»Du bist doch sonst mit Astern verrückt«, schlug der Mann ihr was Billiges vor.
»Natürlich«, sagte sie fiebernd. »Gefüllte und ungefüllte. Und Löwenmaul darf ich ja nicht vergessen. Aber Zinnien – nein, Zinnien sind mir zu steif.«
»Und wenn du fertig bist, Kättchen«, brummte der Erlenhöfer, »pflanze ich noch einen Busch tränende Herzen dazu.« 239
»Ach«, sagte sie irre, »die kommen von selbst«; sie stockte: Aladins dunkles Gesicht tauchte schwermütig vor ihr auf – – »aber Reseda und Goldlack, und hinten, wo es so feucht ist, ein Beet Vergißmeinnicht«, fuhr sie leidenschaftlicher fort und bewarf schon in ihren Gedanken diese Stelle mit Blumensamen – nein, nicht mehr diese Stelle, sondern das fremde Antlitz, den haarigen Leib und die scheuen Hände des großen Lückenbüßers. Immer neue Blumen: Glocken und Sterne mit süßen, stäubenden Pollen brachen ihr aus den Händen; die kalte, bittere Luft des Schlafzimmers sättigte sich mit Düften und schwamm als farbige Wolke über den Ehebetten. Zitternde Ranken, gefiederte Blätter schossen auf wie nach warmen Gewittern und verschränkten sich in der Höhe; sie tropften von Honig, trieften von Tau und rieselten von Samen . . .
Von dieser unbegreiflichen Fülle wurde Aladin ganz bedeckt; er verschwand darunter, selbst seine Schuhe mit den spitzen, furchtsamen Schnäbeln sahen nicht mehr hervor.
»Also –?«fragte der Erlenhöfer in die glühende Dunkelheit. Sie bewegte sich, seufzte, gab her, was sie wußte, erzählte Aladins frühe Geschichte und setzte sein irdisches Teil wie das Muttertier seine Jungen aus, wenn die Milch in den Zitzen versiegt ist . . .
»Nun«, sagte der Bauer am Ende, »jetzt weiß ich ja Bescheid. Zum Narren hat er uns alle gehalten, ausspioniert wie ein Vagabund, der mit dem vorlauten Stecken in jeden Kehricht fährt –«, er endete, weil er fühlte, daß dieser Vergleich ihm selber wohl nicht zur Ehre gereichte, und fuhr gelassener fort: »nach Weihnachten muß er gehen, so gut ich ihn dann gerade zur Arbeit brauchen könnte. Und er war ja sehr willig, der Mann.«
»Das war er . . .«, sagte die Kätta leise, aber vollkommen ohne Reue. Warum auch? Schon gab es in ihren Sinnen keinen Jean-Marie Aladin mehr – und anders als bloß in den Sinnen hatte sie ihn so wenig wie die Liesa den 240 Dodot getragen. Nun sah sie ihm gleichgültig auf den Rücken: mag er gehen, dachte die Frau befriedigt und fühlte, daß er durch seinen Abschied einen Garten hinter sich ließ – dabei hatte sie, ohne es selbst zu wissen, bereits sein Gesicht vergessen, das schwarz von den Bartstoppeln war. Es dauerte sie ein bißchen, ja. Doch je weiter er sich entfernte, desto weniger merkte sie ihn. Bald würden alle hier auf dem Hof nichts mehr für ihn und nichts mehr gegen ihn haben: genau so wie ein Acker, auf welchen man heute Hackfrucht und morgen Weizen pflanzt. Der Acker vergißt seine vorige Frucht, die Menschen vergessen noch rascher, wie der Acker dazumal aussah; sie vergessen einander, wie alles auf Erden einander am Ende vergißt – wer aber vergißt nicht den Menschen, auch wenn er sich selber vergaß?
»Ich weiß nicht, ob ich recht damit tue«, dachte der Bauer laut und hing in dieser Erwägung fester, als die Kätta in ihrem Mitleid jemals gehangen hatte. »Doch einerlei: so ein Mann muß fort. Nach Weihnachten muß er gehen.« Das war sein Entschluß. Nun durfte er schlafen. Denn wie hätte er damals schon ahnen können, daß nach Weihnachten alles verändert und sein Wille durchquert worden war?
Doch nach Weihnachten, kurz nach Dreikönig: Kaspar, Melchior und Balthasar hatten den Weg gefunden, und in den Gläsern, unter den Hütchen, trieben die Hyazinthen – war die Bäuerin bereits tot. 241