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Die Vogelfreien

Ein Bauer, der einen Mönch ermordet hatte, floh in die Wälder und wurde geächtet. Er traf dort einen anderen Vogelfreien an, einen Fischer von den äußersten Inseln in den Schären, der wegen Diebstahls eines Heringsnetzes angeklagt war. Die beiden taten sich zusammen, wohnten in einer Höhle, legten Schlingen, schnitzten sich Pfeile, backten Brot auf einem flachen Granitblocke und wachten für einander. Der Bauer verließ den Wald nie, doch der Fischer, der kein so schweres Verbrechen begangen hatte, nahm bisweilen das erlegte Wildbret auf die Schulter und schlich sich in die Wohnungen der Menschen. Dort vertauschte er den schwarzen Auerhahn und das blauglänzende Birkhuhn, den langohrigen Hasen und das zarte Reh gegen Milch und Butter, Pfeilspitzen und Kleider. Hierdurch waren die Vogelfreien imstande, ihr Leben zu fristen.

Die Höhle, in der sie wohnten, war in einen Hügel gegraben. Breite Steinplatten und struppige Schlehdornsträucher schützten den Eingang. Auf dem Hügel stand eine riesengroße Fichte. An ihrer Wurzel war der Rauchfang der Höhle. Der emporsteigende Rauch zog durch die dichten, mit Nadeln besetzten Zweige und verschwand unbemerkt in der Luft. Um ihre Wohnung zu erreichen, wateten die Männer in dem Waldbache, der am Abhange des Hügels entsprang. Keiner suchte in dem munter rieselnden Bache die Spur der Friedlosen. –

Anfangs wurden sie wie wilde Tiere gehetzt. Die Bauern versammelten sich wie zu einer Treibjagd auf Bären oder Wölfe. Bogenschützen umringten den Wald. Speerträger betraten ihn und ließen keine dunkle Kluft, kein dichtes Gebüsch undurchsucht. Während die Treibjagd lärmend über die Waldberge dahinzog, lagen die beiden Friedlosen in ihrer dunklen Höhle und lauschten atemlos und vor Entsetzen keuchend. Der Fischer hielt es einen ganzen Tag aus, den Mörder aber trieb die unerträgliche Angst in das Freie, wo er seinen Feind sehen konnte. Da wurde er entdeckt und gehetzt, doch dies war ihm siebenmal lieber als das Stilliegen in ohnmächtiger Untätigkeit. Er floh vor seinen Jägern, er glitt Abhänge hinunter, sprang über Ströme, kletterte lotrechte Bergwände hinauf. Alle in ihm liegende Kraft und seine ganze Geschicklichkeit machte sich unter dem Sporne der Gefahr geltend. Sein Körper wurde so elastisch wie eine Stahlfeder, der Fuß glitt nicht ab, die Hand ließ nicht los, Auge und Ohr waren doppelt so scharf wie gewöhnlich. Er verstand das Flüstern des Laubes und die warnenden Rufe der Steine. Wenn er einen Abhang erklommen, wandte er sich nach seinen Verfolgern um, sie mit Spottliedern in beißenden Reimen begrüßend. Wenn die sausenden Speere in der Luft pfiffen, griff er sie blitzschnell und schickte sie seinen Feinden wieder. Wenn er sich durch die ihn ins Gesicht schlagenden Zweige drängte, sang etwas in seinem Innern ein Loblied auf sein Tun.

Da lief der kahle Bergrücken durch den Wald, und einsam auf seinem Kamme stand die himmelhohe Föhre. Der rötlich braune Stamm war kahl, doch in dem astreichen Gipfel schaukelte das Raubvogelnest. So überaus mutig war nun der Flüchtling, daß er dort hinauf kletterte, während seine Verfolger ihn auf den bewaldeten Abhängen suchten. Dort sah er, den jungen Habichten den Hals umdrehend, indes die Hetzjagd tief unter ihm dahinzog. Der Habicht und die Habichtin stießen rachgierig auf ihn hinab. Sie flatterten ihm vor dem Gesichte, sie zielten mit dem Schnabel nach seinen Augen, schlugen ihn mit den Flügeln und kratzten ihm die wettergebräunte Haut blutig. Er kämpfte lachend mit ihnen. Aufrecht in dem schwankenden Neste stehend, hieb er mit seinem scharfen Messer nach ihnen und vergaß über der Lust des Spieles die Lebensgefahr und die Verfolger. Als er Zeit fand, sich nach diesen umzusehen, waren sie in einer andern Richtung fortgezogen. Keiner hatte daran gedacht, die Jagdbeute auf dem kahlen Bergrücken zu suchen. Keiner hatte die Augen zu den Wolken erhoben, um ihn Knabenstreiche und Nachtwandlertaten verüben zu sehen, während sein Leben in größter Gefahr schwebte. Der Mann zitterte, als er sich gerettet sah. Mit bebenden Händen griff er nach einer Stütze, schwindelnd maß er die Höhe, die er erklettert. Und aus Angst vor dem Fallen stöhnend, bange vor den Vögeln, bange vor der Möglichkeit, gesehen zu werden, bange vor allem, glitt er am Stamm hinunter. Er legte sich auf die Erde, um ungesehen zu bleiben, und kroch über das Berggeröll dahin, bis ihm das Unterholz Schutz gewährte. Dort verbarg er sich unter den verworrenen Zweigen der jungen Fichten. Schwach und kraftlos sank er auf das Moos nieder. Ein einzelner Mann hätte ihn fangen können.

 

Tord war der Name des Fischers. Er war erst sechzehn Jahre alt, aber stark und kühn. Er hatte schon ein Jahr im Walde gelebt.

Der Bauer hieß Berg, mit dem Beinamen »der Riese«. Er war der größte und stärkste Mann im ganzen Gaue, dazu schön und gut gewachsen. Er war breitschultrig und doch schlank. Seine Hände waren so fein gebildet, als hätten sie sich nie an harter Arbeit versucht. Das Haar war braun, das Gesicht aber zart gefärbt. Nachdem er einige Zeit im Walde gelebt hatte, erhielt er in jeder Hinsicht ein furchteinflößenderes Aussehen, als er sonst gehabt. Sein Blick wurde stechend, die Augenbrauen buschig, und die Muskeln, die sie zum Runzeln brachten, lagen fingerdick über der Nasenwurzel. Es trat auch deutlicher als früher hervor, daß der obere Teil seiner Athletenstirn über den untern vorgeschoben war. Die Lippen schlossen sich jetzt fester als früher, das ganze Gesicht wurde magerer, die Grübchen an den Schläfen vertieften sich und die kräftig entwickelten Kinnbacken traten deutlicher hervor. Sein Körper verlor an Fülle, die Muskeln aber wurden stahlhart. Das Haar ergraute schnell.

An diesem Manne konnte der junge Tord sich nicht satt sehen. Etwas so Schönes und so Gewaltiges hatte er noch nie erblickt. In seiner Phantasie stand er hoch wie der Wald, stark wie die Brandung da. Er diente ihm wie einem Herrn und verehrte ihn wie einen Gott. Es war so natürlich, daß Tord den Jagdspeer trug, das Wildbret heimschleppte, Wasser holte und Feuer anfachte. Berg der Riese ließ sich alle seine Dienste gefallen, gönnte ihm aber beinahe nie ein freundliches Wort. Er verachtete ihn, weil er ein Dieb war.

Die Friedlosen führten kein Räuber- oder Weglagererleben, sondern ernährten sich durch Fischfang und Jagd. Hätte Berg der Riese nicht einen heiligen Mann erschlagen gehabt, würden die Bauern bald mit der Verfolgung aufgehört und ihn oben in den Bergen in Frieden gelassen haben. Doch nun fürchteten sie großes Unheil für die Gegend, weil derjenige, welcher Hand an einen Diener Gottes gelegt, noch ungestraft umherging. Wenn Tord mit Wildbret ins Tal kam, boten sie ihm Geld und Gut und Vergebung für sein eigenes Verbrechen, falls er ihnen den Weg nach der Höhle des Riesen zeige, damit sie diesen, während er schlief, greifen könnten. Der Knabe sagte jedoch stets nein, und wenn sich ihm jemand nach dem Walde hinauf nachschlich, so führte er ihn so schlau in der Irre herum, daß er die Verfolgung aufgab.

Einmal fragte ihn Berg, ob die Bauern ihn nicht zum Verrate überreden wollten, und als er erfuhr, welche Belohnung sie ihm versprochen hatten, sagte er höhnisch, daß Tord dumm sei, wenn er ein solches Anerbieten nicht annehme.

Tord sah ihn da mit einem Blicke an, wie ihn Berg der Riese noch nie gesehen hatte. So hatte ihn kein schönes Weib in seiner Jugend, so hatten seine Kinder, seine Gattin ihn nicht angeblickt. »Du bist mein Herr, der von mir selbst erwählte Herrscher,« sagte der Blick. »Wisse, daß du mich schlagen und schimpfen darfst, soviel du willst. Ich bleibe dir doch treu!«

Von nun an gab Berg mehr acht auf den Knaben und merkte, daß er Mut zum Handeln hatte, zum Reden aber zu schüchtern war. Der Tod flößte ihm kein Entsetzen ein. Wenn die Seen eben übergefroren oder das Sumpfland im Frühlinge am gefährlichsten waren, wenn sich die Schwankmoore unter reich blühenden Moltebeeren und üppigem Wollgrase verbargen, schlug er am liebsten den Weg über diese ein. Es schien ihm ein Bedürfnis zu sein, sich der Gefahr auszusetzen; er fand darin gleichsam einen Ersatz für die Stürme und das Grausen auf dem Meere, denen er jetzt nicht mehr entgegenging. Nachts war er bange im Walde, und selbst am hellen Tage konnte das dunkle Dickicht oder die weitgreifenden Wurzeln einer umgestürzten Föhre ihn erschrecken. Doch wenn Berg ihn darüber ausfragen wollte, schwieg er verlegen.

Tord pflegte nicht auf dem hinten in der Höhle dicht beim Herde aus weichem Moose und warmen Fellen gebetteten Lager zu schlafen, sondern kroch allnächtlich, sobald Berg eingeschlafen war, nach dem Eingange und legte sich dort auf eine Steinplatte. Berg merkte dies und fragte ihn, obwohl er den Grund erriet, was dies heißen solle. Tord gab ihm hierüber keine Auskunft. Um dem Fragen ein Ende zu machen, lag er zwei Nächte nicht an der Tür, dann nahm er seinen Wachtposten wieder ein. Eine Nacht, als der Schneesturm in den Wipfeln des Waldes wirbelte und selbst durch das am besten vor dem Winde geschützte Dickicht brauste, drangen die tanzenden Schneeflocken in die Höhle der Friedlosen. Tord, der vor dem von Steinen verdeckten Eingänge lag, befand sich, als er am Morgen erwachte, mitten in einer schmelzenden Schneewehe. Einige Tage darauf erkrankte er. Die Lungen pfiffen, und wenn sie sich beim Atmen erweiterten, empfand er stechende Schmerzen. Er hielt sich aufrecht, solange es seine Kräfte erlaubten, doch eines Abends, als er sich niederbeugte, um das Feuer anzublasen, fiel er um und blieb liegen.

Berg trat zu ihm und bat ihn, sich auf sein Bett zu legen. Tord stöhnte vor Schmerzen und war außerstande. sich zu erheben. Berg schob da den Arm unter seinen Rücken und trug ihn dahin. Er hatte dabei das Gefühl, als fasse er eine feuchtkalte Schlange an, und einen Geschmack im Munde, als hätte er von dem unheiligen Pferdefleische gegessen, so zuwider war es ihm, diesen gemeinen Dieb anzurühren.

Er deckte ihn mit seinem eigenen, großen Bärenfelle zu und gab ihm Wasser, mehr konnte er nicht tun. Es wurde auch nicht schlimm. Tord war bald wieder hergestellt. Doch dadurch, daß Berg seine Arbeit verrichten und ihn bedienen mußte, waren sie einander nähergetreten. Tord wagte nun, ihn anzureden, wenn er des Abends in der Höhle Pfeile schnitzte.

»Du bist von guter Herkunft, Berg,« sagte Tord. »Die Reichsten im Tale sind deine Verwandten. Die Männer deines Stammes haben Königen gedient und in ihrer Schildburg gestritten.«

»Meistens haben sie unter den Aufrührern gekämpft und den Königen viel Schaden zugefügt,« erwiderte Berg.

»Deine Vorfahren hielten in der Weihnachtszeit große Gelage, und das tatest auch du, als du auf deinem Hofe saßest. Hunderte von Männern und Weibern konnten auf den Bänken in deiner großen Halle, die schon erbaut war, ehe Sankt Olaf hier in Viken Jetzt der nördliche Teil der Provinz Bohuslän. taufte, Platz finden. Du besaßest uralte Silberschalen und große Trinkhörner, die, mit Met gefüllt, im Kreise herumgingen.«

Wieder mußte Berg den Knaben ansehen. Er saß mit über den Rand herabhängenden Beinen aufrecht im Bette und stützte den Kopf in die Hände, mit denen er zugleich das wirre Haar, das ihm über die Augen fallen wollte, zurückhielt. Das Gesicht war unter der Verheerung der Krankheit fein und bleich geworden. Die Augen glänzten noch fieberisch. Er lächelte über die Bilder, die er heraufbeschworen: die geschmückte Halle, die Silberschalen, die festlich gekleideten Gäste und Berg den Riesen, in der Halle seiner Väter auf dem Ehrenplatze sitzend. Der Bauer dachte, daß ihn noch nie jemand mit solchen vor Bewunderung leuchtenden Augen angesehen oder ihn in seinen Feierkleidern so herrlich gefunden habe, wie ihn dieser Knabe in seinem abgetragenen Lederwamse fand. Er war gerührt und zugleich gereizt. Der gemeine Dieb hatte kein Recht, ihn zu bewundern.

»Gab es in deinem Hause denn kein Gelage?« fragte er.

Tord lachte. »Draußen auf der Klippe bei Vater und Mutter! Vater ist ja Wrackplünderer und Mutter eine Hexe. Zu uns will niemand kommen.«

»Ist deine Mutter eine Hexe?«

»Das ist sie,« antwortete Tord ohne jegliche Verlegenheit. »Bei stürmischem Wetter reitet sie auf einem Seehunde den Schiffen entgegen, über welche die Sturzwellen hinspülen, und diejenigen, welche da über Bord gerissen werden, gehören ihr.«

»Was macht sie damit?« fragte Berg.

»Oh, eine Hexe braucht stets Leichen. Sie kocht wohl Salben davon oder ißt sie vielleicht auf. Während der Mondscheinnächte sitzt sie draußen in der Brandung, wo die Wellen am weißesten stürmen und der Schaum über sie hinspritzt. Sie soll dort nach den Fingern und Augen ertrunkener Kinder suchen.«

»Das ist scheußlich!« sagte Berg.

Der Knabe antwortete mit unbeschreiblicher Zuversicht: »Bei andern wäre es das, aber nicht bei Hexen. Sie müssen so handeln.«

Berg fand, daß er hier auf eine neue Art, die Welt und die Dinge anzuschauen, stoße.

»Müssen auch Diebe stehlen, so wie Hexen zaubern müssen?« fragte er scharf.

»Ja freilich,« antwortete der Knabe, »ein jeder muß das tun, wozu er bestimmt ist.« Doch mit verstohlenem Lächeln fügte er hinzu: »Es gibt auch Diebe, die nie gestohlen haben.«

»Was meinst du damit, sprich!« sagte Berg.

Der Knabe behielt sein geheimnisvolles Lächeln und war stolz, dem andern ein unlösbares Rätsel zu sein. »Wie man von Vögeln spricht, die nicht fliegen, kann man auch von Dieben reden, die nicht stehlen.«

Berg der Riese stellte sich dumm, um etwas zu erfahren. »Niemand kann wohl Dieb heißen, ohne gestohlen zu haben,« sagte er.

»Nein, nein!« erwiderte der Knabe und kniff die Lippen zusammen, wie um die Worte zurückzudrängen. »Wenn nun jemand einen Vater hätte, der stiehlt,« warf er nach einer Weile hin.

»Gut und Hof erbt man,« erwiderte Berg, »aber den Namen »Dieb« trägt nur der, welcher ihn selbst verdient hat.«

Tord lachte leise. »Wenn nun jemand eine Mutter hat, die einen bittet und anfleht, das Verbrechen des Vaters auf sich zu nehmen. Und wenn einer dann dem Henker eine Nase dreht und in die Wälder flieht. Wenn einer um eines Fischnetzes willen, das er nie gesehen hat, für vogelfrei erklärt wird?«

Berg schlug mit der Faust auf den Steintisch. Er war wütend. Da hatte dieser schöne Jüngling sein ganzes Leben fortgeworfen. Weder Liebe noch Reichtum, noch Ansehen unter den Männern konnte er hinfür gewinnen. Die elende Fürsorge für Speise und Kleider war alles, was ihm blieb. Und der Tor hatte ihn, Berg den Riesen, einen Unschuldigen verachten lassen. Er fuhr ihn mit strengen Worten an, aber Tord wurde nicht einmal so bange, wie das kranke Kind vor der Mutter, wenn sie es schilt, weil es sich im Frühlinge beim Waten im Bache erkältet hat.

 

Auf einem der breiten, bewaldeten Berge lag ein dunkler Sumpfsee. Er war viereckig und hatte so gerade Ufer und so scharfe Winkel, als sei er von Menschen gegraben. Auf drei Seiten umschlossen ihn steile Felswände, an denen sich die Fichten mit armdicken Wurzeln anklammerten. Unten am Sumpfsee, wo die Rasenplagge nach und nach fortgespült worden war, guckten diese nackten und eigentümlich ineinander verschlungenen Wurzeln aus dem Wasser empor, einer unendlichen Menge Schlangen gleich, die auf einmal hatten aus dem See kriechen wollen, sich aber ineinander verwickelt hatten und so erstarrt waren. Oder war es eine Masse dunkelgewordener Skelette ertrunkener Riesen, die der Sumpfsee hatte auswerfen wollen? Arme und Beine krümmten sich umeinander, die langen Finger gruben sich sogar in den Felsen ein, um dort Halt zu finden, die ungeheuren Rippen bildeten Rundbogen, die uralte Bäume trugen. Es war jedoch vorgekommen, daß die eisenharten Arme, die stählernen Riesenfinger, mit denen die Fichten sich festhielten, nachgegeben hatten, und der gewaltige Nordwind einen Baum vom Bergkamme in weitem Bogen in den Sumpf geschleudert hatte. Mit der Spitze voran war er tief in den schlammigen Boden eingedrungen und dort stecken geblieben. Nun fand die Fischbrut einen guten Zufluchtsort zwischen seinen Zweigen, während die Wurzel, einem vielarmigen Ungeheuer gleich, über das Wasser emporragte und mit ihren schwarzen Wurzelzweigen dazu beitrug, den Sumpfsee häßlich und furchteinflößend zu machen. Auf der vierten Seite des Sumpfsees senkte sich das Gebirge. Dort trug ein kleiner schäumender Fluß sein Wasser fort. Ehe dieser Strom den einzig möglichen Weg finden konnte, mußte er zwischen Steinen und Erdschollen umhersuchen und bildete so eine kleine Welt von Inseln, von denen einige nur die Größe eines Erdhaufens hatten, andere hingegen wohl zwanzig Bäume trugen.

Hier, wo die umgebenden Felsen die Sonne nicht verdeckten, gedieh auch Laubholz. Hier standen durstige, graugrüne Erlen und Weiden mit glatten Blättern. Die Birke war da, wie sie überall zur Stelle ist, wo es gilt, das Nadelholz zu verdrängen, sowie der Faulbaum und die Eberesche, die die Waldwiesen einzufassen pflegen, sie mit Duft erfüllen und ihnen Anmut verleihen.

Hier beim Ausflusse gab es auch einen manneshohen Binsenwald, durch den das Sonnenlicht grün auf das Wasser fiel, wie es im eigentlichen Walde über das Moos fällt. Im Schilfe gab es freie Stellen, kleine, runde Teiche, und dort schwammen Wasserrosen. Die hohen Binsen sahen mit mildem Ernst auf diese empfindlichen Schönheiten nieder, die übellaunig ihre weißen Blätter und gelben Staubfäden in der lederharten Hülle verwahrten, sowie die Sonne sich nicht zeigen wollte. An einem sonnigen Tage kamen die Vogelfreien an diesen Teich, um zu angeln. Sie wateten nach zwei hohen Steinen im Binsenwalde hin und saßen dort, den großen, grüngestreiften Hechten, die dicht unter der Wasserfläche schliefen, Lockspeise hinwerfend.

Diese Männer, welche beständig im Gebirge und in den Wäldern umherstreiften, waren, ohne daß sie darum wußten, ebenso unter die Herrschaft der Naturmächte geraten, wie die Pflanzen und die Tiere. Bei Sonnenschein waren sie offenherzig und mutig, doch abends, sowie die Sonne untergegangen war, wurden sie still, und die Nacht, die ihnen viel größer und gewaltiger erschien als der Tag, machte sie beängstigend kraftlos. Nun versetzte das grüne Licht, das durch die Binsen fiel und das Wasser goldstreifig, braun und schwarzgrün färbte, sie in eine Art Wunderstimmung. Jegliche Aussicht war verdeckt. Bisweilen wogte das Schilf in kaum bemerkbarem Winde, die Binsen pfiffen und die langen, bandähnlichen Blätter schlugen ihnen ins Gesicht. Sie saßen in grauen Lederanzügen auf den grauen Steinen. Die verschiedenen Farben des Leders stimmten in der Schattierung mit den Steinen überein. Ein jeder sah den Kameraden in seiner stummen Unbeweglichkeit in ein Steinbild verwandelt. Doch drinnen im Schilfe schwammen Riesenfische, deren Rücken in allen Farben des Regenbogens glänzten. Als die Männer die Angeln auswarfen und die Ringe sich bis in die Binsen hinein ziehen sahen, schien es ihnen, als würde die Bewegung immer stärker, bis sie merkten, daß dies nicht allein von ihrem Wurfe herkam. Eine Nixe, halb Mensch, halb glitzernder Fisch, lag schlafend im Wasser. Sie lag auf dem Rücken mit dem ganzen Leibe unter der Wasserfläche. Die Wellen schmiegten sich so dicht an ihren Körper an, daß die Männer sie nicht eher erblickt hatten. Es waren ihre Atemzüge, die den Wellen nicht erlaubten, stille zu stehen. Doch es war nichts Wunderbares darin, daß sie da lag, und als sie im nächsten Augenblicke verschwunden war, wußten sie nicht recht, ob daß ganze nicht nur eine Sinnestäuschung gewesen war.

Das grüne Licht drang durch die Augen in das Gehirn wie ein sanfter Rausch. Die Männer starrten stumpfsinnig vor sich hin und sahen in den Binsen Gesichte, die sie einander nicht anzuvertrauen wagten. Aus dem Angeln wurde nicht viel. Der Tag war Träumereien und Offenbarungen gewidmet. Drinnen im Schilfe ertönten Ruderschläge, und sie schreckten aus einem Taumel auf. Im nächsten Augenblicke zeigte sich ein schwerer, kunstlos aus einem Stamme ausgehöhlter und in den Fugen mit Moos bewachsener Kahn mit Rudern so schmal wie Stöcke. Ein junges Mädchen, das Teichrosen geholt hatte, ruderte ihn. Sie hatte dunkelbraune, lange Zöpfe und große dunkle, Augen, war aber eigentümlich bleich. Doch ihre Blässe hatte einen rosa, keinen grauen Ton. Die Wangen hatten keine lebhaftere Farbe als das übrige Gesicht, die Lippen waren ebenfalls kaum röter. Sie trug eine Bluse von weißem Leinen und einen Ledergürtel mit goldenem Schlosse. Der Rock war blau mit rotem Saume. Sie ruderte dicht an den Vogelfreien vorüber, ohne sie jedoch zu sehen. Sie verhielten sich still, weniger aus Furcht entdeckt zu werden, als um sie wirklich gut sehen zu können. Sowie sie verschwunden war, wurden sie aus Steinbildern wieder zu Menschen und blickten einander lächelnd an.

»Sie war so weiß wie die Wasserrosen,« sagte der eine. »Sie war so dunkeläugig wie das Wasser dort hinten unter den Fichtenwurzeln.«

Sie waren so heiter, daß sie hätten lachen mögen, wirklich lachen, wie sie nie zuvor an diesem Sumpfe gelacht, so lachen, daß die Felswände widerhallten und die Wurzeln der Fichten sich vor Schreck lösten.

»Fandest du sie schön?« fragte der Riese.

»Oh, ich weiß es nicht, ich sah sie so flüchtig. Vielleicht war sie es.«

»Du wagtest sie natürlich nicht anzuschauen. Du hieltest sie wohl für die Nixe?«

Und wieder wurden die beiden von derselben unerklärlichen Lachlust ergriffen.

 

Tord hatte einmal als Kind einen Ertrunkenen gesehen. Er hatte die Leiche bei hellem Tage am Strande gefunden und sich gar nicht erschrocken, des Nachts aber hatte er entsetzliche Träume gehabt. Er sah in ihnen ein Meer, in dem ihm jede Woge einen Toten vor die Füße warf. Er sah auch alle Holme und Inseln der Schären mit Ertrunkenen bedeckt, die tot waren und dem Meere angehörten, sich aber dennoch bewegen und sprechen konnten und ihm mit den starren, weißen Händen drohten.

So ging es ihm auch jetzt. Das Mädchen, das er im Schilfe gesehen, erschien ihm im Traume. Er begegnete ihr am Boden des Sumpfsees, wo die Beleuchtung noch grüner war als in den Binsen, und er hatte dort Zeit zu sehen, daß sie schön war. Er träumte sich auf der großen Fichtenwurzel mitten in dem dunklen See sitzend, doch der Baum schwankte und schaukelte so, daß er manchmal ganz unter Wasser war. Da zeigte sie sich auf den kleinen Holmen. Sie stand unter den roten Ebereschen und lachte ihn aus. Im letzten Traumbilde brachte er es so weit, daß sie ihn küßte. Da war es Morgen, und er hörte Berg aufstehen, doch er hielt eigensinnig die Augen geschlossen, um weiter träumen zu können. Als er erwachte, war er wie schwindlig und betäubt von dem, was ihm über Nacht erschienen war. Er dachte nun viel mehr an die Maid als am Tage vorher. Gegen Abend fiel es ihm ein, Berg zu fragen, ob er ihren Namen wisse.

Berg blickte ihn wie prüfend an. »Es ist vielleicht am besten, daß du es gleich erfährst,« sagte er. »Es war Unn. Wir sind miteinander verwandt.«

Da wußte Tord, daß diese bleiche Maid an Bergs friedlosem Umherwandern in Gebirg' und Wald schuld war. Er suchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was er von ihr wußte. Unn war die Tochter eines Freibauern. Ihre Mutter war tot, und sie führte das Regiment auf dem Hofe ihres Vaters. Dies gefiel ihr, denn sie war herrschsüchtig und hatte keine Lust, einen Mann zu nehmen.

Unn und Berg waren Geschwisterkinder, und es war schon lange das Gerede gegangen, daß Berg lieber bei Unn und ihren Mägden sitze und mit ihnen scherze, als auf seinem Hofe arbeite. Als bei Berg das große Weihnachtsgelage gegeben wurde, hatte seine Gattin einen Mönch aus Draksmark eingeladen, denn sie wollte, daß dieser Berg vorhalte, wie unrecht er tue, sie einer andern wegen zu vernachlässigen. Dieser Mönch war Berg und manchen andern seines Äußern wegen verhaßt. Er war sehr feist und vollständig weiß. Der seinen kahlen Scheitel umgebende Haarkranz, die Brauen seiner wässerigen Augen, die Gesichtsfarbe, die Hände und die Kutte, alles war weiß. Viele konnten seinen Anblick kaum ertragen.

Bei Tisch, in Gegenwart aller Gäste sagte nun dieser Mönch, denn er war furchtlos und glaubte, daß seine Worte größeren Eindruck machen würden, wenn viele sie hörten: »Man pflegt den Kuckuck den schlechtesten der Vögel zu nennen, weil er seine Jungen nicht im eigenen Neste aufzieht, doch hier sitzt ein Mann, der nicht für Haus und Kinder sorgt, sondern seine Lust bei einem fremden Weibe sucht. Ihn will ich den schlechtesten der Männer heißen.« – Unn stand da auf. »Dies, Berg, ist dir und mir gesagt,« rief sie aus. »Nie bin ich so beschimpft worden, aber mein Vater ist ja auch nicht hier.« Sie wollte gehen, doch Berg eilte ihr nach. »Rühre dich nicht!« sagte sie. »Ich will dich nicht mehr vor Augen sehen.« Er hielt sie in der Vorhalle auf und fragte, was er tun solle, damit sie bleibe. Mit funkelnden Augen hatte sie geantwortet, das müsse er selbst am besten wissen. Da ging Berg hinein und erschlug den Mönch.

Nun waren Berg und Tord mit denselben Gedanken beschäftigt, denn nach einer Weile sagte Berg: »Du hättest sie sehen sollen, als der weiße Mönch gefallen war. Meine Hausfrau versammelte die Kleinen um sich und verfluchte Unn. Sie wandte die Gesichter der Kinder ihr zu, damit sie sich stets derjenigen erinnern möchten, die ihren Vater zum Mörder gemacht. Doch Unn stand so ruhig und schön da, daß die Männer bebten. Sie dankte mir für die Tat und bat mich, gleich in die Wälder zu ziehen. Sie ermahnte mich, kein Räuber zu werden und zum Messer nur für eine ebenso gerechte Sache zu greifen.«

»Deine Tat hatte sie erhoben,« sagte Tord.

Hier stand Berg der Riese nun vor demselben, was ihn schon früher bei dem Knaben in Erstaunen versetzt hatte. Er war ein Heide, ja schlimmer als ein Heide, er verurteilte nie das, was unrecht war. Er kannte keine Verantwortlichkeit. Was kommen mußte, das geschah. Gott, Christus und die Heiligen kannte er, aber nur dem Namen nach, wie man die Götter fremder Länder kennt. Die Gespenster der Schären waren seine Götter. An die Geister der Toten hatte seine zauberkundige Mutter ihn glauben gelehrt.

Da unternahm Berg eine Arbeit, die ebenso töricht war, als wenn er sich einen Strick für seinen eigenen Hals gedreht hätte. Er zeigte den Augen dieses Unwissenden den großen Gott, den Herrn der Gerechtigkeit, den Rächer der Missetaten, der die Schuldigen in die ewige Höllenpein niederstößt. Und er lehrte ihn Christus und seine Mutter lieben und die heiligen Männer und Frauen, welche mit erhobenen Händen vor Gottes Thron liegen, um den Zorn des großen Rächers von den Sündenscharen abzuwehren. Er lehrte ihn alles, was die Menschen tun, um Gottes Zorn zu versöhnen. Er beschrieb ihm die nach heiligen Stellen wallfahrenden Pilgerzüge, die sich selbst peinigenden Büßer und die Flucht der Mönche aus dem Weltleben.

Je länger er sprach, desto bleicher und aufmerksamer wurde der Knabe, und seine Augen erweiterten sich wie vor entsetzlichen Gesichten. Berg wollte aufhören, doch der Strom der Gedanken riß ihn fort und er mußte weitersprechen. Die Nacht senkte sich auf sie herab, die schwarze Waldesnacht, in der die Eulen und der Uhu kreischen. Gott kam ihnen so nahe, daß sie seinen Thron die Sterne verdunkeln und die Engel der Strafe sich bis auf die Waldgipfel herablassen sahen. Doch unter ihnen flackerten die Flammen der Unterwelt bis an die platte Scheibe der Erde und leckten gierig an diesem bebenden Zufluchtsorte des von Weh bedrückten Menschengeschlechts.

 

Der Herbst war gekommen und mit ihm der scharfe Sturm. Tord ging allein in den Wald hinaus, um die Dohnen und Fallen zu untersuchen. Berg blieb zu Hause, um seine Kleider zu flicken. Tords Weg ging eine bewaldete Höhe hinan. Es war ein breiter Pfad.

Jeder Windstoß, der durch die dichten Bäume dringen konnte, jagte das welke Laub in raschelnden Wirbeln den Weg entlang. Tord hatte einmal über das andere das Gefühl, daß jemand hinter ihm gehe. Er sah sich mehrmals um. Bisweilen blieb er stehen, um zu lauschen, doch sowie er sich überzeugt hatte, daß es der Wind und die Blätter waren, ging er weiter. Sowie er wieder im Gehen war, hörte er jemand in seidenen Schuhen den Hügel hinauftanzen. Kleine Kinderfüße kamen getrippelt. Elfen und Kobolde spielten hinter ihm. Wandte er sich um, so war da keiner, immer wieder keiner. Er drohte den raschelnden Blättern mit der Faust und ging weiter.

Sie waren dadurch nicht zum Schweigen gebracht, nahmen aber einen andern Ton an. Sie begannen hinter ihm zu schnauben und zu zischen. Eine große Kreuzotter schlängelte sich heran. Die geifernde Zunge hing ihr aus dem Munde, und der glänzende Leib hob sich blank gegen die dürren Blätter ab. Neben der Schlange tappte ein Wolf, ein großer, magerer »Graubein«, der sich anschickte, ihn im Nacken zu packen, sobald die Kreuzotter sich ihm zwischen die Füße schlängelte und ihn in die Ferse stach. Manchmal waren sie beide ganz still, wie um ihn unbemerkt einzuholen, doch gleich darauf verriet sie ihr Schnauben und Zischen, und bisweilen schlugen die Krallen des Wolfes klingend gegen einen Stein. Tord beschleunigte unwillkürlich seine Schritte, doch die Tiere eilten ihm nach. Als er glaubte, daß sie nur zwei Schritt hinter ihm seien und sich zum Sprunge anschickten, drehte er sich um. Dort war keiner, und das hatte er die ganze Zeit über gewußt.

Er setzte sich auf einen Stein, um sich auszuruhen. Da spielten die dürren Blätter zu seinen Füßen, wie um ihn zu erfreuen. Da waren sie, alle Blätter des Waldes: hellgelbes, kleines Birkenlaub, rotbunte Ebereschenblätter, die trockenen, schwarzbraunen Blätter der Ulme, die zähen, hellroten der Espe und die gelbgrünen der Palmweide. Verwandelt und verschrumpft, benarbt und eingebrochen waren sie und glichen nicht mehr den dunenweichen, hellgrünen, zarten Scheiben, die sich vor einigen Monaten den Knospen entrollt hatten.

»Sünder,« sagte der Knabe, »Sünder, nichts ist rein vor Gott. Die Flammen seines Zornes haben euch schon erreicht.« Als er weiter wanderte, sah er den Wald unter sich wie ein Meer im Sturm wogen, doch auf dem Pfade war es still und ruhig. Er aber hörte, was er nie vernommen. Der Wald war voller Stimmen.

Es tönte wie Flüstern, wie Klagelieder, wie grobe Drohungen, wie lautes Fluchen zu ihm herüber. Es lachte und es klagte, es war wie der Lärm vieler Leute. Dieses Unbekannte, das hetzte und aufreizte, prasselte und zischte, das etwas zu sein schien und doch nichts war, machte ihn wild. Er empfand wieder Todesangst, wie damals, als er auf dem Boden seiner Höhle lag und die Menschenjagd durch den Wald stürmte. Er hörte wieder das Knacken der Zweige, die schweren Schritte der Volksmenge, das Klirren der Waffen, die widerhallenden Rufe, das wilde, blutdürstige Stimmengewirr des Haufens.

Doch nicht nur dies allein lag im Waldessturme. Es lag darin noch etwas anderes, etwas noch Schrecklicheres: Stimmen, die er nicht deuten konnte, ein Gewirr von Lauten einer, wie es ihm schien, fremden Sprache. Er hatte gewaltigere Stürme als diesen durch Takelwerk und Taue brausen hören. Doch nie hatte der Wind auf einer so vielseitigen Harfe gespielt. Jeder Baum hatte seine Stimme, die Fichte sauste anders als die Espe, die Pappel nicht wie die Eberesche. Jede Kluft hatte ihren Ton, das laute Echo jeder Bergwand seinen eigenen Klang. Und das Murmeln der Bäche sowie das Bellen der Füchse vermischten sich mit dem wunderlichen Waldessturme. Doch alles dies konnte er deuten, er hörte aber auch andere, noch seltsamere Laute. Und diese waren daran schuld, daß es in ihm um die Wette mit dem Sturme schrie, hohnlachte und jammerte.

Allein im Waldesdunkel hatte er sich stets gefürchtet. Er liebte das offene Meer und die nackten Klippen. Geister und Schatten schlichen zwischen den Bäumen umher.

Da auf einmal wußte er, wer im Sturm zu ihm sprach. Gott war es, der große Rächer, der Gott der Gerechtigkeit. Er verfolgte ihn um seines Kameraden willen. Er forderte, daß er den Mörder des Mönches der Rache überantworte.

Tord begann mitten im Sturm zu reden. Er sagte Gott, was er habe tun wollen, aber nicht vermocht. Er habe mit dem Riesen sprechen und ihn bitten wollen, sich mit Gott zu versöhnen, sei jedoch zu blöde gewesen. Die Schüchternheit habe ihn stumm gemacht. »Als ich erfuhr, daß ein gerechter Gott die Welt regiert,« rief er aus, »sah ich ein, daß er ein verlorener Mann ist. Ich habe Nächte hindurch über meinen Freund geweint. Ich wußte, daß Gott ihn findet, wo er sich auch verstecke. Doch ich vermochte weder zu reden, noch ihn dies einsehen zu lehren. Ich fand keine Worte, weil ich ihn so sehr liebe. Begehre nicht, daß ich mit ihm rede; fordere nicht, daß das Meer sich so hoch wie die Gebirge erhebe.«

Er verstummte, und die tiefe Stimme im Sturme, die ihm Gottes Stimme erschienen, schwieg. Es wurde auf einmal Windstille und grelles Sonnenlicht, ein Plätschern wie von Rudern und ein stilles Rascheln wie von steifen Schilfblättern. Diese milden Töne zauberten ihm Unns Bild hervor. – Der Vogelfreie kann nichts gewinnen, nicht Gut, nicht Frauen, nicht Ansehen bei den Männern. – Wenn er Berg verriete, würde er wieder unter den Schutz des Gesetzes aufgenommen werden. – Doch Unn mußte Berg lieben, nach allem, was er für sie getan. Aus allem diesen gab es keinen Ausweg.

Als der Sturm wieder zunahm, hörte er wieder Schritte hinter sich und von Zeit zu Zeit ein atemloses Keuchen. Jetzt wagte er sich nicht umzusehen, denn nun wußte er, daß er den weißen Mönch hinter sich hatte. Er kam vom Gelage in Bergs Halle, blutbespritzt und mit einem klaffenden Axthiebe in der Stirn. Und er flüsterte: »Gib ihn an, verrate ihn, rette seine Seele. Überantworte seinen Leib dem Scheiterhaufen, auf daß die Seele verschont bleibe. Überliefere ihn der langsamen Qual der Folter, damit seine Seele Zeit zur Reue habe.«

Tord lief. Alles dies Schreckenerregende, das an und für sich nichts war, wuchs, da es so unaufhörlich auf das Gemüt wirkte, zu einem großen Entsetzen heran. Er wollte ihm entfliehen. Als er zu laufen begann, erdröhnte wieder die tiefe, fürchterliche Stimme, die Gottes Stimme war. Gott selbst jagte ihn mit Schreckschüssen, damit er den Mörder ausliefere. Bergs Verbrechen erschien ihm abscheulicher als je zuvor. Ein waffenloser Mann war ermordet, ein Gottesmann mit blankem Stahle durchbohrt worden. Das hieß dem Herrn der Welt trotzen. Und der Mörder wagte zu leben! Er freute sich des Sonnenlichtes und der Früchte des Bodens, als sei der Arm des Allmächtigen zu kurz, ihn zu erreichen.

Er blieb stehen, ballte die Fäuste und stieß kreischend eine Drohung aus. Dann lief er wie ein Wahnsinniger aus dem Walde, dem Reiche des Schreckens, in das Tal hinab.

 

Tord brauchte sein Anliegen nur anzudeuten, gleich waren zehn Bauern bereit, ihm zu folgen. Es wurde beschlossen, daß Tord allein nach der Höhle zurückkehren solle, damit Berg keinen Verdacht schöpfe. Doch er sollte unterwegs Erbsen ausstreuen und so den Bauern den Weg zeigen. Als Tord in die Höhle trat, saß der Geächtete auf der Steinbank und nähte. Das Feuer gab schwaches Licht, und mit der Arbeit schien es nicht recht gehen zu wollen. Dem Knaben schwoll das Herz von Mitleid. Der herrliche Riese schien ihm arm und unglücklich zu sein. Und sein einziges Gut, das Leben, sollte ihm nun auch genommen werden. Er mußte weinen.

»Was ist das?« fragte Berg. »Bist du krank? Hast du dich gefürchtet?«

Zum erstenmale sprach da Tord über seine Furchtsamkeit. »Es war unheimlich im Walde. Ich hörte Geisterstimmen und sah Gespenster. Ich sah weiße Mönche.«

»Bei Gott, Bube!«

»Sie sangen mir auf dem ganzen Wege nach der Breitalp hinauf die Messe vor. Ich lief, aber sie begleiteten mich singend. Kann ich das Unwesen nicht los werden? Was habe ich mit ihnen zu schaffen? Ich meine, sie könnten einem, dem es nötiger ist, die Messe lesen.«

»Du bist heute abend wohl verrückt, Tord?«

Tord redete, ohne recht zu wissen, welcher Worte er sich bediente. Seine Schüchternheit hatte ihn verlassen. Die Rede floß ihm ungehemmt von den Lippen.

»Es sind weiße Mönche, weiße, leichenblasse. Alle haben Blut auf der Kutte. Sie ziehen die Kapuze in die Stirn, aber die Wunde leuchtet doch darunter hervor. Die große, rote, klaffende Wunde von dem Beilhiebe.«

»Die große, rote, klaffende Wunde von dem Beilhiebe?«

»Habe ich sie denn geschlagen? Weshalb soll ich sie sehen?«

»Das mögen die Heiligen wissen, Tord,« sagte der erbleichende Riese mit finsterm Ernste, »weshalb du Wunden von Beilhieben siehst. Ich erstach den Mönch mit einem Messer.«

Bebend und die Hände ringend stand Tord nun vor Berg. »Sie fordern dich von mir. Sie wollen mich zwingen, dich zu verraten.«

»Wer? Die Mönche?«

»Ja freilich, sie, die Mönche. Sie zeigen mir Gesichte. Sie zeigen mir Unn. Sie zeigen mir das glatte, sonnenbeglänzte Meer. Sie zeigen mir die Lagerplätze der Fischer, wo Tanz und Munterkeit herrscht. Ich schließe die Augen und sehe doch alles. Laßt mich zufrieden, sage ich. Mein Freund hat einen Mord begangen, aber er ist nicht schlecht. Laßt mich in Ruhe, so will ich mit ihm sprechen, damit er bereue und Buße tue. Er wird sein Unrecht einsehen und nach dem heiligen Grabe ziehen. Wir werden beide nach Orten pilgern, die so heilig sind, daß alle Sünde von dem genommen wird, der sich ihnen naht.«

»Was antworteten die Mönche darauf?« fragte Berg. »Sie wollen meine Absolution nicht. Sie wollen mich auf der Folterbank und auf dem Scheiterhaufen sehen.«

»Soll ich meinen teuersten Freund verraten? fragte ich sie,« fuhr Tord fort. »Er ist mein Alles auf der Welt. Er hat mich von dem Bären befreit, dessen Tatze mich an der Kehle packte. Wir haben zusammen gefroren und mancherlei Not gelitten. Er hat mich mit seinem eigenen Bärenfell zugedeckt, als ich krank war. Ich habe ihm Holz und Wasser geholt, seinen Schlaf bewacht und seine Feinde irregeführt. Weshalb halten sie mich für einen, der seine Freunde verrät. Mein Freund wird bald von selbst zum Priester gehen und ihm beichten, und dann begeben wir uns zusammen in das Land der Versöhnung.«

Berg lauschte ernst, die scharfen Augen forschend auf Tords Antlitz gerichtet. »Du sollst selbst zum Priester gehen und ihm die Wahrheit sagen. Du mußt wieder unter Menschen.«

»Was habe ich davon, wenn ich allein gehe? Um deiner Sünde willen verfolgen mich die Schatten und der Tote. Siehst du nicht, wie mir vor dir graut. Du hast gegen Gott selbst die Hand erhoben. Kein Verbrechen kommt dem deinen gleich. Ich meine, es müsse mich freuen, dich unter dem Rade zu sehen. Wohl dem, der hier auf Erden seine Strafe erhält und dem künftigen Zorne entgeht. Weshalb erzähltest du mir von dem gerechten Gotte? Du zwingst mich, dich zu verraten. Erlasse mir diese Sünde. Gehe zum Priester!« Und er sank vor Berg auf die Knie. Der Mörder legte ihm die Hand auf den Kopf und blickte ihn an. Er maß seine Sünde an der Angst des Gefährten, und sie wuchs vor seinem geistigen Auge zu fürchterlicher Größe heran. Er sah sich im Streite mit dem Willen, der die Welt regiert. Die Reue zog in sein Herz ein. »Weh mir, daß ich tat, was ich getan,« sagte er. »Was mich erwartet, ist zu schwer, als daß ich ihm freiwillig entgehen könnte. Überliefere ich mich den Priestern, so werden sie mich in stundenlangen Qualen foltern. Sie werden mich in langsamem Feuer braten. Und ist dieses elende Leben, das wir voll Angst und Not führen, nicht Buße genug? Habe ich nicht Haus und Hof verloren? Lebe ich nicht von Freunden und allem, was die Freude des Mannes ausmacht, getrennt? Wessen bedarf es mehr?«

Als er so redete, fuhr Tord in wildem Entsetzen auf. »Kannst du bereuen?« rief er aus. »Können meine Worte dein Herz bewegen? Komm sofort mit! Wie hätte ich dies ahnen können? Komm, laß uns fliehen! Noch ist es Zeit.«

Berg, der Riese, sprang ebenfalls auf. »Du hast es also getan – «

»Ja, ja, ja. Ich habe dich verraten. Doch komm schnell! Komm nun, da du bereuen kannst! Sie müssen uns gehen lassen. Wir werden ihnen entkommen.«

Der Mörder beugte sich da zum Boden herab, wo seine, ihm von den Vätern vererbte Streitaxt ihm zu Füßen lag. »Du, Sohn eines Diebes!« sagte er, die Worte zwischen den Zähnen hervorzischend. »Dir habe ich vertraut! Dich habe ich lieb gehabt!«

Da aber Tord ihn sich nach der Axt bücken sah, wußte er, daß es jetzt sein Leben galt. Er riß seine eigene Axt aus dem Gürtel und hieb auf Berg ein, ehe dieser sich aufrichten konnte. Die Scheide fuhr sausend durch die Luft in den niedergebeugten Kopf. Berg fuhr mit dem Haupte voran zu Boden, der ganze Leib fiel hinterdrein. Blut und Hirn spritzten hervor, das Beil fiel aus der Wunde. Zwischen den zottigen Haarbüscheln sah Tord eine große, rote, klaffende Wunde von einem Beilhiebe.

Nun stürmten die Bauern in die Höhle. Hocherfreut priesen sie die Tat.

»Jetzt steht deine Sache gut,« sagten sie zu Tord.

Tord blickte auf seine Hände nieder, als sehe er daran die Fesseln, an denen er dazu herbeigezogen worden war, den, welchen er liebte, zu töten. Sie waren wie die Bande des Fenrirwolfes aus nichts geschmiedet. Aus dem grünen Lichte im Schilfe, aus dem Spiel der Schatten im Walde, aus dem Gesange des Sturmes, aus dem Rascheln der Blätter, aus dem Zauber der Träume waren sie gemacht. Und er sagte laut: »Gott ist groß.«

Doch dann verfiel er wieder in seine früheren Gedanken. Er kniete neben der Leiche nieder und schob den Arm unter den Kopf des toten Freundes.

»Tut ihm nichts,« sagte er. »Er bereut, er will nach dem heiligen Grabe pilgern. Er ist nicht tot, doch fesselt ihn nicht. Wir wollten gerade gehen, als er fiel. Der weiße Mönch wollte wohl nicht, daß er bereuen solle, aber Gott, der Gott der Gerechtigkeit, liebt die Reue.«

Er blieb neben der Leiche liegen, sprach weinend mit dem Toten und bat ihn, zu erwachen. Die Bauern machten eine Bahre aus Speeren. Sie wollten die Leiche des Freibauern nach seinem Hofe tragen. Sie empfanden Ehrfurcht vor dem Toten und dämpften ihre Stimmen in seiner Nähe. Als sie ihn auf die Bahre hoben, stand Tord auf, schüttelte das Haar aus dem Gesichte und sprach mit vor Schluchzen bebender Stimme:

»Sagt Unn, die Berg, den Riesen, zum Mörder gemacht, daß Tord, der Fischer, dessen Vater Wrackplünderer und dessen Mutter eine Hexe ist, ihn erschlagen hat, weil er ihn lehrte, daß der Grundpfeiler dieser Erde Gerechtigkeit heißt.«


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