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Die beiden Herren verabredeten, der Staatsanwaltschaft zu Düsseldorf Anzeige zu erstatten. Nach langen und umständlichen Verhandlungen zwischen den preußischen und holländischen Behörden – zunächst mußten die verschiedensten, sowohl die beiden Franzosen, wie den Schmied betreffenden Papiere mühsam beigebracht werden – fuhren an einem heitern Spätherbstmorgen eine preußische und eine holländische Kommission auf verschiedenen Wegen durch Herrn Jeanbons Jagdgründe demselben Ziel zu. Das Anwesen Waterbroich, das inzwischen des öftern wieder den Besitzer gewechselt, fand sich leicht, aber welche der unterschiedlichen Gehölzgruppen die richtige sei, darüber war man sehr verschiedener Meinung und die an fünf Stellen vorgenommenen Grabungen würden nur Erde und Steine zutage gefördert haben, wenn nicht der Königlich Preußische Kreisphysikus Doktor Pützchen, der in seinen Mußestunden frühgeschichtlichen Studien oblag, ein hartes, schwarzes Wurzelstöcklein als keltisches Alräunchen angesprochen und mitgenommen hätte.

Eine fröhlichere Reisegesellschaft, als sie am 23. Juli 1853 abends im »Schwan« tafelte, hatte der alte Gasthof zu Frankfurt am Main noch nicht erlebt. Es war die ganze Familie Wolf, die gestern eingetroffen war und morgen weiterreisen wollte. Heute hatte man den Dom und die Städelsche Bildersammlung besichtigt und die Erwachsenen hatten in Herrn von Bethmanns Antikensaal bewundernd vor Danneckers Ariadne gestanden, deren marmornen Formen ein farbiges Oberlichtfenster den Schein des blühenden Lebens verlieh. Mit schmerzlichen Gefühlen hatte man das Grab der schönsten vaterländischen Hoffnung, die runde Paulskirche, umschritten, darin vor wenig Jahren die Deutsche Konstituierende Nationalversammlung getagt. Vielleicht in Deutschland nicht und nicht in irgendeinem andern Lande würde jemals wieder eine Volksvertretung so die Fülle der besten Köpfe und der stärksten Herzen in sich vereinen, wie dieses erste deutsche Parlament, das so rasch vergehen mußte, weil die Zeit noch nicht reif war. Frau Maria Magdalena hatte an den kleinen Achatschleifer und seinen Trübsinn erinnert, daß es nie eine Lust sein werde zu leben und daß die Hand des Menschen verflucht sei. Sie hatte auch an das schönere Vaterland erinnert, das den Christen erwarte. Aber Frau Anna hatte gemeint, man müsse auch für das irdische Vaterland an jeder Hoffnung in Treue festhalten,

»damit das Gute wachse, wirke, fromme,
damit der Tag dem Edlen endlich komme!«

Und Hans und Fritz, den siebzehnjährigen Zwillingen, hatte die Ergriffenheit der Alten sich mitgeteilt und war in ihren jungen Herzen zu einem wortlosen Gelöbnis geworden.

Man war am Römer und an Goethes Elternhaus vorbei- und über die alte Mainbrücke gegangen und später hatte der Kommerzienrat allein an der Ecke der Großen Gallusstraße eine geschlagene halbe Stunde diesem merkwürdigen Herrn von Bismarck aufgelauert, den er so gern einmal von Angesicht gesehen hätte. Freilich war dieser Bismarck ein schlimmer Reaktionär, und daß er um die russische Freundschaft warb, war unzeitgemäß und verdächtig. Aber daß er einmal eine Landtagsrede mit einem Weinkrampf beendet hatte, ließ auf eine Leidenschaftlichkeit und innerlichste Anteilnahme schließen, die nicht alltäglich waren. Und dann: wie viele Geschichten gingen von ihm um! Erst gestern abend hatte der Wirt, Herr Schott, einige ganz neue erzählt. –

Als der Kommerzienrat aber in Erfahrung brachte, daß Herr von Bismarck gerade heute dem alten Metternich auf dem Johannisberge einen Besuch abstatte, hatte ihm solcher Mißerfolg die Laune nicht verdorben. Vielmehr erheiterte ihn der Gedanke, daß der ausrangierte österreichische Fuchs diesen Preußen, auch wenn er ihm den besten aller Rheinweine vorsetze, nicht über den Löffel barbieren werde. Aber vielleicht werde der kluge Fürst ja von vornherein auf jeden Versuch dieser Art verzichten und beim Johannisberger mit seinem Gast sich statt über Politik lieber über die bildenden Künste unterhalten, wovon er doch auch viel verstehen solle; wenn er nicht am Ende gar ihm sein Steckenpferd vorreite und Heinrich Heines sämtliche Gedichte rezitiere.

Sodann hatte Wolf vor der Auslage einer Buchhandlung ein Titel gereizt: »Taten und Meinungen des Herrn Piepmeyer, Abgeordneten zur constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main«, und er war der Versuchung erlegen, den anscheinenden Ladenhüter, das von dem Advokaten J. H. Detmold verfaßte, von Adolph Schrödter mit witzigen Federzeichnungen geschmückte Büchlein, zu erwerben, das, indem es das Urbild des »gesinnungstüchtigen«, aber eiteln, beschränkten und feigen Politikers boshaft genug widerspiegelte, im ersten deutschen Parlament einen gewissen erzieherischen Einfluß gehabt hatte. Denn gar mancher Abgeordnete hatte lieber dem Hohn und Haß der Linken sich ausgesetzt, als dem vom Nachbar geflüsterten Vorwurf der »Piepmeierei«. Und in dieser heitern Stimmung hatte Wolf dann der »Gesellschaft« daheim durch den Draht einen Gruß entboten. Denn es war ihm Bedürfnis gewesen, in der freien Reichsstadt, die für Deutschlands Geschicke so bedeutsam geworden war, sich zu seinem rheinischen Landsmann, dem um alle Verkehrsentwicklung unablässig bemühten Minister von der Heydt zu bekennen, der vor wenigen Jahren den umständlichen optischen Telegraphen durch den elektrischen ersetzt hatte. Und dies um so mehr, als der Minister voriges Jahr an dem Festessen teilgenommen, womit die »Gesellschaft« die Eröffnung der Eisenbahn gefeiert hatte. Dabei war ihm auch eingefallen, daß er die zierliche Menukarte noch in der Brieftasche haben müsse. Richtig. Und in den Schwanen zurückgekehrt, hatte er Herrn Schott, den Wirt, indem er ein einfaches Abendbrot mit ihm verabredete, gebeten, ihm statt des wirklichen eine Abschrift dieses Menüs hinstellen zu lassen. Die hatte er dann, sobald er und die Seinen mit gutem Appetit Platz genommen, ganz harmlos vorgelesen, den vier Damen keinen geringen Schrecken einjagend:

»Austern / Krammetsvögelsuppe /Caviar / Schellfisch mit Kartoffeln / Filet de Boeuf / Mainzer Sauerkraut und Westfälischer Schinken / Erbsen-Purée und Pommersche Gänsebrust / Salpicon von Hühnern und Champignons / Waldschnepfen-Salmi / Rehbraten mit Compotes / Puddings / Galatine von welschen Hahnen und Perlhühnern / Gestürzter Crême / Punsch-Gelee / Gefrornes / Torten / Dessert / Obst.« – Nach beendeter Lektüre hatte sein Jüngster, der achtjährige Walter, dem gewiß die meisten dieser guten Dinge ganz unbekannt waren, treuherzig versichert, ihm wäre was Nasses in den Mund gekommen, aber die Damen hatten erleichtert aufgeatmet, als sie dahinter kamen, daß es sich nur um einen Scherz handele.

Daß dieser so gut gelungen war, veranlaßte Herrn Schott, der persönlich die Bedienung im Speisesaal überwachte, ein paar Minuten am Tisch der heitern Gäste vom Niederrhein zu verweilen. Dabei erzählte er ihnen, unentwegt sein Kellnertrüpplein wortlos mit den Augen leitend, rasch einiges aus der langen Geschichte seines Hauses: Ursprünglich sei an dessen Stelle ein städtisches Spielhaus gestanden, das sich keines schlechten Besuches erfreut haben müsse, denn um 1409 habe der Rat viertausend Würfel auf einmal angeschafft. – Später, bis die Postgerechtsamkeit an das Haus Thurn und Taxis übergegangen, seien im Hof die kaiserlichen Posten abgefertigt worden. – Im Jahr 1792 habe die junge Prinzessin Luise von Mecklenburg, bei Goethes Mutter hausend, im Schwanen mit dem preußischen Kronprinzen sich verlobt. – Auch Napoleon sei einmal im Schwanen abgestiegen und 1815 habe Blücher längere Zeit hier gewohnt und abends mit seinen Frankfurter Freunden Gontard und Bethmann manches Spielchen gemacht. Bei dem Bankier Gontard sei übrigens der unglückliche Dichter Hölderlin Hauslehrer gewesen und dessen Diotima sei niemand anders als die Madame Gontard, in die jener sich sterblich verliebt habe. – Und noch gut erinnere er, der Wirt, sich des Abends, da er als Junge unter der sich drängenden Menge vor dem Schwanen gestanden, indessen der greise Feldmarschall, in der Dunkelheit unsichtbar, vom Balkon herab eine seltsame Rede gehalten. Zuerst habe er von der deutschen Tapferkeit und von dem Glück der Befreiung des Vaterlandes gesprochen, dann aber sei er auf seine zerrüttete Gesundheit gekommen und habe den überraschenden Wunsch geäußert, hier in Frankfurt begraben zu werden, in dieser guten deutschen Stadt, deren Bürger er besonders lieb habe. Und dann sei es ihm, dem Knaben, ganz kalt über den Rücken gelaufen, als der Unsichtbare plötzlich mit erhobener Stimme in das atemlos lauschende Dunkel gerufen: »Ich bin am Abend meines Lebens und fürchte die Nacht nicht!« – Als der Wirt sich verabschiedet, besprachen Wolfs noch lange behaglich die Eindrücke der letzten Tage und die Pläne für die nächsten, und selbst der Frau Maria Magdalena Stimme klang heute ganz heiter und fast weltlich.

Die Dreiundsiebzigjährige war ganz reiselustig geworden, seitdem im vorigen Jahr ihre erste Eisenbahnfahrt so wider Erwarten pläsierlich verlaufen war. Zu der hatte sie sich recht schwer entschlossen. Es stehe geschrieben: »Wer sich unnütz in Gefahr begibt, der kommt darin um«, hatte sie gemeint, wenn solche Reise ihre Pflicht wäre, würde sie sie in Gottes Namen wagen, sonst aber hieße es: Gott versuchen. Schließlich war's aber dem Kommerzienrat doch gelungen, sie zu überreden, daß es tatsächlich ihre als seiner Mutter Pflicht sei, die Einladung anzunehmen und die Probefahrt auf der Bahnstrecke mitzumachen, deren Bewilligung und Erbauung durchzusetzen ihm als Vorsitzendem des Eisenbahnkomitees so unendliche Mühe gekostet hatte. Zu ihrer Beruhigung könne sie ja statt ihrer Taschenapotheke ihre Hausapotheke mitnehmen und gerne wolle er sie ihr tragen, aber was würden die Leute denken, wenn sie durch ihr Fernbleiben seine Arbeit verleugnete? – So hatte sie denn ihm zu Liebe ihre Ängstlichkeit überwunden und ihren Groll, denn es hatte sich nicht vermeiden lassen, daß die Eisenbahn den großen Garten in zwei Teile zerriß: sie durchquerte ihn ziemlich in der Mitte in einem tiefen Einschnitt. Allerdings hatte man über diese künstliche Schlucht eine zierliche und bequeme eiserne Brücke gebaut, auf der zu stehn und von oben die Züge zu sehn, nicht nur den Kindern vergnüglich erschien. Aber daß der Garten nicht gelitten hätte, konnte doch nur Anna behaupten, die das Brücklein geradezu für einen Aussichtspunkt erklärte, weil man nach beiden Seiten durch die Schlucht schöne Fernblicke weit in die Ebene hinaus gewonnen hätte. – Nun saß Frau Maria Magdalena zu Häupten der kleinen Tafel, eine würdige Urgroßmutter, denn die zarte Regine hatte vor einigen Jahren ihren Vetter Fritz ten Bompel geheiratet. – Morgen früh wollte man sich trennen. Ten Bompels gedachten morgen schon mittags in Soden einzutreffen, wo sie die Kur gebrauchen wollten. Die andern waren nach München unterwegs, beabsichtigten aber dieses Reiseziel erst in etwa vier Wochen und auf ganz verschiedenen Wegen zu erreichen. Frau Anna wollte mit Pina und den fünf Jungen – Hans und Fritz, die siebzehnjährigen Zwillinge waren so stattlich, daß man sie kaum noch so nennen konnte – mit dem Maindampfer nach Würzburg fahren, wobei in dem alten badisch-bayerischen Grenzstädtchen Wertheim, das ein zweites Heidelberg sein sollte, übernachtet werden mußte. Von Würzburg sollte die Reise dann über Bamberg, Nürnberg und Augsburg gehen und überall wollte man sich Zeit lassen, alles Sehenswerte zu betrachten und starke und wenn möglich fruchtbringende Eindrücke von der bürgerlichen Größe und Tüchtigkeit der vergangenen Jahrhunderte aufzunehmen. Eine besondere Wirkung versprach man sich von den alten Handelsstädten Nürnberg und Augsburg. Denn weder Anna noch Friedrich Wilhelm waren mit den Zukunftsplänen der Zwillinge einverstanden, die schon vor zwei Jahren heimlich an den Seezeugmeister Commodore Brommy geschrieben und ihn um Rat gebeten hatten, wie sie Seeoffiziere werden könnten. Auch Johannes hatte von solcher Laufbahn entschieden abgeraten, weil er nicht an den Bestand dieser deutschen Flotte glaube. Freiwillige Beiträge könnten keine dauernde Grundlage bilden, und solange kein einiges Deutschland hinter der Flotte stände, würde sich von den andern Nationen die versagte Anerkennung der neuen Kriegsflagge nicht erzwingen lassen. Mochte diese auch den Dänen einigen Respekt eingeflößt haben – Lord Palmerston hatte nach jenem Seetreffen sich nicht entblödet zu erklären: England würde unter Umständen farbenblind sein und keinen Unterschied zwischen diesem Schwarzrotgold und dem Rot der Piratenflagge sehen, bei etwaigen Begegnungen also ein Kriegsschiff des Deutschen Bundes genau so behandeln wie ein Korsarenschiff... Rasch genug hatten die Ereignisse Johannes Recht gegeben: Der Bundesrat hatte die junge Flotte aufgelöst, Admiral Brommy saß in Bremerhaven und schrieb seine Memoiren, und der 1848 aus Birkenfeld verjagte oldenburgische Regierungspräsident Hannibal Fischer, als Bundeskommissär mit der Versteigerung der Schiffe betraut, hatte aus den siebenundzwanzig Kanonenbooten vier Prozent, aus der Segelfregatte Deutschland siebzehn Prozent und aus den sechs Dampfkorvetten gar vierzig Prozent des Taxwertes erzielt, das erbeutete Siegeszeichen: die Ankerkette eines dänischen Linienschiffes aber als altes Eisen dreingegeben. Nun hatte zwar Preußen die Fregatten »Gefion« und »Barbarossa« ersteigert, aber bis daraus eine richtige Kriegsflotte wurde, konnte viel Wasser den Rhein hinabfließen. England würde schon aufpassen. Die Jungen hatten zwar anfangs gemeint, sie könnten doch auch in der österreichischen Kriegsmarine ihr Glück versuchen, aber daran war doch erst recht nicht zu denken, und das hatten sie schließlich auch eingesehen.

Die Mutter würde sich gefreut haben, wenn ihrer Söhne Wunsch nach Abenteuern statt mit dem Seemännischen und Militärischen etwa mit Naturwissenschaft und Geographie sich verbunden hätte, so daß jene den großen Alexander von Humboldt zum Helden und Führer sich erwählt oder auf Livingstones Spuren Afrika zu erforschen sich berufen gefühlt hätten. Doch das war nun leider nicht an dem. Sie hörten ihr zwar gerne zu, so oft sie aus Humboldts Kosmos ihnen vorlas, dessen erste beiden Bände ihr Mann ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, aus diesem nach ihrer Ansicht schönsten aller deutschen Bücher, darin sie die Natur als das Leben Gottes empfand. Aber es war und blieb doch lediglich das Meer und der Marineoffizier, wofür sie schwärmten. Und erst kürzlich, als der Vater, erfreut, daß nun auch Deutsche um die Aufhellung des dunklen Erdteils sich bemühten, aus der Kölnischen Zeitung einiges über Eduard Vogels und Heinrich Barths gegenwärtige Reise vorgelesen und man im Stielerschen Handatlas deren Weg vergeblich gesucht hatte, da hatte Fritz weise bemerkt, daß jene, wie tief sie auch ins Innere eindringen möchten, doch gewiß nichts anderes finden würden als Neger, und daß seinetwegen das viele Weiß auf der Karte noch lange so leer bleiben dürfte.

Unterdessen – während Frau Anna mit der Jugend durch Franken zog – würde der Kommerzienrat seine Mutter neckaraufwärts nach Weinsberg und von da über Stuttgart nach Bad Boll geleiten. In Weinsberg wollte man den alten Dichter, Arzt und Geisterbanner Justinus Kerner, und in Boll den wundertätigen Pfarrer Blumhardt besuchen, ja in der gesegneten Nähe dieses Mannes wenn möglich ein paar Wochen sich aufhalten. Denn wenn die Gedankengänge ihres jungen Bruders und das seltsame Gesicht, das ihr Vater unmittelbar vor seinem Tode gehabt, auch lange nur auf Frau Maria Magdalenas Unterbewußtsein gewirkt hatten – mit der Zeit und besonders seitdem Hauser, der Hund, ihr begegnet, waren ihr die Fragen der unsichtbaren Welt doch immer dringender geworden. So hatte sie längst angefangen, auch außerhalb der Offenbarung Johannis jenen Geheimnissen nachzuforschen, wozu freilich Schlüpjes und Pastor Kranevoß in seltener Einmütigkeit den Kopf schüttelten. – Als ihr Kerners Buch über die »Seherin von Prevorst« in die Hände gefallen war, hatte sie es gelesen und wieder gelesen und daraufhin jahrelang sich seine Zeitschrift »Magikon, Archiv für Beobachtungen aus dem Gebiet der Geisterkunde und des magnetischen Lebens« gehalten. Sie war überzeugt, daß auch Kerner auf seine Weise ein gottesfürchtiger Mann sei, als sie aber von Johann Christoph Blumhardt, dem jungen Pfarrer zu Möttlingen, vernahm, meinte sie, ihr Herz gehöre doch diesem, Kerner müsse mit ihrem Kopf vorlieb nehmen. Denn es war ihr nicht zweifelhaft, daß Gott dem, der nur auf ihn, nicht zugleich auch auf menschliches Wissen sich stütze, die größere Machtvollkommenheit verleihen werde. Wohl ging ja auch, was in Weinsberg geschah, oft über menschliches Verstehen hinaus, aber daß mancher von jahrelanger Krankheit genas, wenn er nur nach Möttlingen reiste und am Sonntag als einer unter vielen Zuhörern unter Blumhardts Kanzel saß, das war doch eine Offenbarung Gottes, wie sie die Menschheit seit Christi Tagen nicht erlebt hatte. Selbst die merkwürdigen Heilungen, die Blumhardt durch Handauflegen, Gebet und Fasten bewirkte, traten dagegen zurück. Es war ihr schmerzlich, daß sogar innerhalb der entschieden christlichen Kreise viele diesen Tatsachen zweifelnd und ablehnend gegenüberstanden. Christus hatte doch solche göttlichen Gaben den Seinen mit ganz klaren Worten versprochen, daß sie gleichwohl so selten waren, schien zu beweisen, daß auch die frommen und frommsten Menschen in Wahrheit ihm und seiner Lebenskraft noch allzu fern standen. Gerade hierüber hätte sie gerne Blumhardts Ansicht gehört, im voraus davon überzeugt, daß er keine Gottesnähe für sich in Anspruch nehmen würde, er hätte sie denn tief erlebt. – Von Kerner wußte Maria Magdalena, daß er schon als Student um Erkenntnisse und Erfahrungen auf seinem geheimnisvollen Gebiet sich bemüht hatte, der Pfarrer von Möttlingen aber hatte in aller Einfalt und Treue seines geistlichen Amtes gewaltet wie andre auch. Er hatte die Geister nicht gerufen, die im Haus der armen Gottliebe Dittus jede Nacht mit Gepolter und Geschlürf ihr Wesen hatten, die der Kranken mit feurigen Händen an den Hals griffen, so daß in Gegenwart des Arztes plötzlich die fürchterlichsten Brandwunden entstanden. Nein, zögernd, mit Furcht und Zittern vor dem unerhörten Beginnen, das er als seine seelsorgerliche Pflicht erkannte, aber auch mit einem kindlich festen Vertrauen auf seines Gottes Hilfe war er in den Kampf gegen die finstern Mächte eingetreten und Gott war es und nur Gott konnte es sein, der ihm endlich Sieg auf Sieg schenkte. Auch daß Blumhardt so gar nichts aus sich und seiner Gabe machte, bestätigte ihn in Frau Maria Magdalenas Augen als Gottes Bevollmächtigten. Und wenn sie ja auch hoffte, durch die persönliche Berührung mit ihm über manches, was ihr Herz bewegte, Aufschluß zu erhalten – was sie am meisten zu ihm hinzog, war doch der Wunsch, diese Erde nicht zu verlassen, ohne schon auf ihr einmal die besondere Nähe Gottes verspürt zu haben und dann um so getroster das finstere Tal durchwandeln zu können. – Nun hatte sie voriges Jahr gehört, daß der württembergische König, ärgerlich über das lasterhafte Leben der Gäste und die schlechte Rentabilität, sein Königliches Bad Boll kurzerhand geschlossen und das einsame Gebäude dem Pfarrer von Möttlingen angeboten hatte, damit er dort die vielen Kranken und Trostbedürftigen aufnähme, die ihm von nah und fern zuströmten. Da war es wie eine Erleuchtung vom Himmel her über sie gekommen und sie hatte Gott gebeten, Leben und Gesundheit ihr noch so lange zu erhalten, bis sie in Boll den frommen Pfarrer und danach in München das reiche häusliche Glück ihres Lieblings Johannes gesehen hätte. – Auf solcher Reise dann auch im gastlichen Kernerhaus zu Weinsberg Rast zu halten, konnte kein Unrecht sein, denn schließlich waren doch auch dort Kräfte des Guten und nicht des Bösen lebendig, wie geschrieben steht: »Es sind mancherlei Gaben, aber es ist Ein Geist.« Freilich weht er nicht überall in gleicher Reinheit und Kraft: Mit ganz so harten Worten wie vor einem Vierteljahrhundert würde sie jetzt Clemens Brentanos »Gottselige Betrachtung der stigmatisierten Jungfrau Catharina Emmerich zu Dülmen« vielleicht nicht abgelehnt haben, aber abgelehnt hätte sie sie doch auch jetzt noch.

Auf dem kleinen Neckardampfer zwischen Heidelberg und Heilbronn machte der Kommerzienrat, während seine Mutter in der Kajüte einem Mittagsschläfchen sich hingab, die Bekanntschaft eines sehr blonden Herrn, der im Laufe der Unterhaltung erwähnte, daß er aus Berlin und daß er Hochschullehrer sei, übrigens aber vermied, aus seiner Anonymität herauszutreten. Das Gespräch kam auf die gegensätzlichen Bedürfnisse der menschlichen Seele, und der Professor meinte, daß solche Widersprüche und Ungereimtheiten vielleicht nirgends reiner in die Erscheinung träten als in Berlin, dieser Stadt einerseits des kühlen und gern überheblichen Intellekts, andererseits des kritiklosesten Aberglaubens. Ein typisches Beispiel für solche Doppelnatur des gebildeten Berliners sei der alte Nicolai gewesen, der Aufgeklärte und Aufklärer, der dann vor seinem Tode durch die abgeschmacktesten »Visionen« geängstigt worden sei. Ein ebenso typisches Beispiel anderer Art sei der Fall der »Gräfin mit dem Totenkopf« aus der Dorotheenstraße, die er vor sieben oder acht Jahren bei seinem allzu früh verstorbenen Freunde, dem Chirurgen Dieffenbach, persönlich kennen gelernt, eine feine, liebens- und bedauernswerte Dame, die durchaus nichts Unheimliches an sich gehabe habe. Aber weil sie nur dicht verbundenen Hauptes sich gezeigt, habe die Phantasie des Berliners ihr alsbald einen Schädel ohne Fleisch und Haut, einen richtigen Totenkopf, angedichtet, und, so Unmögliches durch noch Unmöglicheres glaubhaft zu machen, hierfür folgende Erklärung gehabt: Ihr Vater habe einen Freund ihrer Mutter aus grundloser Eifersucht ermordet, der zu Tode Getroffene aber schleunigst das Kind noch verflucht, das die junge Frau unterm Herzen getragen: es solle statt mit einem Kopf mit einem Totenschädel zur Welt kommen. – Unglaublich, aber wahr sei, daß sonst ganz gescheite und gebildete Leute ernstlich an dieses alberne Märchen geglaubt, ja daß sogar Gelehrte über die Entstehens- und Lebensfähigkeit eines so beschaffenen Menschen tiefsinnig disputiert hätten. – Die Wahrheit sei, daß Dieffenbachs Kunst das durch eine Hasenscharte entstellte, dazu noch durch eine fressende Flechte verwüstete Antlitz der Gräfin in schwierigen Operationen und jahrelanger Behandlung ausgebessert, also daß die Dame, wenn auch nicht, wie der Berliner behauptet, als »holdes Engelsbild«, so doch leidlich unauffälligen Angesichts entschleiert in ihre polnische Heimat hätte zurückkehren können.

Da nun fragte der Kommerzienrat nach dem »Wundermädchen aus der Schifferstraße«, das, wie er unlängst in der Zeitung gelesen, als gemeine Schwindlerin zu Gefängnis verurteilt worden sei, nachdem es doch vor Jahren durch sein Gebet tatsächlich Lahme gehen und Blinde sehen gemacht und viele Krankheiten aller Art geheilt habe: ob der Herr Professor über diese Sache vielleicht des näheren unterrichtet sei... Ja, freilich, erwiderte der Andere, das sei nun auch solch ein für den Berliner typischer Fall, und er habe ihn nicht nur von Anfang an mit besonderem Interesse verfolgt und sogar die persönliche Bekanntschaft des unternehmenden kleinen Fräuleins und seiner braven Eltern gemacht, sondern auch den Gerichtsverhandlungen beigewohnt. Ausgerechnet im Jahre des Heils 1848, da doch das Volk von Berlin mehr als je geneigt gewesen, das Christentum als Aberglauben endgültig abzutun, hätte dasselbe Volk von Berlin durch die damals erst zwölfjährige Scheinheilige sich gänzlich betören lassen. Zu Wagen, zu Roß und zu Fuß wären monatelang die Heilsuchenden zahllos in die kleine Schifferstraße gewallfahrtet. Nur wenige freilich hätten des Glückes sich erfreut, die junge Wundertäterin von Angesicht zu sehen, weitaus die meisten sich begnügen müssen, ihr Anliegen schriftlich dem an der Haustür postierten Polizisten anzuvertrauen, der dann die Stöße solcher Briefschaften auf dem engen Hausflur fein säuberlich aufgeschichtet. Fast alle aber hätten alsbald, wenn nicht völlige Heilung, so doch die wohltätigste Linderung ihrer Leiden verspürt. Nur ganz wenige, darunter leider den blinden Kronprinzen von Hannover, der die kleine Luise Braun zu sich entboten, hätte sie durch ihre Spezialengel Jonathurn und Gerod dem lieben Gott vergeblich zur Heilung vorgeschlagen. – Der großen Wirkung ungeachtet, hätte aber in jener aufgeregten Zeit die Gebetsunternehmung schon nach einem guten halben Jahr beträchtlich an Zugkraft verloren, auch Witz und Kritik hineinzureden begonnen, zumal nachdem der vielversprochene Theologieprofessor und Herausgeber der Evangelischen Kirchenzeitung Dr. Hengstenberg in der unmittelbaren Nachbarschaft der Beterin sich häuslich niedergelassen, auch einer der vielen Geheilten ganz treuherzig bezeugt hätte, daß der verschluckte harte Taler, der ihm so böse Beschwerden verursacht, lediglich infolge des Gebetes der Luise Braun auf dem natürlichsten Wege ihn verlassen hätte, und zwar – Wunder über Wunder! – in Form von dreißig Silbergroschen ... Und endlich wäre die Gesundbeterin ganz in Vergessenheit geraten. – Bis dann voriges Jahr die immer dringenderen Bittschriften des Feldwebels Neuenfeldt, der König möge ihn doch nun endlich seinem Versprechen gemäß an den Hof berufen und zum Kammerherrn ernennen, den Staatsanwalt veranlaßt hätten, die Luise Braun vor Gericht und somit wieder in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stellen. Denn leider hätte es sich ergeben, daß die durchtriebene Sechzehnjährige jenen dreimal so alten Schwachkopf mit frommen Gaukeleien und verliebtem Getue völlig verwirrt und, indem sie ihm in Jesu Namen zeitliche und ewige Belohnungen verheißen, seine Ersparnisse und kleine Erbschaft an sich zu bringen gewußt hatte. Ihr Verteidiger hätte zwar eingewendet, Dummheit sei ein Geschenk der Vorsehung, und die damit Bedachten hätten, wenn es ihnen schlecht ergehe, den himmlischen und nicht den irdischen Richter in Anspruch zu nehmen, aber die Briefe der Angeklagten, die Neuenfeldt beigebracht, mit ihren »von durchstoßener Jesushand« geschriebenen Randglossen, mit ihren »Jesus, dein Seligmacher« unterzeichneten Nachschriften, die hätten sich alles in allem als so schamlos betrügerische und so erfolgreiche Erpressungen erwiesen, daß übergroße Milde wohl wirklich nicht am Platze gewesen wäre. Immerhin sei das hübsche, zierlich gewandete und leichtfertige Persönchen, das seinen braven Eltern gegenüber morgens seelsorgerische Krankenbesuche vorzuschützen pflegte, wenn es die Nacht durchtanzt hatte, selber von der Geringfügigkeit der Strafe – fünf Monate Gefängnis – sichtlich überrascht worden.

Inzwischen hatte Frau Maria Magdalena ihr Schläfchen beendet. Erfrischt und munter gesellte sie sich zu den Herren, und ihr Sohn befürchtete schon, der Berliner möchte, wenn er etwa des weiteren über die Leichtgläubigkeit der Menschen sich verbreitete, etwa auch die wunderbaren Krankenheilungen des Kardinals Hohenlohe, des Schäfers Michel, oder gar die des der Mutter so teuren Pfarrers Blumhardt in den Kreis seiner kritischen Betrachtungen einbeziehen. Erfreulicherweise beschränkte jener sich jedoch, nachdem er das Reiseziel der beiden erfahren, auf Kerner, den er als Dichter gelten lasse, dessen einziges Verdienst als Forscher aber darin bestehe, daß ohne ihn Karl Immermann in seinem »Münchhausen« das köstliche Buch von den Poltergeistern in und um Weinsberg nicht hätte schreiben können. Den prinzlichen Kardinal streifte er nur, indem er zuverlässig zu wissen versicherte, daß Kerner, unbeschadet seines protestantischen Bekenntnisses, für jenen manche Predigt verfaßt habe. Von Kerner kam man auf die andern lebenden Dichter und der Professor vertrat die Ansicht, daß sie im Grunde doch alle Epigonen, und daß die großen Zeiten der deutschen Dichtung auf immer dahin und mit Goethe begraben seien. Wie ja auch der Musenhof zu Weimar, von Kalliope und Melpomene verlassen, nur durch Euterpe noch vor völliger Verödung bewahrt werde. Kürzlich sei er in Berlin in der bekannten Stehelyschen Konditorei mit Franz Liszt, dem ehemaligen »Wunderkind aus Ungarn« bekannt geworden, den der Großherzog Karl Friedrich ja vor etlichen Jahren als Hofkapellmeister nach Weimar berufen. Herr Liszt, in dessen Begleitung sich seine fünfzehnjährige, auf den seltsamen Namen Cosima getaufte Tochter und deren Verlobter, ein noch sehr junger Herr von Bülow, gleichfalls Musikant, befunden, habe unter anderm viel von einer neuen Art Oper oder vielmehr »Musikdrama« gesprochen, die ein revolutionärer Umtriebe halber nach Zürich geflohener Sachse namens Wagner sich ausgedacht habe, und der er, Herr Liszt, von Weimar aus die deutschen Bühnen erschließen wolle. Obwohl er, der Professor, nichts weniger als musikalisch sei, hätten ihn diese Ausführungen doch sehr interessiert. Es scheine in der Tat da etwas ganz Neues sich vorzubereiten, nur besorge er, daß des alten Herrn von Goethe Exzellenz im Elysium beträchtlich sich erzürnen werde, wenn sie dahinterkomme, daß ausgerechnet das Weimarer Theater sich berufen fühle, diesem Neuen den Weg zu bereiten, das anscheinend ganz nach den Rezepten teils des Direktors, teils der lustigen Person in Goethes Faust gearbeitet sei oder werden solle. Andern Tags habe er die Drei, den Hofkapellmeister nebst Tochter und Schwiegersohn, in Gropiussens Diorama wiedergetroffen, was ihn um so mehr interessiert, als er inzwischen bei einem neuen Besuch jener Konditorei erfahren, daß Herr Liszt mit der Mutter der Cosima, einer französischen Gräfin, gar nicht richtig verheiratet gewesen sei und eben jetzt, da er die Tochter verlobe, selber sich mit einer russischen Gräfin Wittgenstein in Weimar zu verbinden trachte, die aber vorläufig noch anderweitig verheiratet sei. Dabei sehe der Mann aus wie ein römischer Cölibatär, was er auch früher einmal hätte werden wollen. Ob die Herrschaften übrigens das Gropiussche Diorama kennten? – Eine Frage, die Mutter und Sohn leider verneinen mußten, doch versicherte der Kommerzienrat, unlängst in Köln ein ganz ausgezeichnetes Diorama gesehen zu haben. Nun, mit dem Gropiusschen könne keines in der Provinz sich vergleichen, meinte der Professor. Wie die Stimmung der Landschaft sich ändere, die zuerst im hellen Sonnenschein daliege, bis dann die Dämmerung hereinbreche und endlich der Mond aufgehe, das sei ganz fabelhaft, und er selber habe einmal erlebt, daß eine Dame, als auf dem Bilde ein Gewitter heranzog und die ersten Tropfen in den gemalten Teich fielen, den Regenschirm aufspannte.

Von hier aus fand er sich dann wieder auf die Leichtgläubigkeit der Berliner zurück, und nachdem er noch über das Tischrücken sich ausgelassen, bemerkte er abschließend, daß selbst diese Modetorheit ihren Gläubigen nicht so viel zumute, wie die Wilhelmine Krautz ihrem verliebten Schneiderlein mit denkbar bestem Erfolg zu glauben zugemutet habe, welcher jüngste Fall ja noch in jedermanns Gedächtnis sei. Allein weder der Kommerzienrat noch seine Mutter konnten der näheren Umstände sich erinnern, wenn sie auch glaubten, davon gelesen zu haben, und so erzählte der Professor: Im Januar dieses Jahres gelingt es dem Damenkleidermacher Naumann, »in ganz persönlicher Angelegenheit« vom Ministerpräsidenten Herrn von Manteuffel in Audienz empfangen zu werden. Mit einer krampfhaften Entschlossenheit tritt das kleine, dürre, blasse Männlein vor den hohen Herrn: »Ik unterstehe mir, Euer Exzellenz nur zwei Fragen zu tun, um deren gnädigste Beantwortung ik gehorsamst gebeten haben möchte.« Ein huldvolles Kopfnicken und der Kleine fragt: »Waren Eure Exzellenz in Neustadt-Eberswalde, um mich die Herrschaft verschreiben zu lassen, welche Seine Majestät der König mich schenken wollen?« – »Nein!« – »Wissen Eure Exzellenz, daß Seine Majestät es gerne sehen würden, wenn ik den Namen Graf von Hohenzollern annähme?« – »Nein!« – »Dann bin ik der unglücklichste Mensch von der Welt. Die Wilhelmine hat mir betrogen.« Damit will das Schneiderlein unter ersterbenden Bücklingen den Rückzug antreten. Jetzt aber läßt der Ministerpräsident diese seltsamen Fragen des näheren sich erklären, wobei er nicht immer den ihm sonst eigenen Ernst bewahrt haben soll. Und die Folge ist, daß die Deputierten des Städtischen Kriminalgerichts mobil gemacht werden – nicht nur gegen die Wilhelmine Krautz, weil sie ihn betrogen hat, sondern auch gegen den Friedrich Wilhelm Baumann, weil er sich hat betrügen lassen. Aber das Narrenhaus bleibt ihm erspart: er wird trotz seiner grotesken Leichtgläubigkeit für vollkommen zurechnungs- und dispositionsfähig erklärt. – Mit der Betrügerin aber hat es solche Bewandtnis: Im Sommer vorigen Jahres trat die sechzehnjährige Nähterin Wilhelmine Krautz in das Geschäft des vierzigjährigen Damenkleidermachers ein. Zwischen den beiden kleinen blassen Menschenkindern knüpften sich rasch zarte Bande, gleichwohl ward der Meister nicht eifersüchtig, als Wilhelmine ihm im Dezember gestand, daß sie ihre Abende bei einem russischen Grafen namens Briloff zubringe. Denn weit entfernt, mit diesem zu kosen, helfe sie ihm nur – Geld zählen. Graf Briloff sei nämlich der reichste Mann der Welt: Fünftalerscheine benutze er als Fidibusse, um sich die Pfeife anzuzünden, und bis spät in die Nacht müsse sie sich plagen, um alle die großen Säcke mit Geld anzufüllen und zuzubinden – es sei einfach unmöglich, daß der Graf ohne sie damit zustande käme. Natürlich denke sie bei solcher Arbeit immerfort an ihren geliebten Meister und wie sie ihm helfen könne, denn der Graf sei von einer fabelhaftigen Freigebigkeit, die nur einiger Leitung benötige. – Es dauert dann auch nicht lange, bis die dürftigen Verhältnisse des Damenkleidermachers, wie Wilhelmine sie ihm beweglich genug schildert, dem edlen Russen nahe gehen, und großzügig, wie er ist, läßt er Baumann anbieten, an seinem Überfluß zu partizipieren: Er, Baumann, brauche nur der Wilhelmine täglich zehn Silbergroschen zu geben. Diese ihre gemeinsame Freundin solle dann abends in jeden fertigwerdenden Geldsack einen solcher Baumannschen Silbergroschen mit einpacken, durch welches einfache Verfahren dem teuren Meister die volle Teilhaberschaft an dem gesamten Inhalt dieser Säcke gesichert sein solle. Mit Freuden gibt das Schneiderlein täglich die zehn Groschen.

Aber Graf Briloff fühlt sich gedrängt, noch mehr zu tun. Er besitzt in Berlin vierunddreißig Häuser, und Wilhelmine überredet ihn mit leichter Mühe, sechs davon dem armen Baumann zu schenken. Beim gräflichen Häuseradministrator in der Lindenstraße hört sie dann freilich, daß wegen der Umschreibung für jedes einzelne Haus eine besondere Eingabe ans Kammergericht erforderlich sei und daß der hierfür unerläßliche Stempelbogen jedesmal bare fünfzehn Silbergroschen koste. Diese Ausgabe dem Grafen auch noch zuzumuten, erscheint ihr unbillig. Das meint Baumann auch, und mit Vergnügen trägt er diese Kosten. Er bedauert nur, daß er die Häuser, es werden nach und nach sechzehn, vorläufig noch nicht sehen darf. Aber das ist leider unmöglich. Um Weihnachten bereitet seine Kleine ihm eine neue Überraschung: Sie ist mit Briloff auf dem Weihnachtsmarkt gewesen. Der hat dort eine packende Rede über allgemeine Menschenliebe gehalten. Der Prinz von Preußen, im Begriff vorbeizufahren, hat anhalten lassen und zugehört, ist entzückt gewesen und hat darauf bestanden, daß der Graf und Wilhelmine zu ihm in den Wagen steigen. In seinem Palais Unter den Linden hat er ihr einen kostbaren Brillantring geschenkt, allerdings unter der ein wenig grausamen Bedingung, daß sie ihn nie versetzen, ja vorläufig leider auch, außer natürlich Briloff, niemand zeigen dürfe. Aber wer kann wissen, wozu eine solche hohe Beziehung gut ist, und jedenfalls wird Wilhelmine dann nicht versäumen, auch an Baumann zu denken. – Inzwischen wird der Graf immer gütiger. Er hat so viele Besitzungen und versteht so gar nichts von der Landwirtschaft, da ist es ihm eine wahre Erleichterung, daß das findige Mädchen ihm vorschlägt, zunächst doch wenigstens seine große Herrschaft bei Neustadt-Eberswalde an Baumann abzutreten. Der ist freudig einverstanden und unterschreibt mit den besten Vorsätzen eine Verpflichtung, »sich stets Seiner Majestät zu unterwerfen und seinen Untertanen treu und gerecht zu sein.« Aber trotzdem gibt es Schwierigkeiten: Zwei Staatsräte und das ganze Stadtgericht müssen in Bewegung gesetzt werden, um beträchtliche Hindernisse fideikommissarischer Natur zu überwinden, täglich fliegen zwischen Berlin und Neustadt telegraphische Depeschen hin und her, und schließlich muß der Ministerpräsident in eigener Person nach Neustadt reisen. Alles das bringt natürlich viele Kosten mit sich, aber Baumann hat gute Freunde, die ihm das Geld vorschießen ... Im Januar erreicht Wilhelminens und damit Baumanns Glück seinen Gipfel: Prinz Wilhelm hat seinem Bruder von ihr erzählt und so wird sie mit dem Grafen Briloff an die königliche Tafel geladen. Und es sind unerhörte Dinge, die die Majestät ihr vertraulich erzählt. Sie darf darüber selbstverständlich nichts verlauten lassen, nur das Eine darf sie sagen, daß der König die siebenhundertundzehn Häuser, die er in Berlin erb- und eigentümlich besitzt, abzutreten wünscht und sich ihrer Ansicht anschließt, solchen Besitz nicht leicht in würdigere Hände geben zu können, als in die des Damenkleidermachers Baumann. Allerdings müsse dieser einverstanden sein, in Zukunft entweder »von Rothenburg« oder »von Lindenau« oder »von Hohenzollern« sich zu nennen. »Baumann jeht nich« hat Seine Majestät gesagt, und da gegenwärtig gerade elf Personen den Namen Hohenzollern trügen, würde es am besten sein, wenn jener sich zum Grafen von Hohenzollern ernennen ließe, dann würde das Dutzend voll. ... Leider werden nun die Kosten immer höher, und obwohl der König nach Kräften beisteuert – Wilhelmine trifft ihn eines Tages auf dem Stadtgericht, als er gerade hundertfünfzig Taler für Stempelbogen einzahlt – zuletzt ist Baumann doch völlig erschöpft und seine Geldgeber wollen nichts mehr herausrücken ...

Aber das hübscheste an der ganzen Geschichte sei doch die Antwort, die der Damenkleidermacher den Deputierten des Kriminalgerichts gegeben auf ihre Frage: wie er sich denn nur hätte einbilden können, daß und aus welchen Gründen Wohl der König seiner geringen Person solche Ehrungen und Schenkungen zugedacht haben könnte? – Nun, man solle nur einmal gründlich nachsehen, habe Baumann erwidert, man solle ja alle Listen nachschlagen: er habe in dem bösen Jahr 1848 keinem Verein angehört, nicht Einem, nicht einmal der Bürgerwehr, sondern die ganze hochgefährliche Zeit hindurch die strikteste und loyalste Neutralität beobachtet. Da habe er jetzt doch wohl annehmen dürfen, daß solche Untertanentreue einer besonderen königlichen Geneigtheit und Belohnung vielleicht nicht unwert sei. ...

»Ja, ja, die Berliner Schneider sind helle!« meinte der Professor, das habe schon beim »Schneideraufstand«, lange vor der Revolution, ein Kollege des Herrn Baumann bewiesen. Da seien die Schneider, ärgerlich darüber, daß immer mehr weibliche Arbeitskräfte in ihren friedlichen Beruf sich eindrängten, und solchen gegenüber keineswegs wie Herr Baumann zu holden Gefühlen erbötig, unter fürchterlichen Drohungen Abhilfe heischend vors Königliche Schloß gezogen. Wo dann einer von ihnen so zornig geworden sei, daß er immerfort geschrien habe: »Wir brauchen keinen König! Wir brauchen keinen König!« Als man den Schreier aber endlich verhaftet, habe er ganz treuherzig versichert: »Na ja, wir brauchen doch ooch keenen, wir haben ja 'n juten!«


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