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Die Petition, die wir im November 1887 dem Preußischen Kultusministerium und dem Abgeordnetenhause einreichten, enthielt mit kurzer Begründung die folgenden beiden Anträge:
Da die – meistens als »gelbe Broschüre« bezeichnete – Begleitschrift Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung. Begleitschrift zu einer Petition an das preußische Unterrichtsministerium und das preußische Abgeordnetenhaus. Berlin 1887. ü. Oehmigkes Verlag. (R. Appelius.), gegen die sich in der Folgezeit der erbitterte Widerstand der Direktoren und Lehrer der höheren Mädchenschulen wandte, nur an entlegenen Stellen noch zugänglich ist, so muß um der weiteren Entwicklung willen einiges daraus hier wiedergegeben werden. Es sind solche Stellen gewählt, die meinen Standpunkt als Frau und Erzieherin darlegen, als Ausgangspunkt für die späteren Ausführungen.
Die Denkschrift geht aus von der falschen Motivierung der Bestimmung der höheren Mädchenschule durch die schon erwähnte Weimarer These. Der Grundsatz, daß die Frau um des Mannes willen zu bilden sei, ein Grundsatz, der nicht einmal die Mutter als Erzieherin ihrer Kinder in Betracht zieht, muß zu falschen Zielen und Maßnahmen führen. Eine der Folgen ist die fast vollständige Ausschaltung der Frau bei der Bildung der heranwachsenden Mädchen auf der Oberstufe der Mädchenschulen. Eine tabellarische Übersicht über die öffentlichen höheren Mädchenschulen Berlins wies nach, daß zum Teil gar keine, zum Teil etwa 5% der dort gegebenen wissenschaftlichen Stunden in Frauenhand lagen.
Eine weitere Folge des falschen Grundprinzips ist die Verflachung der dadurch bestimmten Bildung. Das Mädchen soll bis zum 16. Jahre »allseitig harmonisch« gebildet werden. Praktisch lief das auf eine Einführung in alle Gebiete allgemeiner Bildung hinaus, die gerade zum Mitreden reichte, damit eben die Frau den deutschen Mann am häuslichen Herde nicht langweilte. Nirgends aber war die Grundlage zu selbständiger Weiterarbeit gegeben. Wenn so die Allgemeinheit des Interesses, die Resonanzfähigkeit an die Stelle der Kraftbildung gesetzt wird, werden häufig Übersichten an die Stelle der Einsichten treten müssen, wird starke Stoffbelastung bei wenig Tiefe der Charakter der Mädchenbildung sein.
Die Schrift kommt dann zu positiven Folgerungen:
»Solange die Frau nicht um ihrer selbst willen als Mensch und zum Menschen schlechtweg gebildet wird, solange sie im Anschluß an Rousseaus in bezug auf Frauenbildung sehr bedenkliche Ansichten in Deutschland nur des Mannes wegen erzogen werden soll, solange Konsequenterweise die geistig unselbständigste Frau die beste ist, da sie am ersten Garantie dafür bietet, den Interessen ihres zukünftigen Mannes, deren Richtung sie ja unmöglich voraussehen kann, Wärme des Gefühls entgegenzubringen, solange wird es mit der deutschen Frauenbildung nicht anders werden. Das wird nun vielen Männern als kein großer Schaden erscheinen, wenn nur ihr Behagen dabei gesichert ist. Es würde freilich noch weiterhin wie bisher eine Unsumme von großen Eigenschaften und Fähigkeiten, von Glück und Lebensfreude dabei zugrunde gehen, dem Manne aber seiner Auffassung nach ein positiver Schaden daraus nicht erwachsen.
Aber so liegt die Sache nicht. Nicht nur um die Frauen handelt es sich: in ihrem Geschick liegt das der werdenden Generation beschlossen, und mit diesem Wort ist die große Kulturaufgabe der Frau gegeben, die an Größe und Schönheit in nichts hinter der des Mannes zurückfleht. Während der Mann die äußere Welt erforscht und umgestaltet, sie nach seinem Sinn und Willen modelt, Zeit, Raum und Stoff zu zwingen versucht, liegt vorzugsweise in unserer Hand die Erziehung der werdenden Menschheit, die Pflege der edlen Eigenschaften, die den Menschen zum Menschen machen: Sittlichkeit, Liebe, Gottesfurcht. Wir sollen im Kinde die Welt des Gemüts anbauen, sollen es lehren, die Dinge in ihrem rechten Wert zu erkennen, das Göttliche höher zu achten als das Zeitliche, das Sittliche höher als das Sinnliche; wir sollen es aber auch denken und handeln lehren.
Glaubt man denn wirklich, für die Erfüllung dieser Aufgabe sei die Bildung, welche die Schule unseren Mädchen gibt, die geeignete Vorbereitung? Diese Bildung läßt innerlich haltlos und unselbständig; der Erzieherberuf aber fordert eine sittlich und geistig selbständige Persönlichkeit, die zum Menschen gebildet ist, deren Fähigkeiten um ihrer selbst willen nach jeder Richtung hin entwickelt sind, die gelernt hat, ihr geistiges und religiöses Leben in Verbindung zu setzen mit dem Kreis täglicher Pflichten, die vielleicht nicht durch die Kenntnis sehr zahlreicher positiver Tatsachen, aber durch die Größe ihres Gesichtskreises und die Tiefe ihres Verständnisses ihrem Kinde Achtung abnötigt; die selbst Zum Denken und Handeln erzogen ist.
Wir kommen also schließlich zu derselben Forderung wie die Weimarer Denkschrift, aber von ganz anderer Grundlage ausgehend und mit ganz anderer Garantie für die Durchführung unseres Programms. Auch wir wollen eine edle, geistig und sittlich selbständige Persönlichkeit herauszubilden suchen, und da unser Programm nicht zwiespältig in sich selbst ist, da wir die um ihrer selbst willen nach jeder Richtung hin, sowohl nach ihren spezifisch weiblichen als nach ihren rein menschlichen Fähigkeiten hin entwickelte Persönlichkeit notwendig brauchen, denn nur sie allein kann erziehen, so kann sich uns gar nicht das oberflächlich unterrichtete, im Grunde aber geistig und sittlich unselbständige Wesen unterschieben, daß die Weimarer Pädagogik erzeugt hat und wegen ihrer Grundanschauung erzeugen mußte ...
Wir können nun freilich, eben weil uns unser Erziehungsziel keine Phrase ist, nie glauben, daß die Schule solche Persönlichkeiten fertigstellen könne; mit 16 Jahren ist man eben kein selbständiger Mensch; aber sie kann die Fähigkeiten dazu entwickeln helfen und somit der Familie eine wirkliche Stütze werden. Dazu bedarf es allerdings eines vollständigen Systemwechsels. An die Stelle des Prinzips des Abschließens und Fertigmachens hat das Prinzip der Kraftbildung zu treten. Anstatt die Mädchen zu lehren, was man glaubt und sie sprechen zu lehren über das, was man weiß, soll die Schule die großen menschlichen Anlagen und Kräfte entwickeln, die Kraft des Glaubens und der Menschenliebe ebensowohl wie die intellektuellen Fähigkeiten; sie soll endlich einmal ernst machen mit der Erfüllung der Forderungen Pestalozzis, dessen Namen man in Deutschland zwar mit derselben Ehrfurcht ausspricht wie den Klopstocks, dessen Werke aber ebensowenig gelesen und dessen Forderungen nicht erfüllt werden, am wenigsten die der Kraftentwicklung, während der Schematismus der Jungherbartianer zu einer Macht heranzuwachsen droht, die sich einmal lähmend auf unser Schulwesen legen kann.»
Diese Forderungen sind nur zu erfüllen, wenn der Frau die Bildung ihres eigenen Geschlechts übertragen wird. Daß sie dem Mädchen mit ganz anderem Verständnis, mit mehr Liebe und Interesse gegenübersteht als der Mann, daß ihr andere Methoden erziehlicher Einwirkung zu Gebote stehen, ist selbstverständlich. Aber auch in bezug auf den eigentlichen Unterricht gibt ihr ihre weibliche Art für gewisse Fächer nicht geringe Vorteile über den Mann. Und so muß das Wort verwirklicht werden, das schon vor mehr als einem halben Jahrhundert Rosette Niederer ausgesprochen hat: »Wie das Menschengeschlecht die Aufgabe seiner Bildung aus der Hand der Natur in seine Hand nehmen muß, wenn es seine Bestimmung erreichen soll, so muß das weibliche Geschlecht die Aufgabe seiner Bildung aus der Hand der Männer in seine eigene nehmen, um seine Bestimmung zu erreichen.« Der Frau gebührt in der Mädchenschule die Klassen- und Schulleitung; es gebührt ihr – und nur die Gewohnheit läßt uns die Unnatur übersehen, die in den herrschenden Zuständen liegt – in der Leitung ihres eigenen Geschlechts die erste und nicht die vierte Stelle, die ihr sowohl die Weimarer Beschlüsse als die Augustkonferenz zuweisen. Diese erste Stelle wird ihr einmal werden und muß ihr werden, wenn die Mädchenerziehung tatsächlich ihrer Bestimmung entsprechen soll. Die stärksten erziehlichen Möglichkeiten bieten aber Religion und Deutsch; diese müssen daher in erster Hand den Frauen übertragen werden, unter Umständen auch die Geschichte.
Diesem Unterricht sind aber die Frauen zurzeit nicht gewachsen. Sie können seine eigentliche Aufgabe nicht erfüllen.
»Der Unterricht, besonders in den ethischen Fächern, soll der Lehrerin Gelegenheit geben, ihren Schülerinnen allmählich einen weiten geistigen Horizont zu schaffen, ihnen sittlich religiöse Gesinnung, Duldung und Menschenliebe einzuflößen, Energie und Tatkraft in ihnen zu wecken; ganz besonders soll er in diesem Sinne auf der Oberstufe gegeben werden, wo es so unendlich leicht ist, die erregten, leicht empfänglichen Kerzen mit Begeisterung für alles Edle und Große zu erfüllen. Dazu gehört nun aber notwendig, daß eigenes Studium, eigene Vertiefung in den Bildungsgehalt ihrer Zeit und der Vergangenheit solche Größe des Gesichtskreises, solchen Adel der Gesinnung der Lehrerin selbst gegeben habe; daß aus solcher Vertiefung ihr eine richtige Wertschätzung der Dinge erwachsen sei, so daß sie ohne Phrase das Immaterielle über das Materielle setzen kann, daß sie frei wird von der Kleinlichkeit und Engherzigkeit, die jahrhundertelanger Druck dem weiblichen Geschlecht anerzogen hat, und mit Erfolg dagegen bei ihren Schülerinnen kämpfen kann. Dazu gehört ferner, wenn ihr Unterricht, auch bei idealem Endzweck, auf realem Boden bleiben und sich nicht in Allgemeinheiten verflüchtigen soll, eine absolute Beherrschung des Stoffs, an den sie anzuknüpfen hat ... und – es muß gesagt sein – viele Lehrerinnen wissen nicht einmal dem Namen nach, was Studium bedeutet, da ihnen im Seminar niemals ein solches zugemutet ist. Kein Wunder, daß sie des naiven Glaubens leben, mit ihrem Seminarwissen, ihren Leitfäden und ein paar Hilfsbüchern auch eine obere Klasse unterrichten zu können; sie ahnen kaum, daß es dazu eines freien Wissens bedarf, aus eingehender, selbständig ergründender Arbeit gewonnen, durch eigenes Denken und Erfahren vertieft. Solches Wissen kann eine Lehrerin sich heute nur bei besonderer Begabung und auf unzähligen Umwegen erwerben; Anleitung dazu, wie sie dem studierenden Mann geboten wird, und wie sie gerade ihr bei ihrer Ungeübtheit dringend nötig wäre, findet sie nirgends. Darum, und nur darum, nicht aus Mangel ursprünglicher Anlage, nicht aus einer von der Natur gegebenen Beschränktheit, sind die meisten unserer heutigen Lehrerinnen einer tiefgreifenden erziehlichen Einwirkung auf der Oberstufe unfähig. Wo sie hier überhaupt beschäftigt sind, lehren sie wohl, so gut sie es verstehen, zu gestalten aber, erziehend zu bilden, vermag ihr Unterricht nicht ...
Man sieht, wir schonen uns nicht und beschönigen nichts. So wie die Sachen liegen, haben die Männer ganz recht, wenn sie die Mädchenschulen nicht aus der Hand geben wollen, denn so wie wir sind, dürfen wir sie gewissenhafterweise nicht übernehmen. Nicht das also machen wir ihnen zum Vorwurf, wohl aber, daß sie aus Egoismus und Brotneid oder aus Überhebung nicht sehen oder nicht sehen wollen, daß sie ohne uns gar nicht fertig werden können, daß sie ohne weiblichen Einfluß nie Frauen erziehen werden, daß sie daher alles daran setzen müssen, Frauen zur Mädchenerziehung und zum Mädchenunterricht fähig zu machen.«
Es wird sich also darum handeln, den Lehrerinnen die für ihre Aufgabe nötige gründliche Bildung zu vermitteln. Die Einwände, die dagegen erhoben werden, finden ihre Widerlegung; am eingehendsten setzt sich die Schrift mit der Behauptung auseinander, daß gründliches Wissen unweiblich mache. Was lehrt in dieser Beziehung die Erfahrung?
»Sie lehrt zunächst, daß bei gründlichem Studium sehr häufig die Eigenheiten verschwinden, die Männer als spezifisch weibliche bezeichnen: die Kleinlichkeit, der Mangel an Logik, der enge geistige Horizont, die Unselbständigkeit, die Unentschiedenheit des Urteils; kurz, alle die Eigenschaften, die, so sehr der Mann sie auch verurteilt, ihm doch oft so unendlich bequem sind; wir können ihr Verschwinden nicht bedauern, besonders bei der Lehrerin nicht. Erst wenn diese Schwächen verschwunden sind, kann sich das, was wir Weiblichkeit nennen, voll entwickeln, erst dann vermag die Lehrerin das heilige Amt der Mutter in der Schule zu übernehmen, erst dann auf die Erziehung ihrer Schülerinnen wirklich durch Lehre und Beispiel einzuwirken. Die Erfahrung lehrt weiter, daß es allerdings eins gibt, was die echte Weiblichkeit gefährdet, das ist eben das, was uns jetzt geboten wird: die Halbbildung, und zwar deshalb, weil die halbgebildete Lehrerin ihre Natur gewaltsam zu unterdrücken und in unselbständiger Nachahmung männlicher Art, die ihr allein als wirksam gilt, Erfolge zu erreichen sucht. Die Halbbildung bringt, besonders in Verbindung mit langjähriger Routine, jenes Zerrbild der Lehrerin hervor, das an den Unteroffizier erinnert. Hier kann von einem tiefgreifenden und veredelnden Einfluß auf die Schülerinnen nicht die Rede sein. Die Halbbildung führt ferner entweder zum Materialismus, der die Frau völlig unfähig zum Erziehen macht, oder zu einem toten Dogmatismus, der bestenfalls wirkungslos bleibt, aber häufiger noch abstößt. Die Halbbildung macht eingebildet, einseitig und hochmütig; sie läßt den Kreis kleiner Pflichten, in dem sich nun einmal das Leben der meisten Frauen bewegt und noch lange bewegen wird, als etwas Verdächtiges ansehen; sie erfüllt mit jener Ehrfurcht vor dem Stofflichen, dem Positiven, die unsere Lehrerinnen jetzt oft um die Wette mit den Lehrern zur Überbürdung der Schülerinnen beitragen läßt; sie macht aus allen diesen Gründen die Frauen unfähig zur Erfüllung ihrer höchsten und heiligsten Aufgabe, zur Erziehung. Niemals aber die echte Bildung. Sie zeigt uns im Gegenteil unsere kleinen Pflichten und unseren Erzieherberuf unter einem neuen Licht und lehrt uns, sie aus anderem Geiste zu erfüllen, sie lehrt uns die Dinge in ihrem wahren Wert erkennen und macht uns frei von dem übertriebenen Respekt vor dem Positiven und dem Bestehenden, der jeden Fortschritt hemmt, um an seine Stelle die gegründetere Ehrfurcht vor der in den Dingen selbst liegenden Vernunft und dem ewigen Sittengesetz zu wecken; sie befreit uns eben dadurch von all den tausend Vorurteilen, die sich von einer Generation zur anderen fortschleppen, und die gerade die Lehrerin, die die zukünftigen Mütter erzieht, notwendig ablegen müßte. Mag sie Umwege machen, um zu solcher inneren Freiheit zu gelangen: es ist nicht wahr, daß durch solche Umwege, daß durch eigenes Denken und Forschen unsere Weiblichkeit verloren gehe. Den Mann mag es leicht zur Verneinung führen, weil in ihm die Verstandesnatur überwiegt; die Frau führt vertiefte Bildung, führt das echte Verständnis des Menschlichen schließlich nur näher zu Gott. Unberührt von dem Skeptizismus unserer Tage kann sie ja sowieso nicht bleiben; die halbe Bildung gesellt sie zu den Zweiflern und Spöttern; nur die echte Bildung kann ihr helfen, sie zu überwinden.«
Zum Schluß wird die Art der Bildungsanstalten erörtert, die der Oberlehrerin der Zukunft ihre Bildung vermitteln sollen. Nicht die Universität, der die Wissenschaft Selbstzweck ist, sondern eigene Hochschulen unter Frauenleitung werden gefordert, wo wirklich wissenschaftliche Leistungen gegeben und verlangt werden und den Lehrerinnen Mittel und Methoden gezeigt werden, die den Erwerb selbständigen Wissens sichern. In einem dreijährigen Kursus wird es möglich sein, diese Aufgabe zu lösen, zugleich aber der künftigen Berufsaufgabe in einer Weise zu nützen und vorzuarbeiten, wie es die Universität nicht kann.
*
Mitte November 1887 war die Begleitschrift herausgekommen; im Laufe der nächsten sechs Wochen hatten viele der großen Zeitungen lange Artikel darüber an führender Stelle gebracht, waren Reden dafür und dawider gehalten und die Berliner öffentlichen Schulen in helle Aufregung gebracht worden. Die Schülerinnen der Charlottenschule hatten sich ein Exemplar gekauft und vorgelesen, sich dann aber auf die Seite ihrer Lehrer gestellt, was wir als Beweis für die Richtigkeit unserer Auffassung buchten. Der Abgeordnete Theodor Barth, der sich lebhaft für die Sache interessierte und als erster die Schrift in der »Nation« besprochen hatte, beglückwünschte uns zu dem »beispiellosen Erfolg«. Professor Karl Goldbeck, der Direktor der Charlottenschule, in dessen Hause ich freundschaftlich verkehrte, schrieb mir: » Wenn die Töchterschule ein Karpfenteich ist und Sie beabsichtigt haben, die Rolle des Hechtes in demselben zu spielen, so haben Sie Ihren Zweck jedenfalls glänzend erreicht. Ich für mein Teil denke, daß Bewegung immer gut ist, und insofern bin ich sehr damit einverstanden, daß Sie die wichtige Frage angeregt haben.« Seine Frau schrieb: »Unsere Lehrer sind in größter Aufregung über Ihre Schrift; ich bin begeistert für dieselbe.« Die Schulvorsteherin, Marie Stoephasius, die sich ganz und öffentlich zu meinen Forderungen stellte, schrieb: »Unsere Lehrerinnen wagen es weder innerlich noch äußerlich, Opposition zu machen gegen die Herren aus dem Kultusministerium. Sie sind still und warten ab und freuen sich, daß doch mal wieder etwas Rumor gemacht ist in bezug auf die Angelegenheit der Frauenbildung.«
Das sind ein paar herausgegriffene Äußerungen, mit denen die Auffassungen in den verschiedenen Lagern ungefähr gekennzeichnet sein mögen. Der letzten Bemerkung gegenüber muß freilich noch gesagt werden, daß von den Lehrerinnen außerhalb Berlins lebhafte Zustimmungen einliefen. Mancher Name klang damals zuerst an mein Ohr, der sich mir später unverlierbar einprägen sollte. Mit Frau Loeper, die die Begleitschrift mit eingereicht hatte, stand ich damals schon in dauernder Beziehung; Helene Adelmann, Marie Hecht, Febronie Rommel u. a. traten jetzt zuerst in meinen Gesichtskreis.
Das Urteil der Tagespresse war, mit wenigen Ausnahmen, zustimmend. Die Mißstände wurden allgemein als solche empfunden und die Vorschläge zu ihrer Abstellung nicht abgelehnt, vielfach sogar direkt unterstützt. In den Kreisen der Mädchenlehrer dagegen erhob sich weithin ein Sturm der Entrüstung, der sich in Zeitschriften und eigenen Broschüren Luft machte. Es war bisher wohl von Männern den Lehrerinnen gegenüber scharfe Kritik geübt worden, nicht aber umgekehrt. Und die Ausführungen gegen die Stellung des Mannes in der Mädchenschule, die sich tatsächlich nur gegen die in der Natur der Sache liegenden Mißstände, gegen das falsche System wandten, wurden als Angriffe auf die Persönlichkeiten der Mädchenlehrer aufgefaßt und mit einer Empfindlichkeit aufgenommen, die einem bei der Schärfe der dauernd gegen die Frauen gerichteten Angriffe sehr befremdlich vorkommen mußte. Noch ein volles Jahr später bringt einen Anonymus in der Frankfurter Zeitung (Nr. 365, 1888) – bezeichnend erweise waren die ausfallendsten Erwiderungen immer anonym – das auf die Gründe der Direktoren gegen die weibliche Leitung angewandte Wort »Phrase« in höchste Erregung, während er selbst ohne Bedenken den »fatalen, widerlichen Eindruck« der Petition und Begleitschrift hervorhebt und sich nicht entblödet, die ganze Bewegung auf den Wunsch »der vornehmen Sippe und ihrer Freunde« zurückzuführen, »die Töchter von Geheim-, Hof- und anderen Räten, von Direktoren und vornehmen Geistlichen, von Professoren und Majors«, ohne daß sie ihre Befähigung in den unteren Klassen erwiesen haben, in die leitenden Stellen zu bringen. »Wenn man über die Petentinnen nicht lacht«, so schließt er nicht eben sehr prophetisch, »wenn man sie wirklich ernsthaft nimmt – und das geschieht leider –, so dürften Petition und Begleitschrift für die »Lehrerinnenfrage« sehr böse Folgen haben. Man wird sie wahrscheinlich jahrelang als das wichtigste Dokument für die »maßlosen« Ansprüche der Frauen und Lehrerinnen anführen, um auch billige und gerechtfertigte Forderungen mit scheinbar gutem Grunde leicht abweisen zu können. Und das ist der wichtigste Grund, welcher uns bestimmt hat, auf die Petition der Berliner Damen die Aufmerksamkeit aller Verständigen in beiden Geschlechtern zu lenken: sie muß von den Frauen zurückgewiesen, aufs unzweideutigste verworfen, sie muß aus der Welt geschafft werden, wenn die Frauenfrage nicht dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen, wenn über dieselbe weiter mit den Frauen ernsthaft verhandelt werden soll.«
Dieser Hinweis auf den Zusammenhang der Begleitschrift mit der Frauenbewegung ist bezeichnend für eine sehr große Zahl der Entgegnungen. Man warnte vor dem, was hinter den Forderungen steckt, die sich scheinbar nur um die Stellung der Frau an der Mädchenschule drehen: die ganze Petition sei ersichtlich »aus Bestrebungen hervorgegangen, die nicht bloß auf eine totale Umwälzung des höheren Mädchenschulwesens gerichtet sind, sondern ebenso eine solche der höheren Frauenbildung überhaupt und schließlich der sozialen Stellung der gebildeten Frau bezwecken« – so ein anderer Anonymus Lothar Werner in seiner Schrift »Wer will es wenden?« im richtigen Vorgefühl kommenden »Unheils«.
Für mich selbst war der Aufruhr, den die kleine Schrift veranlaßt hatte, eine völlige Überraschung. Der Wunsch, den Hecht im Karpfenteich zu spielen, hatte mir wahrlich sehr fern gelegen; ich hatte ausgesprochen, was meiner Meinung nach gesagt werden mußte und sich aus der Natur selbst ergab. Darum hatte ich naiverweise an einen langsamen, ruhigen und sicheren Sieg unserer Sache geglaubt. Aus den Erwiderungen merkte ich erst, daß es sich um viel irdischere Dinge handelte, als um die Vernunftgemäßheit unserer Forderungen. Ich merkte, wie recht die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« mit der Bemerkung hatte, daß »das im Wachsen begriffene Element der akademischen Lehrerschaft an den Töchterschulen sich mit aller Energie sträubt, den neugewonnenen Standpunkt mit den Lehrerinnen zu teilen«, und daß hinter der Empörung alles andere eher steckte als Idealismus. Ich merkte auch erst jetzt, bis zu welchem Grade undiplomatisch meine Ausführungen waren. Sicher hätte sich vieles verbindlicher und gewandter ausdrücken lassen; das Prinzipielle hatte mir so im Vordergrund gestanden, war mir so überzeugend erschienen, daß ich dem historisch Gewordenen und den Forderungen der Klugheit wenig Rechnung getragen hatte. Aber vielleicht war es ganz gut, daß die Schrift Angriffspunkte bot; um so eher konnte man auf eine Nachprüfung der Grundlagen rechnen, die uns recht geben mußte.
Auch in den Kreisen der Behörden herrschte große Verstimmung. Die kleinlich schikanöse Art, durch die man hoffte, mit der unerhörten »Rebellion« fertig zu werden, wurde mir klar, als Anfang Dezember plötzlich – zum erstenmal in den zehn Jahren – eine Inspektion des von mir geleiteten Seminars vorgenommen wurde, und zwar gleich durch die allerhöchste Instanz: den Geheimen Ober-Regierungsrat Schneider aus dem Kultusministerium. Die Fragen aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte, die er den Schülerinnen der Reihe nach vorlegte, brachten mehr Nieten als Treffer, aber die dadurch erzielte Hochstimmung schlug schnell um, als ich darauf hinwies, daß die Schülerinnen erst seit zwei Monaten bei uns seien, das Manko in vaterländischer Geschichte daher den Schulen in Rechnung zu setzen sei, aus denen sie kamen: lauter gute höhere Mädchenschulen. Ich selbst nahm ein solches Manko bei der Aufnahmeprüfung nie schwer, legte es auch den Schulen kaum zur Last, da ich wußte, was bei solchen Prüfungen alles mitspielt; ich prüfte überhaupt mehr auf Intelligenz als auf positives Wissen hin. Aber dieser primitive Versuch, mich ad absurdum zu führen, forderte denn doch eine entsprechende Abwehr. Der Versuch des Herrn Geheimrats dagegen, uns durch einen öffentlichen Vortrag über »Bildungsziel und Bildungswege für unsere Töchter Von Karl Schneider. Berlin 1888, Wiegandt & Grieben.« in unsere Schranken zurückzuweisen, wurde von manchen als durchaus geglückt angesehen: Direktor Nöldeke weiß in der Schrift »Von Weimar bis Berlin« zu sagen, daß darin »den Frauen schlagend und sachgemäß nachgewiesen wird, wie sehr ihre Wünsche den historisch gewordenen, den wahren Bedürfnissen der Gesellschaft zuwiderlaufen«. Die Bestimmung der Frau wird in diesem Vortrag durch die Antwort gekennzeichnet, die Abraham auf die Frage gab: »Wo ist dein Weib Sara? Drinnen in der Hütte« –, woran sich Beispiele von der Bedeutung der Frau als Gefährtin des Mannes im Lebenskampf knüpfen. Damit war denn freilich der Schwerpunkt geschickt und gründlich verschoben. Als ob wir dagegen je etwas einzuwenden gehabt hätten! Diese Verschiebung und zugleich die Täuschung der Hörer und Leser über unsere Ziele wird aber noch vollständiger dadurch, daß als Gegensatz zu diesen im Schicksal des Mannes mit aufgehenden Frauen – die Mutter wird auch hier kaum gestreift – auf die hingewiesen wird, die »einsam verblühend, nur um ihrer selbst willen gebildet sein will«. Auch für die Schule, wird dann weiter gefolgert, solle das Wort gelten: »Es ist nicht gut, daß der Mann allein sei, ich will ihm eine Gefährtin geben, die um ihn sei«. Dem Anspruch aber, Religion und Deutsch in Frauenhand zu legen, sei der Redner noch nie begegnet, »nicht bei den Kirchenvätern, nicht bei Gersonius, nicht bei de Vives, nicht bei Fénelon«. Unsere Behauptung ferner, daß die Frau die Mädchenseele besser verstehe als der Mann, soll durch das intuitive Verständnis unserer großen Dichter widerlegt werden – was uns denn allerdings kein »schlagender und sachgemäßer« Beweis dafür zu sein schien, daß der Oberlehrer sich besonders zum Mädchenerzieher eigne; wir wagten das sogar bei Goethe selbst zu bestreiten. Bezweifle man aber »das feinere Verständnis der tief innerlichsten weiblichen Natur« beim Manne, so habe es überhaupt keinen Sinn, »daß ein Mädchen vertrauensvoll einem Manne ihre Hand reicht, ihm die Führung ihres ganzen Lebens überläßt«. Vom Standpunkt der hohen Behörde endlich, in deren Hand die Sorge für Erziehung und Unterricht der Mädchen liege, bringt der Redner die bezeichnende Schlußwendung: »Der Gott vom Himmel wird es uns gelingen lassen, denn wir, seine Knechte, haben uns aufgemacht und bauen«.
Wir sind einander nach jener Seminarinspektion erst bei einer Sitzung des Kuratoriums des Viktoria-Lyzeums wieder begegnet, in der die Möglichkeit erwogen werden sollte, die Forderungen unserer Petition mit den Absichten des Viktoria-Lyzeums, einschlägige Einrichtungen zu schaffen, in Verbindung zu bringen. Ich war auf besonderen Wunsch der Kronprinzessin Viktoria, die sich lebhaft für die Begleitschrift interessiert hatte, zu dieser Besprechung zugezogen worden. Geheimrat Schneider äußerte bei dieser Gelegenheit, daß er keine Nacht schlafen würde, wenn er diese Begleitschrift geschrieben hätte. Ich hätte es mir vielleicht versagen sollen, ihm zu versichern, daß ich mich eines recht guten Schlafs erfreute; aber ich muß bekennen, daß ich auf diese nicht besonders diplomatische Antwort nicht zu verzichten vermochte.
Wenn ich auf die Schneidersche Schrift um ihrer fast offiziellen Bedeutung willen näher eingegangen bin, so kann ich es doch nicht als meine Aufgabe betrachten, auch die weiteren Gegenschriften aus Fachkreisen eingehend zu behandeln. Zu einigen, so zu einer Broschüre des damaligen Vorsitzenden des deutschen Vereins, Dr. Sommer: »Die öffentliche höhere Mädchenschule und ihre Gegnerinnen«, habe ich damals direkt Stellung genommen; auf anderes konnte ich mich nicht überwinden zu antworten. Was alle diese Gegenäußerungen in Zeitschriften und besonderen Heftchen charakterisierte, war der vollständige Mangel an Verständnis oder, wie ich es damals empfand, Verstehen
wollen unserer Beweggründe und Ziele, mit einer einzigen Ausnahme: Hermann Oeser
Um dieser Einzigartigkeit willen möchte ich die Eingangssätze seiner Kritik, die unter das Goethewort gestellt ist: »Sie sagen, das mutet mich nicht an, und meinen, sie hätten's abgetan«, hier anführen. Der Verfasser stimmt dem Grundgedanken der Schrift zu, ist aber in bezug auf wesentliche Einzelfragen anderer Ansicht. Um so mehr ist die Höhe anzuerkennen, von der aus er urteilt.
»In dieser Schrift aus der Feder einer Frau liegt ein trefflicher Beitrag zur Lösung der Frauenfrage vor. Ein feiner und vornehmer Sinn, eine erfrischende Parteilichkeit, wie sie dem tiefempfindenden und auf die Tat gerichteten Menschen wohl ansteht, dabei ein gemäßigter und sachgemäßer Ausdruck als das Zeugnis eines wahrhaftigen und im Denken wohlgeschulten Geistes haben sich hier vereint, um einer guten Sache gute Dienste zu leisten. Welchen unmittelbaren Erfolg die Schrift haben wird, läßt sich nicht absehen, aber den Erfolg wird sie haben, den nur wenig Bücher haben: sie zwingt zum Denken und Prüfen und zu ernster Versenkung, sie macht Lust zum Besprechen ihrer Gedanken im Kreise wahrhaft ernst Gesinnter; sie läßt den Leser nicht geringer sein als sie, sondern sie erhebt.« Die Mädchenschule. Herausgegeben von Hessel und Dörr. Bonn, Eduard Weber 1888. S. 122 ff.. Vielleicht war, wenn ich jetzt darüber nachdenke, doch mehr wirkliche Unfähigkeit zu verstehen vorhanden, als ich
damals, in begreiflicher Empörung über die Plattheit so mancher Gegenäußerung, so manche kindische Verdächtigung annahm. Wenn mein »blinder Haß gegen den Lehrer«, mein »hinlänglich bekannter Groll gegen das männliche Geschlecht« angeführt wurden, so hätte ich auch vielleicht solche Absurditäten nur mit Humor aufgenommen, wäre nicht durch diese, wie mir vorkam, gewollte Ablenkung der Schwerpunkt zum Schaden unserer Sache so vollständig verschoben. Und ebenso hätte man die Entrüstung über unseren Anspruch auf Leitung und ethische Fächer humoristisch nehmen können bei der Selbstverständlichkeit, mit der die Männer
sich das alles zusprachen, und zwar völlig naiv, mit dem Recht des gesegneten Besitzers, viel naiver als die Begleitschrift, die doch diesen Anspruch für die Frau aus der Natur der Sache ableitete und begründete. Heute will mir scheinen, als ob für unsere Gegner jener ersten Kampfzeit geltend gemacht werden könnte, daß man mitten im Kampf eben nicht die ewigen Sterne sieht; »die heiligen Gesetze werden sichtbar« galt doch zunächst nur für uns, die wir ihr Wirken in uns selbst empfanden. Was mir so einfach schien, lag den Männern jener Tage doch wohl ferner, als ich damals annahm. In mir selbst aber fügten sich die Gedankenreihen immer klarer: Auch in der Frau sind
schöpferische geistige Kräfte vorhanden, eine seelische Produktivität, die nicht dem Gehirn, sondern ihrer Mütterlichkeit entspringt, einer Mütterlichkeit, die, wenn auch aus der Geschlechtsbestimmtheit geboren und sie zugleich adelnd, unabhängig von physischer Liebe und Mutterschaft jede
echte Frau durchdringt. Wo sie fehlt, da kann die Frau auch im Kreise von Mann und Kindern dem Hause keine
Seele geben. In der echten Frau aber, ob sie innerhalb oder außerhalb des Familienkreises wirkt, ist etwas lebendig von dem göttlichen:
Kommet her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen. Diese seelische Produktivität der Frau aber ist der Welt genau so nötig wie die rein geistige des Mannes. Und darum ist die Lösung dieser seelischen Produktivität das eigentliche Erziehungsziel für die Frau.
Das heißt: sie soll um ihrer selbst willen gebildet werden, das erfordert für die Erziehung von Mädchen eine ihres eigenen Geschlechts. Sind aber einmal diese spezifischen weiblichen Kräfte in der Frau geweckt, zum Blühen gebracht, so kann sie nie »einsam verblühen«, sie muß sie auswirken, ob zugunsten der eigenen Familie oder eines frei gewählten Kreises. Es ist eine Sünde wider die Entwicklungsgesetze, ein Geschlecht mit solchen Kräften, das der Welt etwas Eigenes zu geben hat und es erziehend immer weiter wecken soll, lediglich zu geistiger Abhängigkeit vom Manne zu bilden; die lebendigen Ströme, die befruchtend wirken müssen, durch die seichten Niederungen der üblichen, um des Mannes willen gegebenen Mädchenbildung zu leiten und dem Versanden auszusetzen. Die Frau kann und soll aus der Welt des Mannes eine Welt schaffen, die das Gepräge
beider Geschlechter aufweist; sie muß in die Welt ihre eigenen Werte tragen und dadurch in einer Arbeit von Jahrhunderten eine neue soziale und sittliche Gesamtanschauung schaffen helfen, in der
ihre Maßstäbe dieselbe Geltung haben wie die des Mannes. Das alles kann sie nur auf Grund einer selbständigen geistigen Bildung, unter Leitung ihres eigenen Geschlechts.
Vielleicht war es in der Tat zu früh, von den Männern das Eindringen in diesen Gedankengang zu verlangen, der eben nur erst ein Gedankengang oder besser etwas intuitiv Erschautes war, dem im Leben noch kaum etwas entsprach. Zwar dem logischen Denker mußte die Möglichkeit nicht fern liegen, in die große Gesellschaftsordnung noch einmal alle die Kräfte eingeführt zu denken, die den geistig-sittlichen Untergrund der Familie gebildet haben: die feine menschliche Rücksicht auf andere, die liebevolle Wertung des Einzellebens überhaupt, die geistigere Auffassung des sexuellen Lebens und die Hochschätzung persönlicher Kultur.
Und dem intuitiven Verständnis des Dichters hatte sich das alles ja auch erschlossen. Ich konnte mich, wenn ich gewollt hätte, auch meinerseits darauf berufen. Der »schönen Seele« steht Goethe mit vollem Verständnis ihres zwingenden Bedürfnisses gegenüber, sie selbst zu sein, den Ansprüchen ihrer inneren, sittlichen Natur alles zu opfern, selbst ihr Lebensglück und das des geliebten Mannes: »Wollte er meine Überzeugung nicht stören, so war ich die Seine; ohne diese Bedingung hätte ich ein Königreich mit ihm ausgeschlagen«. So stellte sie für die Frau den Anspruch auf selbständige Gestaltung ihres inneren Lebens auf. Und seine Iphigenie – auch eine im Sinne Schneiders »einsam Verblühende« – ist ihm Trägerin der reinsten Frauenkraft, der erlösenden Mütterlichkeit, die den Schuldbeladenen aufrichtet und den Barbaren zwingt.
Aber vor diesem Zukunftsbilde, das in einzelnen schon lebendig war, versagte auch noch die Phantasie vieler Frauen. Aus diesem Versagen, aus dem Nichterfassen des Grundprinzips unserer Forderungen erklärten sich die Kompromißversuche aus dem eigenen Lager, die viel tiefer trafen als die offene Gegnerschaft der Männer, die doch schließlich die »Wahrung berechtigter Interessen« für sich hatte. Dahin gehört die Schrift von Anna Vorwerk: »Zur Oberlehrerinnenfrage, ein Wort des Friedens«. Viel klüger, vorsichtiger und unbestimmter in den Forderungen als die Begleitschrift, eine lebendige Illustration der darin vertretenen Auffassung, daß es den Frauen »nicht schön und wohl anstehe, mit einschneidenden Forderungen zu kommen«, daß aber die Bitte, der anmutige Zweig in Frauenhand, auf Erfüllung hoffen dürfe – eine etwas seltsame Auffassung von den Verkehrsformen im öffentlichen Leben –, gibt die Schrift eben doch das Prinzip in zwiefacher Weise preis: sie verzichtet für die Frau auf die Leitung großer öffentlicher Schulen und sie will die Vorbereitungszeit von drei Jahren auf zwei herabgesetzt sehen. Es ist keine Frage, daß die nach diesem Prinzip später in Göttingen eingerichteten Lehrerinnenkurse, soviel Gutes sie den einzelnen gebracht haben mögen, ein verzögerndes Moment in der Lehrerinnenbildungsfrage dargestellt haben, zumal sie andere Vorbereitungskurse zur Nachfolge zwangen.