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Im Souterrain eines der morschen Häuser in der »Schulgasse« einer russischen Stadt, in einem kleinen, feuchten und lichtlosen Raum, wohnte Löbl, der Apfelhändler. Er war ein kleines Männchen und sah, trotzdem er erst fünfundvierzig Jahre zählte, mit seinem dichten, etwas ergrauten Bart und seinen welken Zügen schon greisenhaft aus. Er hatte von frühester Jugend an Not und schwerste, endlose Arbeit gekannt, konnte nie trotz seiner Anstrengungen auf einen grünen Zweig kommen und wurde nach kurzen, kümmerlichen Glücksjahren seiner Ehe Witwer. Solange seine Frau lebte, bildete sie seinen einzigen Stolz. Sie besaß einige Schönheit, und Löbl schaute mit Glück auf sie, da sie so stattlich aussah wie die Frauen der Wohlhabenderen und Gesegneteren. Auch half sie wacker mit im Arbeiten und Verdienen, wußte draußen auf dem Markte die Kundschaft durch feinere Art an sich heranzulocken, und solange sie lebte, ging alles leidlich zu. Es bildete lange beider Schmerz und Traurigkeit, daß sich Kindersegen nicht einstellen wollte, weil ihnen das unerträglich war und sie sich vor den Leuten, die sie mit ihren Fragen bedrängten, schämten, hatten sie unter Tränen nahezu sich entschlossen, ihre Ehe aufzulösen und voneinander zu gehen. Doch gerade um diese Zeit stellte sich der Segen ein. Die Frau gebar einen Knaben, aber nach wenigen Tagen innigster Glückseligkeit starb sie an den Folgen der Geburt.
Von da ab ging es abwärts mit Löbl. Nicht nur, daß er seinen klaglosen, stillen Kummer nicht überwinden konnte, auch sein sonstiges Elend nahm zu. Er konnte nicht mehr »die Stell« mitten auf dem Marktplatz behalten, die bessere Kundschaft wandte sich ab, da die Frau mit ihren schmeichelnden Worten nicht mehr lockte, und Löbl wurde ein fliegender Händler mit zweifelhaften und schwer genießbaren Waren, mußte sich vom grauenden Morgen bis in späte Abendstunden bei Frost und Wetter noch mehr abrackern, und schlimmes, bitteres Leid fügte ihm das verlassene Kindlein zu, dessen sich nur die Nachbarn zuweilen annahmen und das ihm gar keine Freude bringen konnte. Oft saß er in später Nacht an der Wiege, mit geneigtem Haupt und geschlossenen Augen darüber nachsinnend, wie wenig Segen und Glück darin lag, was er so heiß ersteht. Mußte er bei grauendem Morgen an Wintertagen mit seinen Waren wieder hinaus und das Kind verlassen, da geschah es, daß sich der sonst resignierte Mann in Klagen erging und die Tote beneidete. War Löbl wieder unter den Leuten, da mußte all das vergessen werden, und aus einem versteckten Winkel seiner Seele holte er ein kleines Restchen von Humor hervor, das der arme Jude benötigte, um mit Welt und Menschen noch auszukommen. So lockte er mit Witzworten und humoristischen Zurufen die Leute, zumeist junges, dankbares Schulvolk, an sich heran und fand in dieser Weise kärglichen Verdienst.
Gott hilft über alles hinweg. So war denn das Kind immer größer geworden, behielt nach einigen Krankheiten, die es überstand, eine dürftige Gesundheit und konnte in die Talmud-Thora, in eine armselige, religiöse Schule, gesteckt werden, die sich von Spenden reicher Juden und der Unterstützung der jüdischen Gemeinde erhielt. Löbl sah, daß der Knabe etwas von der Schönheit der Mutter hatte. Ja, vielleicht, daß seine Augen noch schöner waren, große, schwarze, traurige Augen. Seit dieser Zeit klagte Löbl nicht und dankte Gott noch mehr, daß er seine Frau all das viele Leid nicht erleben ließ.
Von einem tieferen Glück war das Kind erfüllt. Hatte es an Frühlings- oder Sommertagen einige freie Zeit, so tummelte es sich auf jenem umfriedeten Platz, den sie den »Friedhof« nannten. Er war da am liebsten allein, und wie viel Glück schuf ihm diese Einsamkeit! Da gab es Sträucher, lärmende Spatzen und bunte Schmetterlinge, da und dort einen Hügel oder ein kleines Regenbächlein. Die bildeten seine Märchenreiche. Hie und da drang mit sausendem und musizierendem Wind Gesang aus der Synagoge zu ihm, und der Knabe musizierte mit, still und scheu und doch ein wenig wie von feierlichem Glück erfüllt. Kehrte aber das Kind nach Hause in den düsteren, schmucklosen Keller zurück, so war jener Zauber und alles Glück gewichen. Früh kam ihm die Ahnung, wie hart und freudlos das Leben ist. Sein Vater hatte einen Freund, den er nach den Gebetstunden in der kleinen Synagoge stets mit sich nach Hause brachte. Ein gewisser Gram und Zorn gegen das Leben hatte zwei Menschen zusammenzubringen vermocht, die sonst nichts miteinander teilen konnten. Löbls Freund hieß Ruben. Er verfügte über ein kleines ärmliches Amt als Aushilfsvorbeter. Es war nichts von Gemüt und Freundlichkeit im Wesen dieses Mannes. Ihm war der karge Humor fremd, mit dem sich ein armer Jude über Not und Tücken des Lebens zu helfen weiß. Seine Stirn war hart geformt und in seinen Augen war nie ein sonniger Schein. Der alternde Mann, der nichts von Glück wußte und der gegen alle Schönheit blind war, setzte sein ganzes Wünschen darein, als Sänger seine Gemeinde in Ergriffenheit und Begeisterung zu bringen. Stand er vor der Gotteslade, so sammelte er all das, was in seiner Seele an Gottesfurcht, Ergebenheit und stillem Kummer aufgespart war, und da er selbst in diesen Momenten, trotz der Sprödigkeit seines Wesens, sich ergriffen fühlte, glaubte er, daß etwas von all dem auch in seinen Gesang fließe. Aber seine Stimme klang rauh und nahezu heiser, und er quälte sie immerzu durch vergebliche Anstrengungen, zwang sie zu einem Weinen, das nicht kam, zu einer Fröhlichkeit, die grotesk und komisch wirkte. Er hörte oft, wie hinter seinem Rücken gelacht wurde und mußte dann boshaften Spott entgegennehmen, ohne sich recht wehren zu können. An den Feiertagen nach den Gebetstunden fanden sich die Freunde zusammen. Voll Trotz und verfinstert saß Ruben in der dunkeln, unfreundlichen Stube da und klagte nicht. Niemals beachtete er den Knaben, der Angst vor dem schweigsamen, häßlichen und unfreundlichen Mann empfand.
Eines Tages geschah es, daß einer der berühmten Vorbeter aus der Fremde ins Städtchen kam und sich an einem Sabbattag in der Synagoge hören ließ. Das war allemal eine große künstlerische Begebenheit in der Judengemeinde. Ein Seelenlöser ist so ein Sänger, ein Glück- und Gnadenbringer.
Es war knapp vor Ostern und eine warme, milde Sonne schien durch die hohen, verstaubten Fenster der alten Synagoge mit ihren schon geschwärzten Wänden und ihrem verblichenen Schmuck. Knapp vor der Gotteslade stand ein kleines, schon ergrautes Männchen von einem kleinen Chor umgeben und sang. Es war Jerichem, der berühmte Vorbeter aus Odessa. Das Lied, das er anstimmte, schwang sich empor, feierlich und ergreifend, und verlor sich dann in den dumpfen Klängen des Chors, tauchte wieder empor und siegte über all die begleitenden Männerstimmen.
In eine Ecke gedrückt, lauschten Ruben und Löbl. Ruben fühlte sich von einem Mächtigen niedergeschlagen, überwunden, des letzten Glaubens beraubt. Noch nie hatte er diese Demut gefühlt, diese Scham über sich selbst, über seine Ohnmacht und Dürftigkeit. Er glaubte nicht länger leben zu können, da ihm eine bittere Erkenntnis durch einen Gottbegnadeten geworden. Ganz unbemerkt hatte er sich fortgeschlichen. In der Kellerstube Löbls war er auf eine Bank gesunken und stöhnte. Aber in der stillen Stube erhob sich zuerst scheu, leise und stockend, dann immer heller eine zarte Kinderstimme. Es war der Knabe, der sang. Das Lied klang rührend und ohne Kummer, und Ruben weinte und weinte, aber er fühlte, daß er glücklich wurde, weil, wie es ihm schien, ein Kind mit ihm Erbarmen empfand. Er sank hin vor dem Knaben und umfaßte ihn mit einer Zärtlichkeit, deren er bis dahin nie fähig gewesen.
»Singe, singe!« schluchzte er flehend.
Und so geschah es, daß der liebeleere und verbitterte Ruben etwas in der Welt gefunden hatte, das er mit aller Zärtlichkeit seines kargen Empfindens liebte: den zarten Knaben Löbls. Von ihm erhoffte er, daß er seine Seele erlösen werde. In die Einsamkeit des kleinen, alten und verlassenen Friedhofs führte er das Kind, und unbelauscht formte er hier dessen Stimme. Jubelte die Stimme des Kindes, so zitterte Vogelsang mit und die Schwalben erhoben sich und strebten durch die Lüfte der Sonne zu.
Jetzt ging Ruben mit strahlendem Gesicht und wie mit einem heimlichen Glück herum. Er wartete und sah einem großen Tag entgegen. Inzwischen neigte sich und versank still der Sommer mit der dürftigen Schönheit, die er für die Judengasse übrig hatte.
Der lag des Neujahrs war voll von strahlender Sonne und Köstlichkeit. Vor dem Almemor stand Ruben, von den wenigen Chorsängern umgeben, die er für sich werben konnte. Seine Stimme klang still und sanfter als sonst, als er die ersten Gebete hersagte. In Sterbekitteln, die Gebettücher tief über die harten oder gerunzelten Stirnen gezogen, die Arme bald stehend emporgestreckt, bald die Fäuste zu Schlägen gegen die eigene Brust geballt, standen die Beter. Es war das Schemonah-essra-Gebet, das sie still hersagten. Dasselbe Gebet griff dann der Vorbeter auf und kam zu dem strahlenden Lobgesang der Keduschah. Da erhob sich zuerst still und zart eine Knabenstimme. Die Greise neigten sich vor und lauschten, und es neigte sich manch zartes, trauriges Frauengesicht aus der Weiberschule durchs Fensterlein vor und folgte den Tönen, die süß und wie in einem innigen Erbarmen klangen. Wie Sonne kam es in die düstere Halle voll schwebender Kerzen und Seufzer.
Ganz hinten, in einer Armenecke, in abgetragenem Feiertagsgewand und geflicktem Gebetmantel, stand Löbl. Und während die Stimme seines Kindes immer strahlender und voll wunderbarster Innigkeit emporwuchs, flüsterte er mit einem glückselig-wehen Lächeln: »Chane, Chane, warum konntest du das nicht erleben!«