Friedo Lampe
Ratten und Schwäne
Friedo Lampe

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Steif und gravitätisch schritt der Inspektor dahin. An der einen Seite der Straße stand still und mit dunklen oder verhängten Fenstern die weiße Häuserreihe der Olbersstraße, auf der anderen Seite lief der Eisenbahndamm hin. Seine Grasböschung leuchtete mattgrün im geisterhaften Laternenlicht. Übern Damm hoben sich die dunkelgrünen Laubkronen der Wallanlagen. Der Schritt des Inspektors klang hart und militärisch auf dem Pflaster. Da sah der Inspektor die Wurstbude unter der Eisenbahnbrücke. Der Wurstmann im weißen Kittel mit vorgebundener Schürze stand unter dem rötlichen Schein der Petroleumlampe neben dem dampfenden Kessel und unterhielt sich mit zwei Arbeitern, die an ihren Würsten kauten und lachten. Der Inspektor blieb zögernd stehen. Das Lachen der Arbeiter klang hohl unter der Eisenbahnbrücke. Sonst war die Straße ziemlich still, da fuhr nur mal ein Radfahrer mit wackelndem Laternenlicht, da noch mal ein Wagen dumpf rollend unter der Brücke hin. Dann gingen die Arbeiter, und der Inspektor marschierte kurz entschlossen auf die Bude zu. Schon roch er den angenehmen Duft von Gebratenem.

»'n Abend, Herr Inspektor. Bei der schönen Luft noch etwas unterwegs?«

117 »Wie Sie sehen, Krömke«, sagte der Inspektor streng und gemessen. Seine Brillengläser funkelten.

»Vernünftig, Herr Inspektor. Ach, man sollte jetzt erst nach draußen gehen und einen Spaziergang machen. Jetzt, wo die Luft son bißchen kühler wird.«

»Gutes Geschäft gemacht, Krömke?« fragte der Inspektor.

»Danke«, lachte Krömke breit und zufrieden, er stützte sich auf den Tisch, die eine Hand auf dem Kesseldeckel, und beugte sich vertraulich vor, sein rosiges, rundes Gesicht, seine blauen Augen, sein kurzgeschnittenes, blondes Haar, alles strahlte vor stillem Vergnügen: »Danke, danke. Solche Abende, wissen Sie, die bringens, da sind sie alle unterwegs, stehen auf den Straßen rum, unterhalten sich, sehen Sie, und abends dann wird man so ruhig, all die Aufregungen vom Tage sind weg, man genießt, man zieht die Luft ein, und da kommt denn auch der Appetit, ganz wie von selber kommt der Wunsch: wollen mal ne Wurst essen – warum auch nicht, was kann man Besseres tun? Und dann sind da ja auch die Pärchen, verstehen Sie, erst laufen sie in die Wallanlagen, knutschen sich tüchtig ab, und dann werden sie hungrig und . . .«

»Schon gut, Krömke, verstehe«, sagte der Inspektor und sah ernst auf den Kessel. »Also geben Sie mir wieder zwei Bratwürste.«

»Einpacken zum Mitnehmen?«

»Natürlich, Krömke – wie immer.«

»Herr Inspektor«, sagte Krömke und blickte ihn auf einmal mit seinen treuherzigen Veilchenaugen ganz weich und wehmütig an: »darf ich Sie mal was fragen?«

»Nur los, Krömke«, sagte der Inspektor und warf 118 unruhige Blicke nach beiden Seiten der Straße. »Aber knapp, Krömke, nicht soviel Worte.«

»Herr Inspektor, warum essen Sie die Würste nie direkt vor meiner Bude auf?«

»Ich nehme sie doch immer mit, schmecken mir besser zu Hause. Was für ne alberne, überflüssige Frage, Krömke.«

»Herr Inspektor,« sagte Krömke tief vorwurfsvoll, »ich weiß, daß Sie die Würste nicht zu Hause essen, daß Sie nach drüben in die Wallanlagen gehen und sie dort essen.«

»Na ja, zu Hause oder in den Wallanlagen, das ist doch ganz einerlei. Mein Gott, ist man denn nicht mehr sein freier Herr, kann man seine Würste denn nicht mehr essen, wo man will? Sind wir denn verheiratet, Krömke? Was ist denn nur in Sie gefahren, sind doch sonst ein einigermaßen vernünftiger –«

»Ach, Herr Inspektor, ich weiß nur zu genau, warum Sie in die Wallanlagen gehen: es geniert Sie, vor meiner Bude zu stehen und zu essen.«

»Blödsinn«, schimpfte der Inspektor, »sone Dummheit –«

»Doch, doch, Sie genieren sich. Das ist Ihnen nicht fein genug. Und es kommen doch so viele feine Herren, die sie bei mir essen, da ist zum Beispiel der Herr –«

»Ich kann dies alberne Zeug nicht mit anhören.«

»Herr Inspektor, Hand aufs Herz, hab ich nicht recht?«

»Und wenn auch, Krömke,« sagte der Inspektor, »das richtet sich doch nicht gegen Sie, das braucht Sie doch nicht zu kränken.«

»Doch, das kränkt einen, das tut einem weh –«

119 »Braucht es aber nicht, Krömke. Nun seien Sie doch nicht so kindisch. Sie müßten doch eigentlich das Leben kennen –«

»Kenn ich auch«, sagte Krömke trübe.

»Sie müßten doch wissen, daß es da gewisse Grenzen gibt, gewisse Verpflichtungen – Krömke, das ist man nun mal seinem Stand, seiner Uniform schuldig.«

Melancholisch sah Krömke auf die grüne Jacke, auf die goldenen Knöpfe und blitzenden Epauletten des Inspektors. »Überall Schranken«, sagte er leise, »und wozu?«

»Man kann sich ja gar nicht genug in acht nehmen«, sagte der Inspektor. »Feinde, die böse Nachrede – ja, wenn alle Menschen so wären wie Sie, Krömke –«

Krömke nickte still und verständnisvoll, er legte zwei blaßrosa Würste auf den Rost, drehte sie mit einer Gabel hin und her und ließ sie anbräunen und im Fett knistern.

»Nein, nichts gegen Ihren Beruf«, sagte der Inspektor, »beileibe nicht. Ein anständiges, solides Gewerbe. Und nicht leicht, wahrhaftig nicht leicht –«

»Besonders im Winter«, fügte Herr Krömke bescheiden und leidend hinzu. »In der Kälte. Jetzt geht es ja.«

»Auch jetzt nicht leicht, das weiß ich wohl«, sagte der Inspektor. »Ich danke, stundenlang so vorm Tisch stehen.«

»Man kann sich ja auch mal setzen –« meinte Herr Krömke.

»Immerhin, immerhin, alle Achtung –«

Krömke legte die gebräunten fettglänzenden Würste auf einen Pappteller, gab einen dicken Senfklacks dazu und ein Brötchen, wickelte das Ganze sorgfältig in 120 Seidenpapier und überreichte es dann dem Inspektor: »Na, also Herr Inspektor, hier haben Sie die Würste, dann gehen Sie man nach drüben in die Anlagen, es muß ja wohl sein – und lassen Sie sichs gut schmecken – und nichts für ungut.«

»Also guten Abend, Krömke. Sie sind ein Mann mit Verstand. Alle Achtung.«

»Guten Abend, Herr Inspektor«, sagte Krömke und sah dem gravitätisch Davonschreitenden melancholisch nach. Der Schritt des Inspektors hallte unter der Brücke, und seine Epauletten glitzerten im Laternenlicht. Er trug das Paket steif und ernst vor sich her. Krömke sah, wie er in den Wallanlagen untertauchte.

 

Die kleine Luise schlief wieder, ein Traum hatte sie aufgeweckt, aber nun hatte sie den Traum wieder vergessen und war in Schlaf gesunken. Aber ihre Mutter schlief noch immer nicht. Sie lag im selben Zimmer mit ihr, sie war ans Fenster getreten, hatte an ihren toten Mann gedacht, der seit zwei Jahren auf dem Petri-Kirchhof begraben lag, und sie war wieder ins Bett gegangen, nun lag sie mit offenen Augen da. Sie dachte an Luise und an die Träume der kleinen Luise, sie dachte an ihren Mann und an ihre andere Tochter Anni, die den Zeichenlehrer geheiratet hatte. Nun schlief sie nicht mehr mit ihnen zusammen, nun hatte sie sich auch von ihnen losgelöst und lag neben einem Mann. Wie es Anni wohl gefiel, wie sie wohl damit fertig wurde? Sie sprach so wenig davon.

Ach, Anni war in diesem Augenblick nicht glücklich, sie war beklommen und ängstlich, denn sie war allein, Georg war noch nicht von dem Kegelabend mit dem 121 Lehrerkollegium zurück, und sie lag auch mit offenen Augen da, warf sich hin und her und wartete . . .

Gerade war sie endlich ein bißchen eingedusselt, da weckte sie Schlüsselgeklirr. Georg! Wie laut er war, wie er die Tür zuschlug, wie er durch den Flur stapfte. War das Georg?

Die Tür ging weit auf, eine Gestalt stand auf der Schwelle. Sie hörte stilles Gelächter.

»Georg, mach doch Licht!« rief Anni.

Die Gestalt stand da und lachte.

Anni knipste die Nachttischlampe an mit zitternden Händen. Es war Georg. »Wie hast du mich erschrocken. Georg, Georg – du bist ja betrunken – o Gott, er ist betrunken.«

Georg machte umständlich und mit beiden Händen die Tür zu und stolperte dann ins Zimmer, hielt sich an der hinteren Wand von Annis Bett fest, beugte sich nach vorn und feixte idiotisch: »Es war lustig«, lallte er, »fidele Burschen, diese Herren Kollegen. Und was macht mein Täubchen? Soll ich mal zu meinem kleinen Täubchen herkommen, soll ich mal ins Bettchen steigen. Ha, ha –«

»Georg, laß das. Du bist ja richtig betrunken. Georg, hör mich doch, sei doch vernünftig.«

Aber Georg hörte sie nicht, er lachte glucksend weiter, rülpste laut auf und hob den Finger, wollte was sagen, kriegte es aber nicht raus, schwankte zum Spiegelschrank, hielt sich mit weitgespannten Armen am Schrank fest und stierte auf sein Gesicht im Spiegel. »'n Abend«, sagte er und verbeugte sich vor seinem Spiegelbild. »Was wollen, was wollen, wollen Sie hier, wie? Bei meiner Frau.«

»Wenn du so bist, bin ich nicht deine Frau«, rief Anni. 122 Sie lag steif im Bett, sie hatte sich etwas aufgerichtet und die Decke bis an den Kopf hochgezogen. Wo war Georgs nettes Gesicht, sein ruhiges, freundliches Wesen? Wenn er sie anfaßte, dann würde sie schreien. Sollte sie einfach fortlaufen, nach draußen laufen? Sie war allein, ganz allein, diesem fremden Mann ausgeliefert, im fremden Haus, in der Nacht . . .

Da sah Georg im Spiegel Annis entsetztes Gesicht, die großen aufgerissenen Augen, die vor Ekel nach oben gezogene Lippe, die schwarzen Haare um das weiße Gesicht herum. Er sah die kleinen, zarten Hände, die zitternd die Decke hochrafften. Und da drehte er sich herum. Er richtete sich auf und ging in seinem natürlichen Schritt an ihr Bett, er lächelte ruhig und vernünftig, ein wenig verlegen:

»War ja nur Spaß. Hab ja nur so getan.«

Anni starrte ihn eine kurze Weile prüfend an, dann löste sich ihr Gesicht, zuckte, lächelte zaghaft, und dann weinte sie, sank zurück, weinte, verquält, glücklich, haltlos.

»O das darfst du nicht tun. Das war nicht nett von dir.«

Georg setzte sich an ihren Bettrand und sah sie verlegen an. »Ich hab ja nen Spaß machen wollen. Fandest du das denn nicht komisch?«

»Nein, das fand ich nicht komisch. O, ich habe ja solche Angst gehabt. Ich war ja auf einmal so allein. Du warst ja nicht mehr da. Das war ja ein fremder Mann, der da im Zimmer war.«

»Aber jetzt bin ich doch wieder da. Sieh mich doch an. Ich bin ja ganz nüchtern. Ich habe ja überhaupt kaum was getrunken.« Er streichelte leise ihr Haar.

Anni sah ihm wieder prüfend ins Gesicht.

123 »Ich dachte, nun ist es zu Ende.«

»Dummes Kind«, sagte Georg.

Sie sahen sich lange an. Annis Gesicht wurde hell und klar. Sie lächelte. Georg lächelte wieder.

»Daß du dich so verstellen kannst«, sagte sie und schüttelte ein wenig den Kopf. »Das darfst du nie wieder tun.« Ein Wind kam durchs offene Fenster, ein ganz leichter, weicher, und blähte sanft die weißen Vorhänge.

»Nein«, sagte er. Er saß ruhig an ihrem Bett, und sie blickten sich an und erkannten sich wieder ganz.

 

Der Inspektor saß auf der Bank. Er hatte seine beiden Bratwürste im Dunkel der Wallanlagen aufgegessen, mit einer gewissen Gier hatte er in das scharfgepfefferte, heiße Fleisch hineingebissen und seinen Nachthunger, der spät immer noch kam, gestillt. Er lehnte sich zurück, blickte über die Grasböschung zum Wasser, sah die weich und unbestimmt schimmernden Wasserrosen, die schwarze, bewegungslose Fläche des Teiches, die ruhenden Schwäne. Er streckte sich, er sog genießerisch die Luft in sich ein, er fühlte sich in einem dickflüssigen Luftreich schwimmen und sich sanft darin auflösen, er döste so hin über die herabgerutschte Brille weg, er dämmerte ein wenig ein.

Ein Zug donnerte über die Eisenbahnbrücke zu Häupten von Herrn Krömke und fuhr rasselnd auf dem Eisenbahndamm dahin, am Wall vorbei, vorbei an der mattweißen Häuserreihe der Olbersstraße. Der Inspektor schreckte auf. Er sah die Lichter der Bahn durchs schwarze Wasser fliegen, über die Schwäne, die Büsche und Bäume liefen sie dahin. Er riß sich 124 zusammen. Es wurde höchste Zeit, daß er zu Bett ging. Sonst war er morgen früh im Dienst nicht zu gebrauchen. Er stand auf und schritt gemessenen Gangs von dannen.

Er trat aus den Wallanlagen und ging unter der Eisenbahnbrücke hin, von der anderen Seite winkte freundlich Herr Krömke: »Gute Nacht.« »Gute Nacht«, und er ging weiter in die Hafenstraße hinein. Auf der einen Seite war in einigen Restaurants noch Licht und Lärm – eine Tür öffnete sich, und das elektrische Klavier klirrte auf die leere Straße hinaus – auf der anderen Seite aber lag still mit dunklen Fenstern das weinrote Zollgebäude. Und der Inspektor ging über die Straße und steuerte seiner Haustür zu. Er stand vor der Tür und hob die grüne Jacke, um aus der Hosentasche das schwere, gewichtige Schlüsselbund zu ziehen, da hörte er einen hellen, jammervollen Schrei und Männergeschimpfe ganz aus der Nähe. Er sah auf, er drehte sich herum.

Ein kleiner Junge im weißen Matrosenanzug rannte in höchster Eile auf der anderen Seite vor den erleuchteten und verhängten großen Fenstern der Restaurants dahin, er hatte die kleinen Fäuste vor die Brust gestemmt und lief, was das Zeug halten wollte, und er weinte dabei ununterbrochen laut vor sich hin. Ein kleiner Dackel hopste neben ihm her und sprang manchmal mit freudigem Gewinsel an ihm hoch. Und nicht weit hinter ihnen lief ein großer, massiger Mann in schwarzem Frack, und seine Rockschwänze flogen, und der Mann war sichtlich dabei, den kleinen Jungen zu verfolgen und einzuholen. Und in nicht weitem Abstand von diesem Mann lief noch ein anderer und suchte wieder den großen Mann einzuholen. Es waren 125 Addi und Fips und der Hypnotiseur und der Conferencier, die da durch die Hafenstraße liefen.

Endlich hatte der Hypnotiseur Addi eingeholt, er riß ihn an der Schulter zu sich herum, an sich heran, legte seine andere Hand auf die andere Schulter und schüttelte den Jungen, daß sein kleiner, blonder, zarter Kopf wie eine schwachstenglige Blumenknospe hin und her flog: »Wo wolltest du hin, he? Was läufst du hier allein nachts auf der Straße herum ohne mich zu fragen? Wolltest auskneifen, was? Gib Antwort!«

»Nein«, hauchte Addi.

»Warum bist du denn weggelaufen? Was soll der Unsinn?«

»Ich wollte bestimmt nicht weglaufen«, schluchzte Addi.

Der Conferencier hatte sie erreicht. »Nun lassen Sie den Jungen doch in Ruhe«, sagte er. »Sie haben ihn heute ja schon genug gequält.«

»Was wollen Sie hier denn?« fragte der Hypnotiseur. »Das wäre ja noch schöner, wenn ich meinen Jungen nicht mehr zur Raison bringen dürfte. Auskneifen hat der Schuft wollen, das seh ich doch. Bin doch nicht blind.«

Er gab Addi eine harte knallende Ohrfeige, daß er laut aufschrie, und dann griff er an Addis Ohren und zerrte seinen Kopf hin und her. »Wolltest du auskneifen? Wie? Sags jetzt.«

»Nein, nein, nein«, schrie Addi.

Da kam der Inspektor gravitätischen Gangs über die Straße und trat auf den Hypnotiseur zu. Er hob abwehrend seine Hand: »Bitte, lassen Sie das Kind los, züchtigen Sie es nicht so.« Der Hypnotiseur sah den strengen Blick des Inspektors, er sah die grüne 126 Uniform und die mißbilligende Amtsmiene, und er ließ tatsächlich von Addi ab.

»Ach, Herr Polizeileutnant, Sie müssen die Sache richtig sehen: auskneifen hat der Bengel wollen.«

»Was Wunder, wenn der Junge es nicht mehr bei Ihnen aushält. Sie quälen ihn ja bis aufs Blut«, sagte der Conferencier. »Herr Polizeileutnant«, sagte er zum Inspektor, »Sie müssen nämlich wissen, das ist der Hypnotiseur vom Astoria, und er macht mit seinem Jungen Vorführungen, die den Jungen zugrunde richten.«

Der Hypnotiseur lachte kurz und gezwungen auf. »Hören Sie mal, Sie sind ja ein ganz unverschämter Flegel. Was haben Sie sich um meine Angelegenheiten zu kümmern? Sie sind mir ja ein feiner Kollege.«

»Verbieten sollte man Ihnen diese Vorführungen«, sagte der Conferencier. »Ach, Herr Polizeileutnant, können Sie da nicht eingreifen? Die Polizei sollte solche Kinderquälerei einfach nicht gestatten.«

»Ich bin kein Polizeileutnant, sondern Zollinspektor«, sagte der Inspektor und räusperte sich, peinlich berührt. Verlegen fuhr er mit seinem Finger in den hohen steifen Kragen. »Sie müssen sich da schon an jemand anders wenden.«

»An die falsche Adresse gekommen«, lachte der Hypnotiseur. »Na, Sie Menschenfreund, dann machen Sie doch, daß Sie fortkommen, laufen Sie doch zur Polizei und schütten Sie ihr Herz aus. Wird Ihnen aber wenig nützen.« Der Hypnotiseur stand breitbeinig und mit untergeschlagenen Armen vor dem Conferencier, und sein rotbäckiges gesundes Gesicht strahlte ihn triumphierend an. Verschwindend klein stand Addi neben seinem Vater und guckte mit hoffnungslosem, müdem 127 Blick in das Schaufenster von Meyers Fischgeschäft, vor dem sie gerade standen. Der Laden war dunkel, aber im Schaufenster war ein Fischbassin, das war von unten her erleuchtet, trübe glomm das grüne Wasser auf, von der Seite stieß blasenwerfend ein frischer Strahl hinein, und ein paar dicke Fische standen still im Wasser und schliefen, ein paar andere schwammen aber noch unruhig hin und her, warfen ihre fetten, silbergeschuppten Leiber herum und glotzten blöde auf die Straße, auf Addi. Der kleine Dackel hatte sich vor Addi auf das Pflaster gesetzt und betrachtete ihn und die großen Männer mit gekrauster Stirn und blanken, schlauen Augen.

»Haben Sie denn gar kein Mitleid mit dem Jungen, sehen Sie denn wirklich nicht, daß er bei diesem Leben draufgeht?« fragte zaghaft der Conferencier.

»Blödsinn«, sagte der Hypnotiseur.

»Aber heute hat er sich doch erst wieder erbrochen, ich habs doch gesehen.«

»Kam nur durch den blödsinnigen Zwischenfall mit dem Köter. Der wird jetzt abgeschafft. Ja, du Mistvieh, guck nur nicht so, da nützt alles Wedeln nichts.« Addi begann wieder leise zu weinen. Ratlos sah er den Inspektor an. Der Inspektor sah blitzschnell zur Seite. Er rieb sich überlegend am Kinn. Addi sah wieder auf die Fische, die durch die Scheibe glotzten.

»Nein«, rief der Conferencier verzweifelt, »es darf nicht sein, daß das Kind bei Ihnen bleibt. Es muß ihnen genommen werden. Sie sind kein richtiger Vater. Mein Herr«, sagte er zum Inspektor, »Sie haben doch auch gesehen, wie er das Kind behandelt. Sie können im Notfall bezeugen – gibt es denn keine Möglichkeit, daß das Kind irgendwo anders unterkommt? Daß sich 128 ein anständiger Mensch findet, der es aufnimmt und gut behandelt?«

Der Hypnotiseur stand unbeweglich da und lachte nur ein wenig in sich hinein. Addi blickte gespannt auf den Conferencier, und seine Augen hatten für Sekunden einen ganz kleinen Glanz des Erstaunens. Der Inspektor hob den Kopf, er trat steif und unbeholfen etwas näher, und seine grauen alten Augen blitzten hinter der Brille auf, er räusperte sich, er wollte was sagen, aber dann sah er auf den Hypnotiseur, der so unerschütterlich dastand und leise lachte, und er guckte verlegen weg und lächelte schüchtern und sagte nur: »Verzeihen Sie, eine Frage – ist es denn überhaupt polizeilich erlaubt, daß so kleine Kinder schon zu Aufführungszwecken benutzt werden, ich meine –«

»Nein, es ist natürlich nicht erlaubt«, rief der Conferencier, »gut, mein Herr, daß Sie das sagen. Die Polizei wird es verbieten. Das hoffe ich ja gerade.«

»Da können Sie lange hoffen«, sagte der Hypnotiseur. Er holte prompt eine dicke Brieftasche hervor und kramte darin herum. »Da, der Erlaubnisschein.«

»Unbegreiflich«, murmelte der Inspektor.

»Unbegreiflich für Sie, der Sie nichts von diesen Dingen verstehen. Sie sehen, ich bin völlig im Recht. Und wenn Sie noch lange hier herummeckern, so werde ich zur Polizei gehen und Sie verklagen. So, nun Schluß. Dies Gequassel kann einem auch mal zuviel werden. Überlegen Sie sich bitte genauer, ehe Sie einen ehrlichen Mann in seiner schweren Arbeit stören. Also gute Nacht, meine Herren, schlafen Sie sich erst mal ordentlich aus, damit Sie wieder einen klaren Kopf bekommen.« Er wandte sich an den Conferencier: »Mit 129 Ihnen habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Aber nicht hier. Addi, deine Hand.«

Addis Kopf sank wieder nach vorn, und zaghaft hob er die Hand, mit hartem Griff erfaßte sie der Vater, und sie schritten davon. Der Dackel tippelte mit hängenden Ohren hinter ihnen her. Fest klang der Schritt des Hypnotiseurs durch die stille Hafenstraße.

»Nun nimmt er ihn wieder mit, es ist schrecklich«, sagte der Conferencier.

»Läßt sich da denn nichts machen?« fragte der Inspektor.

»Ich weiß es nicht«, sagte müde der Conferencier. »Nun ist ja auch die Polizei auf seiner Seite.«

»Wissen Sie was?« sagte der Inspektor und lachte verschämt. »Als Sie da erst so fragten, ob da niemand wäre, der den Jungen eventuell –«

»Ich fühlte es ja«, rief der Conferencier, »warum haben Sie nichts gesagt?«

»Es hatte ja doch keinen Sinn.«

»Ja, kann wohl sein«, sagte der Conferencier. »Sie sind wohl sehr allein?«

»Ja sehr.«

»Schade, schade, diesen Jungen hätte ich Ihnen gegönnt. Ein gutes Kind.«

»Ja, meine Frau ist tot, und Kinder hab ich gar nicht.«

»Entschuldigen Sie, ich muß zurück«, sagte der Conferencier.

»Wenn man es doch noch mal bei der Polizei versuchte?«

»Vielleicht – aber ich habe wenig Hoffnung. Wenn ich nur nicht mit meinen eigenen Sachen so viel zu tun hätte – meine Frau ist schwer krank, und ich möchte hinreisen.«

130 »Ach«, sagte der Inspektor.

Sie gaben sich die Hand, und der Conferencier ging trübsinnig in langsamem Schritt zum Astoria zurück. Der Inspektor schloß die Haustür auf und stieg steif und gravitätisch die dunkle Treppe hinauf in seine einsame Wohnung.

 

Als der Conferencier wieder im Astoria anlangte, kamen ihm schon ein paar Kellner und Boys entgegen: »Wo sind Sie denn nur? Wir suchen Sie überall –«

»Na, nun bin ich ja da, beruhigt euch«, sagte der Conferencier und ging durch den Garten in den Hinterhof, wo die Ulme stand und die Kulissen. Ein Mann und ein Mädchen in Trapperkleidung traten erregt auf ihn zu: »Da sind Sie endlich. Alles stockt. Was machen Sie denn?« Der Mann und das Mädchen hatten braunes Lederzeug an, um den Hals ein rotes Tuch und auf dem Kopf große Hüte. Sie schüttelten verärgert die Köpfe, daß die großen Ringe an ihren Ohren wackelten.

»Schnell auf die Bühne«, rief der Trapper mit feurigen Augen.

Ein Boy sprang auf den Conferencier zu und sagte mit heller Knabenstimme: »Sie sollen gleich zum Direktor kommen.«

»Schon gut«, sagte der Conferencier, »ich komme.«

»Nein, erst auf die Bühne, uns anzumelden«, rief der Trapper.

»Kann ich ja auch machen«, sagte der Conferencier.

Er stieg von hinten auf die Bühne, redete etwas daher, er konnte das ja, ohne dabei zu sein, stieg wieder runter, und die Trapper traten auf. Die Musik machte einen Trommelwirbel.

131 Der Conferencier ging ins Astoria-Haus, langsam, schweren Schrittes ging er die Treppe rauf, klopfte an die Direktor-Tür. Als er eintrat, war es so, wie er es sich gedacht hatte. Der Hypnotiseur war schon da.

Der Direktor saß vor dem Schreibtisch und drehte sich auf seinem Bock rum, seine fette Hand lag gespreizt auf der Tischplatte. Der Hypnotiseur hatte sich an die Schreibtischkante gelehnt, die Arme untereinandergeschlagen, und blickte den Conferencier siegesgewiß an.

Mein Gott, dachte der Conferencier, ich gönne dir ja alle Triumphe. Laß mich doch in Ruhe.

Die öligen Augen des Direktors blickten traurig auf den Conferencier: »Was machen Sie denn für Geschichten, mein Lieber, das geht doch nicht. Sie laufen weg, stören den ganzen Betrieb, stecken Ihre Nase in Sachen, die Sie nichts angehen –«

»Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie der Junge gequält wird«, sagte der Conferencier.

»Aber er wird doch gar nicht gequält. Das stimmt doch gar nicht«, jammerte der Direktor. »Sie wissen anscheinend gar nicht, was Erziehung, wirkliche Zucht bedeutet. Nur so wird aus den Kindern was. Man sieht es ja hier. Eine Glanznummer ist zustande gekommen, der Höhepunkt des jetzigen Programms.«

»Na ja, ich sage ja auch nichts mehr«, sagte der Conferencier.

»Jetzt gibt er klein bei«, lachte der Hypnotiseur.

»Mein Lieber, das gefällt mir alles nicht«, sagte der Direktor. »Sie zeigen wenig Interesse fürs Geschäft, wenig kameradschaftlichen Geist in bezug auf ihre Kollegen. So kann man nicht arbeiten. Ich beobachte Sie schon einige Zeit: Sie bringen ja keine Stimmung 132 ins Haus. Das, was Sie machen, das hat ja keinen Schneid. Wissen Sie, Miesmacher kann ich nicht gebrauchen.«

»Aber ich habe doch immer meine Pflicht getan«, sagte der Conferencier unsicher. Er stand schlapp da mit ausdruckslosem, grauem Gesicht. Ach, sie hatten ja recht, es war nichts mehr mit ihm los.

»Pflicht«, rief der Direktor.

»Pflicht, als wenn das genügte«, warf der Hypnotiseur ein.

»Sehr richtig«, sagte der Direktor, »mit der Pflicht kommen wir nicht aus. Da muß noch etwas hinzukommen, fühlen Sie das denn nicht? Schwung, Begeisterung, eine gewisse Genialität –«

»Wenn man seine Sorgen hat, kann man nicht immer in Stimmung sein«, sagte der Conferencier.

»Was haben Sie denn für Sorgen?«

»Meine Frau ist schwer krank.«

»Na ja, das ist ja ärgerlich, aber trotzdem – dagegen muß man doch ankommen. Da laufen Sie nun immer mit dieser Leichenbittermiene herum – das geht doch nicht. Übrigens, Sie hatten mich doch noch was fragen wollen, sagten Sie nicht vorhin so etwas?«

»Ach, es ist nichts Wichtiges.«

»Nur heraus!«

»Ach, ich wollte Sie nur bitten, daß Sie mir einen Tag Urlaub geben, damit ich zu meiner Frau reisen kann.«

»Dacht ich's mir doch«, jammerte der Direktor, »der Beruf ist immer Nebensache. Die Gedanken sind immer anderswo. Nein, nein, das hat keinen Sinn.« Der Direktor erhob sich schwer seufzend und trat auf den Conferencier zu, er faßte ihn sanft mit seiner fleischigen Hand am Arm und blickte ihn ölig und 133 schwermütig an: »Mein Lieber, so leid es mir tut, ich glaube, wir gehen in Frieden auseinander. Sie passen nicht in meinen Betrieb. Ich habe viel von Ihnen erwartet: die Conferenciers, die zugleich Ringkampf-Leiter sind, sind rar – aber wenn Sie das so machen, so schlapp und schwunglos, da kann ich diese Vorzüge nicht hoch einschätzen. Ich habe mich in Ihnen getäuscht. Nicht wahr, Sie treten noch ein oder zwei Tage auf, so lange bis ich Ersatz habe, und dann gehen Sie – einverstanden?«

»Ja«, sagte der Conferencier, »es ist schon gut so.«

»Sicherlich ist das gut, mein Lieber«, sagte der Direktor und gab ihm einen ermunternden Stoß. »Nehmen Sie sich das doch nicht so zu Herzen. Kommen immer mal kleine Fehlschläge. Sehen Sie mal, dann können Sie ja auch so schön zu Ihrer Frau reisen, das ist doch Ihr ganzer Wunsch.«

Der Conferencier stand wortlos da und blickte zu Boden. Dann wandte er sich langsam zur Tür und verließ das Zimmer. Er stieg die Treppe herunter und kam in den Garten, die Trapper-Nummer war schon wieder vorbei, und die Leute tanzten auf der erhöhten Fläche. Er ging durch die Veranda in den Hinterhof und setzte sich auf die Bank unter der Ulme. Er starrte auf die Kulisse, die Stolzenfels am Rhein darstellte. Seitwärts standen zwei Ringer und unterhielten sich. Der Hypnotiseur kam in den Hof, im Mund eine dicke Zigarre, die hatte ihm der Direktor geschenkt, er sah den Conferencier und ging hinter seinem Rücken an der Ulme vorbei, er trat auf die Ringer zu. Sie erzählten von Alvaroz. »Was, Sie haben ihn noch nicht gesehen? Müssen Sie hingehen, er liegt ja noch da.«

Ja, sie wollten gern noch mal mitgehen, sie kannten ja 134 seine Garderobe. Sie gingen in die Holzbaracke und in Alvaroz' Raum. Knipsten das Licht an. Alvaroz schlief noch immer. Der eine Ringer zog den Bademantel, den man über ihn gedeckt hatte, leise zurück. Der Hypnotiseur betrachtete lange den zerschundenen Körper. Alvaroz war noch nicht abgewaschen, und das Blut klebte rotschwarz auf seinen Gliedern. Bläuliche Stellen, perlmuttern gefärbt, hatten sich auf seiner Haut gebildet. Das waren die Stellen, auf die Dieckmanns Fäuste geschlagen hatten. Seine Lippen waren aufgesprungen und standen offen, und sein glatter Scheitel war zerstört, strähnig hing ihm das schwarze Haar in die Stirn. Die dunkelblaue Hose lag zerfetzt um seine Hüften.

»Ein fabelhafter Körper«, sagte der Hypnotiseur. »Das sieht man trotz Blut und Wunden.«

Da schlug Alvaroz auf einmal die Augen auf. Er blickte sie lange an. Dann sah er den Raum und daß er völlig nackend dalag.

»Warum steht ihr hier?« fragte er und sah sie mit seinen kräftigen Augen zornig an. Er strich über seinen blutverkrusteten Leib.

»Wir gehen ja schon«, brummelten die anderen und verschwanden schnell.

Hein Dieckmann hatte sich fertig angezogen und verließ mit Jonny die Baracke. Sie gingen durch den Hof, wo der Conferencier mit trüber Miene unter der Ulme saß. »Wir wollen nicht durch den Garten gehen«, sagte Jonny, »hier kann man auch raus.« Von dem Hof führte eine Pforte auf einen Gang, und von da kamen sie auf die Hafenstraße. Hein hatte einen gelben kurzen Mantel an und eine Melone auf dem runden Kopf. Er stierte gerade vor sich hin und sagte kein Wort. 135 Jonny sah ihn manchmal verstohlen von der Seite an. Sagte er was, dann nickte Hein abwesend. Sie gingen durch die Hafenstraße, sie wohnten weiter drinnen in der Stadt, in einem Hotel. Sie kamen am Stadtgraben vorbei. Hein blieb einen Augenblick stehen, holte tief Atem und blickte auf das schwarze Wasser.

»Mensch, soll ich dir mal was sagen?« fing Jonny an.

»Hm?«

»Du denkst jetzt gar nicht mehr an die ganze Geschichte – und morgen fängst du 'n ganz neues Leben an.«

»Mumpitz.«

»Nun weißt du ja, wovor du dich in acht nehmen mußt«, sagte Jonny.

»Als wenn das was nützte, du Esel.«

»Wenn du willst, gehts auch«, sagte Jonny.

»Ach, das sitzt ja so tief in einem drin«, sagte Hein und blickte auf die trübe schwarze Flut, »das ist ja im ganzen Körper drin, was soll man da machen. Ich bin ein Schwein und weiter nichts.«

Jonny schnob verlegen und verärgert auf: »Ich glaub fast, du tust dich. Mensch, nimm dich doch zusammen.«

»Ich bin ja so gemein«, sagte Hein, »ich bin ein Dreck und weiter nichts.«

 

Immer leiser wurde das Flötenspiel des Herrn Berg. Die letzten gläsern-klaren Töne hauchten über die Gärten dahin, verwehten, zerrannen in der stillen Luft – dann war das Spiel zu Ende. Herr Berg war am Ende. Er nahm die Flöte vom Mund und stand noch eine Weile am Fenster und sah in die Nacht hinaus. Dann trat er in die dunkle Stube zurück.

136 »Endlich hat er aufgehört zu spielen«, sagte Frau Jacobi.

»Ja, endlich«, seufzte Frau Mahler. »Junge Leute, die noch nicht den Ernst des Lebens kennen.«

»Das weiß ich nun doch nicht«, sagte Frau Jacobi, »er ist ja sterbenskrank.«

Die beiden Frauen saßen am Tisch bei der elektrischen Tischlampe, die ein warmes, rotes Licht im Zimmer verbreitete. Frau Mahler saß im Sofa mit verweinten Augen, ihre Hände lagen im Schoß, und in der einen Hand hatte sie das tränenfeuchte und zu einer kleinen Kugel zusammengedrückte Taschentuch. Sie sah zu, wie Frau Jacobi eine große Tischdecke ausstickte. Das Muster war auf der Decke mit blauer Tinte eingezeichnet, lauter kleine Blumensträuße, und Frau Jacobi bestickte das Muster mit vielen verschiedenen bunten Seidenfäden.

»Ich bin Ihnen ja so dankbar, daß Sie mir in dieser Stunde zur Seite sind«, sagte Frau Mahler. Auf dem Tisch lag ein kleiner Papierzettel und ein Bleistift. Frau Jacobi hatte ihr schon die Todesanzeige aufgesetzt. Von Zeit zu Zeit blickte Frau Mahler ängstlich zu der halbgeöffneten Tür, die in die Totenkammer führte. Durch die schmale Öffnung drang etwas unheimliche Schwärze in das gemütliche Zimmer.

»Ich helfe Ihnen doch so gern, meine Liebe«, sagte Frau Jacobi. »Lassen Sie mich nur alles machen. Morgen früh gehe ich also gleich zur Zeitung und gebe die Annonce auf, und dann gehe ich zum Beerdigungsinstitut »Zypresse«. Sie werden mit der »Zypresse« zufrieden sein, man hat mich damals ausgezeichnet bedient. Aber da fällt mir etwas Wichtiges ein: wollte Ihr Mann verbrannt werden oder im Sarg begraben?«

137 »Das weiß ich nun gar nicht«, sagte Frau Mahler, »darüber hat er nie gesprochen. Was soll ich denn nun machen?«

»Mein Mann hat sich verbrennen lassen«, sagte Frau Jacobi. »Er meinte, das sei sauberer. Es ist natürlich Geschmacksache.«

»Mein Gott, was soll man da nur tun?« sagte Frau Mahler.

»Überlegen Sie sich's, meine Liebe, es hat ja noch Zeit.«

Das Fenster stand offen, und sie hörten vom Hafen her über die Stadt hintönen das dumpfe Getute eines Dampfers.

»Ein Dampfer fährt ab«, sagte Frau Jacobi.

Der dumpfe, klagende Ton schien Frau Mahler mit mahnender Kraft zu berühren. Sie begann auf einmal von neuem zu weinen.

»Ach, es ist schrecklich«, sagte sie, »ich kann es gar nicht begreifen, daß ich nun allein bin.«

Frau Jacobi seufzte traurig auf, aber sie stickte an ihrer Decke weiter, sie mußte sehr aufpassen, daß sie das winzige, grüne Blatt auch genau herausbekam, das war gar nicht leicht.

»Bitte, bleiben Sie die ganze Nacht bei mir«, schluchzte Frau Mahler.

»Ja, ja, ich bleibe«, sagte Frau Jacobi. »Die Decke muß ja auch fertig werden.«

Der Dampfer, der da getutet hatte, war die Adelaide gewesen. Die Taue waren gelöst worden, und die Adelaide fuhr aus dem Hafen in den Fluß, sie fuhr langsam und stoßend den Fluß hinunter.

Anton stand oben auf Deck und sah sich die Ausfahrt an. Oskar hatte eine Weile neben ihm gestanden, aber dann war er in die Kajüte hinuntergegangen, er war 138 so müde und wollte sich hinlegen. Der letzte Tag war anstrengend gewesen.

Anton sah zur Stadt zurück. Die Lichter rückten immer dichter aneinander heran und verschwammen schließlich zu einem matten Schein, zu einem langen gelben Streif, und dann versank, zerlöste sich auch dieser Streif, und sie fuhren durch das dunkle Land. Die flachen Wiesen liefen schnell vorbei. Häuser lagen in schwarzen Klumpen am Deich, glitten dahin, Gerüste von Werften ragten in die Nacht, waren vorbei. Und der Mond erschien wohl mal am wolkigen Himmel für Augenblicke mit altem grauem, silbernem Gesicht und warf etwas Glanz ins Wasser und grauen matten Schimmer auf die unendlich weit gedehnten Wiesen, auf denen das Vieh bewegungslos stand oder im fetten Grase lag, dunkle, schwere Leiber.

Und sie fuhren weiter. Der Fluß wurde breiter und breiter, und immer weniger Häuser lagen am Ufer. Die Luft wurde allmählich frischer, und ein kühler Wind begann zu wehen – Meerwind.

Anton stand noch immer auf Deck und sah in den großen Raum hinaus.

Da stand auf einmal jemand neben ihm, lautlos war eine Gestalt herangekommen. Es war Bauer, der Steward.

»Was, Sie sind noch da? Sie sind nicht fortgegangen?« rief Anton erschreckt.

«Ja, schimpfen Sie mich nur aus«, sagte Bauer schuldbewußt, »Sie haben ganz recht.«

»Warum sind Sie denn nicht fortgegangen?« fragte Anton.

»Ich wollte ja fort«, sagte Bauer, »ich hatte meine Sachen schon gepackt. Aber dann konnte ich nicht. Es schien mir alles so aussichtslos.«

139 »O, da wäre ich aber doch weggegangen«, sagte Anton.

»Es ist ja doch alles einerlei«, sagte Bauer und blickte trübe in den Fluß. »Ob ich nun hier bin oder anderswo – es wäre ja doch immer dasselbe gewesen.«

»O das weiß ich nicht«, sagte Anton.

»Ach, nun lassen Sie's man so weitergehen. Das muß wohl so sein«, sagte Bauer.

»Gott, wie dumm«, sagte Anton.

»An mir ist nichts mehr zu retten«, sagte Bauer.

»Herr Bauer, so müssen Sie nicht reden. Das geht doch nicht.«

»Ach Gott«, sagte Bauer und zuckte die Schultern.

Dann schwiegen sie beide und sahen ins Land hinaus.

»Ich muß hin«, sagte Bauer, »hören Sie – er ruft mich.«

»Gehen Sie doch nicht hin«, bat Anton.

»Doch, ich muß hin«, sagte Bauer, »was soll ich denn auch sonst tun?«

»Es ist scheußlich«, sagte Anton.

»Das ist es«, sagte Bauer und glitt lautlos vom Deck die Treppe hinunter.

Beklommen starrte Anton in die Gegend hinein.

Der Dampfer fuhr immer weiter den Fluß hinunter, dumpf arbeitete die Maschine.

 


 


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