Elisabeth Langgässer
Proserpina
Elisabeth Langgässer

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Die Tage kamen zögernd und gingen mit helleren Säumen; wenn die Wolken am Morgen zerrissen, brach der frische, blasse Himmel wie junge Haut hervor, und in der rosigen Bahn der untergehenden Sonne flogen die Wildgänse mit langgestreckten Hälsen nach Norden.

Nun mehrten sich die Zeichen der Verwandlung: Der Plaudermund des Brunnens ging wieder auf und nieder, und, blank vor Nässe, glänzte der grüne Feldsalat aus der Schürze der Magd; die immerblühenden Stiefmütterchen entrollten den Rand ihrer Blätter und schienen freundlicher; aus dem bereiften Gras kam, zitternd vor Unschuld, die Hornungsblume hervor, und über den Veilchenbeeten wehte ein Duft, der aus der Tiefe zu dringen schien, als hebe und senke sich dort, in schon erleichtertem Atem, die Brust der schlummernden Kore.

Bald hörte Proserpina auf s neue den Namen des Gärtners fallen, und er kam ihr verheißungsvoll entgegen wie der Gesang der Reifen und der rascher tropfende Aufschlag der ungeduldigen Bälle, Geräusche, an denen noch immer das Ohr vor dem Auge den Einzug des Frühlings erkennt. 148

Jetzt rollte das Leben hervor und war rund und prall in dem fetten Keimblatt enthalten; es krümmte sich, gebogen wie ein gefährlicher Haken, in jedem Blattstiel ans Freie und schien, sich üppig entfaltend, an einem Übermaß von Kraft geborsten zu sein, einer rätselhaften Fülle, die still genährt worden war und für das wartende Kind bald wieder Jakob hieß.

Der Gärtner kam und begrüßte es wie der Feldgott den stürzenden Pflug, der ihm die Erde öffnen soll und den Winter über nichts von seiner Schärfe verloren hat. Er hatte vielfältige Samen mitgebracht, und ihr Duft, der wie Milch und Eisen war, quoll durch die kleinen Tüten und erfüllte, wie eine Wolke, unter welcher der zeugungslustige Pan sich verbirgt, das bretterne Gartenhaus: Duft des Samens der gelben Rübe, welcher in den Boden verliebt ist und sich mit winzigen Krallen an ihm verankert, würziger Geruch, der ihm entströmt und von einem flüchtigen Öl herrührt; Duft des Stiefmütterchensamens mit dem fleischigen Anhang, den die Ameisen forttragen in ihren Bau; Aurikel-, Reseden-, Nelken- und Glockenblumenkorn, das in schwärzlicher Schale ruht, plattkugelige Hülle des Spinats und runder Same der Kürbispflanze, die den Misthaufen sucht und auf dem düngerbeworfenen Dach der Laube die goldenen Bälle treibt.

Nach Art und Namen lehrte der Gärtner das 149 Kind, was er aussäte, kennen; und bald übertraf es den Meister. Auf flachen Händen wog eine Unterweltgöttin, was sich hinab zu ihr sehnte, und ohne die Lider zu öffnen, erkannte sie das blinde Korn und fühlte entrückt seinen leichten Bau: das wulstig geriefte Samengebilde der Kapuzinerkresse und die angequollene Erbse.

Was zuerst aus der Tüte floß, gehörte ihr – und weil wunderbar auftrieb, wovon sie zwischen den Lippen gekostet hatte, ließ sie der Gärtner ein Korn jeder Aussaat öffnen, bevor er das Land bewarf; er verband ihr die Augen, und über die Beete geneigt, rief das Kind den schlummernden Keimen zu.

Sie kamen eiliger; dann aber standen sie geil und üppig in ihrem Namen und wollten nicht Frucht ansetzen, obwohl schon alle Triebe in glasigem Grün ausschlugen und, wenn man die Stengel abbrach, einen farblosen Saft entließen, der die Hände sogleich befleckte und scharf auf der Zunge war.

Als ob auf die Zeugung des Frühlings die Erde mit einer matten und leeren Schwangerschaft, die um ein Nichts gewölbt war und auftrieb, geantwortet hätte, besetzte sich aber der Garten mit kriechenden Gewächsen, die sich kraftlos am Boden wanden oder dirnenhaft den Starken, der sie emporzog, erdrosselten, doch jedem Versuch, sie 150 zu roden, hartnäckig widerstanden: Der Mäusedarm umschlang, auf dem Wege liegend, sich selbst mit unzähligen Armen und öffnete kleine Blüten, die weiß und duftlos waren; blaumäulig erschien der Gundermann und versuchte sich aufzurichten; die rote Zaunrübe aber, deren lappige Blätter die Rebe äffen, während ihre Wurzel die Form der Alraune bildet, erklomm die Erbsenreiser mit ihren dürren Armen und sah, noch blütenlos, auf halbem Weg zurück:

Das Erdreich glich einer Wildnis und war überwuchert von Pflanzen, die der Gärtner nicht glauben mochte, weil sie auf seinen Beeten noch niemals heimisch gewesen waren und nur, wie er sagte, durch Zauber hierhergekommen sein konnten – von Gauchheil, der unter der Saat wächst, und Vogelknöterich, verschleppten Klettenteilen, die auf den jätenden Händen wie braune Bettler saßen, und Wegerich, dem Siedler, den des Menschen Fuß am Eingang des friedlich umzäunten Landes undankbar hinter sich läßt.

Wie eine bedrohte Insel, die stündlich weniger wird, weil sich die Elemente ihr Teil zurückerobern, verkleinerte sich der Umkreis des mühsam Angebauten, und ohnmächtig mußte der Gärtner sehen, wie selbst die alten Mauern von efeublättrigem Leinkraut so stark bevölkert waren, daß, nun sich die Grenzen verraten und aufgegeben 151 hatten, weder Arbeit noch Fluch mehr helfen wollte und er zornig zu sagen pflegte, hier habe ein anderer Rachen den Samen zwischen die Steine und Sandkörner gespien – denn des Leinkrauts Verbreitung ist diese: daß es, verblühend, sich der Mauer zukehrt und aus gezahnter Kapsel die kleinen Körner verstreut.

Von Wiese, Ödland und Ackerfurchen wanderte das Unkraut ein, umschlang die Füße des Gärtners und schien den begrenzenden Heger und Erdbebauer zu höhnen: Quecke, Wollgras und Ackersenf, die dem Menschen feindlich gesinnt sind, weil er um so mehr sie zu vernichten bestrebt sein muß, als er anfängt, seinen Kindern ein Vater zu werden, und liebevoll den Weinstock an die Mauer des Hauses bindet.

Oft stand der Bursche sehr lange unbeweglich und wie in Stein verwandelt inmitten der Wildnis da; auf den Spaten gestützt wie damals, als das Kind durch ihn hinabgerissen und den Schatten zugesellt worden war, schien er sich vergeblich darauf zu besinnen, ob er Jakob wäre, der Gärtner, oder Pan, den die weiche Natur in ihre Umarmung zog; seine Haut wurde grau wie Stein, und sein Mund blieb leicht geöffnet stehen, als ob er, wie das Nistloch der Elstern, mit einer magischen Wurzel geöffnet worden wäre – nur, daß er jetzt Fragen stellte, wo er früher geantwortet hatte. 152

Bald sann er auf Gegenzauber: über den Eingang des Gartenhauses malte er zuerst mit Kohle, dann aber, nachdem ein spottender Regen sie noch am gleichen Abend verwischt hatte, mit grober Kreide die Namen der morgenländischen Weisen; bewarf die Wege mit Beifuß und band Stricke, die er vor Sonnenaufgang durch fließendes Wasser zog, um die Bäume. Doch wollte das alles nicht helfen; vielmehr triumphierte das Unkraut noch höher als zuvor und schien, wenn es der Gärtner unter Verwünschungen ausgerauft hatte, einen unterirdischen Stengel zurückgelassen zu haben, der doppelt und dreifach die erste Pflanze ersetzte. Dann sah er wohl scheu und wie aus gewaltsamen Träumen nach Proserpina hin; und obwohl er niemals gewagt hatte, das Kind zurückzuweisen, mußte doch bei dessen Anblick ohnmächtiger Zorn seine Brust erfüllen:

Es saß an der Erde, die nutzlosen Pflanzen liebkosend, und sang ihre Namen, die es dem Gärtner abgelauscht hatte, eintönig vor sich hin, wobei es häufig geschah, daß es Silben verschiedener Worte willkürlich zusammensetzte, als ob es sich bemühe, immer neue Gewächse hervorzubringen, welche, wie unsichtbares, doch heimlich würgendes Netzwerk über den Garten geworfen, die Entfaltung des edlen Himmelschlüssels, der aufrechten Tulpe und der klaren Narzisse zu hindern schienen. 153

So kam es, daß das Mädchen, welches die scheuen Bewohner des Ödlands unter die Stauden gelockt hatte und mit der wachsenden Flut wie ein Kind am Meeresstrand spielte, dem Mann, der seinen Garten verwüstet und das Sichere niedergerissen sah, zum Sinnbild des Todes werden mußte, den man nicht redlich bekämpfen, sondern nur überlisten kann. Wie jener gelehrige Arzt, der, das Sterbebett umkehrend, den Schrecklichen um seine Beute betrog, suchte er nach einem Wort, das mit der Kraft der Vernichtung auf Proserpina zurückschlagen könne – und eines Abends fand ihn das lautlos hereinhuschende Kind über die flammenden Kataloge gebeugt, die er durchblätterte, bis endlich, auf der Rückwand eines schon beiseite geschobenen Heftes, ihm jene Strophen in die Augen fielen, die, wunderlich genug, gerade hier sich fanden, wo, unter dem Abbild der Blüte, das Leben gepriesen wird.

Niemals hat das Kind sie vergessen und den Umstand, der sie begleitete. Es duckte sich hinter den hängenden Bast und sah durch verschobenes Gitterwerk zu seinem Freund hinüber, der, weil ihm verboten war, in dem Bretterhaus Licht anzuzünden, dicht an den Scheiben lehnte. So hatte das schmerzlich gefesselte Haupt der panischen Gottheit schon immer in Proserpinas Schicksalsrahmen, dem hölzernen, gestanden – so stand es jetzt auch 154 am Ende vor trübem Glas, zwischen Leisten, die angequollen waren, und während das grauschwarze Abendsegel den Gärtner reißend verdunkelte, las er mit fallender Stimme die folgenden Worte vor: »Habt ihr das stille Kind gesehn durch unsre Fluren einsam gehn? Weiß ist sein Kleid, bleich sein Gesicht, woher es kommt, man weiß es nicht. Von Maßlieb trägt es einen Kranz, seine Augen haben keinen Glanz. Es hat in der Hand einen braunen Stab, damit schlägt es die Blumen ab. Und überall, wohin ihr blickt, da findet ihr Blumen abgeknickt. So wandelt's da, so wandelt's dort, mit keinem Menschen spricht's ein Wort. Mit sich nur spricht es, wo es geht, doch Worte, die kein Mensch versteht. Ein Bauer gab ihm einen Schlag, der redet irr seit jenem Tag.«

Als der Gärtner geendet hatte, war es so still in der Hütte, daß er wohl glauben mochte, allein zu sein; denn unwillig schlug er das Buch zusammen und warf mit verzweifeltem Lachen den Kopf auf beide Arme, die er vor dem niedrigen Fenster verschränkte. Schon stieg, halb verdeckt von streifigen Wolken, die zerbrochene Mondsichel auf und hob sich blaß aus den gekrümmten Schatten, als habe sie Schlangenköpfe geschnitten. Der hängende Bast fing leise zu rascheln an, und in der plötzlich geöffneten Tür stand die Alte, von einer Botschaft entgeistert, die ihre schlaffen Kiefer haltlos 155 erbeben machte, und fragte mit heiserem Flüstern nach dem verschwundenen Kind.

Es hörte den Burschen antworten – seine Stimme kam, weil er zum Garten hinaus sprach, wie über den Beeten her – das Mädchen sei schon lange von hier fort und wohl nach Hause gegangen; er aber höre gern andres als ihr tägliches Unken und Krächzen und denke bei jener Braunen, die sie ja kenne, zu schlafen. Sie möge ihn nicht erwarten und die Gartentür ruhig verschließen, da er am frühen Morgen schon über die Mauer käme.

Das Weib erwiderte ihm mit einem bösen Gurren; dann, ihre verkrüppelte Hand auf seine Schulter legend, begann sie dem Abgewandten etwas Schreckliches zuzuwispern und, als er zusammenzuckte, mit erhöhter Stimme fortzufahren, sie täten wohl beide gut daran, sich erst noch zu erwärmen, eh' sie am folgenden Tag die Totenkränze bänden. Er solle ihr Wein aus dem Keller holen und von der hinteren Hauswand schon Efeuranken schneiden, damit sie anfangen könne. Ob es denn wirklich zu Ende gehe? entgegnete Jakob darauf. »Wenn heute nicht, so morgen,« versetzte die Gärtnerin mürrisch in ihrer alten Weise und ging wie ein riesiger Vogel mit hängenden Flügeln davon; der Bursche aber schwang sich, den geschmeidigen Körper verkleinernd, durch das ächzende Fenster hinaus. 156

Als hätten die Worte des Gärtners Proserpina verschlungen und nichts als ihren Schatten zurückgelassen, hob sich das Kind auf die Zehenspitzen und fühlte mit vorgestreckten Händen die leere Finsternis, welche keinen Widerstand bot, weder Tür noch Mauer entgegenstellte, sondern ringsum zurückzuweichen und geisterhaft lose zu werden schien. Es ging aus der dunklen Hütte, sehr weiße Nachtlichtnelken wandten ihre Häupter vom Wegrand nach ihm hin und waren wirklicher; ein schwerer Falter taumelte nieder und saß auf seinen Fingern, flog, abgeschüttelt, zum Lippenrand und wurde mit dem Atem weitergetragen; furchtlos, als ob er nichts fühle, begleitete er das Kind und schlug ihm gegen die Schläfe.

Das Haustor öffnete sich und goß eine breite Lichtbahn wie geschmolzenes Erz auf den Pfad; getroffen von riesiger Helle, blieb das Mädchen gefesselt stehen und erwartete, seinen Namen zu hören: einen blendenden Augenblick lang erfüllte der Rücken der Greisin scharf und geschrägt die Tür; dann wurde sie geschlossen; die schwarze Nacht fiel zu. Erschrocken lief es weiter und trat in verzweigtes Unkraut, das seine Füße festhielt und die Flüchtende erkannte – als sei es gerade das Dunkel, das sie erst sichtbar machte, kam wieder der Schmetterling her und tastete ihr nach dem Mund. 157

Es fiel ihm ein, zu rufen, doch trug seine Stimme nicht und verlor sich auf dem Weg. Jetzt glaubte es zu träumen und versuchte aufzuwachen; es schlug wie ein Brennender um sich und vermehrte nur die Flammen, die schwarz und unsichtbar sein Haupt umflatterten.

Wenn es lief, war es totenstill, verharrte es aber, so knackte und brach es in den Büschen, als wäre das Geisterkind dort am Werk. Nun begann es wirklich zu schreien; es fühlte die Furcht in der Kehle und hörte sich selber zu. Hoch angesetzte Töne wurden ständig noch höher getrieben und gellten ihm in den Ohren wie kurze Peitschenhiebe, die den Leib erzittern machten – es wußte aber nicht, daß seine bebende Stimme, noch ehe sie ganz verklungen, von Grillen abgelöst worden war.

Indem die silbernen Schreie das Kind ohne Widerstand fanden und seinen verlorenen Körper ganz ungehemmt durchliefen, war der Schauernden plötzlich zumute, als ob etwas niedergebrochen, sie sah nicht, an welcher Stelle, und ein Festes, Trennendes nicht mehr vorhanden sei; doch schon mit dem nächsten Herzschlag floß das Erinnerungsbild – als hätte sie sich geschnitten und erst an dem quellenden Blut den Schmerz und die Wunde erkannt – sehr deutlich aus der Nacht: Das Kind ohne Nasenwand trank aus der Brunnenröhre, und 158 während es sich beugte, kam ihm das Wasser wieder aus der Höhle und rann in das Becken herunter.

Sie war es selbst im gleichen Augenblick und trug einen Totenkopf, der nur sehr lose saß und, als sie jetzt strauchelte, fast abgefallen wäre; erschrocken griff sie nach vorne und hielt sich an einem Ast, der kurz danach knallend zerbrach. Wie ein Dieb, der betroffen zaudert, weil er beim nächtlichen Einbruch sich selber im Spiegel sah, sog sie furchtsam jede Bewegung in den stockenden Atem hinein; doch als sie weiterlief, verfolgte sie wieder der Garten und drängte sich heran. Stark leuchtende Violen entfalteten Duftgefäße und schienen auf römischen Gräbern den Rauch aus der Tiefe zu ziehen; ein feiner Bodenschweiß bedeckte die niedrigen Gräser und lockte Kröten hervor, die gegen die Blätter schwappten, als ob man auf Wasser schlüge; der Grund wurde blasig und feucht und mußte nun tiefer liegen – so tief, daß er eins mit der Ebene wurde, die vor undenklichen Zeiten von dem Meer überschwemmt worden war.

Wie unter Seetang und Algen ging das Kind durch die Unkrautwälder und sah nach dem nördlichen Himmel, der von den Lichtern der Kleinstadt schwach angerötet wurde und wie eine faulige Kuppel über schwarzen Gewässern glühte. Dort mußte auch die Pforte in der alten Mauer 159 sein; und ohne auf den Weg und das eigene Bildnis zu achten, lief die Geängstigte darauf zu, als sei sie schon gerettet, wenn das Tor erst hinter ihr läge.

Als sie jedoch auf die Klinke drückte und unter der Wölbung stand, fiel dieser Damm ihrer Hoffnung wie mürbe Asche zusammen: Gleichzeitig nämlich wogte ein lockeres Gefüge, als ob an den steinernen Pfosten Girlanden und Kränze hingen, mit dem Mädchen zur Öffnung hinaus. Jetzt erst – so lange hatten die Worte der Alten gebraucht, um in die Tiefe zu fallen – war in den Ohren des Kindes der düstere Ruf erschollen, daß es zu Ende gehe und man Efeu zum Totenkranz schneiden müsse.

Schon in der nächsten Minute erhob die Drohung des Gartens ihr hydragleiches Haupt – und was noch eben mit Düften und weichen Schneckenhörnern, die fühlen, eh' sie ertasten, die Hilflose angerührt hatte, warf sich nun würgend und reißend im Dunkel über sie.

Getroffen vom blendenden Lichtstrahl der panischen Beschwörung, die wie in einem Spiegel den Schlangenblitz aufgefangen und wieder zurückgelenkt hatte, war die Frevlerin sichtbar geworden. Die pflanzenhaften Spiele hatten jählings ein Ende gefunden, und kraftlos ausgeliefert, sah der entseelte Schatten des angesprochenen Kindes, daß 160 ringsum Feinde waren, die sich von allen Seiten der schon ergriffenen Beute vertraulich näherten und sie mit wachsamen Augen höhnisch betrachteten; ja selbst der da und dort noch vereinzelt gestirnte Himmel bot weder Hilfe noch Trost.

Doch kaum entseelt, war es auch schon verwandelt und ein Teil jener schreckenden Kraft geworden, die mit den Strophen aus Jakobs Mund das Bretterhaus betreten und durch die Botschaft der Alten sich ausgewiesen hatte. Als habe sie Tod und Verderben mit der Kunde, es gehe zu Ende, wie einen Stab in der Hand, schlug die Eilige, was ihr an Ästen oder eingesteckten Reisern jetzt noch entgegen war, wie dünnen Rauch auseinander, lief auf die weiße Straße, an Apfelbäumen vorüber und lachte bei dem Gedanken, daß sie die Erste wäre, welche wisse, daß alle Gewächse im Garten abgeschnitten und zu Kränzen gebunden würden, unheimlich vor sich hin.

Jetzt tauchte das Elternhaus bei einer Biegung auf und ruhte schwach, doch bis zum Giebel erleuchtet, in beweglicher Dunkelheit. Je mehr sich das Kind ihm näherte, desto atmender schienen die Mauern und wie von schwärzlichen Bildern belebt die verhangenen Fenster zu sein – so sieht der kreisende Vogel bei Nacht das schlafende Nest, das er würgend anfallen will; es flügelt weich und zuckt wie aus Träumen und Blut und leise 161 gesträubtem Flaum. Bald trat es schärfer hervor und war da, und auch ein andres war da und war schon immer gewesen:

Eine dunkel verschleierte Frau, an welcher nur Kragen und Stirnband gespenstig leuchteten, trat aus der offenen Tür und begegnete einer andren, mit welcher sie flüsternd verschmolz; indem sie sich löste, war es, als ginge sie nur davon, um furchtbarer wiederzukehren, aus jeder Pforte des Daseins von neuem herauszutreten und dem Leben die Flucht zu verstellen – oder aber der klaffende Vorhang der sammetschwer fallenden Lüfte gebar die medusische Göttin von damals zu neuer Wirklichkeit.

Wiederholte Begegnung vermeidend, schlich sich das Kind auf den Nachbargrund, um von hier aus den Heimweg zu nehmen. Es war dies ein junges Gelände, erst hier und da besetzt mit neuen Baumkulturen, welche noch niedrig und weit auseinanderstanden; und da dieser Teil ursprünglich zu dem elterlichen Garten gehörte, hatte man ihn vorläufig nur mit einem Holzgitter abgegrenzt, dessen Pfähle lose gefügt und teilweise niedergebrochen waren. Doch gleich hinter diesem Gatter erhoben sich Lebensbäume, Ziersträucher mit rötlichen Blättern und giftige Goldregenbüsche, die gegen die klare Ordnung des grauen Nachbargrunds standen, wie hart neben unsren Gedanken 162 beschattende Bilder von Wäldern und lockigen Riesen stehen.

Uralte Finsternis deckte die Landschaft und bot ihre nährenden Brüste den jungen Lemuren an – sie wuchsen im Atem des Hauses wie Fledermäuse am Euter, veränderten ihre Leiber und reckten die trunkenen Hälse gesättigt und aufgebläht her.

Dies war der Umkreis von Proserpinas Jugend, es waren die schauerlich süßen, verflossenen Spiele des Hades: Ihre Puppen aus Fleisch und Schale, aus Sägemehl und Leder, die sie jüngst auf den Händen gehalten und, bebend vor lüsterner Neugier, an den Nähten geöffnet hatte. Nun drang aus den platzenden Bälgen die Unform der Füllung hervor und überschwoll ihr Besinnen, das sich vergeblich mühte, den Auftrag wiederzufinden, um dessentwillen sich Himmel und Erde verfinstert hatten und sie zur Schattenbotin der Tiefe geworden war.

Selbst für den Streifen Mondes, auf dem die Gespenster gleiten, war hier kein Zugang mehr, denn die Vorzeit verdrängte so mächtig des Daseins viel schwächere Räume, daß das Kind sich im Wesenlosen nicht länger zu halten vermochte. Nun verlangte es nur noch nach Hause und kroch durch die hölzernen Stäbe, als wäre der Zugang vom Hauptweg her ihm streng und für immer verwehrt; ein scharfer Zypressengeruch schlug ihm dabei 163 entgegen, und unter seinen Schritten, die mit einemmal lautlos wurden, begann ein tückisches Knistern wie kurz vor Feuersbrünsten:

Das Kind blieb erschrocken stehen und sah im fahlen Licht, daß alle Wege zum Haus hin mit Stroh beworfen waren. Als es weiterging, rührte sein Fuß an einen reglosen Körper, dessen Wärme ihm durch den Schuh drang: die große Nachbarkatze, welche allnächtlich vor den Fenstern geschrien hatte, lag tot auf dem Seitenpfad; ihr Genick war durchgeschlagen, und in kläglich geöffnetem Maule stand Blut.

Aus der braunrot fließenden Stille trat jetzt kein Laut mehr hervor, und die am nächsten Morgen den Tod ihrer Feindin bejubeln würden: die Vögel schwiegen tief und bargen sich in den Nestern, als ob sie fürchteten, versehentlich mit ihr gerichtet und hingerafft zu werden; es litten die Sphären selbst und zuckten, wenn Wetterschein über sie flog, wie schuldige Engel zusammen . . . Während sich aber das Schweigen so sehr verdichtete, daß selbst der Hauch des Mundes, kaum, daß er ihm entströmt war, in der farblosen Luft zu gerinnen und stehenzubleiben schien – sah plötzlich das Kind des Hauses ein wunderliches Bild:

Wie eine getürmte Woge, die jeden Augenblick stürzen und alles erschlagen wird, begannen die steinernen Mauern hoch auseinanderzutreten und 164 blieben, gleichsam gefesselt in erstarrter Oberfläche, vieläugig und atemlos stehen. Dem weißen Kalk waren lilageriefte Muscheln, zart aufgeblätterte Tafeln zermürbter Feldspatsteine und rosige Kieselsplitter, Gesichter von goldenen Fischen und Schnecken untermischt, die einen Herzschlag lang dem Kind so nahe waren, als trete es dicht an die Hauswand und rühre dieselbe an – dann zog sich alles zurück, und eine leichte Halle trug über Meersandstufen, die ständig rieselten, ihre Kraft in den Garten hinunter und empfing eine Schar von Gästen, welche, Fackeln in den Händen, die Treppe aufwärts zogen.

Es mußte ein Fest gefeiert werden, denn auf den Schultern der Menschen stiegen schwere Blütenkränze und mächtige Gebinde in wellender Vorwärtsbewegung dem breiten Aufgang zu. An dem Portikus angekommen, der die offene Halle begrenzte, schlug jeder die Fackel nieder; rötlicher Qualm wölkte auf, durchzuckt von vergänglichen Funken; die Kränze sanken rauschend herunter, und zwischen donnernden Säulen stand der Herr des Dämonenhauses.

Er schien herausgetreten, um die Menge zu begrüßen, und wandte sich nun suchend, als fehle ihm einer der Gäste, in der Geisterschar hin und her, wobei sein Gesicht verdeckt und nur die Hände zu sehen waren, welche, wie man Puppen 165 auseinanderschiebt, sich bald hierhin, bald dorthin wandten und unruhig zu tasten begannen.

Jetzt hob er die Stirn und schaute zum Garten hin – die Gäste traten zurück und standen zu beiden Seiten der Treppe wie eine Mauer, die den Blick gefangenhält. Ein uraltes Haupt schob sich vor und sah die zitternde Tochter mit schmerzlich geöffneten Augen, die von Schweiß überronnen waren, unendlich milde an; dann hob der Vater die Hand und winkte sie zu sich her.

Da aber, als sie ihn wiedererkannte und ihm gehorchen wollte, kehrten alle, schamlos blickend, das Antlitz zu ihr hin: Vervielfacht stand der Tod mit eingesunkener Nase über üppig geschwungenen Lippen vor dem glanzüberzuckten Haus.

Sich zur Erde niederzuwerfen, sich zu verstecken, verbergen und unsichtbar zu werden, wäre vollkommen sinnlos gewesen, denn was von der Dunkelheit geboren worden war, quoll, wie der Rauch aus dem Feuer, beständig aus ihr nach. Nun gab es keinen Weg mehr als den, welcher durch die Schrecken und mitten durch die Todesschlucht führte; als ihn das Mädchen betrat, empfanden ihn seine Sohlen zerreißend, aber vertraut. Zwar half ihm niemand empor, denn die Hände, auf die es zuging, schienen selber der Hilfe bedürftig – doch während hinter ihm die hundertfältigen Tode in Schattentälern versanken und nur eine blaue 166 Verwesung wie Seen, von denen die Meerflut schon abgelaufen ist, blieb, war dem Mädchen plötzlich zumute, als ob die Rückwand der Schrecken hohl und von Wasserspinnen und Algen beronnen wäre.

Schon floß die Vision auseinander und begann in weichen Verfall und Auflösung überzugehen – da schlugen, wie Raubvogelfänge, die dem Kind in die Augen stießen, während die Traumflügel plötzlich am Leib zusammenfielen, Geräusche und schneidende Strahlen in seine starren Sinne und erfüllten, noch nicht unterschieden vom eilig trennenden Geiste, den Vorraum des Elternhauses: Das Kind war bewußtlos durch ein Gewitter gegangen und fühlte, vermischt mit dem Donner und den prasselnden Regenfluten, jetzt einen niemals gehörten, furchtbar durchdringenden Ton:

Aus dem Sterbezimmer des Vaters, dessen Tür weit offen stand, kam langgezogenes Röcheln, das anschwellend rauher wurde und auf der Höhe zerbrach, über Treppe und Flur hinunter.

Es hören und begreifen, war eines für das Kind; und hatten die Dämonen vom Frühling bis wieder zum Frühling seine Seele nicht morden dürfen, so überdrang sie nun grausam die volle Wirklichkeit. Unfähig sich zu rühren, als ob die entsetzlichen Laute einer Kette Glieder seien, die jede Bewegung von neuem erklirren und rasseln machte, sank das Mädchen in sich zusammen und verhielt sich, am 167 Boden kauernd, mit beiden Händen die Ohren, während Geruch und Gefühl um so schärfer und williger wurden. Die strömend verzuckten Organe des düsteren Elternhauses – Vorraum und Wendeltreppe, der flackernde Herdkreis, die Diele, das kalkige Mauergewölbe – entließen, langsam verblutend, alle Lebenskräfte so offen in ihrem besonderen Dufte, daß dem Kind, obwohl es fast schon erstickte, jeder einzelne Hauch plötzlich nahe und furchtbar deutlich war:

Geruch von Karbol und Kampfer zog schwerflüssig durch die Räume; entkorkter Flaschen säuerlicher Hals gärte abgestanden aus; von der Küche her kam der Dunst der fetten kleinen Kuchen, die, in Öl gebacken und mit Mohnsamen bestreut, den Trauergästen gereicht werden; und vielfach gewundenes Wachs aus einem Wallfahrtsort lag niedergebrannt auf dem Flur und schwelte in dünner Säule beklemmend und süßlich nach.

Eine Magd trug mit zitternden Händen zerschlagenes Eis und nasse Tücher vorüber; die Mutter bog sich herunter und winkte ihr schweigend ab. Als das dienende Mädchen sich wandte, berührte es unwillkürlich das zusammengekauerte Kind und schrie unterdrückt wie ein Mensch, der im Schlafen erschrocken ist, auf; ohne Frage oder Erklärung entfloh es gleich danach.

In dem unbestimmten Gefühl, daß alles noch 168 schrecklicher sei, wenn man es nur erblicke wie einen Geisterzug, ließ das Kind die Hände sinken und sog das mattere Röcheln entschlossen in sich hinein. Von dem Kirchturm schlug die Uhr eine frühe Morgenstunde – es horchte weit in die Nacht und erwartete, daß auf dem Flur vertraute Antwort käme; doch die Kastenuhr drinnen stand stille, war angehalten worden; eine Hand ging nun raspelnd und raschelnd zu ihrem Gehäuse empor und schien sie aufzuziehen: Verzweiflung! es war das heiser ablaufende Uhrwerk des Todes, das den trostlosen Anstieg zum Ende und zur völligen Stille nahm.

Schon begann das Haus zu veröden und das Schicksal seines Herrn gleichnishaft mitzuerleiden. Die Türen zum Vorraum bewegten sich und blieben auf halbem Weg, lautlos geöffnet, stehen; als zöge das Leben aus, trat eine letzte Gewohnheit entstellt und traurig hervor: Verschütteter Landwein kroch träge über die Dielen; ein blutendes Heiligenbild war mitten entzweigerissen und flatterte, während ein »ORA« auf der Rückseite sichtbar wurde, wie ein sterbender Falter hinaus; von der scheidenden Seele berührt, gab der Flügel einen Ton. Die Balken erschraken so sehr, daß ein Windstoß sie zittern machte und gleichzeitig Türe und Fenster des Herdraums angehoben und zurückgeschlagen wurden. 169

Es hatte ausgeregnet, obwohl die Scheiben noch trieften und die Dachtraufe niederrann. Eine zarte Hügellinie, mit einzelnen Lichtern besetzt, trat in der Dämmerung der dunstig bezogenen Frühe, die nicht mehr Finsternis und noch nicht Morgen war, geheimnisvoll hervor: das Irrenhaus des Landes sah mit den rötlichen Augen der ewigen Nachtwache her. Als zöge der ferne Wahnsinn das Kind mit sanfter Gewalt näher zu sich heran, trat es zögernd an das Fenster und erinnerte sich schaudernd, daß die Mägde einander erzählten, dieser ständig erleuchtete Teil beherberge solche Kranke, welche – Tieren ähnlich geworden – den eigenen Unrat äßen.

Es wandte sich entsetzt und sah im Schein einer Kerze roh durchgebratenes Fleisch auf einem Teller liegen; leicht angeekelt, prüfte es seinen Eindruck schärfer und bemerkte, daß die Magd, halb über der Tischplatte liegend, fest eingeschlafen war. Ihr Gesicht war aufgelöst und schwamm in Feuchtigkeit; eine Schulter, fast entblößt, quoll aus dem flanellenen Hemde – die Hitze war so groß, daß die Kuchen schon ausgebacken und, glänzend von bräunlichem Fett, auf der Herdbank ausgelegt waren.

Nun seufzte das schlafende Mädchen und warf das schweißige Haupt im Traum auf die andere Seite; wie von Küssen angerötet, lag die nackte 170 Wange da. In diesem Augenblick war es der ersten Magd auf unbegreifliche Weise wie eine Schwester ähnlich, und auch der niedrige Herdraum gebar in süßem Schwindel und tödlich drängenden Wehen einen früheren Schauplatz aus. Die Kerze flackerte hoch, die Tür floß heimlich zu – es roch jetzt nach Wasser und Erde und nach den hängenden Trauben berauschender Glyzinien, die weiß zu Ende blühten. Das Astwerk zitterte schwach, als zöge sich einer empor, und dem Gerüst der Zweige krochen Schattenhände entgegen, in welche die Blumenbrüste schwer und durchregnet sanken. Noch stand Ozon in der Luft und spaltete wie ein Schwert die unverminderte Schwüle; der metallische Duft vermischte sich mit dem Rauch, der ihm vom Blütenboden der Levkoien entgegenkam, und schien von neuem die Nacht und den Liebesschmerz anzusaugen; ein Vogel girrte im Schlaf, und die Kniee der Magd zuckten leise, bewußtlos auseinander.

Geschmack von Leben und Tod, wild durcheinandergegossen, verstärkte sich unter dem Gaumen des tieferschütterten Kindes und füllte seinen Mund wie eine Flammenwoge, die jeden Augenblick abwärts schlagen und es kohlschwarz ausbrennen konnte. Aus Herd- und Feuernische kam die Erinnerung auf das hilflose Mädchen zu: Gedächtnis, das aus der Tiefe und aus den Zeiten stieg, 171 lang aufbewahrte Rache, die wie der Stachel der Biene im Winterhonig reifte und jetzt den tödlichen Speer durch die Süße gesammelten Lebens stieß.

Eine klagende Stimme drang leise und halb erstickt durch das Dichte: daß Zauberei Sünde wäre, und sich Unglück zusammenzöge an der Stelle, wo man sie triebe. Zerstoßenes Schluchzen gab Antwort – die Magd war aufgewacht und hatte das nasse Gesicht auf beide Arme gehoben.

Noch schlafüberwältigt, entging ihr die kleine Gestalt – doch weil ihre Blicke sie streiften, obwohl sie in das Leere und hindurch in das Schicksal trafen, erbebte die schuldige Tochter und glaubte sich angeklagt.

Nicht Ceres mehr trat aus der Feuerwand und sühnte nach menschlichen Maßen die menschliche Missetat: Jenes Dunkle selber, das eins war mit ihren gefährlichen Spielen – sie wußte es nicht zu benennen und fühlte nur rasch nacheinander die knisternde Kammer im Juli, den flackernden Raum der Beschwörung und das heimliche Tannendickicht, wo sie mit eigenen Händen die Menschengestalt zerstört und mit Erde beworfen hatte – dies Nächtliche sah sie jetzt weinend, entstellt und verzweiflungsvoll an. Was eben noch furchterweckend und quellend von Säften gewesen war, sank wie der Schierling am Morgen kraftlos in sich zusammen – – die Mitternacht war vorüber, und 172 der dritten Tagesstunde schien, wie einst rudernden Schiffern, ein Anruf von silbernen Küsten die Botschaft zuzutragen, der große Pan sei gestorben, tot sei der gewaltige Pan!

Aus dem liebeverlassenen Grau der ersten Dämmerung kam jedes Geschöpf voller Trauer und scheinbar entkräftet hervor; selbst die Schrecken verödeten langsam und zogen sich aus den Dingen, eine Schar von Gespenstern, zurück. Nichts blieb jetzt noch als der sterbende Mensch, der das gemeinsame Schicksal der Irdischen dulden mußte.

Sich ihm zu bekennen, von ihm erkannt zu werden, Verzeihung zu erflehen, lief jetzt das Kind auf den Flur und rannte die Treppe empor, als ihm, wie einem Menschen, der vom Donner der Domglocke angerührt wird, wenn er ahnungslos unter der Stunde steht, die voll geworden ist, jene Laute in die Ohren dröhnten, die mit den Sterbenden gehen:

»Erkenne, o Herr, dein Geschöpf, das nicht von fremden Göttern, sondern einzig von dir, dem wahren, lebendigen Gotte erschaffen ward. Denn kein Gott ist außer dir, und nichts kommt deinen Werken gleich.«

Unendlicher Glanz drang aus dem Sterbezimmer durch die östlichen Fenster her: das wolkenlos flammende Morgenrot schlug eben den Vorhang des Himmels gewaltig auseinander, die schwere 173 Nacht war vorüber, und das Traumweib stand über der Sichel.

Eine feste Stimme klang ruhig und voll, fast ohne zu verschweben, mit jenen Worten aus; es war die Stimme der großen Frau mit Stirnbinde, Kragen und Schleier; und als sie sich nun Proserpina zu- und fort von dem Sterbebett wandte, sah das Kind mit niegefühltem Erstaunen, daß sie nicht hart und nicht milde, nicht düster und nicht strahlend, sondern beides in einem war. Die Mutter winkte es näher, noch verdeckte sie, vor dem Lager stehend, den Sterbenden, und es empfand unter Schauern die zarten, hellen Weihen, welche alle Sinne des Kranken soeben empfangen hatten.

Vor noch nicht langer Zeit mußte der Priester gegangen sein und die Zeugen der letzten Salbung zurückgelassen haben: In bläulichen Wasserschalen schwammen öldurchtränkte, sehr kleine, geballte Wattebäusche; Salzkörner lagen verstreut auf einem niedrigen Tische; aus dem Weihbrunn ragte, betaut, eine glänzende Buchsbaumrute; und vor der steigenden Sonne verblaßten die Kerzenflammen.

Der leichte Atem des Vaters, auf dem sich die Seele schon übte, vom Lippenrand abzustoßen, erfüllte das Sterbezimmer mit einer seltsamen Kühle und duldete weder Klage noch Hilfeleistung mehr.

Er regte sich, ein Weg wurde frei, und eine Hand, die das Feste wie Wasser zu durchschneiden 174 und die Ströme des Lebens zu lenken schien, kam der Tochter verklärt entgegen. Sie trat auf sie zu und legte die ihre hinein, die gleich darauf namenlos leise, als sinke Schnee auf sie nieder, von der andern umschlossen wurde. Jetzt erst hob das Kind die Stirne und schaute den Vater an:

Das silberne Schläfenhaar erglänzte vom Todesschweiß, wie in tiefen Tälern vom Nachttau die lockige Herde glänzt; aus den mächtigen Wangenbögen sprang die felsige Nase hervor; das Lippenpaar, leicht geöffnet, war von schwärzlichen Rissen durchzogen und ließ die verlängerten Zähne, von denen das Fleisch sich entblutet zurückgezogen hatte, sehr groß und fremdartig sehen. Eine Todeslandschaft begann der Erde sich anzugleichen und den Bewohnern der Tiefe bald Weide zu gewähren – da drang azurener Glanz durch die geschlossenen Lider, und der Vater schlug noch einmal die Augen auf.

Zwei ruhige, tiefblaue Flammen standen mild in unendlicher Ferne wie Enzian auf Bergeshöhen und wandten sich, wunderbar tröstend, der friedlosen Tochter zu: Ja, sie war überschuldig, doch nicht an seinem Tode, und ihre schwachen Hände rührten Gottes Allmacht nicht an – das große Geheimnis des Lebens war nicht in der Wurzel beschlossen; es kreiste wie Saft in den Bäumen, und Abgrund und Höhe war gleich. 175

Aber da ihre Hand von dem Vater in die seine genommen wurde, gehörte sie ihm an und sah in vergänglichen Augen ein fremdes, doch wesendes Licht. Die aus dem Willen des Mannes im Dunkel gezeugt worden war: die Tochter der uralten Erde hob den Scheitel zur Sonne empor, die noch viel älter an Jahren, Kraft, Weisheit und Liebe ist.

Nur einen Augenblick lang erfuhr sie das Licht jener Höhe – dann beschlug sich die größere Leuchte, und über die Wange des Sterbenden floß mühselig eine Träne herab.

Gleichzeitig rollte die Tiefe und das täglich erneuerte Dasein zu den Ohren des Kindes heran: Schluchzen erschütterte schrecklich die nun verlassenen Räume; Essenzen dufteten jähe, und zitternde Gläser klirrten; auf der Treppe drängten sich Menschen mit traurigem Flüstern empor – –

Eine Vogelwolke brach schreiend aus den Feldern hinter dem Haus und schwärmte in trunkener Eile dem geöffneten Fenster vorbei – die Bauern verjagten sie scheltend mit Peitsche und Hut aus den Schoten und trugen den Popanz zum Acker, damit sie nicht wiederkehre . . .

 

Die Mutter verkaufte sehr bald danach das Besitztum und zog in eine entfernte Stadt. Sie schwand hierdurch rasch aus dem Gesichtskreis der 176 Menschen, und auch von dem seltsamen Kind kam keine Botschaft mehr. Das Unkraut ward untergegraben, und zerbrochenes Spielzeug sank tiefer; der Regen verwischte allmählich den Eindruck seiner Sohlen und schwemmte sein Spiegelbild ab.

Nur die Erde bewahrte schweigsam das Gedächtnis jener Schrecken, die hier erzählt worden sind. Sie hatte manches zu hüten und hütete dies nicht allein. Denn das Haus steht an der Römerstraße, und der uralte Boden teilt noch immer die Geschenke der Vorzeit aus, wenn der Landmann mit dem Pfluge darübergeht, und weckte auch diese Erinnerung.

 


 


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