Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Hereinspaziert, meine Herrschaften! Wir haben jetzt richtiggehende Affen an Bord!« Und sie sind sehr schnell die ausgesprochenen Lieblinge sämtlicher an Bord befindlichen Nationen geworden. Das besagt viel, wo allein auf dem Zwischendeck mehr als elf verschiedene schwarze, braune, gelbe und weiße Rassen hausen. Wir haben nämlich in Colombo den Zirkus Harmstrong an Bord bekommen. Etwa siebzig Personen und ebensoviel Tiere (Löwen, Tiger, Leoparden, Bären, Affen und erstaunlich viele und gute Pferde).

Die Einschiffung vollzog sich reibungslos. Die Zwischendecker wurden höflichst gebeten, etwas zusammenzurücken, um den Raubtieren Platz zu machen – etwa wie bei uns die Fahrgäste in der überfüllten Straßenbahn. – Das durch die vielen dunklen Rassen an sich bunte Bild bekam dadurch eine neue Nuance. Dies Bild in seiner bewegten Buntheit festhalten – und man braucht fünfhundert Seiten, über »Die Völker des Ostens« nicht zu schreiben.

Hier kitzelt ein splitternackter Malaienjunge, der an Hand- und Fußgelenken goldene Spangen und um den Hals eine goldene Kette mit Raubtierzähnen trägt, mit einem Bambusrohr den Rüssel eines der großen Elefanten; daneben frisiert eine siebzehnjährige graziöse Javanerin mit liebevoller Hingabe ihre vier Kinder; da spucken zwei halbwüchsige Tamilen um die Wette in den Tigerkäfig; ein paar Schritte davon liegen ein paar baumlange Araber in andächtigem Gebet; seitwärts davon belustigt sich eine schokoladefarbige Familie, deren Nationalität ich nicht kenne, damit, zwei kleine Affen des Zirkus mit Rum betrunken zu machen. Hier stillt eine Hindumutter ihren Säugling; dort auf dem Bretterverschlag mühen sich halbwüchsige Singhalesen vergeblich ab, die krausen Haare zu einem Scheitel zu glätten; dort zählt ein alter Siamese seine Silbermünzen, während neben ihm zwei Chinesen ihre Wäsche zum Trocknen seilen. Die Schauspiele im Zwischendeck genießen die Erste-Klasse-Passagiere wie ein Ausstattungsstück ohne innere Teilnahme. Andernfalls und mich interessieren die Schicksale jedes dieser Menschen. Mit Hilfe des China-Deutschen knüpfen wir Beziehungen an. Es zeigt sich bald, daß diese Menschen eigentlich gar keine Schicksale haben. Weder denken sie nach, noch teilt sich ihnen äußeres Geschehen gefühlsmäßig mit. Wenn die schokoladefarbene Familie, die seit vierzig Jahren in Badulla auf Ceylon lebte, nach Singapore fährt, um die einträgliche Plantage eines verstorbenen Verwandten zu übernehmen, so vollzieht sich dieser Wechsel mechanisch. Das aber nenne ich nicht Schicksal und berufe mich auf Dehmel, der irgendwo einmal sagt:

»Nehmen wir Geschehen für Leben,
Haben wir's nicht recht verstanden;
Menschenleben ist das Leben
So nur, wie wir es empfanden.«

Alle diese Menschen haben ein primitives Gefühlsleben, nehmen Geschehen, wie wir etwa das Wetter nehmen, sind gedankenarm, steril – mögen sie nun Tamilen, Malaien oder sonstwie heißen.

Andernfalls bereitet mit dem jugendlichen Mr. Harmstrong eine Zirkusvorstellung an Bord vor. Ich muß ihnen helfen, das Programm entwerfen. Der Direktor, ein Zirkuskind, dauernd auf der Reise um die halbe Welt – Europa liebt er nicht –, stellt seinen gesamten, auf dem Schiff verwendbaren Apparat zur Verfügung, mit allem toten und lebenden Inventar, wenn Andernfalls – Hohe Schule reitet.

Er hat es sich in den Kopf gesetzt, und was ein Zirkusdirektor will, setzt er durch. Fragt sich nur, ob auch bei Andernfalls. – Ich muß gestehen, er operiert geschickt. Er wirbt um die Stimmen der Passagiere. Andernfalls ist nun dank ihrer Eigenart, ihres guten Geschmacks und ihres Temperaments nicht wie die meisten andern einfach »der Passagier aus Kabine Nr. 13«, vielmehr eine ganz bestimmte Persönlichkeit, ja, man kann ruhig sagen: eine Angelegenheit, um die sich jeder kümmert. Sie hat Freunde und Feinde. Gleichgültig ist sie niemandem. Wer es nicht gut mit ihr meint – das sind unter der Führung des amerikanischen Missionars die meisten Amerikaner und ein paar Franzosen –, rät ihr leidenschaftlich zu, den Wunsch des Direktors zu erfüllen. Einmal, weil sie dann, mit dem etwas bitteren Beigeschmack einer Artistin behaftet, gesellschaftlich endlich abrutscht. Darauf warten die schon lange. Aber Andernfalls tat ihnen bisher nicht den Gefallen. Dann aber – ich bin boshaft genug, es zu glauben – ist mit der Hohen Schule an Bord doch immerhin eine Gefahr verbunden. Und mir scheint, sie hätten nichts dagegen, wenn der Abrutsch recht gründlich, wenn möglich gleich bis in das viertausend Meter tiefe Meer hinab erfolgte. – Das Gros der Passagiere, das ihr wohlwill, wünscht ihre Teilnahme lediglich aus einer heiteren Stimmung heraus. Der eine und andere freilich freut sich auf den Anblick, gönnt ihr den Triumph und den anderen den Aerger darüber.

Andernfalls – ich wiederhole: dumme, deutsche Regierung! schickt Frauen wie diese in die Welt! Es gibt keine bessere Propaganda! auch in gehobener Stellung. Als Botschaftsrätin in Paris, Tokio oder London würde sie Wunder wirken und Berge verrücken, die Kriegs- und Nachkriegsjahre zwischen Deutschland und der übrigen Welt errichtet haben. Andernfalls also ist Realpolitikerin. Was gilt ihr Gunst oder Mißgunst dieser Menschen? Ja, wenn Sinn und Zweck der Reise wäre, Sympathien für Deutschland zu werben! Aber aus Zeitvertreib? Nein! Da ist sie nicht Propagandistin. Ist nur Mensch. Und darf es sein.

Andernfalls also stellt Bedingungen.

»Aha!« denkt der Amerikaner. »Sie will verdienen,« und die schicke Französin, die innerlich mit ihr sympathisiert, flüstert ihrem Manne zu:

»Du wirst sehen, sie verlangt das Pferd als Gegenleistung.«

Aber Andernfalls erklärt:

»Ich will, um die Vorstellung zugunsten des italienischen Roten Kreuzes zu ermöglichen, singen – meinetwegen von einem Pferde oder Elefanten herab –, mit dem bißchen Hohe Schule aber, das Sie mir in den fünf Tagen hier beigebracht haben, blamieren Sie sich, nicht mich.«

Dann zieht sie einen großen Zettel aus der Tasche und verlangt als Gegenleistung:

a) Der hellgraue Elefant ist um mindestens einen Meter nach links zu rücken, da er mit seinem Rüssel ununterbrochen über die Matratze fegt, auf der die junge Malaienmutter mit ihren Kindern liegt. Die Kinder schweben dauernd in Angst und die junge Malaiin ist Tag und Nacht damit beschäftigt, mit einem Klotz den Rüssel des Elefanten zurückzuschlagen.

b) Den Tamilenjungens ist unter Androhung von Prügeln zu verbieten, die Tiger anzuspucken.

c) Die Affen dürfen nicht mehr betrunken gemacht werden.

d) Die Käfige der wilden Tiere sind der Windrichtung folgend, so umzustellen, daß der Geruch nicht gerade in die Küche schlägt.

e) Die Passagiere der ersten Klasse haben bis Singapore beim Lunch und Diner auf je einen Gang zugunsten der Zwischendecker zu verzichten.

f) Die Passagiere der ersten Klasse verpflichten sich, das Zwischendeck nicht mehr als Schaubelustigung zu betrachten. Das gilt vornehmlich für die Zeit der Verdauungsstunde in großen Abendtoiletten nach dem Diner.

»Sie schätzen sich aber hoch ein,« sagt eine Amerikanerin.

»Ich finde,« pariert die Pariserin, »daß in dem, was sie fordert, viel eher eine Kritik für uns liegt.«

Sicher ist, daß Andernfalls von diesem Tage an bei den Passagieren erster Klasse nicht beliebter war. Zwar fanden ihre Bedingungen einmütige Annahme. Aber die Heiterkeit, mit der man den Forderungen a–d zustimmte, wich trotz des Ja, das man sich abrang, doch sichtbarer Verstimmung.

Die Stimmung bei der Vorstellung selbst war um so angeregter. Sie fand erst Tage nach dieser Auseinandersetzung statt. Andernfalls hatte – wovon nur ich und der Direktor wußten – die Zeit genützt. Sie hielt ihr Wort. Am Abend, als das Hinterdeck in eine Zirkusarena und ein Teil des Promenadendecks durch Bänke, auf denen Kissen lagen, zum Zuschauerraum umgewandelt war, stand als vorletzte Nummer auf dem Programm:

»Andernfalls ... Hohe Schule.«

Niemandem fiel auf, daß im Gegensatz zu den anderen Nummern das Pferd nicht genannt war. Der Grund zeigte sich bald, indem dies Pferd natürlich – ein Elefant war. Es war eine groteske Nummer. Die Hohe Schule des Elefanten. Andernfalls selbst hatte sich aus den Fahnentüchern des Schiffes ein groteskes Kostüm gezimmert und sah wie ein weiblicher Bajazzo aus. Die groteske Wirkung – dies zierlich puppenhafte Persönchen auf dem breiten Rücken des Riesenelefanten war überwältigend. Die Art, in der sie jede Bewegung, die das gut dressierte Tier machte, glossierte – als einziges Hilfsmittel ein aus Pappe hergestellter Rüssel –, war einzig. Ihr Erfolg war so groß, daß der Direktor noch am selben Abend den Versuch machte, sie zum Herbst für San Francisco, Chicago und New York zu engagieren.

Wirklich, dieser Beifall war ehrlich. Auch von der Seite, die sonst zurückhielt. Vor allem die Engländer und ihre Damen, die aus den Kabinen ihre sorgsam behüteten Orchideen holten und sie ihr mit artigsten Worten überreichten, schlossen sich nach diesem Abend freundschaftlich an sie an. Nur eine kleine Gruppe von Amerikanern blieb kalt. Ja, eine Amerikanerin konnte sich nicht beherrschen und sagte mit verkniffenem Munde so laut zu Andernfalls, daß jeder es hören mußte:

»Die geborene Artistin!«

»Schon möglich,« erwiderte Andernfalls noch lauter: »Der Urgroßvater meiner Mutter war zur Zeit Friedrich Wilhelms III. der beste Reiteroffizier im Regiment.« – Und nach einer Pause, während der sie die Verdutztheit der Amerikanerin genießt, fährt sie fort:

»Was war denn Ihrer? – Aus einem guten Stall zu stammen, ist viel wert.« – Und lächelnd fügt sie hinzu: »Man muß ihn aber auch kehren.«

Ich nehme sie unter den Arm und führe sie fort.

»Es war gut,« sage ich. »Aber es ist genug.«

»Ich hätte es auch mit einem Wort machen können.«

»Nämlich?«

»Parvenü.«

Auf dem Schiff herrscht buntes Leben. Es gibt Tage, an denen einem gar nicht zum Bewußtsein kommt, daß man sich auf dem Meer befindet. Man glaubt sich noch in der Nähe des Bengalischen Meerbusens und sucht nach den Nikobaren und Andamanen, auf denen die Engländer eine Kolonie für Verbrecher errichtet haben, muß sich aber sagen lassen, daß das, was man sieht, das Nordende von Sumatra ist.

Zu fragen, wem gehört dies oder jenes, hat man sich längst abgewöhnt. Es ist auch durchaus überflüssig. Ein Blick in den Baedeker, das noch immer zuverlässigste Reisebuch nicht nur in deutscher Sprache, genügt, um sich zu überzeugen, daß alles, was man sieht und nicht sieht, von dem man aber weiß, daß es in der Nähe liegt, England gehört, zum mindesten aber in irgendeinem festen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm steht. Das gilt für Penang, Malakka und Singapore ebenso wie für die Malaiischen Schutzstaaten. Mögen noch soviel Sultanate sich zu einem Staatenbund zusammenschließen, die Macht hat der britische Generalresident, der dem Gouverneur der Straits untergeordnet ist, in Händen. Und so oder ähnlich ist es überall. Der Weltreisende erkennt sehr bald, daß trotz des überall sich laut hervordrängenden amerikanischen Elements und trotz der Versicherung unzähliger Staaten, autonom zu sein, England die Welt beherrscht. Er merkt aber auch, daß überall, wo England letzten Endes das entscheidende Wort spricht, Ordnung, Wohlstand und Freizügigkeit, also Kultur im guten alten Sinne, herrschen. Er bewundert den Takt, die Zurückhaltung und Klugheit, mit der, äußerlich unsichtbar, England das Regiment führt, und er bedauert, sofern er ein deutscher Patriot ist, daß wir diese uns angetragene Bundesgenossenschaft ablehnten. Sie war gleichbedeutend mit der Herrschaft über die Welt; die Welt aber war groß genug zur völligen Entfaltung der Kräfte zweier Staaten. Nun werden England, Amerika und Japan unter Deutschlands Ausschluß um die Hegemonie ringen. In dem scheinbar friedlichen Ringen um China hat der große Kampf ohne Waffen schon begonnen. Eins steht, unabhängig von dem Ausgang, fest: Europa hat dabei nichts zu gewinnen.

*

»Bitte, keine Politik!« mahnt Andernfalls. Und sie hat recht. Zurück zu fröhlicheren Dingen!

Beatrice, Gräfin S.-M., ist ein Charakter, und es ist dem Grafen nicht gelungen, die diplomatischen Beziehungen zu seiner Gattin wiederherzustellen. So sehr sie unter der Tropenglut in der Kabine leidet – sie bleibt fest und unten. Andernfalls vermittelt. Der Graf soll bereit sein, sich von einem Vierteldutzend Gattinnen scheiden zu lassen. Das genügt aber Beatricen nicht. Sie stößt sich an dem System und sieht voraus, daß die drei Ausscheidenden eines Tages durch sechs Neue ersetzt werden.

Andernfalls, die täglich stundenlang mit dem Grafen verhandelt, zeigt plötzlich Verständnis für dessen prekäre Lage.

»Er wäre eine komische Figur und bei Hofe unmöglich, wenn er ohne Gattin nach Bangkok käme.« – Dasselbe versichert der Graf mir täglich ein halbes dutzendmal.

»Der Graf hat in Colombo Perlen gekauft,« warnt mich der China-Deutsche, der in guten Beziehungen zu dem Sekretär steht.

Da eine Gattin für mich etwas Ganzes darstellt und ich mit einem Zwölftel davon keinen Begriff verbinden kann, so vermag ich auch nicht zu beurteilen, ob für Andernfalls in der Ehe mit dem Grafen eine Chance liegt. Ich halte mich also neutral. Im übrigen besitzt Andernfalls mehr Geschäftssinn als ich, wird also schon das für sie Richtige treffen.

*

Stimmungsbild: Im Hafen von Colombo liegen acht englische, ein halbes Dutzend japanische, je zwei französische und italienische und ein holländischer Dampfer. Wir sind nach dem Diner. Ein deutsches Schiff fährt in den Hafen. Es ist die »Koblenz« des Norddeutschen Lloyd, die ihre erste Fahrt, und zwar nach Japan, macht.

Der Engländer an Bord, ein höherer Beamter für Singapore, ruft: »Nanu – ein deutsches Schiff!«

Ich erlaube mir zu fragen:

»Was finden Sie daran so sonderbar?« – Und die Amerikanerin vermittelt:

»Es kommt gewiß nicht in böser Absicht.«

Der Engländer lächelt, als wollte er sagen: Und wenn es schon in böser Absicht käme.

»Ich kann mich noch erinnern,« meint ein alter Italiener, »es ist noch gar nicht so lange her, da sah man in Colombo genau soviel deutsche wie englische Schiffe.«

Der englische Beamte widerspricht. Der Italiener überhört es.

Die einlaufende »Koblenz« tutet, als habe sie die Absicht, von dem ganzen Hafen Besitz zu ergreifen.

»Warum nur gleich wieder so großschnäuzig,« meint Andernfalls.

Ich sage zu der Amerikanerin:

»Die Engländer fuhren vor dem Kriege mit Vorliebe auf deutschen Schiffen.«

Ein Blick des vorübergehend tauben Engländers will mich vernichten. Der Italiener stützt meine Behauptung und nennt Zahlen.

»Ein tüchtiges Volk,« sagt die Amerikanerin. Und einer der italienischen Offiziere berichtet, daß die Ankunft eines Schiffs des Norddeutschen Lloyd für Colombo ehemals so etwas wie ein half holyday gewesen sei.

Die »Koblenz« wirft eben Anker, da nähert sich der etwa zwölf tausend Tonnen fassende Koloß »Angers« dem Hafen. Er tutet noch lauter als die »Koblenz«.

»Ein Franzose!« belehrt uns der Offizier, noch ehe wir die Flagge erkennen. Der Engländer, der noch immer neben mir steht, kneift die Lippen zusammen, flucht so etwas wie »Gott verdamm mich!« – und stürzt in seine Kabine.

Der Amerikaner lächelt breit und sagt:

»Ein zweites deutsches Schiff hätte er am Ende noch vertragen – aber einen Franzosen ...!«

*

Intermezzo: Im Gang zum Maschinenraum hat ein Maschinist das Bild Gabriele d'Annunzios befestigt. Der erste Maschinist erzählt mir: »Jeder italienische Matrose besitzt sein Bild,« und der Ingenieur versichert: »Er ist ihr Gott!« – Ich weiß nicht, ob ich schon sagte: Ich fahre auf einem italienischen Schiff. Wir sind bald zwei Monate unterwegs nach Japan. Wenn man es bei 35 Grad des Nachts in der Kabine nicht aushält, geht man an Bord. Da erschließt man sich seinem Gott – aber auch von Mensch zu Mensch wird man mitteilsamer. – Ich ahnte nicht, daß d'Annunzio heute noch diese Rolle in Italien spielt. Ein Kaufmann aus Genua versichert: »Mussolini, gewiß! Wer weiß, ob wir ohne ihn nicht den Bolschewismus hätten. Er ist Politiker und Opportunist, der sich und seinem Lande genützt hat. Er ist ein reicher Mann geworden. Der nach ihm kommt, wird auch ein reicher Mann werden. Wird er aber auch Italien nützen? Aber d'Annunzio! Er ist die Seele Italiens! Wissen Sie, daß seine Sprache schöner ist als die Dantes? Er ist sechzehnmal verwundet worden und hat ein Auge verloren. Und in Frankreich« – der Italiener ist höflich; er meint vermutlich Deutschland – »wagen Leute, die ihn nie sprechen hörten, zu sagen, er sei ein Komödiant.«

Ein Arzt aus Bologna, der nach Penang fährt und die ganzen Wochen über der Politiker an Bord war, erklärt, von mir über d'Annunzio befragt: »Mussolini tut nichts, was d'Annunzio nicht weiß,« – und er beruft sich als Zeugen auf den Deputierten Martini. – Also abermals d'Annunzio ist der gesteigerte Mussolini. – Eine italienische Pianistin von Ruf erzählt: »Ich hatte ihn in Rom gesehen. Ich fand ihn scheußlich. Im bürgerlichen Leben ein Lump. Aeußerlich ein Affe. Glotzäugig, kahlköpfig, klein, so daß sein Dandytum grotesk wirkt. Eines Tages ließ er mich bitten, an einem Konzert für die Armen Fiumes mitzuwirken. Ich trat ihm voller Vorurteile entgegen. Er sprach. Im selben Augenblick war ich in seinem Bann. Er sagte etwas von der Not der Armen und daß man helfen müsse. Ja, wie sagte er es nur? Er schuf ein Gemälde aus Musik. Ob es das gibt oder nicht – es wirkte so. Ich ergriff seine Hand, küßte sie und wäre bis ans Ende der Welt für ihn gereist.«

Also, Herrschaften in Germany! Hinsichtlich dieses d'Annunzio lernt gefälligst um! Dieser »literarische Dandy« der »Lust« hat den göttlichen Funken. So leidenschaftlich ich Deutscher bin, ich kenne zur Zeit keinen deutschen Dichter, der ihn hat. Der ihn hatte, Frank Wedekind, starb vor sechs Jahren. Was hätte er darum gegeben, auf diesem Schiff, zusammen mit Nonnen und einem Zirkus, zu fahren! Die Weltliteratur wäre heute vielleicht um ein Schauspiel reicher. Die Atmosphäre auf dem Schiff ist förmlich von Wedekindschem Geist geschwängert. Man hat das Gefühl, jeden Augenblick muß einer seiner Geistesblitze aufzucken. Der Boxmeister des Zirkus trainiert sich morgens an Bord mit den halbwüchsigen Malaien. Nötig, zu sagen, daß Malaien bei 30 Grad Wärme keine Ueberzieher tragen? Ahnungslos und andächtig kommen von der anderen Seite die Nonnen gewandelt. Der China-Deutsche verhindert den Zusammenprall, indem er laut ruft: »Da liegt Sumatra!« und aufs Meer weist.

*

»Doch die Natur, sie ist ewig gerecht.« – Der Dichter, der dies schrieb, irrt sich. (Dichter irren immer, wenn sie Werturteile fällen. Sie sollen Propheten, nicht Kritiker sein.) Wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn man über Sumatra und Java allen Segen der Natur ausstreut, so daß man glaubt, man gehe im Garten Eden spazieren, während in Aden und Massaua und anderswo kein grünes Blatt den Boden ziert? Aber der Dichter meint es wohl anders. (Dichter meinen es immer anders. Wie sie es meinen, erraten meist erst die Kommentatoren fünfzig Jahre nach des Dichters Tode. So daß sie selbst nie erfahren, wie sie es eigentlich gemeint haben.)

Gestern abend hatte der Zirkus Harmstrong nach dem Diner zu einem Konzert geladen. Nur so – ohne Wohlfahrtskomitee und Ehrenausschuß. Auch so etwas gibt es – freilich nur außerhalb der deutschen Landesgrenzen. Das Besondere des Abends kam schon beim Diner zum Ausdruck. Auf den italienischen und holländischen Schiffen gibt es keinen Toilettenzwang. Man bleibt in den Tropen auch des Abends im weißen Kleid und weißen Jackett. Das führt dann bei besonderen Gelegenheiten zu einem Tohuwabohu. Die Amerikanerin zwischen fünfzig und sechzig erscheint tief dekolletiert, perlenübersät, mit dreifachem Anstrich. Daneben der Holländer mit Schillerhemd und weißem Tagesanzug, der noch dazu von gestern ist. Ihm gegenüber der Ingenieur aus Toskana, der nicht recht weiß, soll er oder soll er nicht und die mittlere Linie wählt: weißer Smoking und schwarze Hose. Nur Andernfalls ist korrekt. Sie trägt ihr schlichtestes Abendkleid – und einen schimmernden Smaragd, den ich nicht kenne. Der schaut mich so herausfordernd an, während Andernfalls' Augen so unsicher blicken, daß ich sofort begreife.

»Du sprichst in Brillanten,« sage ich zu ihr, und sie erwidert:

»Ich opfere mich!« – Ich küsse ihr die Hand und sage:

»Ich gratuliere, Gräfin!«

»Du wirst dich Beatrices und der syrischen Sklavin annehmen?«

»Soweit sie meinen Rat gebrauchen, selbstverständlich!«

»Wenn du wüßtest, wie schwer mir ist.«

Ich erspare ihr den Gefühlsausbruch, indem ich ihr ein paar Ratschläge für Siam gebe, die ich dem China-Deutschen verdanke.

Das Konzert beginnt. Andernfalls sitzt zwischen dem Grafen und mir. Wir halten uns alle drei vorzüglich. Die Zirkusleute spielen und singen. Ganz neue Lieder: »O sole mio« – »Santa Lucia« und schließlich »Quand l'amour meurt«.

Andernfalls sieht mich an. Ich gebe ihr zu verstehen, daß durchaus kein Grund vorliegt, und so unterläßt sie es, sentimental zu werden und ihre Tränen zu vergießen.

Plötzlich stürzt alles zur Reling. Auf dem Meer, gar nicht weit vom Schiff, liegt regungslos ein – Walfisch und schläft. Ich halte es für ein Wrack. Aber die Amerikaner, die durchaus ihre Sensation haben wollen, bleiben dabei, daß es ein Walfisch ist. Den Streit beendet eine Italienerin, die meint, daß weder ein Wrack noch ein Walfisch Grund genug sei, das Konzert zu unterbrechen. Die Musik setzt wieder ein, wo sie aufgehört hatte, und die Liebe fährt fort zu sterben.


 << zurück weiter >>