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Anfang Oktober 1888 hatte in Eisenach die 11. Hauptversammlung des deutschen Vereins für das höhere Mädchenschulwesen stattgefunden. Auf der Tagesordnung stand ein Vortrag über »Die erziehliche Aufgabe der höheren Mädchenschule« von einer Berliner städtischen Lehrerin – ihr Name, damals in unseren Zeitschriften oft mit Entrüstung genannt, tut heute nichts mehr zur Sache. Das barmherzige »sie wissen nicht, was sie tun« wäre wohl auch hier am Platz gewesen. Jedenfalls aber: selbst wenn man alle »mildernden Umstände« in Betracht zieht: die gedrückte Stellung der städtischen Lehrerinnen, die ganz selbstverständlich als Kraft dritten oder vierten Ranges genommen wurden, die traditionelle Unfreiheit Behörden und Vorgesetzten gegenüber, die mangelhafte Vorbildung, so zeigte doch der Vortrag ein so erschreckend niedriges Niveau, daß man an seiner eigenen Theorie hätte irre werden können, wenn man ihrer nicht von innen heraus zu sicher gewesen wäre, als daß ein zufälliger Gegenbeweis sie hätte umstoßen können. Schon die Eingangsbemerkung: der aufrichtige Dank »gegen die verehrten Vorsitzenden des Vereins, daß gerade jetzt, nachdem eine allbekannte Begleitbroschüre zur Petition an das Preußische Abgeordnetenhaus mancherlei Widerspruch wachgerufen hat, einer Dame das Wort zum Vortrag gegeben ist« – übrigens das erstemal in den 16 Jahren, die der Verein bestand! – kennzeichnet den Standpunkt. Aus den mühsamen, langen, an alle nur irgend aufzutreibenden Autoritäten sich anlehnenden Ausführungen konstruierte dann Direktor Erkelenz-Köln folgende, von der Versammlung zum Beschluß erhobenen Thesen heraus:
Damit war für uns die Entscheidung gefallen. Ein Verein, der die Lehrerinnen so wertete, konnte und durfte nicht länger die einzige Stätte sein, wo sie die Vertretung ihrer Berufsinteressen zu suchen hatten. Es mußte ihnen eine eigene Stätte bereitet werden.
Seit Erscheinen der Begleitschrift hatten zwischen Frau Loeper, Auguste Schmidt und mir die Erörterungen über die Frage der Begründung eines Verbandes der deutschen Lehrerinnen nicht aufgehört. Immer noch hatten wir gezögert in der Hoffnung, daß die von uns vertretene Auffassung wenigstens so viel Entgegenkommen fände, um eine Sonderorganisation, die ja auch wieder der Arbeit manche Schwierigkeit schaffen mußte, überflüssig zu machen. Nach den Eisenacher Thesen, die einer direkten Herausforderung gleichkamen, war es mit dieser Hoffnung vorbei: die Begründung eines besonderen Lehrerinnenverbandes war zur Notwendigkeit geworden.
Was diesem Plan von vornherein Beachtung und Erfolg sicherten, das waren die in weiten Kreisen bekannten und verehrten Persönlichkeiten meiner Mitarbeiterinnen.
Marie Loeper-Housselle war ein selten liebenswürdiger Mensch von großem persönlichen Zauber, ganz besonders für ihre jungen Berufsgenossinnen. Was sie diesen so nahe brachte, hat einmal eine von ihnen ausgesprochen: »daß wir dieser Frau mit dem schönen lebendigen Gesicht anfühlten, was sie uns verwandt sein ließ: Enthusiasmus, ganz jugendlich überschwengliche Gefühlsteilnahme für alles Große und Freie. Ihre Begeisterungsfähigkeit war vielleicht so unbegrenzt wie unsere, einfach auf die Fülle des Lebens gerichtet, allzeit bereit und schnell entzündet«. Dieses Mitschwingen bei allem, was ihr aus idealistischer Auffassung entgegengebracht wurde, die rein menschliche Anteilnahme, die Fähigkeit des Sicheinfühlens, nicht zum wenigsten auch die, sich mit zu empören, wo es nötig war, das alles hat ihr unzählige Herzen gewonnen. Das, nicht die vorbereitete Rede war bei ihr das Entscheidende. Ihre Vorträge gaben ihr eigentlichstes Wesen nicht, sie waren gedacht, wirkten geschrieben. Ganz sie selbst war sie nur im Austausch von Mensch zu Mensch, da riß sie hin, überzeugte, gewann. So hatte sie schon sehr wertvolle Werbearbeit geleistet. Ihr Einfluß erstreckte sich so weit wie ihr persönlicher Bekanntenkreis. Sie wußte in den einzelnen das Selbstvertrauen zu wecken und den Gemeinsinn, die sie zwangen, sich in den Dienst des Ganzen zu stellen. So hat sie in erster Linie die »Bereitschaft der Geister« geschaffen, die Wärme, die treibende, junge Begeisterung, die Vorbedingung für das Gelingen unseres Werkes war. Ihre Lieblingsgestalt war – und das ist bezeichnend für sie – Pestalozzis »Gertrud«. Die Methode, mit der diese die Menschen gewinnt: »Wenn man nur von oben herab recht an die Güte, die im Menschenherzen ist, anklopft, so öffnet es sich gewiß«, war auch die ihre. Sie wußte: Wirkung ist auf innerliche Bedingungen gegründet. Und so war auch ihr Rat an die jungen Lehrerinnen, die über Mißerfolg in ihrer Berufstätigkeit zu klagen wußten, sich ganz den Kindern hinzugeben, inneren Zusammenhang mit ihnen zu suchen, sich mit der Welt, in der die Interessen und die inneren Beziehungen der Kinder wurzeln, vertraut zu machen, um sie zu werben. Darin sah sie mit Recht das Geheimnis der ganzen Lehrerinnentätigkeit.
Mit Auguste Schmidt hatte sich die persönliche Anknüpfung erst durch die Begleitschrift und die Begründung der Realkurse ergeben. Wenn sie auch in erster Linie als Vertreterin und hervorragende Rednerin des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins bekannt war, so gab sie doch dem Lehrerinnenberuf, den sie selbst mit tiefgreifender Wirkung die beste Zeit ihres Lebens ausübte, das Tiefste und Wärmste, was in ihr lag.
Auguste Schmidt war eigentlich nicht getrennt zu denken von ihrer Familie, von den beiden Schwestern, mit denen sie eine weit über die äußere Zusammengehörigkeit hinausgehende innere Gemeinschaft verband. In dieser Häuslichkeit lagen die starken Wurzeln ihrer Kraft; von ihr strahlte aber auch Licht und Wärme aus auf die zahllosen Menschen, die die unbegrenzte Gastfreiheit der Schwestern Schmidt dort ein- und ausgehen ließ. Sie war ein Mittelpunkt jener feinen Kultur, die den oberen Mittelstand der sechziger und siebziger Jahre kennzeichnete. Auguste Schmidt war selbst reich geworden an dem geistigen Besitz unserer klassischen Literatur, und so wußte sie, die geborene Rednerin, in ihren Vorträgen in freier, schöner, von großen Stimmitteln getragener Sprache gerade das zum Ausdruck zu bringen, worauf es in jenen Tagen ankam: den geistigen und sittlichen Grund, aus dem unsere ganze Bewegung stammte. Der besondere Zauber aber, der von ihrer Persönlichkeit ausging, bestand in dem, was zugleich den innersten Kern echter Frauennatur ausmacht: in der Güte. Sie war die Verkörperung dessen, was man mit dem uns heute etwas altmodisch anmutenden Begriff »gütig« bezeichnet. Aus diesem ihrem Wesenskern kam ihr das Verständnis für die tausend Nöte, die sich an sie herandrängten, die feine Schonung des Herzens für die Kleinen und geistig Armen, die offene Hand, die niemals Geld festzuhalten vermochte, das gastlich helle Haus, in dem selbst Vorstandssitzungen zu Feierstunden wurden, der unerschütterliche Glaube an den endlichen Sieg des Guten. Von diesem gütigen Verstehen waren ihre Reden durchströmt, deren Adel gewinnen mußte, was adlig war. Aus dieser Güte heraus, die sie auf den Frauentagen und in ihrem Heim mit unerschütterlicher Geduld und wirklicher Anteilnahme jedem in inneren und äußeren Bedrängnissen beistehen ließ, kam ihr das lebendige Verständnis dafür, was im öffentlichen Leben ohne die Frau fehlt. Sie verstand in der Tat die Frauenbewegung als »organisierte Mütterlichkeit«; sie wußte im Geist und in der Wahrheit: »die Liebe ist die größte unter ihnen«.
Aber dieser Grundton ihres Wesens war auch die Quelle von Leiden, wo er keinen Resonanzboden fand. Niemand hat schwerer als sie unter den Gehässigkeiten und nicht sehr goldenen Rücksichtslosigkeiten gelitten, die im letzten Jahrzehnt ihres Lebens das Aufkommen einer »neuen Richtung« in der Frauenbewegung kennzeichneten. Denn die Stacheln, mit denen wir anderen uns durch diese Zeit ganz leidlich durchhalfen, die Fähigkeit zum Kampf mit Handgranaten, hatte ihr die Natur verfügt. Sie war wehrlos, wo sie nicht mehr an reinen Willen glauben konnte.
Mit diesen beiden Ausnahmemenschen durfte ich an die Aufgabe herantreten, die deutschen Lehrerinnen zu gemeinsamem Einstehen für eine zeitgemäße Mädchen- und Frauenbildung und die ihnen selbst dabei gebührende Stellung zu sammeln. Ein Aufruf berief sie zu dem Zweck nach dem kleinen Friedrichroda in Thüringen. Nicht in der Großstadt: in der waldumrauschten, noch von weiten Wiesenflächen umgebenen Sommerfrische wollten wir in den Pfingsttagen 1890 den Grundstein unseres Neubaues legen.
*
Heute, am Pfingstsonnabend 1920, wo ich dies niederschreibe, sind es genau dreißig Jahre, fast auf den Tag, denn auch damals fiel das Fest noch in den Mai, daß wir in den traulichen kleinen Bahnhof von Friedrichroda einfuhren, einen anderen als jetzt, noch tief im Schatten der Tannenwälder liegend. Vor fünf Jahren haben wir mitten im Kriege das fünfundzwanzigjährige Bestehen des Vereins gefeiert; heute denken wohl wenige des Tages außer mir, die ich von den Einberuferinnen einzig noch übrig geblieben bin.
Als »etwas Traum- und Sagenumsponnenes« sieht jener damals so stille Waldort am Beginn der Geschichte unseres Vereins. Für uns Alte bedeutet er das Kindheitsparadies, ist er »mit dem ganzen Zauber umwoben, den für uns nur noch der Ort hat, wo unsere Wiege stand, wo wir aus Dämmerleben zu bewußtem Tun emporwuchsen und uns emporrangen. Und als solcher mit der Kraft begabt, immer wieder zu stärken, wenn der Mut sinkt, weil dort zuerst der Beweis des Geistes und der Kraft gegeben wurde, der fortwirkt in die Weite und in die Dauer der Jahrzehnte hinein« – mit diesen Worten suchte ich 1915 den Teilnehmerinnen unserer »Kriegstagung« das freimaurerische Verstehen, das Ausleuchten der Augen zu deuten, wo zwei sich begegneten, die »mit dabei« gewesen waren.
Im Verein mit ihrer Mutter hatte uns Lina Langerhannß, damals Schulvorsteherin in Friedrichroda, die Stätte bereitet. Eine der nicht mehr großen Schar aus jenen Tagen, die diese Zeilen noch lesen wird; getreu unseren Zielen und unserm Verein vom ersten Beginn bis zum heutigen Tage.
Weit über Erwarten waren die deutschen Lehrerinnen unserm Ruf gefolgt aus allen Teilen Deutschlands. Weit über Erwarten: denn die anderthalb hundert, die allmählich, freudig begrüßt, in den Waldesschatten einfuhren, bedeuteten mehr als heute die zehnfache Zahl. Hieß es doch damals das ganze Mißvergnügen von Behörden, Vorgesetzten, Kollegen, vielleicht auch Familie und Freundschaft auf sich ziehen, wenn man sich zu einer Gemeinschaft und ihren Zielen bekannte, die so im Gegensatz zum Hergebrachten, zur ganzen offiziellen Pädagogik stand. Die deutsche Lehrerin sprach sich mündig. Und wie ein Symbol dafür erschien es mir, daß unsere Kaiserin Friedrich aus freiem Antrieb – wohl einzig dastehend in der Geschichte der deutschen Fürstinnen – den üblichen Brauch umkehrte und uns ein Begrüßungstelegramm sandte:
»Den heute in Friedrichroda vereinigten deutschen Lehrerinnen sende ich freundlichen Gruß, und spreche ich die Hoffnung aus, daß die Bestrebungen, denen der Verein gilt, von segensreichem Erfolge begleitet sein möchten. Mein warmes Interesse an den vorgesteckten Zielen wird stets dasselbe bleiben. Kaiserin Friedrich.«
Der Abend des Pfingstsonntags führte die bereits anwesenden Lehrerinnen zu einem ersten Kennenlernen zusammen. Da habe ich so mancher zum erstenmal die Hand gereicht, mit der ich nachher jahrelang in treuer Arbeits- und Gedankengemeinschaft gewandert bin und Freundschaft gehalten habe über die Arbeit hinaus. Ich sah zum erstenmal Helene Adelmann, Marie Hecht, Febronie Rommel, Helene Sumper und so manche andere, die dann Jahr um Jahr mit der gleichen Treue für den Verein gearbeitet hat: Elisabeth Altmann, Berta Kipfmüller, die Schwestern Schubring aus Halle, die alle Generalversammlungen des Vereins mitgemacht haben, und so manche, die heute, wie Berta von der Lage, Rosalie Büttner, die urwüchsige Metta Meinken aus Bremen, Maria Girgensohn aus Dorpat, Julie Thiel und viele, viele der Rasen deckt.
Es hat heute keinen Wert mehr, die Verhandlungen, die zunächst in geschlossener Versammlung am zweiten Pfingsttag einsetzten und ihre Gegenstände aus allen Interessengebieten der Lehrerinnen nahmen, im einzelnen zu verfolgen. Was dabei Positives herauskam, ist heute gleichgültig; was uns aber aufhorchen ließ, was etwas versprach, das war die tiefinnerliche Beteiligung, die Themen wie »die Entwicklung des bayerischen Volksschulwesens« und die Frage der Schulbibel auslösten, die geistige Schärfe und Frische der Debatte, die Selbständigkeit der Überzeugungen, die Sachlichkeit der Entgegnungen selbst da, wo die Geister aufeinanderplatzten. Die tiefe, ernste Überzeugtheit, mit der Frau Marie Hecht in der Bibelfrage ihren von mir nicht geteilten Standpunkt vertrat, hat mich damals schon mit ihr zusammengeführt. Sie hat auf weit vorgeschobenem Posten in Tilsit dann über ein Vierteljahrhundert mit Margarete Poehlmann unserer Sache gedient, und die damals geschlossene Freundschaft hat trotz der Verschiedenheit unserer Naturen und Standpunkte die Jahrzehnte überdauert. Auch sie sollen heute diese Zeilen grüßen.
Der Dienstag brachte dann die öffentlichen Verhandlungen. Eine warme Ansprache von Auguste Schmidt, die als Seniorin der Einberuferinnen die ganzen Verhandlungen leitete, eröffnete sie. Sie betonte, daß nicht der erweiterte Broterwerb entscheidend sei und sein dürfe für unser Bemühen, den Lehrerinnen einen maßgebenden Einfluß auf die Bildung ihres eigenen Geschlechts zu erringen, sondern das Bewußtsein, daß auf dem Gebiet der Mädchenerziehung gerade die Frauenarbeit ihre sittliche Berechtigung habe. In diesem Sinne begrüßte sie die Delegierten der Lehrerinnenvereine, Helene Adelmann als die Kollegin, die mit großartiger Energie, mit nie versagender Hingebung die Sache der deutschen Lehrerinnen in England gefördert habe, vor allem auch die jungen Kolleginnen, durch die wir in die Zukunft hineinbauen. Und echte Ergriffenheit lag über der Versammlung, als sie aussprach: »Ich aber stehe hier als die älteste unter denen, welche den Ruf an alle Kolleginnen der deutschen Lande versendet haben. Nach einer vierzigjährigen ununterbrochenen Tätigkeit als Lehrerin bin ich bereit, Zeugnis abzulegen für das tiefe Genügen, das unser Geschlecht im Lehrberuf zu finden vermag; freilich nur, wenn wir dieses Genügen da suchen, wo es zu finden ist: im Verkehr mit den Kindern, in der unbedingten Hingabe an unsere erziehliche Tätigkeit, aber auch in dem rastlosen Streben nach immer höherer geistiger Entwicklung, nach immer reinerer sittlicher Erkenntnis. Wer sich mechanisch in dem angegebenen Kreise dreht, wird bald nicht nur die Freudigkeit, sondern auch die Fähigkeit verlieren. Der Lehrende ist ein Gebender, darum müssen wir sorgen, daß wir zu geben haben, daß wir unseren seelischen Besitzstand mehren.« Nachdem dann Frau Loeper in einem Vortrag über die Verwendung von Lehrerinnen an Volks- und Fortbildungsschulen die Bedeutung des weiblichen Einflusses gerade für die heranwachsenden Mädchen dieser Schichten mit überzeugenden Gründen erörtert hatte, erhielt ich das Wort, um »unsere Bestrebungen Unter diesem Titel erschienen in L. Oehmigkes Verlag (R. Appelius), Berlin 1890. Zweite Auflage 1892. Vergriffen.« auf dem Gebiet des Mädchenschulwesens darzulegen und damit den Antrag auf Begründung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins einzuleiten.
Die Aufgabe war eine doppelte. Die leichtere bestand darin, die Bedeutung und Notwendigkeit eines entscheidenden Fraueneinflusses, die Frau Loeper für die Mädchen des Volkes nachgewiesen hatte, auch für die Kreise der höheren Mädchenschule nachzuweisen und daraus die Folgerungen zu ziehen. Die schwerere war, Wesen und Unentbehrlichkeit eines ganz anders gearteten, tieferen und selbständigen Wissens für die Erfüllung der neuen Pflichten darzulegen. Ein paar kurze Stichproben aus meinen Ausführungen mögen die Art kennzeichnen, wie ich meine Aufgabe zu fassen und zu erfüllen suchte.
»... wer wüßte nicht, daß gerade in dem kritischen Alter, in dem die Mädchen die Kindheit verlassen, das Auge der Mutter sie ganz besonders zu überwachen hat, daß ihnen da eher noch die männliche als die weibliche Leitung ganz fehlen könnte? Denn der Übergang, der sich eben in diesen Jahren beim Mädchen aus dem allgemein Menschlichen zum spezifisch Weiblichen vollzieht, geht nicht ohne Gemütskrisen ab, die die ganze Erfahrung und den ganzen Takt einer Frau erfordern, die sie selbst durchmacht. Nur eine Frau kann ihm helfen sich zu finden in den inneren Kämpfen mit unklaren Gefühlen, Zweifeln und Gemütserregungen; nur die Frau kann wissen, wo Weichheit und wo Festigkeit und selbst Strenge am Platze ist; nur sie endlich kann an rechter Stelle die große Kunst des Ignorierens üben. Dem Mann gegenüber würde da immer – ganz abgesehen von der natürlichen Befangenheit des Mädchens, die wir so wenig wegwünschen wollen, wie den Schmelz von der Blüte – mutatis mutandis das Wort gelten, das einst ein Sohn seiner sehr klugen und einsichtigen Mutter sagte: »Mutter, man merkt es doch immer, daß du kein Junge gewesen bist« ...
... Den Lehrer stellt das Schicksal in die Schule; an und mit dem Wissensstoff soll er die Fähigkeiten der Kinder entwickeln und ihre Loslösung aus geistiger und sittlicher Gebundenheit vorbereiten; er kann das nur, wenn das Wissen auch an ihm seine Arbeit zur Herausbildung der freien sittlichen Persönlichkeit getan hat. Und das hängt von der Art ab wie er es erwirbt. Jede Wahrheit, die er selbst gefunden, auch wenn sie schon Millionen vor ihm erfaßt, wenn er sie nur für sich gefunden hat, jeder lebendige Zusammenhang, der ihm aufgeht, hat mehr Wert für ihn, als die sichersten Formeln, die andere ihm geben. Denn nur die freie Arbeit führt zur Selbstbefreiung, nie überlieferter, formulierter Stoff, und enthielte er die Weisheit von Jahrtausenden. Nur Kraft unserer eigenen Schwingen gelangen wir zu der reinen Höhe der Weltanschauung, von der wir Himmel und Erde vor uns liegen sehen mit ihren ungezählten Wundern, die wir staunend begrüßen, »kindliche Schauer treu in der Brust«, statt in dumpfer Stube, von Urväter Hausrat eingeengt, die schwere Decke auf uns lasten zu fühlen. Und wir brauchen Menschen, die der Jugend wieder eine Ahnung von dem Hauch geben können, der auf diesen Höhen weht. Die treue Arbeit an der Methode, die die Lehrenden jahraus, jahrein vollbringen, ist viel; die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit bedeutet mehr. Sittliche Feinfühligkeit, warme Menschenliebe und ein freies und freimachendes Wissen, das macht den echten Lehrer und die echte Lehrerin. Mit halbem Wissen können wir auch unsere ethische Aufgabe nicht erfüllen; denn mit Recht hat man betont: wenig Vernunft führt von Gott ab, viel Vernunft führt zu ihm zurück ...«
Im Anschluß an meinen Vortrag sprach ich zugleich im Namen von Auguste Schmidt, Marie Loeper und Helene Adelmann den Wunsch aus: » Lassen Sie uns, die wir innerlich zusammengehören, auch äußerlich zu einem Verein zusammentreten, der in gemeinsamer Arbeit nach außen hin die Grundsätze vertritt, zu denen wir uns innerlich bekennen ... Zu uns soll nur gehören, wer ein Herz hat für die Bildung des Volkes und wer uns helfen will, danach zu streben, der Lehrerin den Einfluß gerade auf die heranwachsenden Mädchen zu sichern, dessen sie bedarf, um erziehlich zu wirken und der in der Schule hauptsächlich an den wissenschaftlichen Unterricht gebunden ist; wer aber auch mit allen Kräften danach streben will, ihr die dazu erforderliche tiefere Bildung zu erringen.« Das waren denn auch die Grundlagen des Satzungsentwurfs, auf den nun der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein gegründet wurde. Unter einem fünfgliedrigen Vorstand, der jahrelang die Geschicke des Vereins gesteuert hat: Helene Lange, Marie Loeper, Helene Adelmann, Febronie Rommel, Lina Langerhannß, und unter dem Ehrenvorsitz von Auguste Schmidt. 85 Lehrerinnen schlossen sich sofort an (die Angehörigen von Lehrerinnenvereinen hatten zunächst ihren Vereinen Bericht zu erstatten und haben ihren Anschluß erst später vollzogen); weit über 3000 waren wir im folgenden Jahr.
So war unser Saattag beschaffen.
Und aus der Saat quoll die Ernte auf.
Als wir ein Jahr später an der gleichen Stätte uns zusammenfanden, um die erste Generalversammlung des neugegründeten Vereins abzuhalten, habe ich versucht, den Ausdruck für das zu finden, was uns bei der Gründungsversammlung beherrscht hat, was noch lange Jahre über uns leuchtete und unsere Generalversammlungen zu Feiertagen machte. Ich gebe es nicht in der Abschwächung des Berichts, sondern unmittelbar in der Empfindungsfärbung jener Tage: »Wenn Zeiten kommen in der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit, wo nach irgendeiner Richtung hin eine neue Kraft sich entwickelt, um sich in den Dienst der Kulturarbeit zu stellen, die als letztes Ziel die innere, die sittliche Befreiung der Menschheit hat, da fühlt sie, daß kein persönliches Wollen mehr gilt, daß kein einzelner die Dinge beherrscht und lenkt: daß sie eine Gesamtheit ist und beherrscht wird von dem, was in uns allen lebt und was unendlich gewisser und mächtiger ist als die Welt der Sinne: von der Macht des Immateriellen, der Macht der Idee. Und in ihrem Dienst verschwindet alles, was klein, was eng und persönlich ist; er macht selbstlos und rein. Wer hier die eigene Ehre, den äußeren Schein suchen will, dem schwindet die Kraft wie dem Antäus, wenn er den mütterlichen Boden nicht mehr berührt. Denn im Unsichtbaren, in der Welt der Ideen, ist tatsächlich des Menschen Heimat; aus ihr allein zieht er die Kraft, die früher oder später den Widerstand der stumpfen Welt besiegt.«
Das Gefühl war in uns eingezogen. Aus dem Beruf, den so manche aus Not ergriffen hatte, war der Dienst der Idee geworden. Wir empfanden damals zum erstenmal als Zusammengehörige, als Schicht, was einzelne schon lange empfunden hatten: »Wir lieben unseren Beruf, wir freuen uns seiner, wir fühlen, daß wir einem Stande angehören und in ihm eine der wichtigsten Kulturaufgaben zu erfüllen haben ... Und weil unsere Vereinigung eine ideale Grundlage hat, so fühlen wir alle den warmen Hauch, der das gemeinsame Streben nach Vervollkommnung, nach geistiger und sittlicher Tüchtigkeit durchweht. So fühlen wir eine Zusammengehörigkeit, die etwas anderes bedeutet, als die durch Tages- oder materielle Interessen geschaffene; so fühlen wir einen Ernst, der unsere Gedanken dem Ewigen, Göttlichen zuwendet.« So ist Friedrichroda die Geburtsstätte eines neuen, aus geistig-sittlichem Grunde stammenden Berufsgefühls geworden; die eigentliche Geburtsstätte des deutschen Lehrerinnenstandes. Nicht mehr als »Gehilfin, die um ihn sei«, als Führende fühlten wir uns auf unserem besonderen Gebiet. Wir fühlten, weit über das hinaus, was wir satzungsmäßig aussprechen konnten, daß gerade wir Lehrerinnen das entscheidende Gewicht hier in die Wagschale der Frauenbewegung zu werfen hatten, daß wir es sein mußten, die der Frau die Leitung der Mädchenerziehung und -bildung erkämpften, damit sie die besonderen Frauenkräfte in der weiblichen Jugend löse, sie vom Echo zur Stimme mache. Wir wußten, daß wir an der Schwelle einer Entwicklung standen, die einen bedeutsamen Abschnitt der menschlichen Geistesgeschichte einleiten mußte: die Einführung neuer produktiver Kräfte in eine einseitig orientierte Welt. Diese Entwicklung herausführen zu helfen, dafür fühlten wir uns freudig in erster Linie mit verantwortlich. Das war unser Dienst der Idee, das der verjüngende Quell, aus dem der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein die Jahrzehnte seiner Wirksamkeit hindurch geschöpft hat, das das Freimaurerzeichen, das Geheimnis von Friedrichroda.
Wir haben uns absichtlich die nächsten Jahre noch fern von der Großstadt gehalten, fern von lähmender, kalter Kritik oder der gleichgültig hinlaufenden Feder der Zeitungsreporter. Blankenburg am Harz und Darmstadt haben (1893 und 95) unsere nächsten Versammlungen gesehen. Es handelte sich uns vor allem darum, das Bewußtsein der eigenen Kraft, der Sonderart, der Produktivität weiblicher sozialer Empfindung ausreifen zu lassen. Ihr eigenstes Gefühl sollten die Frauen geben, ihre eigene Sprache sprechen lernen, die berufstätigen so gut wie die anderen. Wer die Hefte unserer Generalversammlung durchliest und sie mit denen des Vereins für das höhere Mädchenschulwesen vergleicht, wird sich des Unterschiedes der Auffassung, der Themenwahl, der leitenden Gesichtspunkte, der Sprache bewußt werden. Ausführungen, wie sie gleich die zweite Generalversammlung »Über die Spracharmut unserer Volkskinder« von Alma Zetzsche brachte, sind inhaltlich ähnlich oft von Volksschullehrern gemacht worden; so wie sie gehalten sind, verraten sie ohne das, was man gern als weiblich bezeichnet, ohne Sentimentalität, ohne moralisierende Betrachtung in jedem Satz den eindringenden Frauenblick.
Erst 1897, als wir schon über 10 000 Mitglieder in etwa 60 Vereinen zählten, haben wir zum erstenmal in der Großstadt (Leipzig) getagt, innerlich und äußerlich stark genug, um uns in unserer Eigenart zu behaupten und unsere Kreise nicht stören zu lassen. Es haben sich später selbstverständlich auch auf dem Boden unseres Vereins die üblichen Kämpfe abgespielt, die großen Organisationen in ihrem Werdegang nie erspart bleiben und auch bei uns gelegentlich unerquicklichen Charakter annahmen. Aber immer wieder ist das Zusammengehörigkeitsgefühl, das Gefühl des gemeinsamen Dienstes einer Idee über Sondergelüste und Zwiespältigkeit Herr geworden. Aus den 85 wurden über 40 000. Auf dem Gebiet des Lehrerinnenwesens und der Mädchenschule ist nichts geschehen, worauf der Verein nicht bedeutsamen Einfluß gehabt hätte. Die Besten unter unseren Berufsgenossinnen haben sich in seinen Dienst gestellt.
Aber von diesem vorläufigen Ausblick zurück zu den Anfängen.
Zu bedeutsamster Förderung gereichte der neugegründeten Berufsgemeinschaft gerade in der ersten Zeit das warme Interesse von Helene Adelmann. Als sie nach Friedrichroda kam, hatte sie ihr großes Lebenswerk, den deutschen Lehrerinnen in England ein Heim und eine gesicherte, befriedigende Berufstätigkeit zu schaffen, schon vollendet. Sie kam voll Teilnahme an deutscher Arbeit, aber doch kühl und ruhig; sie ging hinweg gefangen von dem Zauber jener Tage. Als das letzte Wort meines Vortrags verklungen war, reichte sie mir die Hand mit den Worten: »Ich will für Sie arbeiten«. Wenn sie uns dann scherzhaft als »Sterngucker« bezeichnete, denen sie den Brotkorb schaffen müsse, so war sie selbst den Sternguckern nahe genug verwandt; auch sie hatte erfahren, daß im geistigen Aufschwung das Mittel liegt, die Welt zu bewegen. Aber ihr praktischer Sinn ließ sie auch den materiellen Untergrund nicht verschmähen: sie schuf dem Verein schon im ersten Jahr seine Stellenvermittlung. Der Anfang dazu war schon unter Führung des Leipziger Lehrerinnenvereins gemacht; es war ihr Einfluß, der die Leiterinnen bewog, das begonnene Werk dem A. D. L. V. zu unterstellen und es in seinem Dienst fortzuführen. Im übrigen hatte sie mit dem Sterngucken nicht ganz unrecht; weder auf der Gründungsversammlung, noch auf den nächsten Generalversammlungen haben Besoldungsfragen eine nennenswerte Rolle gespielt; der Punkt unserer Satzungen, wonach auch die materiellen Interessen der Lehrerin gefördert werden sollen, war von mir eigentlich mehr aus einer Art statischen Gefühls hingesetzt worden; so etwas mußte zur Herstellung des Gleichgewichts auch dabei sein. Helene Adelmann aber wußte, was auch die materielle Grundlage bedeutete – und im Grunde wußte ich es ja auch und war ihres praktischen Rates froh. Sie hatte in England diese materielle Grundlage zugleich mit der Achtung vor der Berufstüchtigkeit ihren Mitgliedern zu verschaffen gewußt. Aber was gerade meiner schweren Natur am meisten bedeutete, war das, was schon aus ihrer festen, fröhlich nach oben gehenden Namensunterschrift sprach: der siegessichere Optimismus, der sich so kindlich gläubig äußern konnte: »Das leidet unser Herrgott nit« – und der seinen Ursprung in ihrem Motto »Durch!« hatte. Eine seltene Organisationsfähigkeit kam dazu, um ihren Unternehmungen Erfolg zu schaffen; aber das letzte Geheimnis dieses Erfolges lag doch in ihrer völligen Selbstlosigkeit. Sie ging ganz auf in ihrem Werk, dem Verein Deutscher Lehrerinnen in England. »Der Verein« war ihr Stichwort früh und spät; was sie nie für sich selbst getan hätte, Bittgänge, Dankschreiben, die Erfüllung lästiger Formalitäten, alles wurde ihr leicht, wenn es sich um den Verein oder um eines seiner Mitglieder handelte. Wie manches Mal hat sie in der Sommerfrische, die sie später oft mit mir und meiner Freundin teilte, kostbare Tage ihrer Erholungszeit den Interessen ihres Werkes geopfert. Es gab nichts, kein Nebeninteresse, keine Lieblingsbeschäftigung, die nicht dahinter zurückgestellt wurde.
Sie war eine erfrischend unkomplizierte Natur, von absoluter Echtheit und Zuverlässigkeit. In der Lektüre lieble sie das Einfache; vieles Moderne schob sie als »Zeugs« beiseite. Als wir einmal in ihrer Gegenwart im Jargon der ehemaligen Hegelschüler die einfachsten Gegenstände und Vorgänge metaphysisch umschrieben, meinte sie lachend: »Ich merke schon, ihr nennt das Kind Philippinchen, ich nenne es Binchen«. Sie nannte das Kind immer Binchen. Kein Vereinsmitglied hat sich je über einen Mangel an Deutlichkeit bei einer Rücksprache mit ihr zu beklagen gehabt; keines aber auch über einen Mangel an Tatkraft und Tatwillen, wenn es galt, sie aus irgendeiner Fährlichkeit zu lösen, auch wenn sie selbstverschuldet war.
Es war ihr selbstverständlich, daß sie auch in England Deutsche blieb, und zwar Pfälzerin mit unverfälschten Heimatlauten. Ich bin noch heute froh, daß wir sie durch unablässiges Drängen veranlaßt haben, ihre Kindheitserinnerungen niederzuschreiben, die sie so anheimelnd zu erzählen wußte; so ist uns dieses Kostbare, gesunde Kinderbuch wenigstens von ihr geblieben Aus meiner Kinderzeit. Von Helene Adelmann. L. Oehmigkes Verlag, Berlin.. Denn auch sie gehörte zu denen, die sich handelnd, nicht schreibend auswirken; wer aber das kleine ehrliche, tapfere Mädchen kennen lernt, sieht die Kräftig zugreifende, liebende, verständnisvolle und klar denkende Frau leibhaftig vor sich.
Gleich nach ihrer Rückkehr führte uns Helene Adelmann den großen Verein Deutscher Lehrerinnen in England mit über 700 Mitgliedern zu – für uns ein bedeutsamer Zuwachs. Mit gleicher Einmütigkeit und freudiger Zustimmung vollzog sich auch der Anschluß der süddeutschen Kolleginnen. Die Zeit war erfüllt; es bedurfte überall nur des Anstoßes durch die Führenden. Und die fand Süddeutschland außer in Frau Loeper selbst, die schon lange dort ihren Wohnsitz hatte, in Febronie Rommel und Helene Sumper. Eng mit Frau Loeper verbunden und durch sie dem Verein zugeführt, gehören auch sie zu denen, die mit nie versagender Überzeugungstreue an leitender Stelle ihn durch die Jahrzehnte begleitet haben. Zu denen, die auch heute noch volles Verständnis dafür haben, daß weder der Zusammenschluß aller Lehrerinnen zerrissen werden darf, noch die Stunde gekommen ist, die unsere Sonderorganisation überflüssig macht; daß sie erst dann schlagen wird, wenn die auf vertiefter psychologischer Einsicht beruhende Erkenntnis: Mädchenerziehung und -bildung ist in erster Linie Sache der Frau, auch in Deutschland zu den Selbstverständlichkeiten gehört, als die sie anderswo längst angesehen wird.