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Hans wurde das Warten zu langweilig. »Quatsch,« sagte er, »wenn sie nicht bald kommen, geh ich fort. Mir tun die Augen schon weh vom Gucken und die Beine vom Knien.«
»Sie kommen gleich, du sollst sehen«, sagte Erich, aber seine Stimme klang wenig zuversichtlich. »Es muß nur noch etwas dunkler werden.«
»Ja, so dunkel, daß man gar nichts mehr sehen kann, und dann sagst du: da sind sie, und dann ist es irgendeine Baumwurzel. Das kennen wir. Zu albern. Dicketuerei.« Hochmütig blickte Hans auf die beiden Schwäne, die ruhig und mit stolzen Hälsen mitten im Graben vorüberschwammen. Sie steuerten auf ihr Häuschen zu. Hans schnalzte mit der Zunge, aber sie drehten auch nicht ein bißchen den Kopf zur Seite.
»Sie sind doch auch gestern gekommen, ich flunkere doch nicht«, sagte Erich. Nun hatte er endlich mal etwas, womit er Hans imponieren konnte, und nun klappte es noch nicht einmal.
» Ach«, sagte Hans kurz und sah weiter auf die Schwäne. Sie waren beim schwimmenden Häuschen angelangt und umkreisten es in schönem Bogen.
Die beiden Mädchen waren geduldiger und stiller. Sie hatten wohl schon etwas Angst. Denn eigentlich mochten sie Ratten doch gar nicht. Scheußliche Tiere. Fast die widerlichsten Tiere, die es gab. Vor allem die glatten, haarlosen Schwänze. I gitt – i gitt. Und gingen sie 8 nicht auf Menschen los? Wer hatte doch neulich erzählt, daß sie in die Schlafzimmer kamen und den Menschen – brr – nicht dran denken. Eigentlich sollten wir ja fortgehen – aber nein – es war doch auch interessant. Und dann würden die Jungens lachen und sie veräppeln – Angstliesen. Nein, nein . . .
Fifi tuschelte Luise ins Ohr: »Ich zähle jetzt noch bis dreißig, ganz langsam, und wenn sie dann nicht kommen, laufen wir einfach weg. Mögen die sagen, was sie wollen, nicht?« Luise nickte nur, sah sie aber nicht an, sah unverwandt mit großen düsteren Augen zur Uferböschung, dorthin, wo das Wasser aufhörte, wo etwas Schlamm begann und dann die steile kurze Böschung mit brauner Erde und freihängenden Baumwurzeln. Da hausten diese Untiere nun. Weicher warmer Schlamm. Kröten. Rosa Würmer. Etwas weiter gleiten kleine Fische durch die goldbraune Flüssigkeit. Luise kratzte vor Erregung an ihrem nackten Knie, trotzdem es gar nicht juckte. Sie hockte, die Arme um die Beine geschlungen. Die Schuhe waren schon wieder schmutzig, auch die Strümpfe, auch der Rock hinten? Sie hatte mal gesessen –
»Da«, sagte Erich und stach mit dem Finger nach unten. »Da, seht ihr –«
»Euer Glück«, sagte Fifi, »ich war gerade dabei, bis dreißig zu zählen, ganz langsam, und –«
»Halt den Sabbel, dumme Ziege – vertreibst sie ja –« Es dämmerte schon etwas. Man sah nicht mehr ganz genau. Aber da bewegte sich was. Grau. Klein. Unter den Baumwurzeln. Da noch was. Es waren zwei. Da noch eine. Drei. Sie kamen näher. Die Kinder rührten sich nicht und starrten.
»So kommen sie jeden Abend«, fiüsterte Erich auf 9 einmal triumphierend und sah Hans an, als wenn diese Ratten eigens seine Erfindung wären.
Hans nickte ernst. »Guckt euch nur diese Schwänze an«, sagte er. Sie sahen die Schwänze. Fingerlang, grau, haarlos, hin und her zuckend. »Auf den Bauch legen«, kommandierte Hans zischend. Sie taten es lautlos und guckten mit dem Kopf über die Böschung. Da schrie Luise auf, hell und durchdringend, wie von einer Schlange gebissen, in höchster Not. Die Ratten sprangen ins Wasser und verschwanden.
»Idiotin,« brüllte Hans, »nun sind sie weg«.
»Gemeinheit, so zu schreien«, sagte Erich.
Luise war außer sich und weinte aufgelöst. »Sie hat mich doch so angesehen, mit ihren kleinen Augen, so übel angesehen – und dann hat sie die Lippen hochgemacht, son bißchen – und da waren die Zähne – die hat mich beißen wollen – klar doch –«
»Schert euch zum Teufel. Mit Weibern soll man doch nie was Richtiges machen, komm Erich, wir gehen – zum Hafen, die Adelaide ist noch da, hast du ja noch gar nicht gesehen. Laß die beiden Heultanten. Widerliches Kroppzeug. Hab euch satt.«
Auch Erich schob verächtlich die Unterlippe vor und folgte Hans, die Hände in den Hosentaschen.
Luise weinte kaum noch. »Sie hat mich so übel angesehen mit ihren kleinen Augen«, sagte sie vor sich hin. »Na ja, laß man«, sagte Fifi. »Wir müssen ja doch nach Haus.«
Sie blickten sich um. Die Sonne war ja schon weg, und schwarz lag jetzt das Wasser vom Stadtgraben da, man konnte gar nicht mehr tief hineinsehen, und eben hatte es doch noch so goldig braun geleuchtet. Dunst stieg leise aus dem Wasser und blieb dicht darüber 10 liegen. Die Bäume der Anlagen traten schon zu schweren dunklen Gruppen zusammen, und weich und mahnend hob die Mühle auf dem Hügel die braunen Flügel in den warmen, blauen, rauchigen Himmel. Von der Hafenstraße her glommen schon die kleinen Flämmchen in den Laternen. Gleich würden sie aufleuchten. Oben am Weg saß ein alter Mann auf einer Bank, die Hände auf seinen Stock gelegt, und sah ruhig geradeaus. Fifi sprang schlenkernd und nachlässig auf ihn zu.
»Onkel, wieviel Uhr ist es wohl?«
»Halb acht«, sagte der alte Mann, nachdem er auf einen kleinen Knopf gedrückt und der Deckel seiner goldnen Uhr zurückgesprungen war. Papas Uhr ist nicht so dick, auch nicht aus Gold, wohl aus Silber, dachte Fifi. »Danke«, sagte sie leise.
»Halt mal«, sagte der alte Mann und sah sie mit seinen leeren grauen Augen scharf an. »Was wolltet ihr da vorhin am Graben? Was wolltet ihr sehen?«
Fifi schwieg und sah lächelnd nach unten.
»Die Ratten wolltet ihr sehen, was? Sags nur.«
Fifi sagte nichts.
»Ich weiß ja, daß ihr die Ratten sehen wolltet«, sagte der alte Mann. »Aber findet ihr das denn schön?«
»Nein«, sagte Fifi ohne aufzusehen.
»Na also«, sagte der alte Mann. Und dann kicherte er plötzlich: »Immer das Widerwärtige wollt ihr sehen, ihr Kinder, gibts denn nichts anderes als Ratten?«
»Doch, doch«, sagte Fifi und lief schnell weg, ohne den alten Mann noch einmal anzublicken. Luise stand noch immer an derselben Stelle, aber sie sah nun wieder ganz lustig aus.
»Schon halb acht, komm schnell.«
11 Sie gingen am Graben entlang und kamen auf die Straße. Jetzt brannten die Lampen schon, und auch die Elektrische – Linie eins fuhr gerade vorüber und hielt unter der Eisenbahnbrücke – war erleuchtet.
Frau Jacobi stieg aus. Sie trug mehrere Pakete. Fifi und Luise knixten artig und geziert. »Guten Abend, Kinder. Noch unterwegs? Marsch, marsch in die Klappe«, drohte sie freundlich. Ach, Mama wird andere Töne anschlagen. Nur fremde Damen haben diese nette Art. Aber Mama ist mir trotzdem lieber. Nein, Frau Jacobi sollte nicht meine Mama sein. Luise gähnte. An der Straßenecke trennten sie sich. Sie gaben sich flüchtig die Hand.
Der Wagen der Linie eins, mit dem Frau Jacobi gefahren war, fuhr durch die Hafenstraße. Er hielt. Ein Betrunkener kam aus Bellmanns Restaurant. Durch die einen Augenblick geöffnete Tür drang Orchestrionmusik und Gelächter. Der Schaffner hielt den Besoffenen zurück, drängte ihn energisch vom Trittbrett. »Bleiben Sie draußen –.«
»Ich, ich will mit – was wollen Sie – wenn ich bezahle – unverschämter Flegel –«
»Draußen bleiben. Hören Sie?« Klingel. Weiter. Der Mann blieb drohend zurück. »Daß die Bande einem den ganzen Wagen vollkotzt«, sagte der Schaffner zu Oskar und Anton. Die beiden Studenten nickten zustimmend, mit ernster sachverständiger Miene. Der Schaffner blickte auf ihre großen Handkoffer.
»Wohl mit der Adelaide?«, fragte er.
»Ja,« sagte Anton, »Rotterdam«.
»Beneidenswert, jetzt so im September übers Meer zu 12 fahren«, sagte der Schaffner. »Wenn man das doch auch mal könnte.«
»Ja, wir freuen uns auch sehr«, sagte Anton und sah etwas schuldbewußt nach draußen. Sie fuhren gerade am Astoria vorbei. Das Fräulein an der Kasse zog den Vorhang zurück und schob die Scheibe halb hoch.
»Da ist heute ein fabelhafter Kampf zwischen Dieckmann und Alvaroz, den beiden Meisterringern. Werden Sie wohl kennen.«
Anton sah nach oben, als wollte er sich erinnern. »Nein, glaube nicht.«
»Auf der Adelaide,« sagte der Schaffner, »na, dann werden Sie ja auch mit Kapitän Martens Bekanntschaft machen.« Er lachte leise vor sich hin. »Der Mann mit den schicken Stewards.«
»Was soll das?« fragte Oskar.
»Sie werden ja sehen. Und die dicke Nelly wird Ihnen auch Spaß machen. Immer darf sie im Salon auf dem roten Plüsch sitzen.«
»Wer ist Nelly?« wollte Anton wissen.
»Das werden Sie ja alles selber sehen, meine Herren. Langweilen werden Sie sich auf alle Fälle nicht auf der Adelaide.« Grinsend ging der Schaffner in den Wagen.
»Unangenehm, nicht?« meinte Anton. »Was wohl auf dem Schiff los ist?«
»Laß ihn doch,« sagte Oskar, »der will uns die Sache ja nur vermiesen, der beneidet uns ja nur.«
»Schade, daß wir gerade bei Dunkelheit ausfahren – den Fluß runter, die Mündung, Einfahrt ins Meer – das sehen wir nun alles kaum«, sagte Anton.
»Ja, dumm.«
»Aber schließlich – so im Dunkeln, das hat doch auch seine Reize. Schlafen werde ich heute wohl wenig.«
13 »Wollen mal sehen«, sagte Oskar gedehnt. »Nur nicht so was Übertriebenes.«
Der alte Mann noch immer auf der Bank, die Hände auf den Stock gestützt, sein Hut lag neben ihm. Er sah mit ruhigem, leerem Blick in die Gegend. Er saß einfach da. Er lebte doch nun mal, und da saß er auf der Bank und sah etwas umher, beobachtete, was um ihn her geschah und sah den Abend herankommen. Er saß in den Anlagen, hinter sich die Mühle auf dem Hügel, vor sich die Grasböschung und den Graben und drüben den Eisenbahndamm, hinter dem man noch die erste Etage der Häuser von der Olbersstraße sah, weiße Wände, die jetzt matt in der Dämmerung zurücktraten. Er hatte gesehen, wie die Sonne hinter den Häusern verschwunden war, die Kindermädchen mit den Wagen und die spielenden Kinder waren schon längst nicht mehr in den Anlagen, das Wasser vom Graben war schwarz geworden und die Luft weich und rauchig und der Himmel so graublau. Vor einiger Zeit hatte ihn ein kleines Mädchen nach der Uhr gefragt, und dann war sie schnell wieder fortgesprungen, sie war richtig vor ihm davongelaufen. Ja, sie gingen alle von ihm fort, sie ließen ihn einfach sitzen. Auch Karl und Berta kümmerten sich so wenig um ihn, immer seltener kamen sie abends zu ihm. Na er konnte ihnen ja auch wenig bieten, die gingen lieber ins Kino.
Drüben in der Hafenstraße fuhren die Wagen dumpf rollend. Die Leute kamen von den Geschäften. Arbeiter umlagerten die Wurstbude, die unter der Eisenbahnbrücke stand. Sie kauften sich die roten, dicken, pfeffrigen Würste, und sie lachten, daß es bis zu ihm 14 herüberschallte. Ein Hund trabte herrenlos auf dem dämmrigen Weg an ihm vorbei, den Kopf hochgerichtet und nach vorn witternd. Er wußte seine Richtung. Alle gingen nach Haus. Aber was soll ich zu Haus? Im dunklen Zimmer sitzen und auf die Straße hinuntersehen – bis es Schlafenszeit ist? Und dann nicht schlafen können? Ich will noch etwas hier bleiben, noch etwas so sitzen bleiben und warten, aber es kommt ja nichts, scheußlich, daß gar nichts kommt. Aber vielleicht kommt doch etwas, vielleicht kommt der junge Mann, und ich kann ein paar Worte mit ihm sprechen. Ist er das nicht da hinten? Nein, er ist es nicht. – Sieh, sieh – die Schwäne – wie sie sich umstreichen, aneinander drängen, die Hälse liebkosend aneinander reiben, schon beginnt ihr nächtliches Pläsier. Aber da lassen sie ja schon wieder voneinander ab, lösen sich, schwimmen in ruhigen Kreisen um ihr Häuschen, nichts weiter, schon vorbei? Sie steuern auf das Häuschen zu, klettern unbeholfen auf die kleine Holzplatte, legen sich hin, blicken noch einmal über die dickflüssige, teerartige Wasserfläche, stecken den Kopf ins Gefieder. Wollen schlafen. Die bleiben nun die ganze Nacht hier draußen. Aber ich muß nun wohl gehen. Will nur noch den Achtuhrzug abwarten. Ob der junge Mann wohl noch kommt?
Es wird noch eine kleine Weile dauern. Noch geht er unruhig durch die Straßen, die Hände in der Manteltasche, mit ziemlich hastigem Schritt. Er fühlt in den Gliedern ein merkwürdiges Ziehen. Und seine Augen haben einen feuchten Glanz. Er geht immer denselben Weg. Jeden Tag. Durch die Straßen über den Wall 15 zum Fluß. Und dann steht er an der Brücke, sieht unter sich das Wasser hinströmen, rot im Abendschein, schwarz in der Nacht, es rauscht an den Pfeilern und raunt ihm Unverständliches zu. Und er läuft in die Anlagen, spricht ein paar Worte mit einem alten Mann, der da immer sitzt, immer auf derselben Bank, ein alter Mann, der sich unsäglich langweilt und der ihn nicht wieder loslassen will. Ist er doch der einzige, mit dem er am Tage einmal reden kann. Und der alte Mann kann seine Freude kaum verbergen, wenn er kommt. Aber heute will Peter sein hoffnungsloses, leeres Geschwätz nicht hören – er will überhaupt gar nicht mit ihm sprechen. Auch ich rede ja nur mit ihm, weil ich sonst niemanden habe. Nein, ich gehe heute einmal an ihm vorbei – grüße freundlich und gehe vorbei.
Er bog aus der wagenrasselnden Straße in die »Seefahrt« ein, er ging gern durch den großen Hof dieses Stiftes, in dem die Witwen der Kapitäne wohnten. Dort war es so schön still und tot. Einen Augenblick empfand man den tiefen Frieden ihrer Abgestorbenheit. In manchen Zimmern saßen die alten Mütterchen schon unter der Lampe beim Abendbrot, die Fenster waren offen, aber man hörte keinen Laut. Dort klirrte mal eine Schüssel, ein Löffel und Messer zusammen – dort schrie die scharfe Stimme eines Papageis aus einer dunklen Ecke eitel und frech: »Klein Lora, schön klein Lora –.« Einige Frauen hatten noch kein Licht gemacht und saßen am Fenster, unbeweglich vor sich hindämmernd, zwei schwarze, runde, gebückte Gestalten gingen langsam an den Häuserwänden entlang, zwei andere standen vor einem kleinen Vorgarten, flüsternd und kichernd – und ihre Kapotthüte wackelten 16 wie Hahnenkämme – dazu rauschte ein kleiner Brunnen, der, umbuscht bis zur Schale, inmitten eines winzigen, dunkelgrünen Rasenstückes stand. Hier ist es still, hier ist es tot. Sie leben überhaupt nicht mehr. Ihre Kinder sind fort, ihre Männer liegen vielleicht auf dem Grunde des Meeres – sie aber sind im Hafen. Sie haben ihren Papagei, den sie sich damals mitgebracht haben, als sie noch mit ihren Männern fuhren. Sie haben kleine Muscheln und Korallenstücke auf ihrer Kommode – sie dämmern so hin.
Dann war er wieder draußen, und endlich kam er in die Anlagen. Durch die Anlagen gings zur Hafenstraße, zum Fluß – wer weiß wohin. Und dorthin, irgendwohin wollte er ja. Aber da sah er schon von weitem den alten Mann. Er saß wie immer auf der Bank. Unbeweglich, die Hände auf seinen Stock gelegt, den Hut neben sich auf der Bank, und er blickte unausgesetzt zu Peter hinüber und als dieser mit einem Gruß schnell vorbeigehen wollte, rief er schon: »Sie werden doch einen Augenblick Zeit haben. Kommen Sie. Ich warte schon lange auf Sie.«
Und als Peter sich gesetzt hatte: »Das hätten Sie eben beobachten müssen. Kinder gucken über die Böschung ins Wasser. Was wollen sie sehen? Ratten! Auf was Kinder nicht alles kommen. Das interessiert sie nun.«
»Ratten? Komisch!« sagte Peter zerstreut.
Er sah auf den Graben. Dort, wo er einen Knick machte, war etwas Schwarzes aufgetaucht. Ein Kahn und ein Mann, der ihn in ruhigen Schlägen und leis plätschernd dahinruderte. Ein schwarzer, geteerter, breiter Kahn. Die Dollen quietschten. Der Mann hatte einen großen, spitzzulaufenden Strohhut auf.
»Wer ist das?«
17 »Sie kennen nicht den Anlagenwärter? Wundert mich. Einmal in der Woche fährt er die Gräben ab, sieht nach, ob alles in Ordnung ist. Schaut in die Enten- und Schwanenhäuschen. Dort oben wohnt er.« Er wies mit seinem Daumen über die Schulter.
»In der Mühle? Und der Müller?«
»Wissen Sie denn nicht, daß die Mühle nicht mehr in Gang ist? Seit zehn Jahren liegt sie tot. Ist nur noch ein Schmuckstück, eine Theaterdekoration. Und dann die Wohnung für den Wärter. Übrigens ein komischer Kerl. Von dem könnte ich Ihnen so allerlei erzählen –«
Aber Peter wollte das nicht mehr hören. Er kannte diese endlosen Geschichten. »Entschuldigen Sie, ich muß fort, hab noch was vor.«
»Sie haben was vor? Darf man fragen, oder ist es indiskret, was Sie –«
»Nichts Wichtiges, Bestimmtes.«
»Nichts Bestimmtes, Wichtiges? Ha, ha, ich weiß Bescheid, hab es übrigens gleich gefühlt. Mit Ihnen ist heute was los. Ich werde nicht weiter fragen. Bin auch mal jung gewesen. Vergeht alles.« Der alte Mann lachte glucksend. »Viel Glück. Viel Glück.«
Peter wurde es ganz übel. »Sie verstehen mich falsch. Wirklich. Ich wollte ja nur – Ich will ins Kino. Nicht was Sie meinen.«
»Aber warum denn nicht, keine falsche Scham. Sind doch unter Männern. Und wissen Sie – das Kino, das ist auch nicht ohne, das versetzt einen in die rechte Stimmung. Na also, viel Glück. Wird schon klappen. Will den Daumen halten.«
Peter hastete von dannen. Widerlich. Heute war es das letzte Mal, daß ich mich zu ihm gesetzt habe. Er ging am Graben entlang zur Hafenstraße, und als er 18 zur Eisenbahnbrücke kam, gerade als er neben der Wurstbude ging, rollte der Achtuhrzug oben über die Brücke. Er fuhr auf dem Damm dahin, vor der matt vom Lampenlicht erhellten Häuserfassade der Olbersstraße, und seine Lichter flogen in langen Streifen durch das Grabenwasser. Das war das Zeichen für den alten Mann, aufzustehen. Langsam und zögernd ging er heimwärts. Eine kurze Zeit blieb er noch stehen, um zu dem Anlagenwärter hinüberzusehen. Sein Kahn näherte sich dem Schwanenhaus, und der Schwan wachte auf. Zog seinen Kopf aus dem Gefieder, streckte seinen Hals aus, dem Wärter entgegen, und schlug ruhig und groß mit dem Flügel. Der alte Mann sah, daß der Schwan seinen Kopf in die Hand des Wärters legte und daß dieser ihn ein wenig unterm Kopf kraulte . . . Endlich mußte der alte Mann denn doch wohl weitergehen. Ihm graute vor seinem Zimmer mit den starren Stühlen, den stummen Wänden, den Bildern längst Verstorbener an der Wand. Aber vielleicht kamen Karl und Berta ja doch noch mal eben rum und man konnte noch etwas mit ihnen sprechen, vielleicht waren sie schon da, wenn er kam, vielleicht waren sie schon wieder fortgegangen, weil er nicht gekommen war. Er ging auf einmal schneller . . .
Aber er hätte sich nicht zu beeilen brauchen, sie saßen nicht in seinem Zimmer und warteten auf ihn, sie würden auch heute nicht kommen, er mußte sehen, wie er allein mit seinem Abend fertig wurde. Karl und Berta waren überhaupt gar nicht in der Stadt. Karl hatte seinen freien Nachmittag, und sie waren mit dem Dampfer losgefahren – flußabwärts. Nun kamen sie 19 schon wieder zurück. Berta dachte nicht an ihren Vater und nicht einmal an ihren Mann, der da hinten auf dem Deck an einem Tisch saß, den Kopf schwer von der Erdbeerbowle und von der starken Sonne des Tages. Er hatte die Augen zugemacht und schnarchte leise.
Sie fühlte nichts weiter als die Gegenwart des Mannes, mit dem sie tanzte. Es war der Steuermann des Schiffes. Den ganzen Nachmittag schon hatte er sie mit seinen Blicken verfolgt und nun tanzte er nur mit ihr. Sie hatte den Kopf zurückgelegt, den Mund ein wenig offen, und ihr kurz geschnittenes Haar wehte im lauen Abendwind. Sie blickte ihn verliebt und lockend an, sein wetterbraunes, festes Gesicht, die blauen, klaren Augen, die harten Muskeln, die sie immer wieder drückte, hatten es ihr angetan.
»Ich bin ja so beschwipst«, sagte sie. »Ich hab nämlich die Erdbeeren immer mitgegessen.«
»Das ist gefährlich«, sagte er lachend. »Die saugen den Alkohol auf.«
»Weiß ich, weiß ich. Aber es schmeckt ja so schön. Ach, ich bin ja so ein Schaf –«
Die Deckkapelle spielte einen Tango, und die Paare drehten sich in dichten Reihen unter dem Zelttuch und durch die Tische hin. Weich und flach liefen die Ufer vorüber, auf den Wiesen stand dunkel das Vieh, und am Strande gab es noch Badende, die kreischten und winkten. Segelboote glitten ruhig vorbei.
»Komm mit«, sagte der Steuermann und faßte sie fest am Arm.
Sie gingen die Treppe hinunter. »Hoppla, nicht stolpern – immer Stufe für Stufe –«
Sie gingen durch den Gang.
20 Er öffnete eine Tür. »Meine Kabine.«
»Nein, da geh ich nicht rein.« Berta bekam plötzlich Angst. Er zog sie hinein, sie wehrte sich, hielt sich am Türrahmen fest. Dann gab sie nach. Der Dampfer fuhr weiter. Am Ufer glitten Bauernhäuser, Schiffswerften, Fabriken vorüber. Die Kapelle spielte, und der Lichtschein der Stadt lag am Horizont.
Zuerst hatten sie längere Zeit einen Betrunkenen beobachtet. Er wollte in die Elektrische, aber der Schaffner wollte ihn nicht hineinlassen. Fluchend stand er mitten auf der Straße und drohte der Bahn nach. Hans stellte sich ganz nah heran, um all seine Worte zu hören. Sie verfolgten ihn auch weiterhin, als er auf der Straße dahintorkelte und den Vorbeigehenden seine Empörung mitteilte. Keiner wollte ihn hören, nur Hans nickte ernsthaft bei seinem Gequatsche. Der Betrunkene schimpfte immer noch auf den Schaffner – der kleine Hans sah interessiert von unten herauf in sein aufgelöstes rotes Gesicht, in seine stieren Augen. Er kniff Erich vor Vergnügen in die Seite. Dann wollte Hans das schöne, im Licht der Bogenlampe dunkelblau glänzende Auto begucken, das vor dem Hafenzollhaus stand. Ein vornehmer Herr in gelbem Mantel war im Zollhaus verschwunden, und der grüngekleidete Chauffeur mit funkelnden Lackgamaschen ging vor der roten Backsteinwand auf und ab. Hans sah in den Wagen, darunter, auf den kleinen silbernen Adler vorne, hob eine Klappe und drückte die Hupe, daß es leise tutete. Da sagte der Chauffeur hochnäsig: »Nun aber Schluß.«
Und sie liefen weiter, dort sahen sie eine 21 Wirtshaustür, die sich öffnete – Rauch, Männer um kleine Tische, Theke, Biergläser, elektrisches Klavier, Gelärme – sie sahen sich die Auslagen der Zigarrengeschäfte, die Riesenzigarren, dunkel wie Schokolade, die Tabakblätter, Pfeifen, buntbemalten Gipsindianer an, die kleinen Tropenlandschaften auf der Innenseite der zurückgeschlagenen Zigarrenkästen.
Während Hans träumerisch in das Anschauen eines Bildchens versank, das eine Tabakernte in glühenden Farben malte, drehte sich Erich plötzlich um, sah auf den Sipo mitten auf der Straße, der mit streng weisendem Arm den Verkehr regelte, sah aus dem Zollhaus den vornehmen, gelben Herrn mit einem Zollbeamten treten, der ernst und mißbilligend durch eine Brille sah und den vornehmen Herrn gravitätisch verabschiedete. Die Wagen rollten vorüber – Autos, Straßenbahnen. Matrosen und Hafenarbeiter gingen vorbei, es war jetzt schon fast dunkel, der Himmel schwerblau und drückend, das weiße Licht der Bogenlampe floß auf den Sipo nieder über die Straße, über die mattrote Zollhauswand und versickerte auf Rasen, in Büschen und Bäumen da drüben, wo der Eisenbahndamm aufstieg. Es war spät, es war Nacht, und von ferne tutete ein Dampfer. Über ihnen hing eine Normaluhr: viertel nach acht.
Erich zog Hans hastig zu sich herum: »Du, es ist spät, wir müssen nach Haus.« Er zeigte auf das große matterleuchtete Zifferblatt da oben.
»Nach Haus? Jetzt? Denk nicht daran. Und die Adelaide?«
»Können wir ja auch morgen besehen.«
»Mensch, fährt ja heut abend. Und überhaupt – wo wir nun mal unterwegs sind.«
22 Hans blickte ihn halb verächtlich, halb ermunternd an. Da konnte Erich nicht widerstehen. Diesem frechen hochmütigen Gesicht von Hans konnte er nie widerstehen. Sie liefen nun schneller. Aber vorm Astoria, dessen Fassade jetzt hell erleuchtet war, mußten sie doch noch einmal stehenbleiben. Die ganze Wand war mit ein und demselben Plakat beklebt. Die beiden Ringer Dieckmann und Alvaroz im Kampf. Sie standen sich gegenüber, mit vorgebeugtem Oberkörper und stierartig drohenden Schädeln. Ihr Fleisch rosa und blühend, die Muskeln kolossal, die Höschen knallrot und blau. Hans blickte lange starr auf die beiden Gestalten. Da verging ihm aller Spaß, er fühlte tiefen Respekt. Erich war schwer bedrückt. Nun standen sie hier, und sie liefen jetzt immer weiter fort, fort von zu Haus. Fremde Menschen drängten sich um die Kasse des Astoria. Draußen war der Hafen mit Schiffen, die ins Meer, in die Welt fuhren. Er fühlte sich so allein. Und unterdessen saß die Mutter mit dem Vater beim Abendbrot – seine Bratkartoffeln und sein Spiegelei waren sicher schon kalt, und die Mutter hatte den Teller darübergedeckt. Da könnte er nun auch sitzen. Aber er mußte hier herumirren, es ging nicht anders. Wollte er denn Hans verlieren, die Freundschaft dieses Einzigen, Besten, um den ihn alle beneideten? Unmöglich. Er legte zart den Arm um den schlanken, bloßen Hals des Freundes.
»Laß doch die Albernheiten. Dies Mädchengetue muß aufhören.« Verachtung kam in Hans' bleiches Gesicht, seine grauen Augen blickten scharf, und eine kleine strenge Falte bildete sich dicht über der Nasenwurzel und zeichnete sich in die reine hohe Stirn ein.
»Komm, aber benimm dich richtig.« Plötzlich bog 23 Hans in eine dunkle, schmale Seitenstraße ab. »Warte.« Er ging ein Stück und stellte sich in eine Ecke an die Wand. Hell und rein schimmerte der zierliche Strahl im Laternenlicht. Erich sah, daß ein Mann daherkam. Er warnte durch einen Pfiff. Hans lachte höhnisch auf. Der Mann blieb stehen und wollte Hans ermahnen. Aber da kam er an den Rechten. Frech krähte er ihm entgegen. Und ging fort. Ließ ihn einfach stehen.
»Als wenn ich hier nicht pinkeln dürfte«, sagte er kopfschüttelnd zu Erich. »Was ist eigentlich dabei? Kannst du mir das sagen?«
Erich konnte es natürlich auch nicht. Was Hans tat, war richtig, schön und mutig.
Sie kamen vor den Hafeneingang. In der Ferne ragten Schornsteine und Masten aus der Hafentiefe über den Kai.
»Da ist die Adelaide. Sie ist schon erleuchtet.«
Frau Jacobi ging die dunkle Treppe hinauf. Sie hatte jede Stufe im Gefühl. Ihre Pakete schlugen raschelnd ans Geländer. Ich will doch noch mal hineingehen, dachte sie. Es machte ihr Spaß, ihre Teilnahme immer wieder zu zeigen. Ich bin eigentlich sehr aufmerksam. Sie klingelte bei Mahlers. Die Tür ging auf und Frau Mahler stand in der Schwärze des kleinen Flurs. Nur ihr blasses Gesicht trat ein wenig mit mattem Schimmer hervor.
»Nun, meine Liebe, wie steht es, darf man fragen?«
Frau Mahler schwieg einen Augenblick, dann schluchzte sie leise.
»Kommen Sie doch herein ins Zimmer –«
»Nein, nein, ich wollte nur wissen – Herr Berg muß 24 ja sein Abendbrot haben –.« Sie raschelte mit den Paketen. »Hier seine Sachen –.«
»Es geht zu Ende. Er stirbt mir einfach weg.«
»Mein Gott, Sie täuschen sich.«
»Ich kann es gar nicht fassen. Er stirbt wirklich. Der Arzt hat auch so merkwürdig geguckt. Er ist ganz ruhig und spricht überhaupt nicht mehr. Was soll ich denn machen? Darüber komm ich nicht weg.«
»Sie Arme, nur Mut. Hoffen Sie. Man weiß ja nie. Ich stehe natürlich jederzeit zu Ihrer Verfügung. Wenn Herr Berg sein Abendbrot hat, komme ich noch mal herunter.«
»Und der Mensch kann jetzt noch Flöte spielen«, sagte Frau Mahler bitter.
»Was? Das tut er? Oh! Da werde ich doch gleich mal –«
Frau Jacobi redete schnell und viel, aber Frau Mahler nickte nur abwesend, hörte gar nicht hin, trat schon zurück. Es zog sie in die Sterbekammer.
»Ich komme wieder.« Frau Jacobi stieg zu ihrer Wohnung hinauf. Herrn Mahlers Schlafzimmer lag direkt unter ihrem eigenen. Da würde sie vielleicht diese Nacht über einem Toten schlafen. Kein angenehmer Gedanke. Ein großes Begräbnis wird es wohl nicht mehr geben. Er war schon zehn Jahre pensioniert. Kein Hahn krähte danach, wenn der Alte von der Bildfläche verschwand. Eine kleine, billige Anzeige in der Zeitung, ein paar Kränze, und der Pastor würde sich auch nicht gerade heiser reden. Habe ich denn überhaupt ein schwarzes Kleid? Ich ziehe mein blaues Kostüm an. Ja, den braunen Hut. Die Feder nehme ich ab und lege ein schwarzes Band herum, na und schwarze Handschuhe hab ich ja noch. Ganz schwarz brauche 25 ich ja auch nicht zu sein, ist ja kein Verwandter. Richtig, Berg. Das muß ihm natürlich gesagt werden. Sehr schonend, aber bestimmt. Ein angenehmer Mieter, sicherlich – aber das geht zu weit. Er ist taktvoll und wird verstehen . . . Er weiß eben noch gar nicht, wie schlecht es dem Alten geht.
Als sie die Haustür aufschloß, drangen ihr gleich die klaren, langgezogenen Töne entgegen. Schnell legte sie die Pakete fort, zog ihren Mantel aus und klopfte. Berg ließ sich durch ihren Eintritt gar nicht stören. »Einen Moment«, sagte er, ohne sie anzusehen. Er stand vorm offenen Fenster, dort unten die Gärten, dort drüben die Hinterwand der Häuser, und spielte klar und ruhig in die Nacht hinaus, vor sich einen Notenständer mit einem Blatt, aber hier in der Dunkelheit konnte er ja gar nicht mehr sehen, er spielte wohl aus dem Kopf. »Wie fremd er mir eigentlich ist«, fühlte Frau Jacobi auf einmal, als sie sein ernstes, unbewegliches Gesicht sah. Eine schwarze Haarsträhne lag über seiner weißen, gewölbten Stirn. Der Hals ragte beängstigend dünn und lang aus dem offenen Hemdkragen hervor. Die Tonfolgen waren zu einem Abschluß gekommen, und Berg senkte die schwarze, silberbeschlagene Flöte und sah Frau Jacobi mit einem merkwürdigen, erbarmungslosen Blick an. Auch das matte Lächeln um den schmalen, breiten Mund und die eingefallenen Backen herum gab Frau Jacobi wenig Zuversicht.
»Nun?«
»Ich mache jetzt das Abendbrot.«
»Gut.«
»Und dann – er, da unten – Sie wissen ja, wie krank er ist – er wird wohl bald sterben –«
26 Herr Berg blickte ernst und ruhig aus dem Fenster über die Gärten. Ein lauer, weicher Wind durchwühlte die vollen, grünen Septemberwipfel.
»Bedauerlich.« Er zuckte mit den schmalen, knochigen Schultern.
»Das wollte ich Ihnen nur sagen«, flüsterte eingeschüchtert Frau Jacobi. Sie konnte mit diesem Menschen nicht fertig werden. Sie verschwand.
Und als sie in der Küche stand, begann das Spiel von neuem. Klare, langgezogene Töne, ruhig, ernst und feierlich.
Frau Jacobi trat abermals ein und wartete diesmal gar nicht ab, bis Berg aufhörte, sie redete in das Spiel hinein, mit gedämpfter Empörung.
»Aber, Herr Berg, wo er doch da unten liegt und vielleicht bald stirbt –«
Berg spielte weiter. »Ja und –?«
»Fühlen Sie denn nicht das Unpassende?«
»Ich spiele Bach«, sagte ruhig und unbewegt Herr Berg. Seine langen, schlanken, abgemagerten Finger hoben und senkten sich langsam über den Flötenlöchern. Sein Blick war über die Gärten, über die Häuser weg ins Freie, in die Nacht gerichtet.
»Bach, ganz richtig. Aber in diesem Augenblick –Haben Sie denn kein Gefühl? Ich habe Sie immer für einen so feinen Menschen gehalten, einen Menschen –« Frau Jacobi wußte selbst nicht, wie sie plötzlich dazukam, dies zu sagen – »der weit über mir steht. Und nun?«
Berg senkte nun doch die Flöte und lächelte sie wieder so merkwürdig an. Frau Jacobi war erschreckt über die Schönheit seines bleichen, scharf geschnittenen, langen Gesichtes, sie konnte diesen klaren, durchdringenden grauen Blick nicht ertragen und sah zur Seite.
27 »Bach kann man immer spielen, soll man immer spielen«, sagte er mit unumstößlicher Gewißheit. »Im Leben und beim Tode.«
»Ich verstehe das nicht,« sagte Frau Jacobi völlig hilflos, »dafür bin ich wohl zu dumm.«
»Das ist aber etwas sehr Einfaches«, sagte Herr Berg.
Frau Jacobi wurde es ganz unheimlich und fremdartig. »Meinetwegen spielen Sie weiter, ich sage nun nichts mehr. Ich bin nur eine dumme Frau, die es gut gemeint hatte«, sagte sie kopfschüttelnd und beklommen und ging. Während sie für Herrn Berg das Abendbrot zurechtmachte, drangen klar und mahnend die unbegreiflichen Flötentöne zu ihr herüber. Ich will doch zusehen, daß ich einen anderen Mieter bekomme, dachte sie.
Und Herr Berg spielte weiter, er spielte den ganzen Abend. Das machte er sonst so, und er machte es auch heute. Klar und stetig, in ruhigen Intervallen schwebten die kühlen, silberglänzenden Töne über die Gärten und vermischten sich mit der Abendluft, zerrannen in ihr. Aber wer hörte diese Töne, wer vernahm sie innen, wer war fähig, diese strenge Botschaft, diese klare Klage zu begreifen? Der Sterbende vernahm sie nicht, konnte sie nicht mehr vernehmen, er war schon in einen allzu tiefen Schlaf versunken, sonst wäre er vielleicht derjenige gewesen, der diese Töne am besten begriffen hätte – und die anderen Leute vernahmen sie noch viel weniger. Aber die kleine Luise, die im Nachtkleid am offenen Fenster lehnte, die verstand diese Klänge, sie fand sie sehr schön und ganz selbstverständlich. Sie lehnte ihren Kopf in die Hand und träumte dabei in den Garten hinunter. Die Töne zogen eine ruhige, stetige Bahn, der weiche Abendwind 28 rauschte ein wenig in den Bäumen der Gärten und trug die vollen Gras-, Blumen- und Blattgerüche heran. Die Gärten lagen dunkelgrün und undeutlich da, Baummassen, Büsche, schwarze Planken, weichumrandete Rasenstücke, Turnrecke für Kinder. Drüben in den Häusern brannte in einigen Zimmern Licht, und die Leute gingen lautlos hin und her. Aus der Ferne ertönte Radiomusik wie eine Begleitung zu dem Flötengesang. Luise roch den säuerlichen, schweren Stallgeruch aus dem Fuhrgeschäft nebenan. Dort standen die Wagen still im Hof mit hängender Deichsel, die Pferde schnaubten wohl mal im Stall und schlugen mit dem Huf auf. Der Stallknecht ging mit einer Lampe über den Hof, leuchtete hierhin und dorthin, ging in den Stall und für Augenblicke trat ein fahler Heuhaufen, eine Bretterwand mit Pferdegeschirr, ein breiter, glänzender Pferderumpf hervor. Dann versank wieder alles in weiche, wogende, fließende Nacht – und Luise schwebte wieder mit den Tönen dahin – auf silbernen Bahnen. Da schreckte sie plötzlich auf. Sie sah wieder die Ratten. Die kleinen, bösen Augen, scharf und nadelspitz, und eine graue Lippe hob sich widerlich und zeigte leise zischend das grausame Gebiß. Luise hatte plötzlich Angst vor der Nacht, vor dem Alleinsein. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, nach einem geschlossenen Zimmer, nach Gemütlichkeit, und da blickte sie schnell in den Nachbargarten. Da war etwas, was sie tröstete und beruhigte, ein friedliches Bild.
Dort saß nämlich am Ende des Gartens in der von großen Blättern umrankten Laube Herr Hennicke, der Geographielehrer mit seinen zwei Söhnen. Eine Petroleumlampe stand mitten auf dem Tisch und 29 verbreitete einen warmen, gelben Schein. Hin und wieder schwalgte die Lampe, dann drehte sie Herr Hennicke mit behutsamer Hand kleiner. Vor ihm lag ein aufgeschlagenes Buch, und er las daraus vor. Seine beiden Söhne, zwei schlacksige, blonde Primaner mit feuchten, pickligen Gesichtern, hatten die Köpfe aufgestützt und lauschten satt und zufrieden seinem Wort. Ihre Blicke waren in den dunklen Garten, oder noch weiter fort gerichtet. Herr Hennicke hatte eine Brille auf, und sein faltenloses rosiges Kindergesicht strahlte. In seinen grauen Haaren war ein Silberschimmer. Herr Hennicke liebte die fernen Länder, das Reisen, die Abenteuer, das Meer, die Schiffe, aber er war nie über seine Heimatstadt hinausgekommen. Aus Sehnsucht war er Geographielehrer geworden. Da er nicht reisen konnte, las er die Bücher und reiste in Gedanken. Das gefiel ihm auch eigentlich viel besser. Da ging alles viel reibungsloser vonstatten. Am Abend las er seinen Söhnen vor, tagsüber aber stand er oft im Hafen und sah sich die Schiffe an. Er kannte alle Schiffe, die aus- und einfuhren. Zu jeder Zeit war es ihm möglich, den Hafen zu betreten, und er gelangte auch an Stellen, wo sonst gewöhnliche Sterbliche nicht hingelangen, denn sein Freund war der Zollinspektor. Der hatte Mitleid mit ihm und verschaffte ihm Zugang. Da saß denn Herr Hennicke oft auf einer Holzlatte oder einem Baumwollballen, die Hand unterm Kinn, rauchend, und starrte in das Getriebe des Hafens hinunter. Alle Leute vom Hafen kannten ihn.
Herr Hennicke unterbrach sein Lesen und sann einen Augenblick vor sich hin: »Heute um halb zwölf fährt die Adelaide«, sagte er leise. Die Söhne nickten, und Herr Hennicke blickte der davonfahrenden Adelaide 30 für eine kurze Weile nach. Leicht und zart umwehten ihn die Töne von Herrn Bergs Flöte, sie wurden ihm zu silbernen Wasserspuren.
Dann las er weiter: »Als wir zum zweiten Mal zum Strande kamen, hatte die Küste ein ganz anderes Gesicht. Diese Landschaft, das merkten wir, enthüllt sich nicht im Sturm – graue Regentage, dickgeballte Wolken, Nebel, das gehört in den Norden, sie enthüllt sich nur bei strahlendem Wetter. Das Meer lag ganz glatt und hellblau durchsichtig da. Nur in ganz zarten Wellen kräuselte sich das Wasser am Strande, und man konnte durch die kristallklare Flut die kleinen rosa Muscheln, die Krebse und die wunderbar leichten Schleiergebilde der dahinfließenden Quallen sehen. Mein Freund Majo, der jetzt schon ganz zutraulich war und mir mit seinem weißen Gebiß bezaubernd entgegenlachte, schwang seinen Speer und traf mit unglaublicher Sicherheit die vorbeistreichenden Riesenfische. Sein brauner, glänzender Körper war von fast griechischer Schönheit. Er gab mir mit ausdrucksvoller Zeichensprache zu verstehen, daß –« Schritte knirschten auf dem Kies, und Herr Hennicke sah auf. Steif und gravitätisch näherte sich der Zollinspektor. Schnell klappte Herr Hennicke das Buch zu, errötend wie ein Junge, den man dabei ertappt, daß er noch mit einer Puppe spielt. »Für heute Schluß«, rief er mit etwas erzwungener Keckheit. »Jungens, nun laßt uns allein.« Die Söhne räkelten sich noch ein wenig auf ihren Plätzen und gähnten mit offenen Mäulern, dann standen sie auf und verschwanden mit schlacksigen Bewegungen, müde und traumbefangen.
Der Zollinspektor sah auf das Buch und lachte kurz und höhnisch auf: »Wieder ordentlich den Kopf 31 vollgestopft mit dem blödsinnigen Zeug? Du bist mir der rechte Erzieher. Anstatt ihnen rechtzeitig die Augen zu öffnen und sie für den Lebenskampf zu stählen – na ja, schon gut. Hat ja doch keinen Sinn.« Er schüttelte müde den Kopf und sah seinen Freund griesgrämig durch die Brille an. Herr Hennicke war noch immer leicht gerötet, und seine Augen starrten auf den brennenden Docht. Die Flamme wuchs schon wieder an, und er drehte sie kleiner, froh, etwas zu tun zu haben. Herrn Bergs Töne zogen klar und traurig vorbei.
Der Zollinspektor hielt Herrn Hennicke für ein ahnungsloses Kind. Er dagegen kannte die Welt. Seit fünfundzwanzig Jahren war er am Zoll, da wußte er genug. Er hatte eine unglaubliche Sicherheit im Entlarven von Schmuggeleien. O, er wußte Bescheid. Seinen Augen entging nichts. Sie waren vielleicht etwas zu scharf geworden, sie sahen manches zu genau und einiges gar nicht mehr. Wie sollte er da Herrn Hennicke mit seinen Kinderbüchern und Ammenmärchen nicht ein wenig verachten? Aber er liebte ihn trotzdem, er tat ihm so leid. Mein Gott, wenn ihm nur nicht eines Tages die Augen aufgingen – nicht auszudenken! Mit erhobenem Kopf lauschte Herr Hennicke dem Flötenspiel. Er wiegte ihn im Takt.
Auch der Zollinspektor lauschte, er fand diese Klänge sehr schön, er liebte Musik. Trotzdem sagte er nur: »Der Mann hat einen Flötenfimmel. Dem ist das Spielen zu Kopf gestiegen. Du gestattest doch?«
»Was denn?« fragte Herr Hennicke zerstreut.
Der Zollinspektor hatte aber schon seine grüne Uniform am Halse aufgeknöpft. »Es drückt beim Sitzen. Du weißt ja.«
»Sind doch alte Freunde«, sagte Herr Hennicke.
32 Da lachte der Zollinspektor wieder bitter auf. »Ja, ein großes, blankes Auto haben sie natürlich, diese Herren, und einen Chauffeur, und einen feinen, gelben Gummimantel, aber wenn man dann mal näher zusieht –«
Herr Hennicke legte seine Hand auf den Arm des Zollinspektors: »Laß das doch jetzt. Denk nicht mehr dran.«
»Ja, lassen wir das. Schmutz über Schmutz«, murmelte der Zollinspektor. Er wollte eigentlich noch schimpfen, aber er konnte nicht mehr recht. Die beiden Freunde blickten sich lächelnd an. Herrn Bergs Flöte klang klar herein, und der Zollinspektor streckte sich und stützte sich breit und behäbig auf die Bank, seine Uniform klaffte auseinander und zeigte sein schneeweißes Hemd, seine goldenen Achselstücke blitzten auf. »Hier darf man doch noch mal Mensch sein.«
Ruhig und wortlos saßen sie bei der Lampe in der Laube und genossen den Frieden und die Musik.
Da brach das Flötenspiel plötzlich ab, mitten in einer immer mehr emporsteigenden Tonfolge.
»Nun hört er auf, und so mitten drin, der dumme Kerl«, sagte der Zollinspektor traurig. »Und es klang doch gerade so schön.«
Frau Jacobi hatte das Licht angeknipst. Da mochte Herr Berg nicht mehr spielen. Er setzte sich auf das Sofa und sah mit leisem Lächeln zu, wie Frau Jacobi den Abendbrottisch deckte. Sonst pflegte sie bei dieser Gelegenheit zu sagen: »Nun essen Sie aber ordentlich. Ich habe Ihnen so schöne Sachen hingestellt und ich muß immer das meiste wieder hinaustragen. Sie essen ja immer weniger. Sie essen nur noch wie ein Vogel.« Heute aber sagte sie gar nichts. Nur als sie fertig war, sah sie ihn einen Augenblick vorwurfsvoll an. Sein 33 weißer Hemdkragen war weit auseinandergeschlagen, und sie erblickte seine blasse, knochige Brust. Sie sah die kleinen Schattentäler auf seiner Brust. »Essen Sie, essen Sie tüchtig«, sagte sie da schnell und ging fort. Sie wußte plötzlich: der wird's auch nicht mehr lange machen. Ein Todeskandidat. Und da spielte er noch so ruhig die Flöte. Als sie schon wieder in ihrem Zimmer war, sah sie noch immer sein leises Lächeln.