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Der alte Weber, Totengräber und Stundenhalter, dessen Tod sein Schwiegersohn Götze nach Boll gemeldet hatte, war nicht lange krank, aber sein Sterben war schwer gewesen. Der so vielen die letzte Wohnung bereitet, hatte keine Angst vor dem Tode, aber vor dem Sterben hatte er Angst. Gewiß, schon in gesunden Tagen pflegte er, und vollkommen ehrlich, mit dem Apostel zu seufzen, er hätte Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein, welches auch viel besser wäre. Aber wie sicher er auch der Treue seines Erlösers, der Gnade seines Gottes und der ewigen Seligkeit war – es gab doch so manches, was ihm das Sterben erschwerte, lange bevor der kurze letzte Kampf einsetzte.
Da war zuerst ein Erlebnis, von dem nur Doktor Latschert noch wußte, und hier konnte auch nur der ihm helfen. Es lag viele Jahre zurück und war am Spätnachmittag eines Dienstags nach Pfingsten gewesen, daß man die zwanzigjährige Lisbeth Aldendrop begraben hatte, die seit ihrer Kindheit vom Veitstanz übel geplagt, wenn sie nicht gar, was manche annahmen, eine richtige Besessene gewesen war. Denn daß ihre Großmutter Karten gelegt, das Vieh besprochen und auch noch andere Werke der Finsternis getrieben, das war doch männiglich bekannt. – Als nun die wenigen Leidtragenden ihr Schäufelchen Erde auf den Sarg geworfen und den Friedhof verlassen hatten, war Herr Schlüpjes seiner Pflicht gemäß an die Grube getreten, um sie vollends mit Erde zu füllen und den Hügel aufzuführen. Da hatte er von da unten her etwas gehört, er konnte nicht sagen was, aber getäuscht haben konnte er sich auch nicht, denn es hatte sich ein paarmal wiederholt ... Spornstreichs war er zum Doktor Latschert gelaufen und dann hatten beide den seligen Jonathan Jansen, den Schreinermeister abgeholt, und in der ersten Dämmerung des Frühsommerabends zu dritt den Sarg geöffnet. Sie hatten die Tote auch wirklich und unzweifelhaft tot befunden, aber die Hände waren ihr nicht über der Brust gefaltet, sondern die Rechte lag auf dem Antlitz und die Linke unterhalb des Halses. Doktor Latschert hatte gemeint, daß solche Unordnung wohl beim Hinablassen oder Wiederheraufziehen des Sarges entstanden sein könnte, aber er, Schlüpjes, war andrer Ansicht gewesen. Die Wahrheit war, wie so oft im Leben, Gottes Geheimnis geblieben. – Und dann hatten die drei Männer einander versprochen und gelobt, niemand von der Sache zu sagen, damit kein Geschwätz und Beunruhigung entstehe, auch untereinander wollten sie nicht mehr davon sprechen.
Hierzu nun hatte Herr Schlüpjes sich jetzt doch entschließen müssen. Der freundliche Doktor hatte ihn dann auch beruhigt: die arme Lisbeth Aldendrop wäre ganz sicher nicht scheintot gewesen, und was ihn, Schlüpjes, beträfe, so verspräche er ihm und gäbe ihm die Hand darauf, daß, sofern er wirklich sterben müßte, alle ärztliche Kunst und Wissenschaft aufgeboten werden sollte, um ihn vor lebendiger Einsargung zu bewahren. Und dann hatten sie die Einzelheiten besprochen und vereinbart, so daß Herr Schlüpjes hierüber zuletzt ganz ruhig geworden war.
Schwerer war dem Zweiten beizukommen gewesen, was ihm Angst machte. Das war Satanas, der Erzfeind, der ihm in seinem langen Leben so oft und hart zugesetzt hatte. Wohl war an vielen der mehr als dreitausend Gräber, die er gegraben, das Lied von den »Liljen jener Freuden« gesungen worden mit den tröstlichen Worten »Du kannst durch die Todestüren träumend führen«, aber zwischen dem Können und dem Tun hatte Gott doch in jedem einzelnen Fall die freie und unerforschliche Wahl. Wohl würde Sein Stecken und Stab ihn trösten, sobald er wandelte im finstern Tal. Aber vor dem Eingang dieses Tales konnte recht gut der alte böse Feind sitzen und ihm auflauern zu einem letzten, entsetzlichen Kampf ... Und so oft Herr Schlüpjes die Augen zumachte, sah er ihn wirklich dasitzen. Nicht deutlich zwar, aber doch erkennbar – wer hätte es auch sonst sein können! Solange er noch beten konnte, brauchte er jenen ja nicht zu fürchten, aber was sollte dann werden? »Es kann mir nichts geschehen, als was Er hat ersehen,« sagte er sich dann wohl vor – aber trotzdem – so gerade auf der Schwelle konnte ihn jener doch vielleicht noch ganz greulich erschrecken ... Immer wieder mußte er an den langen Todeskampf seines Schwiegervaters, des alten Vits Köpke, denken, der zugleich Pferd und Wagen und Postillion seiner »Privatcourierpost« gewesen war. Das war so schrecklich anzusehen gewesen, wie der gute Alte, statt in Fried und Freud dahinzufahren oder unsichtbaren Schrittes gemächlich dem himmlischen Jerusalem zuzustreben, stundenlang keuchte und strampelte und von Aachen und Elberfeld, Köln und Düsseldorf als seinen Reisezielen phantasierte. Und wie hatten ihn dabei noch die Schrecken der Landstraße geängstigt, Gewitter und vorzeitige Dunkelheit, Beinbrüche und Strolche und Irrlichter ...
Wie weit lag auch das schon wieder zurück! Wie rasch war er selber ein alter Mann geworden, der sich zum Sterben rüstete. Würde auch er in seinen letzten Stunden so geängstigt werden?
Gewiß würde Willemken ihm dann helfen können, der ja kommen wollte, und dem Gottes Gnade ja inzwischen auch das Letzte und Größte noch geschenkt. Ach, unter viel Angst und Reue, Kampf und Demütigung, beides, für Willemken selbst und für die, die ihn liebhatten. Das war auch solch ein dunkles Tal gewesen, durch das der arme Junge hatte gehen müssen, begleitet freilich von den unablässigen Gebeten seines Großvaters.
Jedesmal wenn die Gedanken des Sterbenden soweit gekommen waren, vergaß er der eigenen Angst und seine schmalen Lippen lächelten sieghaft in der Erinnerung daran, wie hart er damals mit Gott gerungen hatte. – Das, was er Willemkens Wiedergeburt nannte, war aber solchergestalt zugegangen.
Im März vorigen Jahres war eines Tages gegen Abend ein fremdes Mädchen zagen Schrittes die hohe Treppe zum Wolfschen Hause hinaufgestiegen und hatte, ohne daß die verweinten Augen die römische Wölfin beachtet hätten, die Glocke gezogen. Es war die rotblonde Inge, die Pastorentochter aus Jütland, die einen Brief von Willemken überbrachte. Darin stand mit vielen und großen Worten ein demütiges Schuldbekenntnis, aber zwischen den Zeilen auch mancherlei Hoffart und Selbstsucht und Unvernunft, und am Schluß hieß es, daß er jetzt nach Amerika wolle, wo leicht eine Pfarre zu finden und ein neues Leben zu beginnen sein werde. Dann wolle er Inge und das Kindlein nachkommen lassen. Bis dahin aber möchte Frau Maria Magdalena um Gottes willen für seine arme Braut sorgen, die ihr Elternhaus nicht wieder betreten dürfe und, wie vor Zeiten die Mutter des Herrn, nicht wisse, wo sie ihr Kindlein gebären solle. Gewiß würde Fliedner in Kaiserswerth mit sich reden lassen, wo sich für Inge, die er übrigens nicht von jeder Mitschuld freisprechen könne, leicht auch eine vorläufige Arbeit finden werde ... Der Brief hatte ziemlich viel Aufregung verursacht und in Frau Maria Magdalenas Herzen war ein Altärchen zusammengebrochen. Aber in allen den Beratungen, bei Wolfs sowohl wie im blaugetünchten Weberhäuschen draußen am Friedhof, hatte doch niemand etwas Besseres zu tun oder vorzuschlagen gewußt, als Frau Anna, die Kommerzienrätin. Man müsse der Reise nach Amerika durch Versagen jeglicher Beihilfe ein Riegelchen vorschieben, den Brief unverzüglich an Wichern schicken, der ja vielleicht noch seines Gehilfen Helfer werden könne, und die kleine Inge hier behalten. Und so war man dann auch verfahren. Frau Anna hatte eine längere Aussprache mit ihrer energischen Stieftochter Pina, woraufhin diese sich mit der kleinen Inge im Gartenhaus ansiedelte. Daß dort schon einmal ein fremdes Fräulein gehaust, wußten beide nicht.
Was Wichern und Willemken miteinander verhandelt und wie jeder zum Herzen des andern den Weg gefunden, war nicht bekannt geworden. Aber Willemken hatte noch vor Weihnachten seine rotblonde Inge und ihr Töchterchen zu sich ins Rauhe Haus geholt, nachdem Pastor Kranevoß im blaugetünchten Weberhäuschen, das er zum ersten- und letztenmal betrat, an einem und demselben Nachmittag vor wenigen Zeugen zwei heilige Handlungen vollzogen hatte, zwischen denen meist mehrere Jahreszeiten wechseln. Von Amerika war so wenig mehr die Rede gewesen wie von der Gründung und Leitung eigener charitativer Unternehmungen oder einer Hofpredigerstelle. Einmal hatte Wichern in einem seiner wenigen und kurzen Briefe an Frau Maria Magdalena geschrieben, sein Gehilfe scheine jetzt keine Wünsche für die Zukunft mehr zu haben, als den einen, ein Christ zu werden, und das erhabenste Geheimnis Gottes, die Wiedergeburt, sei in ihm am Werke ... Das war mit etwas andern Worten derselbe Eindruck, den auch Frau Anna von einer Reise nach Hamburg mitbrachte. Nur das Wort von der Mitschuld der kleinen Inge konnte sie Willemken noch nicht ganz vergeben. – Der Großvater aber hatte Gott auf den Knieen gedankt, daß Tholucks Abschiedswunsch und seine eigenen Gebete erhört worden waren. – Leider hatte der letzte Wunsch des Sterbenden unerfüllt bleiben sollen: Wichern war erkrankt und Willemken konnte nicht kommen. Der Alte hatte alsbald angefangen, sich zu trösten: gewiß wolle Gott ihm zeigen, daß um Jesu Willen auch die engsten irdischen Bande gelöst werden müßten und daß er sich nicht zu guter Letzt noch auf Menschen verlassen solle. Gewiß würde Er nun auch um so herrlicher ihm helfen. – Aber da es jetzt auf nichts mehr zu warten hatte, war das Restchen Lebenskraft rasch in sich zusammengefallen. Nach ein paar Tagen war das Ende gekommen – wie er sich's immer gewünscht hatte: Mittags und so, daß ihm die liebe Sonne aufs Bett schien.
Nur seine Frau und die hübsche Billa waren zugegen gewesen ... Nebenan in Willemkens und Michels einstiger Kammer hatten die ihm Nächststehenden von den Freunden der Wahrheit leise für ihn gebetet, in den beiden untern Zimmern viele von den andern.
Der Kampf war ganz kurz gewesen. Er hatte – anscheinend ohne Bewußtsein – ziemlich viel gesprochen, aber sie hatten nur einzelne Wörter verstanden. Einmal hatte es wie Lisbeth Alden geklungen, aber da mußten sie sich wohl verhört haben, denn es gab keine Lisbeth Alden und Lisbeth Aldendrop war schon an die zwanzig Jahre oder länger tot und hatte seinem Kreis ganz fern gestanden.
Dann hatte er aufgeschrieen: »Satanas! Satanas!« und den Arm mit der geballten Faust emporgereckt, daß die hübsche Billa ganz blaß geworden war und laut zu weinen angefangen hatte. Aber alsbald war ein Leuchten auf seinem Angesicht erschienen und die schmalen Lippen hatten ganz sieghaft gelächelt... Die Sonne war weitergegangen, das Leuchten aber und das Lächeln, die waren stehen geblieben ... Dann hatte Doktor Latschert an ihm getan, wie er versprochen.
Später hatten sie ihn aufgebahrt in der Stube, darin er den Freunden so oft den Weg der Wahrheit gewiesen, und seine Frau hatte den Spiegel umgedreht und auf die halbrunde Pappschachtel mit den Bibelsprüchen ein Räucherkerzchen gestellt. Und dann war ein Kommen und Gehen gewesen von den Stillen im Lande ringsum, die alle von dem teuren Mann einen letzten Abschied hatten nehmen wollen. – Die Kommerzienrätin und ihre Kinder aber, wenn sie ihn hätten sehen können, mit dem entspannten Antlitz und den durch das Leinentuch sich abzeichnenden Umrissen des zusammengeschrumpften Körpers – sie hätten ihn nicht mit der großen und strengen Sibylle des Bamberger Domes verglichen, sondern mit einem jener holzgeschnitzten Apostelchen in den fränkischen Dorfkirchen. – Und nach drei Tagen hatte man ihn den Weg getragen, den niemand so oft gegangen war wie er.