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Pastor Kranevoß war nicht wieder völlig genesen. Er hatte noch einige Jahre mit vielen Unterbrechungen seines Amtes gewaltet, dann war der Tod seiner Emeritierung zuvorgekommen. Unter den Wenigen, die um die verwaiste Kanzel warben, wählte die Gemeinde fast einstimmig einen jungen Pfarrer vom Oberrhein, Thomas Wackerblüh, den der Kommerzienrat Wolf und seine Frau auf einem Rheindampfer kennen gelernt und aufgefordert hatten, sich zu bewerben. Diesmal war's nicht der »Herzog von Nassau« gewesen, sondern die »Königin Elise«, die früh um fünf rheinaufwärts dampfend Koblenz verlassen und schon im Bopparder Bogen durch den dichten Nebel zu vierstündigem Stilliegen sich gezwungen gesehen hatte. Da waren Wolfs, als sie fröstelnd ihre Promenade auf das Vorderschiff ausdehnten, mit dem von einer Synodalkonferenz Heimreisenden in ein Gespräch gekommen, das rasch mehr als bloße Unterhaltung geworden war. Der Pfarrer, ein hochgewachsener junger Mann mit dunkellockigem Haupt und großen und lebhaften braunen Augen, dessen kräftig geschnittene Züge kein Bart verhüllte, hatte bedauert, daß der Steuermann eines Rheindampfers sich ausschließlich auf das, was er sehe, verlassen dürfe und also, wenn er, wie jetzt, gar nichts sehe, stillhalten müsse, indessen ein Ozeandampfer nach dem Kompaß auch durch Nacht und Nebel den Weg zu finden wisse, woraus sich ihm dann zwanglos und gleichsam unwillkürlich die fröhliche Bemerkung ergeben hatte: wie gut es doch sei, daß der Christ auf seiner Lebensfahrt solchen untrüglichen Kompaß an Bord habe. Da hatte der Kommerzienrat von der Pappschachtel des seligen Herrn Schlüpjes erzählt, der dieser in schwierigen Fragen wahllos ein Bibelsprüchlein entnommen habe und dabei wohl auch immer gut beraten worden sei. So seltsam ihn, den Kommerzienrat, nun auch solches Orakel stets berührt habe, so müsse er doch gestehen, daß er sich dazu geneigter fühlen würde, als zu einer unmittelbaren Befragung der Heiligen Schrift – übrigens besitze er in seiner lieben Frau einen ausgezeichneten Kompaß. Der Pfarrer hatte zwar lächelnd erwidert, er habe mit jenem Kompaß eigentlich weniger das gedruckte Bibelbuch oder einzelne Stellen daraus gemeint, als vielmehr die Stimme Gottes im eigenen Herzen – aber nun war man zunächst bei der Bibel geblieben und Frau Anna hatte bekannt, daß sie neulich das berüchtigte Buch von Wislicenus gelesen »Die Bibel im Lichte der Bildung unserer Zeit.« Es habe sie außerordentlich interessiert und ihr im einzelnen manche Anregung gegeben. Im großen ganzen aber sei ihr nicht zweifelhaft, daß der Verfasser auf einem Irrwege sich befinde, darauf er wohl an ein Ende, aber nicht an ein Ziel gelangen könne, wenn sie auch nicht verstehe und noch weniger gutheiße, daß man ihn dieses Buches wegen zu Gefängnis verurteilt habe. Es möge ja wohl individuell verschieden sein, aber ihr sei es nie besonders wichtig gewesen, ob die Sonne zu Gideon wirklich stillgestanden, oder der Esel Bileams tatsächlich geredet habe, und sie habe nie begriffen, inwiefern die innere Wahrheit der Bibel dadurch im geringsten berührt werden könne, daß ihre Erzähler hinsichtlich der äußeren Wirklichkeit in den Anschauungen ihrer Zeit befangen gewesen wären. – Freilich, sagte der Pfarrer, hätten die Männer, die, von Gott erleuchtet, die einzelnen Bücher niedergeschrieben, nicht im entferntesten die Aufgabe oder auch nur die Möglichkeit gehabt, ihrer Zeit in den menschlichen Geisteswissenschaften vorauszueilen, wie es ja auch bis auf diesen Tag niemals Gottes Brauch gewesen wäre, den Menschen durch Offenbarung zu schenken, was sie durch geistige Arbeit suchen und finden könnten. Übrigens habe er selber jenes Wislicenussche Buch lediglich aus persönlichem Interesse für den Verfasser gelesen, der einst ein glücklicherer Leidensgefährte seines seligen Vaters gewesen sei. Aber bevor er hiervon erzähle, möge der Herr Kommerzienrat doch aussprechen, was ihm anscheinend auf der Zunge schwebe. – Der meinte, redende Esel habe es wohl immer und überall gegeben, und mit dem Alten Testament wolle er nicht rechten. Aber auch im Neuen sei doch vieles, worüber er nicht hinwegkomme. Und wenn er auch, besonders seit er mit seiner alten Mutter in Boll beim Pfarrer Blumhardt gewesen, durchaus davon überzeugt sei, daß von der Persönlichkeit Jesu Christi Lebensströme ausgegangen wären, die Lahme gehen und Blinde sehen gemacht hätten, so könne und könne er doch nicht glauben, was im siebzehnten Kapitel des Matthäus-Evangeliums erzählt werde: daß der Herr Jesus, als seine und des Apostels Petrus Steuern fällig und Geld dafür nicht vorhanden gewesen wäre, einen Fisch habe anbeißen lassen, der den erforderlichen Betrag in Form einer Goldmünze im Maul gehabt hätte. Daß man aber das eine Wunder annehme und das andere ablehne, sei doch auch wohl nicht zulässig ... Aber der junge Pfarrer Wackerblüh war der Ansicht, daß dies durchaus zulässig, richtig und natürlich sei, sintemal der menschliche Wille die Hand hierbei gar nicht im Spiel habe, sondern lediglich Gott selber es sei, der den Einzelnen schrittweise, nach Maßgabe seines geistlichen Reifens, die Wahrheit, ja Notwendigkeit auch solcher äußerlichen Wunder erleben lasse, nicht durch selbstquälerisches Grübeln, sondern allein aus freier göttlicher Gnade auf die schlichte Bitte hin: »Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!« – Dem Expfarrer Wislicenus freilich habe sein gewiß ehrliches, aber einseitig vernunftgemäßes und von Strauß verführtes Forschen von der Gesamtpersönlichkeit und dem ganzen Erdenleben Jesu nur das seelenlose Knochengerüst übriggelassen. Und da müsse er, Wackerblüh, nun freilich sagen, für ihn enthalte die ganze Heilige Schrift kein so unglaubliches Wunder, wie es vorliegen würde, wenn die Worte, die das Neue Testament von Jesus belichtet – und die ja schließlich doch so wenig von selber einer schreibenden Feder entflossen sein, wie sie nachträglich wieder aus der Welt geschafft werden konnten – wenn diese Worte wirklich von einem gesprochen worden wären, der gar nichts weiter gewesen als – ein Mensch ... Inzwischen hatten die roten Schaufelräder des Dampfschiffs ihr Spiel mit der grünen Flut sacht wieder aufgenommen, die sie in weißen Wellenschaum verwandelten. Und Wackerblüh meinte lächelnd, nun seien sie im Nebel miteinander vertrauter geworden als wenn sie im Sonnenschein der rasch wechselnden Uferbilder gemeinsam sich erfreut hätten. Aber ihm wenigstens wolle immer scheinen, das Leben sei viel zu kurz, als daß Menschen untereinander nur Konversation machen dürften ... was nun die Freundschaft und Schicksalsverwandtschaft seines seligen Vaters mit Wislicenus betreffe, der übrigens der Strafe für sein Antibibelbuch durch eine rasche Flucht nach Amerika sich entzogen, so habe das solche Bewandtnis: Im Jahre 1824 unmittelbar nach seiner Habilitierung und Verheiratung sei in Halle sein Vater und der Student der Theologie Wislicenus, beide eifrige Mitglieder der Burschenschaft, gleichzeitig wegen der Teilnahme an einer verbotenen, angeblich das »Verbrechen des Hochverrats vorbereitenden« Verbindung verhaftet und zu zwölfjährigem Festungsarrest verurteilt worden. Dieses Urteil – er selber habe vor einigen Jahren die Akten eingesehen – verdiene wie so viele, viele ähnliche weit eher ein Verbrechen genannt zu werden als alles, was seitens der deutschen Burschenschaft je vorbereitet worden sei. Nun:

Das Band ist zerschnitten,
war schwarz, rot und gold,
und Gott hat es gelitten,
wer weiß, was er gewollt.

Wislicenus sei nach fünf Jahren im Blick auf seine aufrichtige Reue begnadigt worden, seinem Vater aber, der verbittert und hartnäckig an den alten Idealen festgehalten, habe man die Strafe auf jede Weise verschärft. Als er dann nach ihrer völligen Verbüßung endlich in Freiheit gesetzt worden, habe er, gänzlich zerrüttet, dem Trunk sich ergeben und nach wenigen Jahren sein Leben mit eigener Hand geendet. »Nach wenigen Jahren,« ja, aber wie diese wenigen Jahre gewesen, und was die Eltern darin durchlitten, das könne er nicht sagen und wolle es auch nicht ... Die Mutter habe den Vater nur um ein Geringes überlebt. Und was ihn selber betreffe: wenn er als junger Bursche nicht zum Königsmörder geworden sei, so verdanke er das nur einem unmittelbaren Eingreifen Gottes in sein Leben, einem Eingreifen, das in seiner Folge ihn auch zur Theologie geführt habe. Hierüber könne und möge er gleichfalls nicht sprechen. – Aber jetzt wolle er den toten König und den toten Vater ruhen lassen, denen Gottes Gerechtigkeit und Gnade Schuld und Sühne zumessen werde. Gott werde auch wissen, weshalb er ihm, dem er in Weib und Kind das höchste Erdenglück beschert, diesen Pfahl ins Fleisch gesenkt, diese sündhaft hadernden Gedanken, die immer wiederkämen, deren er nie ganz Herr würde. Freilich hätte er ihm ja auch eine Waffe oder Asyl gegeben: so oft solche Anfechtung über ihn komme, flüchte er sich an die Orgel, und zu Johann Sebastian Bach, wo sie ihm dann nichts mehr anhaben könne ...

Der junge Pfarrer hielt inne, und Frau Anna, die an seiner leidenschaftlichen und offnen Art ihre herzliche Freude hatte, bemerkte, sie begreife ja ganz gut, daß die Polizei die Burschenschaft verfolgt habe, was sie aber nicht begreife, sei, daß ein deutscher Richter ihre Bestrebungen für Hochverrat habe erklären können, ob man hierunter denn nicht den Verrat des eignen Vaterlandes an eine fremde Macht verstehe? – Ja, entgegnete Wackerblüh, aber es gebe wohl nichts, das ein deutscher Richter, sofern er persönlich es verwerfe und wisse, daß seine Vorgesetzten es auch verwürfen, nicht so aufzufassen verstehe, daß sich aus den Tausenden Paragraphen der gefährlichste darauf anwenden lasse. So habe denn auch das Urteil, das seinen Vater vernichtet, mit philosophischer Tiefe und juristischem Scharfsinn den Hochverrat für gegeben erachtet, weil durch die Gründung eines einigen Deutschland die Selbständigkeit der deutschen Einzelstaaten aufgehoben und diese einem neu zu gründenden, mithin »fremden« Staate einverleibt werden würden ... Frau Anna meinte, daß solcher Spitzfindigkeit doch nur ein Jesuit oder ein Schurke fähig sein könne, aber der Pfarrer widersprach: wenn er jenes Urteil ein Verbrechen genannt habe, so sei er doch weit entfernt, den Richter, der es gefällt, einen Verbrecher zu schelten, vielmehr möge jener persönlich ein vollkommener Ehrenmann gewesen sein. Die Schuld liege am System. Unser geschriebenes Recht sei nun einmal kein Volksrecht. Ein solches würde die Gesinnung des Täters schärfer ins Auge fassen als die Tat selber, würde auf weniger Paragraphen aber mehr Menschenkenntnis sich aufbauen. Dieses Juristenrecht aber sei und bleibe dem deutschen Wesen durchaus fremd. – Dazu komme die Umständlichkeit und Langsamkeit des Verfahrens, das unendliche Schreibwerk und der viele Formelkram. Daher auch die tiefe Scheu aller anständigen Menschen, mit dieser sogenannten Rechtspflege in Berührung zu kommen ... Wer könne denn in solchem Paragraphengewirr sich zurechtfinden? Oft genug doch nicht einmal die gelehrtesten Juristen selber. Ja, man könne fast sagen, diese ganze deutsche Gesetzgebung sei ein Instrument des Unrechts für eigentümlich veranlagte und geschulte Virtuosen. Übrigens wolle ihm scheinen, daß zu solchem Virtuosentum das semitische Gehirn begabter und leichter dafür zu schulen sei als das germanische, und er sehe voraus, daß, sofern dies alles sich so weiter entwickle, nachdem die Juden jetzt zu jedem Studium und Amt zugelassen würden, nach einem halben Jahrhundert in einem geeinten und nach außen mächtigen Deutschland nur noch jüdische Rechtsgelehrte die Gesetze entwürfen und kommentierten, nach denen dann in kniffligen Verhandlungen zwischen jüdischen Richtern und jüdischen Advokaten dem deutschen Michel sein Recht gesprochen werde ... Auch in dieser Hinsicht sei überaus bezeichnend, daß kleine Vergehen gegen das Eigentum härter bestraft würden, als etwa die niederträchtigsten Ehrabschneidungen. Solche Einschätzung entspreche völlig dem romanischen und semitischen, aber ganz und gar nicht dem germanischen Empfinden, wie man denn summa summarum den Vätern und Hütern der deutschen Gesetzgebung gewiß nichts Härteres, leider aber auch nichts Treffenderes ins Stammbuch schreiben könne als Goethes Vers: »Ihr laßt den Armen schuldig werden.«

Der Kommerzienrat warf ein, ihm erscheine die Entwicklung des deutschen Rechtswesens ganz folgerichtig, und man dürfe den tatsächlichen Beruf der alten Römer zum Ordnen und Formen so wenig verkennen, wie man ihr Erbe einfach aufgeben, und etwa an ein uraltes deutsches Bauernrecht anknüpfend gleichsam aus dem Nichts etwas ganz Neues schaffen könne. Das könne man freilich nicht, erwiderte Thomas Wackerblüh und er selber schätze die Form in allen menschlichen Dingen und Beziehungen außerordentlich, sogar im Gottesdienst. Aber die Form dürfe nicht zur Formel werden. Der Geist sei es, der lebendig mache, und er vertraue, daß auch für die deutsche Rechtspflege einmal ein Luther aufstehe und tun werde, was der Doktor Martinus für die deutsche Glaubenspflege getan habe: das Jüdische und das Römische dem Deutschen unterordnen. Wofür freilich Voraussetzung sei, daß der deutsche Michel jene Fremdherrschaft als solche nicht nur dunkel empfinde, sondern klar erkenne. Sobald dies geschehe würden die Befreiungskämpfe einer Reformation beginnen oder doch ihre Sturmvögel voraussenden. – Übrigens sei er persönlich weder den Romanen noch den Semiten gram, halte vielmehr dafür, daß beide den Germanen einfach unentbehrlich seien, nur dominieren dürfe ihre Art nicht, im deutschen Recht so wenig wie im deutschen Glauben. – Um aber ja nicht der häßlichen Unduldsamkeit gegen die Juden sich verdächtig zu machen, wolle er ausdrücklich anerkennen, daß es ein Jude gewesen Ludwig Börne, der, ihm aus der Seele, gesagt habe: »Hätte die Natur so viele Gesetze wie der Staat, Gott selber könnte sie nicht regieren.«

Der Kommerzienrat meinte, die Judenfrage sei ein dunkles Kapitel und als etwas unlösbar gewordenes, streng genommen, heute überhaupt keine Frage mehr, sondern ein Tatsachenkomplex, mit dem man sich abfinden müsse. Er würde ja wohl kaum je Gelegenheit dazu haben, glaube aber, daß er instinktiv sich ohne Ausnahme jedem Juden fernhalten würde, nicht weniger als etwa jedem deutschredenden und in Deutschland etablierten Chinesen. Gleichwohl halte er die Annahme, der Durchschnittsjude habe summa summarum mehr üble Eigenschaften als der Durchschnittsdeutsche, für absurd. Wenn in diesem Betracht so oder so wirklich ein wesentlicher Qualitätsunterschied existieren sollte, so müsse man, solchen zu taxieren, doch dem germanischen Urteil ebenso sehr die Unbefangenheit absprechen wie dem semitischen. Übrigens entsinne er sich aus seiner Jugendzeit mancher derartigen unfruchtbaren Polemik zwischen seinem Vater und seinem Großvater, dem Pastor, der die Emanzipation der Juden für ein nationales Unglück gehalten habe. Wackerblüh entgegnete, bei der Einschätzung der deutschen Juden müsse man wohl zwischen Westjuden und Ostjuden unterscheiden. Diese, deren unerschöpfliche Quelle Rußland sei, ständen geistig und sittlich wesentlich tiefer als jene, die aus Portugal über Holland nach Hamburg gekommen seien und deren Stamm als edelste Blüte den Philosophen Spinoza hervorgebracht habe. Von Spinoza kenne er nun freilich nicht mehr als den Namen, gestand der Kommerzienrat, aber einen sehr temperamentvollen jungen, freilich Wohl ostjüdischen Philosophen, der anscheinend dazu noch über jenes vom Herrn Pfarrer erwähnte juristisch veranlagte Gehirn verfüge, habe er einmal aus nächster Nähe auf sich wirken lassen können. Er spreche von Ferdinand Lassalle und dessen Auftreten vor den Assisen zu Düsseldorf am 3. und 4, Mai 1849. Er, Wolf, sei damals gerade Geschworener gewesen und müsse gestehen, dieser Jüngling habe ihm Eindruck gemacht. Lassalle habe ja schon 1846 in Köln eine rasch berühmt gewordene Verteidigungsrede gehalten, als man ihn der Mitwissenschaft um den Kassettendiebstahl geziehen, der in dem Ehescheidungsprozeß seiner Freundin, der Gräfin Hatzfeld eine Rolle gespielt habe. Aber diese Düsseldorfer Rede solle doch ein noch größeres Meisterstück gewesen sein. Auch habe es sich hier ja nicht um eine private, sondern um eine öffentliche Angelegenheit gehandelt, denn Gegenstand der Anklage sei gewesen, daß Lassalle im November 1848, als die preußische Regierung die Frankfurter Nationalversammlung aufgelöst, das Volk zum bewaffneten Widerstand aufgefordert habe, während doch der Präsident der Nationalversammlung selber, Herr von Unruh, der Ansicht gewesen sei, daß nichts als passiver Widerstand übrig bliebe. – Dem habe der Angeklagte entgegengehalten, der passive Widerstand sei wie Lichtenbergs Messer ohne Stiel, dem die Klinge fehle, der passive Widerstand sei das Produkt folgender Faktoren: Die klarerkannte Schuldigkeit, pflichtgemäß widerstehen zu müssen, und die persönliche Feigheit, nicht widerstehen zu wollen ...

Das Amüsanteste an dieser Rede sei aber, daß – einer weitverbreiteten Annahme entgegen – Lassalle sie gar nicht gehalten habe, und das sei so gekommen. Lassalle habe die Rede, so wie er sie zu halten beabsichtigt, drucken lassen, und obschon diese Druckschrift noch nicht habe ausgegeben werden sollen, sei sie doch dem Gerichtshof schon zugegangen. Daraufhin habe der Vorsitzende, Appellationsgerichtsrat von Druffel, den zweiten Verhandlungstag damit eröffnet, daß er einen geheimen Beschluß des Gerichtshofes verlesen, wonach, eine Gefährdung der öffentlichen Ruhe zu verhüten, die Öffentlichkeit auszuschließen sei. Sofort und sehr energisch habe der Angeklagte gegen solche unwürdige Gewalt und Verkümmerung des Rechtes der Öffentlichkeit protestiert. Aber natürlich vergebens: der Gerichtshof habe sich eiligst zurückgezogen, und der Präsident die Polizei mit der Räumung des Saales beauftragt. Nach Wiedererscheinen des Gerichtshofes habe Lassalle seinen Protest erneuert und dann, in Haltung, Gebärden und Stimmfall reichlich theatralisch, den Geschworenen geklagt, daß man ihn nach sechsmonatiger Kerkerhaft jetzt auch noch des Rechtes beraube, die Anklage öffentlich zu brandmarken und die Abscheulichkeiten, die Infamien zu enthüllen, die unter der Toga des Richters verübt werden. Als nach solchem Ausfall der Vorsitzende dem maßlos Erregten mit der Entziehung des Wortes gedroht, habe die Szene ihren dramatischen Höhepunkt erreicht, indem der schlanke, dunkelhaarige Jüngling den guten Herrn von Druffel mit »Großinquisitor« tituliert und den Beweis angeboten habe, daß selbst die spanische Inquisition glimpflicher mit den Angeklagten und ihrem angeborenen Menschenrecht der freien Verteidigung umgegangen sei. Dann wieder an die Geschworenen sich wendend habe Lassalle verlangt, daß sie keinerlei Verdikt, kein Schuldig, kein Nichtschuldig, aussprechen sollten bis er seine Verteidigungsrede gehalten, die er aber erst halten werde, wenn die Öffentlichkeit wiederhergestellt sei. Die Geschworenen jedoch hatten sich hiernach nicht gerichtet, sondern ihn freigesprochen. – Wenige Tage später aber sei die Rede für sieben und einen halben Silbergroschen in allen Buchhandlungen zu haben gewesen.

Soviel er gehört, sagte Wackerblüh, habe Lassalle, der in der Tat aus Breslau stamme und ursprünglich Lasal heiße, inzwischen Beziehungen zur Arbeiterschaft angeknüpft, um sie vor seinen Ehrgeiz zu spannen. Jedenfalls wolle er, Wackerblüh, hoffen, daß, wenn in Marx und Lassalle die Semiten nun auch der Sozialen Frage sich bemächtigten, daß dann Gott bald den germanischen Genius erwecke, der in die Tiefe dieser Frage dringe. Denn die Lösung erfordere positive Kräfte, wenn anders nicht das höchste Glück der Erdenkinder, die Persönlichkeit, durch den ödesten Staatsdespotismus vernichtet werden solle. Auch werde man sonst, witzelte der Kommerzienrat, am Ende gar nicht mehr von Prolet-Ariern reden können ...

Während die drei Reisenden so miteinander sprachen, hatten sie, zuweilen ein wenig auf und ab wandelnd, mehrere Male an dem weit offenstehenden Fensterschacht sich aufgehalten, durch den man die blanke Dampfmaschine arbeiten und den rußigen Heizer sie bedienen sah. Eben jetzt standen sie wieder davor, und der Kommerzienrat hatte gerade die Bemerkung gemacht, daß eine solche Maschine doch ein herzerfreuender Anblick und ihr Rhythmus ein Hohes Lied des menschlichen Fortschrittes sei, als der Heizer einige Stufen auf der eisernen Leiter emporstieg, um ein paar Atemzüge frische Luft zu nehmen. Das blaue Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln klaffte über der behaarten schweißbedeckten Brust, und während er mit der geschwärzten Rechten sich durchs dunkle Haupthaar fuhr, blickte er gleichmütig an ihnen vorbei. Und doch schien eine Drohung in seinen seltsam aus dem kohlenstaubbeschmutzten Antlitz leuchtenden Augen zu liegen. Als er wieder verschwunden war, sagte Frau Anna, daß sie die Schönheit und den Nutzen der Dampfmaschine gewiß nicht verkenne, daß diese aber doch die sozialen Gegensätze unendlich verschärft habe oder solche wenigstens ungleich mehr als früher in die Erscheinung treten lasse. Das empfinde sie auf einem Rheindampfer angesichts der herrlichen Landschaft einerseits und des in Staub und Hitze sich plagenden Heizers andererseits stets noch viel stärker als daheim in der Fabrik. – Thomas Wackerblüh stimmte ihr zu und erinnerte an das Freiligrathsche Gedicht, darin der Maschinist eine »kurze Sklavenrast« sich gönnend aus seiner Falltür zu dem der schönen Rheinfahrt genießenden Preußenkönig hinsieht:

... Du bist viel weniger ein Zeus, als ich, o König, ein Titan!
Beherrsch' ich nicht, auf dem du gehst, den allzeit kochenden Vulkan?
Es liegt an mir – ein Ruck von mir, ein Schlag von mir zu dieser Frist

und siehe – das Gebäude stürzt, von welchem du die Spitze bist!
Der Boden birst, ausschlägt die Glut und sprengt dich krachend in die Luft!

Wir aber steigen feuerfest aufwärts ans Licht aus unsrer Gruft!
Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung das alte, morsche Ding, den – Staat,
die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt das Proletariat ...

Das Gespräch bewegte sich nun zunächst um Freiligrath und berührte einige seiner revolutionären Gedichte, seine Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung, seine Freisprechung durch die Düsseldorfer Geschworenen Anno achtundvierzig und daß er gegenwärtig in London doch wieder »das zähe Beefsteak des Exils« esse. Dann ging es zu Georg Herwegh über, handelte von dessen Triumphzug durch halb Deutschland im Jahre zweiundvierzig, seiner Aufnahme am Berliner Hofe, wo der König ihm versichert, eine gesinnungstüchtige Opposition zu lieben, und von seinem kläglichen Freischärlereinfall in Baden sechs Jahre später, aus welcher gescheiterten Unternehmung er sich, unter dem Spritzleder des Wagens versteckt, von seiner Frau wieder nach Frankreich habe kutschieren lassen, allwo er gegenwärtig in seiner eleganten Wohnung zu Paris ganz behaglich auf »die Tage der Freiheit für das geknechtete deutsche Volk« warte. Damit nahm man dann die soziale Frage wieder auf. Diese sei im Grunde, meinte der Pfarrer, so alt wie die Menschheit und ihre letzte Lösung sei das Anbrechen des Reiches Gottes im letzten Menschenherzen. Bis dahin müsse jede Zeit ihre besondere Antwort auf jene immer wieder neu sich gestaltende Frage suchen. Die gegenwärtige Aufgabe scheine ihm die Überwindung des Bourgeois durch den Bürger, des Proletariers durch den Arbeiter zu sein. Der Kommerzienrat sagte, soviel er sehe, verbände sich im Gegenteil der Arbeiter mit dem Proletarier gegen den gemeinsamen bürgerlichen Feind, im Blick auf welchen jene keinen Unterschied zwischen Bürger und Bourgeois anerkennten, und Frau Anna setzte hinzu, daß es ihr bei allem Mitleid und aller Hilfsbereitschaft doch oft schwer falle, durch schmerzliche Erfahrungen der Verständnislosigkeit und des Undankes in ihrem sozialen Empfinden und Bemühen sich nicht lähmen zu lassen. Und sie erzählte von einem Arbeiter daheim, den sie den langen Laban nennten, den wegen seiner Trunksucht und seiner aufreizenden Reden ein Fabrikant nach dem andern entlassen. Ihr zu Liebe habe schließlich ihr Mann ungern genug jenen eingestellt, sie persönlich habe des Verkommenen nach jeder Möglichkeit sich angenommen und schon geglaubt, über den Berg mit ihm zu sein, als leider an den Tag gekommen, daß er ganz systematisch die Autorität der Fabrikleitung untergrabe, seine Kameraden, wo und wie immer er könne, aufsässig mache und dem Schnapsteufel nicht nur selber wieder huldige, sondern auch andere zuführe. So habe man ihn dann Knall und Fall vor die Tür setzen müssen. – Thomas Wackerblüh meinte, solche verlorene Liebesmüh, wie ja auch er in seiner seelsorgerischen Arbeit sie immer wieder erlebe, sei freilich schmerzlich genug, doch glaube er sich nicht zu täuschen, wenn er annehme, daß des langen Laban freundliche Helferin keineswegs geneigt sei, ihn fortan dauernd seinem Schicksal zu überlassen, vielmehr nun erst recht auf Mittel sinnen werde, ihm trotz allem noch beizukommen. Freilich wünsche sie solches, erklärte Frau Anna, wenn sie sich aber das durch den Schnaps vertierte Antlitz des langen Laban vergegenwärtige, habe sie wenig Hoffnung. Überhaupt müsse sie gestehen, daß sie durch den bösen, ja verbrecherischen Gesichtsausdruck einzelner Arbeiter in ihren menschenfreundlichen Absichten oft genug entmutigt werde. Dagegen habe auch er sich zu wehren, bestätigte der junge Pfarrer. Aber ob sie nicht glaube, daß Gott, wenn er ein solches verwüstetes Antlitz sähe, darin alles Gute gänzlich erstorben scheine, daß Gott dann sie und ihn als die vom Leben Bevorzugten zur Verantwortung ziehen werde: »Wo ist dein Bruder Abel?« Übrigens gebe es doch auch in den sogenannten höheren Schichten eine Menge Gesichter, die bei genauerer Betrachtung eher wie des Teufels als wie Gottes Ebenbild aussähen. Nein, die trennende Linie, die ihm überhaupt problematisch sei, verlaufe doch wohl anders, und in Gottes Augen bestehe möglicherweise gar kein wesentlicher Unterschied zwischen ihm, dem unbescholtenen Pfarrer, und irgendeinem Zuchthäusler.

Was aber die soziale Frage betreffe, so wolle ihn bedünken, daß diese durch Mitleid und Hilfsbereitschaft niemals gelöst oder auch nur der Lösung näher gebracht werden könne, sondern allein durch Einsicht und Gerechtigkeit. Und so schön und notwendig es sei, daß jeder, den sein Herz treibe, die Symptome und Auswüchse der sozialen Krankheit zu mildem suche, die Hauptsache sei doch, daß Einsicht die Ursache aufdecke und Gerechtigkeit sie beseitige. Solange das nicht geschehe, seien alle Wohltätigkeits- und Fürsorge-Bestrebungen, gleichviel von wem sie ausgingen und unbeschadet ihrer relativen Verdienstlichkeit, doch nur wie Tropfen auf einem heißen Stein. – Der Kommerzienrat wendete ein, es stehe doch geschrieben: »Reiche und Arme müssen untereinander sein,« und er habe immer geglaubt, daß es sich bei solchem Unterschied um göttliche Erziehungsabsichten handle, wobei der Reiche gewiß nicht im Vorteil sei, er wolle nur an das Wort von Kamel und Nadelöhr erinnern. – Wackerblüh erwiderte, daß kein menschlicher Lösungsversuch der sozialen Frage jenen Unterschied aus der Welt schaffen werde, der nun einmal sowohl in der menschlichen Natur wie in der göttlichen Weltordnung begründet zu sein scheine. Es könne sich deshalb niemals darum handeln, ihn gewaltsam zu beseitigen, denn er würde sich ja doch sofort wieder einstellen, sondern nur darum: einmal ihm das Ausschlaggebende zu nehmen, und zum andern, die jetzt ihm innewohnende Tendenz zur Verschärfung durch eine Tendenz zur Milderung zu ersetzen. – Der Kommerzienrat wollte wissen, wie der Herr Pfarrer solches, auf das Verhältnis zwischen einem Fabrikherrn und seinen Arbeitern angewendet, sich vorstelle, und Wackerblüh sagte: auf die kürzeste Formel gebracht etwa so, daß alles, was die Fabrik über eine gute Verzinsung des Anlagekapitals und eine gute Honorierung der geistigen Leitung hinaus einbringe, unter allen in ihr arbeitenden Menschen verteilt werde, und zwar nach Maßgabe der Bedeutung des Einzelnen für das Ganze. Dann, aber auch nur dann habe der Arbeiter, was ihm zukomme und sei der verbleibende Unterschied zwischen Arm und Reich als der göttlichen und menschlichen Gerechtigkeit gemäß anzuerkennen. – Der Kommerzienrat fragte, was dann aber in schlechten Jahren geschehen solle, wenn die Fabrik vielleicht nicht einmal das Anlagekapital verzinse? Ein Bekannter von ihm in Essen – Herr Alfred Krupp, setzte er für seine Frau hinzu – habe Anno achtundvierzig sein häusliches Silberzeug und dergleichen verkauft, um keine Arbeiter entlassen zu müssen. Ob der Herr Pfarrer glaube, daß umgekehrt auch die Arbeiter sich einschränken würden, um ihren Fabrikherrn in schwerer Zeit über Wasser zu halten? – »Warum denn nicht?« meinte der Pfarrer, »zumal wenn sie Silber haben, dessen sie vorübergehend sich entäußern können.« Übrigens, wenn er auch nichts von den kaufmännischen Dingen verstehe, halte er doch dafür, daß man in den fetten Jahren Rücklagen für solche mageren bilden könne, deren Zinsen allein möglicherweise ausreichen dürften, um beiden Teilen über schwierige Zeiten hinwegzuhelfen. Doch wie dem auch sei – keinesfalls bilde er sich ein, daß durch solche Neuverteilung des Geschäftsgewinnes, gleichviel ob sie von menschenfreundlichen Fabrikanten oder gewaltsam von den Arbeitern inszeniert würde, die soziale Frage gelöst werden könne. Denn diese sei nun einmal nicht ausschließlich eine Frage der materiellen Gerechtigkeit, der auf die gedachte Weise man freilich wohl näher kommen dürfte, sondern vielleicht noch mehr eine Frage der ideellen Gerechtigkeit, und als solche von der allgemeinen großen Frage des Menschen untrennbar, deren Lösung mit dem Anbruch des inwendigen Reiches Gottes gleichen Schritt halte ... Wackerblüh verstummte und alle drei wendeten ihre Aufmerksamkeit einem kleinen Nachen zu, der, anscheinend von leichtfertiger oder unkundiger Hand gesteuert, auf den Wellen ihres Dampfers schaukelte. Als er außer Gefahr war, nahm der Pfarrer das Gespräch wieder auf: er habe vor einigen Wochen ein höchst seltsames Buch gelesen: »Der Einzige und sein Eigentum« von Max Stirner. Darin, wie ja im Anarchismus überhaupt, leuchte zuweilen, aber in verzerrter Ähnlichkeit, etwas von der wahren Freiheit der Kinder Gottes auf, aber leider werde ein Grundgesetz aller menschlichen Gerechtigkeit dabei völlig verkannt. Denn es könne kein Recht des Einzelnen geben, das nicht übereinstimme mit der Gewissenspflicht gegenüber der Gesamtheit. Aber interessant sei das Buch, wie, wenigstens für ihn, jede Beschäftigung mit solchen Problemen. Gewiß sei ein starkes derartiges Interesse nicht ungefährlich, aber er vertraue, daß die Gefahr erkennen sie vermeiden heiße. Und zum mindesten sei es reizvoll, ein Utopien sich auszudenken, in dessen Anarchie jeder nach dem Recht, das mit ihm geboren, sich ausleben kann, weil er selber streng und reinlich sich seine Grenzen zu ziehen weiß. Ein Utopien, in dem der fröhlichste Kommunismus herrscht, nicht ein unsittlich von denen erzwungener, die dadurch mühelos reicher zu werden gedenken, sondern ein aus überquellender Liebe von denen eingeführter, die nicht daran denken, daß sie selber dadurch »ärmer« werden könnten.

Ja, wenn die Menschen es sich nur nicht so schwer machten, einander zu lieben, meinte Frau Anna, aber der Pfarrer ging hierauf nicht ein: Von allen Büchern der Art am meisten gepackt habe ihn das des Engländers William Godwin, das vor fünfzig oder sechzig Jahren erschienen und »Politische Gerechtigkeit« betitelt sei. Eine neuere deutsche Übersetzung davon habe er ganz zufällig vor Jahr und Tag in Frankfurt bei einem Antiquar angetroffen und um ein paar Groschen erworben. Zwischen Godwin, diesem »Vater der Anarchisten«, und ihm müsse wohl eine innere Verwandtschaft bestehen, so viele eigene Gedanken und Ahnungen habe jener ihm bestätigt, z. B., daß jede organisierte Bekämpfung gesetzlicher oder gesellschaftlicher Einrichtungen, jede Parteibildung vom Übel und daß letzten Endes der seelenlose Obrigkeitsstaat die Hauptursache aller Laster und Leiden sei. Und daß die sittliche Entwicklung des Einzelnen die allmähliche Beseitigung aller äußeren Bindungen ermöglichen würde, wie denn auch Wahrheit und Tugend keines obrigkeitlichen Schutzes bedürften und selber ihre Schlachten schlagen könnten. Zu solcher Ablehnung des Obrigkeitsstaates sei ja auch Proudhon gekommen, der auf die Frage: »Was ist das Eigentum?« die berühmte Antwort: »Diebstahl« gegeben habe, über deren Oberflächlichkeit ihre blendende Kürze hinwegtäuschen wolle. Jedenfalls aber werde der Kommunismus, wie Proudhon ihn verstehe, nur eine kurze Episode im Leben der Menschheit sein können.

Es sei übrigens doch merkwürdig, wie oft der Anarchismus und die Lehre Christi sich berührten, schließlich aber sei ja auch Christus in der Tat gekommen, um das Gesetz zwar nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen, aber doch, um es durch solche Erfüllung überflüssig zu machen.

Es war im Jahr 1856 an einem Vorfrühlingstag gegen Abend. Frau Maria Magdalena hatte einen einsamen Gang zum Friedhof unternommen und sich durch die warme Sonne verführen lassen, nach dem Besuch der ihr teuren Grabstätten noch ein Stündlein zwischen den fremden Gräberreihen umherzuwandeln und die verwitterten Inschriften zu lesen. Und als da so mancher Tote, an den sie Jahre oder Jahrzehnte nicht gedacht, ihr wieder lebendig ward, fühlte sie, daß lange leben viele überleben heißt.

Auch Herr Schlüpjes fehlte ihr doch sehr! Nun, wenn sie ihn dereinst wiedersehen würde, dann brauchte sie sich keinerlei Zurückhaltung mehr aufzuerlegen, weil er ein armer Weber und Totengräber und sie eine geborene Pieper und die Mutter eines Kommerzienrats war. Ganz herzlich wollte sie ihm dann noch für alles danken, was sie hier an ihm gehabt hatte.

Wo der höhere Mittelweg, an dem seit Jahr und Tag auch Pastor Kranevoß ruhte, zu einem kleinen runden, von zwölf Pappeln, den zwölf Aposteln, umstandenen Platz sich erweiterte, sah sie über der niedrigen Friedhofsmauer die langgestreckten roten Streifen des Abendhimmels, vor denen ein Zug, der soeben den Bahnhof verlassen hatte, langsam nach Süden rollte, eine dunkle, von der durchscheinenden Glut seltsam gegliederte Schlange. – Wie furchtbar weit war's doch bis zu diesem München! Wenn sie an die vielen, vielen Felder und Wälder, Berge und Städte dachte, die zwischen ihr und ihrem Liebling Johannes lagen, empfand sie diese große Entfernung als einen körperlichen Schmerz, der nur in dem Bewußtsein zu ertragen war, daß der liebe Junge, dessen rotes Haar nun auch schon ganz grau geworden war, da unten ein so reiches Glück gefunden hatte. Vielleicht ließ dieser selbe Sonnenuntergang ihm die Frauentürme rot erglühen – es war doch gut, daß sie die weite Reise gewagt hatte und sich nun zu seinen Briefen manches so viel besser vorstellen konnte – ein zweites Mal, das fühlte sie deutlich, würde sie die Fahrt nicht unternehmen. Aber sie fühlte auch, daß sie nicht sterben würde, ohne ihn, dem Gott diese schreckliche Cholera so gnädig ferngehalten, noch einmal gesehen zu haben.

Denn sie stand ja nun gewiß schon ganz dicht vor der Grenze des Landes, darin der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid, noch Geschrei. – Wie grauenvoll war doch, was da in »Onkel Toms Hütte« von dem Elend der armen Negersklaven erzählt ward! Eine mutige Frau, diese Amerikanerin – wie hieß sie doch gleich? Ach, ihr Gedächtnis war so schlecht geworden! – und gewiß würde Gott ihr Buch segnen, daß es den Christen drüben keine Ruhe lasse, bis diese schändliche Sklaverei gänzlich abgeschafft sei. – Und wieviel Entsetzliches hatte die Kölnische Zeitung von den Schrecken berichtet, die dieser Winter über das belagerte Sebastopol gebracht und über die Engländer und Franzosen, die es belagerten. Unbegreiflich, daß sie den Türken halfen, die nach der Offenbarung Johannis doch aus Europa vertrieben werden mußten. Und ganz seltsam, daß der Zar vor ein paar Tagen so plötzlich gestorben war ... Dieser merkwürdige Nikolaus, der so märchenhaft reich war und doch achtundzwanzig Jahre hindurch dasselbe Paar Pantoffeln getragen hatte. – Wie gut, daß Preußen an diesem schrecklichen Krieg sich nicht beteiligte, die Zwillinge hätten sonst sicher mitgemußt. – Ja, der fromme König durfte sich wohl mit Recht einen Friedensherold nennen, mochte er immerhin, wie Johannes einmal geschrieben, mehr Gemüt haben als für den Staat gut war.

Es war nach sechs und dämmerte schon, als der Heimweg Frau Maria Magdalena an der alten Kirche vorbeiführte, darin Pastor Wackerblüh, Kranevossens Nachfolger, gerade auf der Orgel spielte, und obwohl sie sich sagte, daß sie eigentlich keine Zeit mehr hätte, beschloß sie doch, ihm ein wenig zuzuhören. Leise öffnete sie die Tür und trat ein. An der Orgel flackerte eine Gasflamme und in den grauen Fenstern lag das letzte Restchen Tageslicht. Unhörbar entriegelte sie ein Banktürchen und müde ließ sie sich nieder, der Bachschen Fuge zu lauschen, die stark und rein das Gotteshaus erfüllte. Wie vertraut war ihr hier seit frühen Kindertagen jede Einzelheit und doch erschien das Ganze in dieser Abendstunde ihr so seltsam fremd – es mochte die Leere sein und das Orgelspiel, vielleicht auch die ungewohnte Beleuchtung. – Sie war doch recht müde geworden! ...

Plötzlich wehte sie von der Tür her ein kalter Luftzug an und Herr Freundgen, der Hauptlehrer, schritt an ihr vorüber. Er nahm in seinem Gestühl unmittelbar unter der Kanzel Platz und seine goldene Brille blitzte sie an. Und da – auf der Pastoratsbank, da saß ja ihre Mutter und ihr Bruder Johannes neben Pastor Kranevoß. Immer mehr Bänke füllten sich. Dort saß die Wittib Entepuhl und wackelte mit dem Kopf, und dort warf das scharfe Profil des alten Zuckerbäckers und Friedensrichters Stümges seinen Schatten auf die gekälkte Pfeilerwand. Im Wolfschen Gestühl sah sie ihren Mann, den seligen Maire, und die zarte Gabriele, und im ten Bompelschen den alten Herrn Henricus und Gabrielens Mutter und Großeltern. Auch Herr Schlüpjes fehlte nicht und neben ihm saß sein Schwiegervater Vits Köpke. Wie voll Menschen war die Kirche, und wie viele waren da, an die sie Jahre und Jahrzehnte nicht gedacht hatte. Und dann die Vielen, die sie gar nicht kannte, ganz fremde Gesichter ... Und siehe, da stand ihr lieber Vater auf der Kanzel, freundlich umherblickend, wie er zu tun pflegte, wenn er auf das Verstummen der Orgel ein wenig warten mußte. Aber er war so klein! Gewiß hatte man ihm sein Fußbänkchen nicht wieder hingestellt, dessen Kranevoß und Wackerblüh ja nicht bedurften. – Nun waren fast alle Bänke besetzt und manche hatten auf keiner mehr ein Plätzchen gefunden und standen in den Gängen. Jetzt drängte sich noch jemand durch – du lieber Gott! war das nicht Fritz ten Bompel, der sich da neben Gabrielens Mutter niederließ? Wie kam Reginens Mann in diese Totenkirche? Er war doch auf seiner Geschäftsreise in Ostfriesland und gestern noch war Regine bei ihr gewesen und hatte geklagt, daß er diesmal wenigstens fünf Wochen ausbleiben werde ... Da hub eine Stimme im Dunkeln zu klagen an: »Wehe! wehe! wehe! Seine Kirche hat den Lebendigen getötet! Wehe! wehe! wehe! Seine Kirche hat den Auferstandenen begraben! ...«

Dann stand Pastor Wackerblüh neben ihr, ein Laternchen in der Hand. Er hätte ihr Kommen gar nicht bemerkt, sagte er, nun hätte sie bei seinem Orgelspiel ein Schläfchen gehalten und er sie geweckt, aber es wäre doch gut, daß er sie noch gesehen hätte, ob er sie nach Hause begleiten dürfte. – Erschrocken und ganz verwirrt stand sie auf und schweigend trat sie durch die Tür, die er ehrerbietig öffnete, in den dunklen Abend hinaus. Da schlug es über ihnen halb sieben. Auf dem kurzen Weg kam keine Unterhaltung zustande und der Pastor dachte, daß die liebe alte Dame doch anfange, ein wenig stumpf zu werden.

Zu Hause war ihr ganz wunderlich, und ihr altes Mädchen mußte sie daran erinnern, daß sie ja ihre Enkelinnen zum Tee eingeladen habe. Pina erschien pünktlich wie immer, aber Regine verspätete sich ein wenig und war in Unruhe, – ihre kleine Anna sei nicht recht wohl. Beide brachen infolgedessen früher als sonst auf, und als Pina die Schwester nach Hause geleitete, um sich noch selber zu überzeugen, daß ihre kleine Nichte doch nicht etwa ernstlich krank sein werde, meinte sie, die Großmutter sei heute auffallend still und zerstreut gewesen, ja zuweilen wie geistesabwesend. Auch wundere sie sich, daß sie ihnen kein homöopathisches Mittelchen für die kleine Anna mitgegeben ... Frau Maria Magdalena aber stand unterdessen am Fenster und über ihr standen die Sterne und sprachen von Gottes Allmacht und Güte ... Und plötzlich war es ihr, wie wenn eine liebe Hand sich vertraulich auf ihre Schulter lege, als sie sich aber umsah, war sie allein. Da verstand sie, warum der Mensch aus dem Leben abgerufen werde, wenn er eben es begriffen und zu leben gelernt habe. – Sie ging zu Bett, und als ihr Blick die Hahnemannsche Hausapotheke streifte, kam sie ein Lächeln an. Und unwillkürlich winkte sie ihr zu und bedachte in ihrem Herzen, mit solchen Empfindungen möchte ein Wandrer wohl den zuverlässigen Führer entlassen, der ihn wohlbehalten durch ein unwirtliches Gebirge gebracht. – Als Frau Anna am andern Morgen zu ungewohnt früher Stunde ihre Schwiegermutter besuchte, die noch zu Bett lag, überraschte diese die Eintretende durch die ängstliche Frage: »Was ist's mit Fritz ten Bompel?« Und jene berichtete, daß in der Nacht ein Telegramm aus Emden gekommen, Fritz läge dort im Krankenhaus an einer schweren Lungenentzündung, und daß ihr Mann und Regine heute früh dorthin abgereist wären, und daß sie die kleine Anna, die nach Doktor Latscherts Ansicht die Masern bekäme, zu sich geholt hätte.

Da schrieb Frau Maria Magdalena im Bett ihren letzten Brief, der noch in derselben Stunde die weite Reise nach München antrat. Sie erzählte Johannes ihren Traum »oder was es sonst gewesen sei« und bat ihn, sobald wie irgendmöglich zu kommen. Einige Tage später saß er an ihrem Bett und wartete mit ihr auf die Todesnachricht aus Emden. Und immer wieder mußte er ihr versprechen, daß sie ihn im Himmel nicht vergeblich suchen werde. Oder sie gaben dem schweigenden Einanderverstehen der Herzen sich hin, das ihnen beiden ein halbes Jahrhundert hindurch so wohltätig gewesen war. Denn dieses war das Sichere und Bleibende, darauf der wechselnde Rhythmus der Erlebnisse, Gedanken und Empfindungen, die ja bei ihnen so verschiedenartig gewesen waren, gespielt hatte, wie die Meereswogen über der Tiefe schwellend und zerfließend, einander suchend und fliehend ihr vergängliches und ewiges Spiel treiben.

Johannes begriff, daß er jetzt mit der Mutter die Heimat verlieren werde, aber er wußte auch, daß beide unverlierbar sein blieben. – Wie freundlich und freigebig in der Fremde das Leben dem oft Verkannten und Zurückgesetzten sich erwiesen hatte, er war durch das eine nicht verwöhnt und durch das andere nicht verbittert worden. Von Erfolg begleitet, von Liebe umgeben, hatte er doch längst das allgemeine Menschenschicksal erkannt: im Innersten einsam zu sein und bleiben zu müssen. Mit Bewußtsein hatte er dieses Schicksal auf sich genommen und in Lebenskraft gewandelt, indem er von der eigenen Vergangenheit nichts sich verloren gehen ließ, aus ihr sich verstand und bejahte, seine tägliche Existenz auf sie gründete und in einer treuen und vertrauten Kameradschaft mit dem eignen Herzen lebte. Woraus dann auch das andere allgemeine Menschenschicksal für ihn seine Schrecken verlor: das Sterbenmüssen. Es ward ihm zu einem Sterbendürfen, wenn alle Kräfte sich entfaltet und die letzten Linien des Lebens und Wesens zur Einheit sich gerundet hatten.

So glaubte er, die kraftlos gewordene liebe Hand in der seinen, der Mutter versprechen zu dürfen, daß sie ihn im Himmel nicht vergeblich suchen werde. Aber daß sie ihn suchen werde, das glaubte er nicht. Dann kam das zweite Telegramm. – Als am Morgen danach die alte Dienerin in Frau Maria Magdalenas Schlafzimmer eintrat, erwachte die Schlummernde nicht mehr.


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