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Mein Freund Hamlet war natürlich kein Königssohn, sondern ein armer, mißgestalteter Jude. Er war ein kleiner Schreiber im Geschäft meines Großvaters, scheu, schüchtern, zumeist verschlossen und unsagbar schamhaft. Er war ein Genie, eines von den verlorenen, und hatte die Güte und Seele eines Kindes. Darum liebte ich ihn. Ihre Liebe wenden Kinder den Unscheinbarsten, den häßlichen Ausgeschalteten so gerne zu, und mir, der ich acht Jahre zählte, als er erschien, ist er gleich bei seinem Erscheinen ein geliebter Freund geworden. An den Tag, an dem er zu uns kam, erinnere ich mich nicht, denn die Welt war mir noch voll von Dämmerungen und Märchen. Menschen kamen und Menschen entschwanden mit einem Lächeln oder einer Träne und noch verschlossen war mir die Welt der Ursachen. Aus einem Kindertraum weckte mich mein neuer Freund, der erste, den ich hatte. Er lehrte mich, die Welt lieben, Menschen, tote Dinge, die Natur, alle Jahreszeiten, das Alltägliche und Wunderbare. Er war ein Poet, der nie etwas aufschrieb, ein Künstler ohne Kunstwerk.
Ich hatte früh meinen Vater verloren, in unserem Heim herrschte Stille und Trauer, und wir Kinder glichen ganz von irgendeinem Sturme verschüchterten Vögeln. Da ich an meinem Freunde so sehr hing, wurde er ins Haus genommen, und in einem Kämmerlein, hoch oben unter dem Dache, richtete er sich ein. Es war dies ein kleines Paradies voller Köstlichkeiten für mich. Durch ein kleines Fenster hatte man einen Ausblick über die niedrigen Dächer des Städtchens, bis zum Wald und den grünen Hügeln. Es fehlte in dem kleinen Heim meines Freundes nicht an Topfgewächsen, in einem Versteck gurrten Tauben, in einem Vogelbauer zwitscherte ein Kanarienvogel. Hier weilte ich in heimlichen Abendstunden, jubelnd kam ich und wurde still und andachtsvoll wie im Gotteshause, wenn er mir Märchen und Geschichtchen erzählte. Eine neue Welt wurde mir lebendig. Der Wald begann zu singen, die Ähren im Felde neigten sich dem Herrn, der segnen kann, greise Könige gingen mit Goldkronen umher und Heilige saßen auf den Thronen des Paradieses. Mein Freund erklärte mir manches Naturgeheimnis, wenn er mit mir durch die Einsamkeit ging, brachte mir den Himmel näher, die Sterne, das ganze geheime Leben auf Feldern und wiesen. Er, der so arm an Glück war, kannte nichts, was ihn selbst so froh stimmte, als das kleine Glück eines Kindes. Aus Kartons und Karten konnte er Burgen, Schlösser, wunderbare Uhrgehäuse herstellen, und schnitt aus Papier mit der Schere die Gesichter der Menschen heraus, die ich kannte und die mich zum Lachen reizten. Ich konnte nickt einschlafen, wenn er an meinem Bette nicht saß und erzählte. Kam mit Sturm und Schnee der Winter, dann trug er mich früh auf seinem armen gekrümmten Rücken in die Schule. Er gab dem einfachsten Worte einen tieferen Sinn, legte in die kleinen Geschichten der Fibel eine ganze Welt. Ich war sehr glücklich.
Warum nannte ich ihn, ohne daß ich es laut aussprach, Hamlet? Wie kam diese melancholische, grüblerische Gestalt in die Welt und in die Phantasie eines Kindes?
Mein Freund war sehr still und befangen, wenn er sich unter Menschen befand. Er hatte Angst, Ehrfurcht oder Abscheu vor ihnen. Sein Mund blieb verschlossen und seine großen, dunklen Augen waren voll von Melancholie und Traum. Er verrichtete seine Arbeiten schweigsam, geriet in Verlegenheit, wenn man ihn ansprach, fürchtete seines Gebrechens wegen, dessen er sich schämte, den Spott und saß in unseren Stuben in irgendeiner Ecke halb versteckt und grübelte. Er fuhr auf, wenn sein eigener Schritt laut wurde, und erschrak über seine eigenen Worte. Er war ein Waisenkind und verlebte seine Knabenjahre in einem Dorfe. Er hatte eine traurige Jugend unter bitterster Entbehrung und Lieblosigkeit von seiten seiner Mutter verlebt und trug, obgleich er selbst noch jung war, einen tiefen Kummer mit sich herum. Er lächelte nur, wenn er allein oder mit mir war. Es war vielleicht ein frühes und tiefes Erlebnis, das ihn erschüttert hatte. Er sprach nie darüber. Er arbeitete rastlos und mit Liebe. Den größten Teil des Tages im Hause meines Großvaters, das voll war von Wunderbarkeiten, alten Dingen, bunten Waren, oder in den weiten Höfen und dunklen Magazinen. Bei uns wandelte er den verwilderten kleinen Garten in einen Park um, pflanzte Fruchtbäume, Rosenstöcke und errichtete eine Laube und allerlei heimliche Ruheplätze. Unsere Zimmer schmückte er mit den unscheinbarsten Dingen, in die eine Ecke brachte er Licht, in die andere Schatten, und alles leuchtete dann und schimmerte. Überall versuchte er die Trauer zu verscheuchen, die Trauer eines verwaisten Hauses. Meine Mutter lächelte zuweilen, zaghaft und ungläubig und wir Kinder auch.
Es blühte, zuerst unbemerkt, Schönheit in unserer Mitte empor. Es war dies mit ihren siebzehn Jahren unsere älteste Schwester. Sie war groß und zierlich und hatte in ihrem gebräunten Gesicht große, dunkle, lachende Augen und eine Krone üppigen Haares auf dem jungen, stolzen Haupte, wir beteten sie an, wie man die Schönheit anbetet. Ging sie, früh bewußt und stolz, durch die engen, holprigen Gäßchen des Städtchens, so folgten ihr bewundernde Blicke derjenigen, die hinter ihr schritten. Kam sie, von Jugend und Duft umgeben, ins Zimmer, da bemerkte ich, wie eine zarte Röte sich über das bleiche Gesicht meines armen Freundes breitete, und sah, wie er geneigten Hauptes dastand und krampfhaft die Lehne eines Stuhles faßte. Sie hatte eine Abneigung gegen ihn, wie das Gesunde, Schöne vom Kranken und Verkümmerten sich abgestoßen fühlt, sprach ihn nie an, dankte ihm nie für seine zarten Dienste. Aber jetzt weiß ich es, daß er sie liebte mit der wunden, starken Liebe der Hilflosen, Demütigen und Armen, und weiß, warum ihm unser Haus so heilig war, heiliger als alles, was es in der Welt noch für ihn geben mochte.
Hamlet.... Es war an einem Freitagabend im Winter, da diese wundersame, von Zauber umflossene Gestalt eines Poeten in unserem Kreis, in unserer stillen Welt und in unseren jungen Hirnen auftauchte. Wir saßen nach dem festlichen Mahle rings um den Tisch, auf dem die Kerzen brannten. Es war ein stiller Winterabend, mit Schnee auf allen Dächern und in allen Gassen. Meine älteste Schwester las uns das herrlichste Gedicht vor, erklärte es, und wir saßen da und wagten kaum zu atmen. Ganz leise, kaum, daß man ihn bemerkte, war mein Freund eingetreten und setzte sich in seinen verborgenen Winkel. Und wir lauschten und lauschten. Hamlet kam, seinen toten, beschworenen Vater zu sehen, seine furchtbaren Anklagen zu vernehmen. Ganz deutlich sahen wir das Geschehnis, den grauenden Morgen, die gespensterhafte, greise Königsgestalt, hörten Hamlets flehende, zürnende Stimme. Es war ganz still, wir Kinder lehnten uns mit geröteten Wangen aneinander und nur die vibrierende Stimme des hastig lesenden jungen Mädchens war vernehmbar, plötzlich hörten wir ein tiefes Stöhnen, einen jäh hervorgepreßten Wehruf. Da stand mein Freund mitten im Zimmer mit gesenktem Haupte, geschlossenen Augen und bleichem Gesicht, mit dem Gesicht eines tief Erschütterten, qualvoll Leidenden. Da war es mir, dem Kinde, gewiß: Der da stand, das war Hamlet, der Irrgewordene, Unglückliche, Einsame und Verwaiste, der ein peinvolles Geheimnis mit sich trug und nach Rache schrie. Wir starrten ihn an, merkten plötzlich diese weiße, silberne Winternacht, die uns märchenhaft erschien, wie alles, was wir vernommen. Ganz leise, mit bebendem Schritt hatte sich inzwischen mein Freund entfernt und schloß sich in sein Kämmerlein ein. Erst später erfuhr ich, daß er vaterlos aufwuchs, daß ein fremder Mann, der in sein elterliches Haus kam, ihn von dort vertrieben. Ja, er war Hamlet, und immer wieder schob meine Phantasie diese arme Gestalt in die Dichtung, so oft ich an sie dachte oder sie las ...
Kurze Zeit darauf erkrankte mein Freund. Man erfuhr es erst, als er tagelang nicht zum Vorschein kam. Es kam keine Antwort, so oft ich an seine Tür pochte. Was war mit ihm geschehen? Das Kindesherz füllte sich mit tiefem Kummer, Endlich durfte ich an der Hand meiner Mutter und mit meinen Geschwistern in seine Kammer eintreten. Wir sprachen ganz leise zu ihm, er aber lag mit geschlossenen Augen und mit fahlem Gesicht da und glich ganz einem Toten. Ich sehe noch alles deutlich vor mir, das Sonnenlicht, das goldig in das kleine Zimmer drang, höre das verschüchterte Gurren einer Taube. War er tot? In mir begann es zu schluchzen. Da bemerkte ich, wie eine Träne langsam über sein Gesicht rann und wie ein glückvolles Lächeln jäh über seine trockenen Lippen huschte. Flüchtig blickte er uns an, wie von einer fernen Welt her, und schien den Duft einer unsagbaren Schönheit einzuatmen, ein flüchtiges Glück auszukosten. Dann wandte er sich ab.
Einen Tag darauf war er verschwunden, um nie wiederzukommen. In aller Frühe hatte er sich aufgemacht und war krank und mit seinem Kummer von uns gegangen, in tiefer Scham darüber, daß wir ihn leidend und in seinem geheimen Gram gesehen.
Denke ich an vergangene, tief in meiner Kinderzeit liegende Tage zurück, so erhebt sich aus vielen verblaßten Gestalten diese eine am deutlichsten, und ein armer, mißgestalteter Jude mit scheuem Lächeln erscheint mir umstrahlt und fast königlich mit all seinen Wundergaben wie jener dänische Prinz der Dichtung.