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In der Küchenkammer zu Lövdala wurde so gekichert und geplaudert, daß die Kleine kein Auge schließen und unmöglich einschlafen konnte, obgleich sie in dieser Nacht in einem richtigen kleinen Bett schlief, das ihretwegen hereingestellt worden war.
Anna Brogren, Mamsell Maja Lisas Pflegeschwester, die den Propst Lövstedt in Ransäter geheiratet hatte, war auf Besuch gekommen und wollte über Nacht dableiben. Sie sollte eigentlich droben im Giebelzimmer schlafen; aber kaum waren der Pfarrer und die Pfarrfrau zur Ruhe gegangen, als sie auch schon in die Küchenkammer heruntergeschlichen kam.
Sie hatte wohl allein mit Mamsell Maja Lisa plaudern wollen und war höchst bestürzt, als sie die Kleine in der Küchenkammer in ihrem Bett liegen sah.
Einmal ums andere kam sie herbei, um zu sehen, ob sie schlafe. Schließlich schloß die Kleine die Augen und lag mäuschenstill, denn es war ihr sehr zuwider, daß sie den andern ein Hindernis sein sollte.
»Jetzt schläft sie ganz bestimmt,« sagte die Pröpstin, indem sie wieder das Licht ergriff und damit abermals an Noras Bett trat.
»Nein, das tut sie nicht,« versetzte die Pfarrerstochter. »Wie kannst du dir einbilden, sie habe einschlafen können, während wir immerfort geschwatzt haben?«
»Es wäre vielleicht am besten, wir verhielten uns eine Weile ganz still,« schlug Anna Brogren vor.
Nachdem sie dann kaum ein paar Minuten geschwiegen hatten, war Anna Brogren ihrer Sache sicher. Sie behauptete, das Mädchen jetzt ganz deutlich schlafen zu hören.
»Und das ist gut,« fuhr sie fort, »denn ich reise nicht eher von Lövdala weg, bis ich erfahren habe, wie hier alles steht und geht, und sollte ich auch die ganze Nacht wach bleiben müssen.«
»Sie schläft nicht, dessen bin ich ganz sicher,« sagte Mamsell Maja Lisa. »Aber wir können es auf andere Weise machen. Während wir warten, erzähle ich dir ein Märchen. Du wirst dich wohl noch an viele von den Märchen erinnern, die ich dir in früheren Zeiten erzählt habe.«
»Ich fürchte nur, daß sie dann erst recht wach wird,« erwiderte Anna Brogren; »aber mach es nur, wie du willst. Was für ein Märchen soll es denn sein?«
»Ich glaube, ich will dir das Märchen vom Schneewittchen erzählen.«
»Ach ja, erzähle mir das!« rief die Pröpstin, und sie sah durchaus nicht unbefriedigt aus. »Es ist lange lange her, seit ich es zum letztenmal gehört habe.«
»Du weißt, es war einmal eine Pfarrfrau,« begann die Pfarrerstochter, »die war tiefbetrübt, weil sie keine Kinder hatte.«
»Nein, da täuscht du dich sicher,« warf die Pröpstin ein. »Es war ja eine Königin.«
»Ich habe immer gehört, es sei eine Pfarrfrau gewesen, und ich kann das Märchen nicht anders erzählen, als es lautet,« beteuerte Mamsell Maja Lisa.
Und dann erzählte sie weiter von der Pfarrfrau, die sich so sehr ein Töchterchen gewünscht hatte, das rot wie Blut und weiß wie Schnee sein sollte, die aber dann starb, sobald ihr großer Herzenswunsch in Erfüllung gegangen war.
»Ich meine aber doch, wir könnten von etwas Fröhlicherem sprechen,« sagte die Pflegeschwester.
»Ich nehme an, daß dir das Märchen wohl noch im Gedächtnis ist, deshalb spreche ich nicht weiter davon, wie es Schneewittchen in ihrer Kindheit gegangen ist. Du weißt ja, daß es ihr an nichts gebrach und sie keine Not litt, obgleich ihre Mutter tot war, denn sie hatte eine gute Muhme, die das Haus versorgte, und eine liebe Pflegeschwester und einen guten Bruder, obgleich dieser zu der Zeit meist auswärts war und studierte, und überdies auch eine liebe alte Großmutter. Wer aber am allergütigsten gegen sie war, war ihr Herr Vater. Er war Schneewittchens zärtlichster Spielkamerad, und ihm vertraute sie alle ihre Sorgen an. Er erlaubte nicht, daß sie wie andere Kinder unter strenger Aufsicht stand, sondern sie durfte tun, was ihr beliebte. Die Leute meinten natürlich, er verwöhne das Kind, aber davon wollte er nichts hören.«
»Schneewittchen war vielleicht ein besonders artiges Kind, das gar nicht verwöhnt werden konnte,« sagte die Pröpstin, und ihre Stimme klang jetzt auf einmal außerordentlich ernst.
»Auf der ganzen Welt war niemand glücklicher als Schneewittchen,« fuhr die Pfarrerstochter fort. »Ganz besonders befriedigt fühlte sie sich, als sie, nachdem die Muhme weggezogen war, ganz allein die Wirtschaft führen und für ihren geliebten Vater sorgen durfte. Ich glaube, sie hatte mehrere Jahre lang keinen anderen Kummer als die Trennung von ihrer Pflegeschwester, die sich verheiratete und in ein anderes Kirchspiel zog. Und wenn ihr damals jemand gesagt hätte, ihr Vater würde einmal sein Herz von ihr wenden, hätte sie hell hinausgelacht. Wie hätten sie sich entzweien sollen, sie und der geliebte Vater? Nicht einmal im Schlaf wäre ihr ein so unsinniger Gedanke gekommen.«
»Und überdies hätte auch niemand anders geglaubt, daß es je so ginge,« versicherte Anna Brogren mit derselben ernsten Stimme wie zuvor.
»Und niemals dachte Schneewittchen weniger daran, daß ihr ein so großes Unglück widerfahren könnte, als an einem schönen Sommermorgen im vorigen Jahre, wo sie mit ihrem Herrn Vater zu den Mähern hinausging.«
»War das im vorigen Sommer?« fiel Anna Brogren rasch ein. »Ich glaubte, Schneewittchen habe vor tausend Jahren gelebt.«
»Ich aber habe nie anders gehört, als daß Schneewittchen heute noch lebt,« erwiderte die Pfarrerstochter, »und an jenem Tag, wo sie mit ihrem Vater zur Heuernte hinausging, war sie eben neunzehn geworden; ihr Vater aber war fünfzig Jahre alt, obgleich man ihm das kaum ansehen konnte. Er trug eine Perücke, ging aber ohne Hut, hatte eine weiße Hemdenbrust mit einer Busenkrause und große Schnallen auf den Schuhen. Schneewittchen dachte in ihrem Herzen, er sehe außerordentlich vornehm aus. Sie selbst trug ein altes Kattunkleid und einen großen Schutenhut. Neben ihrem Vater sah sie gar nichts gleich.«
»Ich habe jedoch immer gehört, Schneewittchen sei schöner gewesen als alle andern im ganzen Land,« warf die Pröpstin ein.
Aber die Pfarrerstochter erzählte weiter, ohne sich um die Unterbrechung zu kümmern.
»Der Schutenhut war jedenfalls recht am Platz, denn er verdeckte das Gesicht. Sonst hätte der Vater gesehen, daß sie mißvergnügt aussah. Ach, ach! Schneewittchen hatte wohl Grund, mißvergnügt zu sein, weil sie um diese Zeit mit ihrem Vater spazieren gehen sollte; wo sie doch viel lieber an ihrem Webstuhl sitzen geblieben wäre, um ihre Leinwand fertig zu weben. Aber da ihr Vater selbst von außen ans Küchenkammerfenster getreten war, ihr geklopft und gerufen hatte, war es ihr nicht möglich gewesen, nein zu sagen.«
»Ich glaube, sie konnte ihrem Vater niemals etwas abschlagen,« sagte die Pflegeschwester.
»Sie gingen an den Ställen und an der Viehweide vorüber, denn sie wollten nach dem südlichen Anger, wo der lange Bengt und die beiden Vettersbuben beim Mähen waren. Es war gerade kein weiter Weg, aber es kostete doch immer viel Zeit, wenn Schneewittchen mit ihrem Vater ausging.
Er blieb stehen und sah sich das Getreide an, und er blieb stehen und unterhielt sich mit der Stallmagd. Als sie den Hügel mit dem Birkengehölz erreicht hatten, hielt er wieder an, schaute zurück, um das neue Wohnhaus zu betrachten, das er selbst hatte bauen lassen. Und noch weiter hin gab es wieder einen neuen Aufenthalt, weil er eine junge Tanne aufrichten mußte, die umgestürzt am Wege lag.
Aber jetzt muß ich etwas einfügen; Schneewittchen konnte in Gesellschaft ihres Vaters nie lange verdrießlich sein, denn wenn sich ihr so seine ganze Art und Weise offenbarte, wurde ihr Herz immer von Bewunderung für ihn erfüllt.
Und ich meine auch, Schneewittchen habe ganz und gar nicht unrecht gehabt, es schön und rührend zu finden, daß ihr guter Vater sein Leben lang als Hilfsgeistlicher in einer kleinen armen Gemeinde weit droben im Värmland geblieben war. Er, der so hochgelehrt und von unwiderstehlicher Beredsamkeit war, und überdies so stattlich und liebenswürdig, wäre gewiß Dompropst oder Bischof geworden, wenn er nur gewollt hätte. Glaubst du das nicht auch?«
»Für mich ist es nicht leicht, etwas über Schneewittchens Vater zu sagen,« antwortete die Pröpstin; »aber ich bin überzeugt, er hätte alles erreichen können, was er nur gewollt hätte.«
»Ich kann es nicht so genau ausdrücken, wie Schneewittchen es fühlte. Aber ich glaube, sie sagte in ihrem Herzen: ›Du, Schneewittchen, du bist nichts und kannst nichts und hast nichts erlebt, schämst du dich nicht, schlechter Laune zu sein? Denk an deinen guten Vater, der nie klagt und sich nie etwas wünscht und der der Welt immer ein freundliches Gesicht zeigt!‹ – Vor sich selbst entschuldigte sich Schneewittchen indes damit, daß sie eben gar zu gern die Leinwand am Webstuhl fertig gebracht hätte, ehe sie von Hause wegreiste; denn sie sollte mit der Großmutter diesen Sommer nach Loko ins Bad gehen, das war fest ausgemacht. Großmutter hatte im letzten Winter schrecklich an Gicht gelitten, diese hatte ihr die Hände zum Erbarmen zugerichtet. Nun hatte sie das ganze Frühjahr hindurch versprochen, diese Reise zu machen; aber Schneewittchen wußte wohl, daß die Großmutter nicht fortkam, wenn sie nicht mitging.
Jetzt dachte sie daran, den Vater zu bitten, den Tag der Abreise zu bestimmen. Aber wie merkwürdig, sie hatte gar nicht das Herz dazu! Fühlte sie, wie schwer es ihrem Vater würde, sein Kind sechs Wochen lang entbehren zu müssen, und wollte er es deshalb so weit wie möglich hinausschieben? Während sie nun so dahinwanderte, beschloß sie in ihrem Herzen: Wenn das Gras auf dem südlichen Anger so prächtig stand, daß Vater recht befriedigt war, dann wollte sie sich ein Herz fassen und von der Reise anfangen.
Und wirklich, es sah nicht danach aus, als sollte sie nicht bald auf die Reise dürfen, denn als sie den südlichen Anger erreichten, gab es da eine ganz außerordentlich gute Heuernte. Schneewittchen merkte bald, wie hochbefriedigt ihr Vater war, denn er neckte den langen Bengt, der der größte Mann im ganzen Kirchspiel war, und sagte, er müsse noch ein wenig wachsen, er sei gar nicht groß, das Gras schlage ihm ja über dem Kopf zusammen.
Der lange Bengt war nicht faul zu antworten. Er sagte, wenn der Herr Pfarrer seine Länder noch weiter so gut bebaue, so werde er bald niemand mehr bekommen, der ihm sein Heu mähe. Es sei eine wahre Not, bis man sich durch solch einen Wall hindurchgeschafft habe. Und die beiden Vettersbuben hielten es natürlich mit Bengt und versicherten auch, lieber wollten sie es auf dem Brobyer Markt mit allen Westgöten aufnehmen, als in einem andern Jahr wieder solches Gras mähen.
Darauf mußte Vater natürlich eine ebenso höfliche Antwort geben; alle standen schweigend um ihn her und warteten darauf. Ach! ich glaube, Schneewittchen wird immer an ihren Vater denken, gerade wie er jetzt so vergnügt und freundlich mitten unter seinen Leuten stand und tat, als sinniere er über die Antwort nach, damit sie, wenn sie erfolgte, einen um so größeren Eindruck mache.
Aber wie es gehen kann! Diese Antwort bekamen sie niemals zu hören, denn jetzt geschah etwas Unerwartetes, das aller Gedanken nach einer andern Seite hinlenkte.
Wer war denn das, der da durch das hohe Gras auf sie zukam? Wer konnte es sein, der nicht ging, sondern taumelte, und der nicht einen Augenblick schwieg, sondern die ganze Zeit schrie und laut vor sich hin redete?
Ich muß gestehen, Schneewittchen war nie Zeuge von etwas so Aufregendem gewesen. Wie schrecklich, ein Frauenzimmer so furchtbar zugerichtet zu sehen! Die Kleider hingen ihr naß und lehmig um den Körper. Das Haar hatte sich vom Kamm gelöst und fiel ihr in Strähnen den Rücken hinab. Aber am schrecklichsten war doch, daß ihr Gesicht und ihre Hände ganz blutrünstig waren.
Der lange Bengt und die Knechte wendeten sich ab und spuckten dreimal aus, als sähen sie eine Hexe, und es fehlte wohl nicht viel, so hätte der Herr Vater dasselbe getan.
Aber plötzlich glaubte Schneewittchen zu erkennen, wer es war; sie eilte zum Vater hin und flüsterte ihm ins Ohr, es müsse die Jungfer sein, die der Gräfin auf Borg die Wirtschaft führte.
Der Vater gab ihr recht in dieser Annahme. Er trat zu der Jungfer und fragte sie, was ihr denn geschehen sei, daß sie sich so früh am Morgen nach seinem Haus auf den Weg gemacht habe? Aber sie war ganz verwirrt und erkannte den Pfarrer gar nicht. Sie rief nur, sie könne es bei der Gräfin nicht mehr aushalten und sei auf dem Wege nach der Pfarrei, damit man ihr helfe.
Da nahmen sie der Pfarrer und Schneewittchen mit nach Hause, und nach einiger Zeit war sie wieder so weit vernünftig, daß sie erzählen konnte, was ihr geschehen war. Sie war von der Gräfin gehetzt und geplagt worden, bis sie es nicht mehr aushalten konnte, und so war sie nachts um zwei Uhr von Borg auf und davon gegangen. Sie war ganz verwirrt gewesen und hatte noch gar nicht überlegen können, wohin sie sich wenden wollte, als sie auch schon auf der Landstraße stand.
Da hatte sie gedacht, sie wolle nach der Pfarrei gehen, weil sie gehört hatte, wie barmherzig die Familie dort sei. Aber die Ärmste hatte den Feldweg durch die Wiesen eingeschlagen und konnte nicht über den Steg wegkommen, sondern stürzte in den Bach, stieß mit dem Kopf an einen Stein und zerriß und beschmutzte sich ihre Kleider. Danach war sie wie nicht recht bei sich gewesen, hatte den Weg nicht mehr finden können und war dann den ganzen Morgen auf den Getreideäckern und auf den Wiesen umhergeirrt.
Nun bat sie flehentlich, man solle sie doch im Pfarrhaus behalten, bis das Blut gestillt und ihre Kleider trocken seien und sie ein wenig überlegt habe, wohin sie sich wenden wollte.
Natürlich hieß es, sie solle nur dableiben. Ach, wer hätte wohl das Herz gehabt, eine so notleidende Person hinauszuweisen!
Aber wie empört waren auch Schneewittchen und ihr Vater über die Gräfin! Sie war so schön und heiter, und nun sollte sie so grausam gegen ihre Untergebenen sein! Nicht zum ersten Male hörten sie so etwas über sie. Was soll ich sagen? Ja, es war gut für die Gräfin, daß sie an diesem Tage nicht mit Schneewittchen zusammenkam. Diese hätte sie gestellt und kein Blatt vor den Mund genommen. Diese Jungfer – ja, wie soll ich sie nun nennen?«
»Du kannst sie ja Babitz nennen,« schlug die Pröpstin vor.
»Gut, also diese Jungfer Babitz war eine überaus wohlbeleumdete, ausgezeichnete Person, und die Gräfin hätte wohl etwas Besseres tun können, als sie zu plagen, bis sie den Verstand verlor.
Aber siehe! Noch am selben Tage kam Schneewittchen auf einen Gedanken, der sie ganz beglückte. Sie wollte Jungfer Babitz bitten, im Pfarrhaus zu bleiben und für den Vater zu sorgen, während sie selbst mit der Großmutter im Bad war. Wenn sich das einrichten ließ, konnte sie ruhig fort sein, dann ging alles in schönster Ordnung und ebensogut, wie wenn sie selbst zu Hause wäre.«
»Ach, du lieber Gott!« rief die Pflegeschwester. »Bist du es gewesen, die – – das heißt, ich meine, ist es Schneewittchen selbst gewesen?«
»Ja, ja, die selbst war's, niemand anders; und sie war überaus glücklich über diesen Einfall. Sie fragte gleich die Jungfer, ob sie bei ihnen bleiben wolle. Die Jungfer zierte sich auch keinen Augenblick, sondern sagte, jawohl, sie tue ihr gerne den Gefallen. Aber das wolle sie gleich feststellen, wenn sie indessen eine Stelle bei einer Herrschaft finde, dann reise sie sofort ab. Sie sei eine arme Person, die in erster Linie an sich selbst denken müsse.
Wer aber nur schwer zu überreden war, das war Schneewittchens Vater. Sollte er die Jungfer volle sechs Wochen lang da haben und überdies gezwungen sein, die Mahlzeiten mit ihr einzunehmen?
Du kannst dir nicht denken, wie schwer es war, bis Schneewittchen und die Großmutter endlich fortkamen. Mit dem Vater und Jungfer Babitz wollte es absolut nicht gehen. Der Vater scherzte und neckte sich mit allen Menschen; die Jungfer aber war streng und ernst und nur immer darauf bedacht, ihre Würde aufrecht zu erhalten.
Meistens gelang es Schneewittchen auch, es so einzurichten, daß sie nur bei den Mahlzeiten zusammentrafen; aber kaum hatte sich der Vater zu Tische gesetzt, als er auch schon von etwas zu reden anfing, womit er, wie er wußte, bei der Jungfer Anstoß erregte. Und am komischsten deuchte es ihm, mit ihr von Liebe und Heirat zu sprechen.
Er sei sehr froh, daß er die Jungfer ins Haus bekommen habe, denn jetzt könne sie ihm einen guten Rat geben. Er habe schon lange daran gedacht, sich wieder zu verheiraten. Was würde sie wohl zur Gräfin auf Borg sagen?
Aber kaum hatte der Vater das gesagt, als die Jungfer ganz starr vor Schrecken wurde. Sie legte Messer und Gabel nieder und sah ihn sprachlos an.«
Die Pflegeschwester lachte hell hinaus. »Denk dir, wie lustig er es da gehabt hätte!« sagte sie.
»Ja, das ist klar, der Herr Vater fuhr ordentlich ins Zeug. Es passierte ihm nicht alle Tage, daß er mit jemand zusammen kam, der es nicht verstand, wenn er scherzte. Jetzt erklärte er, er könne absolut nicht begreifen, warum Jungfer Babitz so erstaunt aussehe. Ob sie meine, die Gräfin werde ihn nicht haben wollen? Aber er wisse ganz bestimmt, daß ihn die Gräfin für einen schönen Mann halte. So lange sie auf Borg sei, besuche sie die Kirche jeden Sonntag, und sie habe selbst einmal gesagt, einen häßlichen Pfarrer könnte sie nicht predigen hören.
Das war doch zu komisch! Als Schneewittchens Vater dieses sagte, zeigten sich auf Jungfer Babitz' Wangen zwei brennend rote Flecken. Sie hatte gewiß, so lange als es ihr möglich war, geschwiegen, aber jetzt mußte sie ihrem Zorn Luft machen.
›Und das will ein Pfarrer und ein Diener Gottes sein!‹ brach sie los.
Aber die Jungfer hatte eine sehr scharfe, rauhe Stimme. Sie war klein von Gestalt und hatte ein kleines feines Gesicht und ganz kreideweiße Haare, obgleich sie kaum in den Vierzigern war. Auch sah sie sanft wie eine Taube aus. Aber gerade deshalb erschrak man, wenn sie zu sprechen anfing.
Nachdem die Jungfer mit dieser tiefen Grabesstimme ihr Urteil über den Vater gefällt hatte, brach er in helles Lachen aus; da sprach die Jungfer während des ganzen Essens kein einziges Wort mehr.«
Die Pflegeschwester lachte auch; aber die Pfarrerstochter seufzte nur, ehe sie fortfuhr.
»Ich brauche wohl kaum zu sagen, wie sehr Schneewittchen ihren Vater anflehte, das Necken zu lassen, und wie betrübt sie war, als alles nichts half. Sie lebte in beständiger Angst, die Jungfer werde aus dem Pfarrhaus auf und davon gehen, wie sie von Borg auf und davon gegangen war.«
»O, sie wird schon geblieben sein,« sagte die Pflegeschwester.
»Allerdings, sie blieb, und darüber war Schneewittchen unbeschreiblich froh. Überdies machte sich die Jungfer nun auch im Haushalt nützlich. Sie wolle nicht da sein, ohne etwas zu arbeiten, erklärte sie. Hast du je so was gehört?
Ganz natürlicherweise begnügte sich auch so eine wie diese Jungfer nicht damit, die gewohnte einfache Hausmannskost zu kochen, sondern sie richtete nach französischer Art an, wie es in einem Grafenhaus verlangt wurde. Und der Vater, der mehrere Jahre Hauslehrer in vornehmen Familien gewesen war, lebte wieder in seiner Jugendzeit, wo er Fleischfarcen und Pasteten und gewürzte Sausen zu essen bekommen hatte. So viel war gewiß, während Schneewittchens Abwesenheit würde er sicherlich keine Not leiden. Auch war es der Tochter eine Beruhigung, als sie merkte, daß ihr Vater die Jungfer mit seinen Neckereien nicht so scharf aufs Korn nahm, wenn sie ihm ein besonders gutes Gericht vorgesetzt hatte. Und etwas anderes war noch befriedigender: der Vater und die Jungfer hatten nämlich alle beide besonders große Freude am Gartenbau. Der Vater konnte, so lange er wollte, über die Archiater Linné und Hummarby und den Botanischen Garten in Upsala reden, nie wurde es die Jungfer müde, ihm zuzuhören.
Der Gartenbau war es auch sicherlich, der den Vater mit dem Dableiben der Jungfer aussöhnte. Sonst wäre es niemals gegangen. Diesem Umstand hatte es Schneewittchen zu verdanken, daß sie ohne Sorge abreisen konnte. Nun hoffte sie fast sicher, Jungfer Babitz und ihr Herr Vater würden es miteinander aushalten, bis sie wieder zurückkam.
Und doch! Obgleich sie jetzt wirklich beruhigt war, weilten ihre Gedanken während der ganzen Zeit ihrer Abwesenheit doch alle Tage daheim bei dem geliebten Vater, und sie fragte sich oftmals, ob er die arme Babitz nicht doch ab und zu mit seinen Neckerein plagte.
Als Schneewittchen vierzehn Tage abwesend war, erhielt sie von ihrem Vater einen unbeschreiblich komischen Brief, der von Anfang bis zu Ende davon handelte, wie es ihm und Jungfer Babitz miteinander ging. Eines Abends seien Leutnant Bergh und Patron Julius zu Besuch gekommen, da hätten sie Karten gespielt und Bellmannsche Lieder gesungen. Und siehe! am nächsten Tag habe die Jungfer gar nicht mit ihm sprechen wollen, und die ganze Woche hindurch habe er nur Blutklöße mit Speck oder Meerrettich mit Hering zu Mittag bekommen. Gestern jedoch seien Krustaden und gebratener Lachs aufspaziert, nun sei er also wieder zu Gnaden angenommen.
Schneewittchen mußte hell auflachen; das gute Väterchen war ganz närrisch. Doch beruhigte sie dieser Brief nicht vollständig. Der nächste dagegen klang besser. Da berichtete der Vater, der lange Bengt habe erklärt, er wolle seine alte Liebste, die lustige Maja, heiraten. Und wer habe ihn dazu gebracht? Niemand anders als Jungfer Babitz; die hätte ihm vorgepredigt, wie unrecht es sei, daß er ein Frauenzimmer vierzehn Jahre lang auf sich warten lasse; und schließlich habe das gewirkt.
Schneewittchen konnte wohl merken, wie vergnügt der Vater war. In diesem Brief schrieb er auch nicht von der ›Babitza‹, sondern von Jungfer Babitz. Das war ein sicheres Zeichen, daß der gute Vater jetzt herausgebracht hatte, welch vorzügliches Frauenzimmer sie war. Danach bekam Schneewittchen keinen Brief mehr von ihrem Vater, sondern nur noch kurze Billette, in denen er sagte, er habe sehr viel zu tun und deshalb keine Zeit zum Briefschreiben. Von der Jungfer stand kein Wort mehr darin. Er hatte sich also jetzt wohl an sie gewöhnt und beschäftigte sich in seinen Gedanken mit ihr nicht mehr als mit den andern Dienstboten.
Aber ein Rest von Besorgnis war doch immer noch vorhanden; und ich will gar nicht erst versuchen, dir zu beschreiben, wie froh Schneewittchen war, als sie sich endlich in den Wagen setzen und nach Hause reisen durfte. Sie hatte rechtzeitig geschrieben, wann der Vater sie zu Hause erwarten könnte, und in demselben Briefe hatte sie ihn auch gelobt, daß er es mit der Jungfer Babitz so lange ausgehalten habe. Von nun an werde er sich indes nie wieder mit Fremden behelfen müssen, nun würde ihn seine Tochter nie mehr verlassen.«
»Ach so, das schrieb sie auch?« fragte die Pflegeschwester. »Es muß ihr eine Befriedigung sein, wenn sie jetzt daran denkt.«
»O ja, vieles ist äußerst komisch in dieser Geschichte,« sagte die Pfarrerstochter. »Wenn man bedenkt, wie froh Schneewittchen war, als sie endlich auf der Straße dahinfuhr, so ist das eigentlich auch zum Lachen. Ja, sie war glückselig; alle Menschen, die ihr begegneten, leuchteten bei ihrem Anblick ordentlich auf. So war es wenigstens im Anfang der Reise. Als sie dann ihrem Heimatsdorfe näher kam, wo die Leute schon von weitem den Wagen und die darin saß erkannten, meinte sie freilich, es sei fast, als falle allen, denen sie begegnete, plötzlich etwas Trauriges ein, denn ihre Gesichter wurden auf einmal ganz lang und ernst.
Ich muß sagen, Schneewittchen wurde es allmählich ganz unbehaglich zumute. Als sie an das letzte Gasthaus kam, wo sie mit den Wirtsleuten bekannt war, fragte sie nach ihrem Vater. Sie antworteten, er sei gesund und frisch wie bei ihrer Abreise, Schneewittchen hörte aber doch ihrer Stimme an, daß sie aus irgendeinem Grund doch nicht so recht mit der Sprache heraus wollten. Fragen wollte sie indes nicht; es war wohl irgend etwas Unangenehmes passiert, ja am Ende war die Jungfer doch auf und davon gegangen. Jedenfalls aber wollte sich Schneewittchen die Freude an ihrer Heimkehr nicht mit dem Gedanken an die Jungfer Babitz verderben.«
»Es wäre rasend komisch, wenn es nur nicht so schrecklich betrübend wäre,« warf die Pflegeschwester mit einem kurzen Auflachen ein.
»Am letzten Halteplatz kam ihr der lange Bengt mit den Pferden des Pfarrhauses entgegen. Und da konnte sie sich nicht täuschen, auch er war sonderbar. Sonst mußte man jedes Wort aus ihm herauspressen, jetzt aber schwatzte er in einem fort. Und Schneewittchen merkte wohl, daß er von allem möglichen sprach, aber kein Wort von ihrem Vater und Jungfer Babitz. Und jetzt wagte sie nicht mehr zu fragen. Wenn irgend etwas schief gegangen war, würde sie es von ihrem Vater selbst hören.«
»Und so wußte sie gar nichts, bis sie daheim ankam?« rief die Pflegeschwester.
»Nein, sie wußte nichts, gar nichts. Und nun will ich dir sagen, was ihr am schwersten dabei war. Ach, das schwerste war, daß ihr guter Vater meinte, er habe unbeschreiblich verständig gehandelt, und erwartete, sie solle sich auch noch darüber freuen.
Und er mußte es ja auch glauben. Denn wer anders als Schneewittchen hatte die Jungfer über die Maßen gelobt und zu ihm gesagt, er müßte sich glücklich preisen, eine so ausgezeichnete Person im Hause zu haben. Ach, sie selbst war es vielleicht gewesen, die ihm den ersten Gedanken eingegeben hatte, die Jungfer – –
Du wirst vielleicht gar nicht verstehen, wie vergnügt der Vater aussah, als er auf der Freitreppe stand, um sie zu bewillkommnen, und wie vergnügt auch Jungfer Babitz aussah, die da neben ihm stand. Der gute Vater konnte es fast nicht mehr erwarten, die große Neuigkeit mitzuteilen.
Aber ihr Vater brauchte gar nichts zu sagen, denn Schneewittchen sah es selbst. Sie wußte es schon, ehe sie aus dem Wagen gestiegen war. Und nun muß ich erzählen, wie schlimm es ihr ging. Sie wurde so zornig, daß sie sich nicht beherrschen konnte. Noch nie in ihrem Leben war sie so aufgeregt gewesen; sie fuhr zwar nicht auf die beiden los und schlug und kratzte, aber in Wirklichkeit hatte sie die größte Lust dazu.
Ihre Zunge konnte sie indes doch nicht ganz beherrschen, und so sagte sie das schlimmste, was sie finden konnte. Nie, nie würde sie die Babitz Mutter nennen, das war das erste; und das zweite war, daß dies eine höchst unpassende Heirat für ihren Vater sei. Die Babitz sei die Tochter eines armen deutschen Trompeters, das wisse sie wohl, aber Schneewittchens Vater hätte die vornehmste Dame haben können, wenn er nur gewollt hätte. Und schließlich sagte sie auch noch, die beiden fühlten wohl, daß sie unrecht gehandelt hätten, sonst hätten sie nicht so im geheimen geheiratet.
Aber jetzt trat die Großmutter dazwischen. Sie ergriff Schneewittchen bei der Hand und befahl ihr in strengem Ton, mit ihr auf ihr Zimmer zu kommen. Schneewittchen weigerte sich auch nicht, wendete sich aber vorher noch einmal an die Babitz und sagte, diese habe sich bei ihrem Vater nur durch das gute Essen eingeschmeichelt, und er habe sie nur um dieser feinen Gerichte willen geheiratet.
Dann erst ging sie mit der Großmutter.«
»Das war schade,« sagte die Pflegeschwester. »Man hätte sie ruhig weiter machen lassen sollen.«
»Nein, Großmutter führte sie fort, und sobald Schneewittchen in deren Zimmer angekommen war, brach sie in Tränen aus. Das war wieder etwas Neues. Noch nie hatte sie so bitterlich geweint. Sie weinte stundenlang ununterbrochen fort, und die ganze Zeit hatte sie das Gefühl, als sei etwas Fremdes, das sie in allen den Jahren, die sie bisher gelebt hatte, im tiefsten Herzen verborgen getragen, nun erwacht und habe Gewalt über sie bekommen. Ja, sie fühlte es ganz deutlich: tief in ihrem Herzen wohnte ein alter Drache oder ein unheimliches Raubtier. Ach, ach! Sie fürchtete sich vor diesem Ungeheuer so sehr, daß sie das andere Unglück fast darüber vergaß. Die Erkenntnis, daß etwas so Ungezähmtes und Gefährliches in ihrem Herzen wohnte, jagte ihr einen furchtbaren Schrecken ein; das heißt, eigentlich konnte sie ja nichts dafür, daß es da war; sie durfte es nur nie, nie wieder zum Vorschein kommen lassen.«
»O du grundgütiger Himmel!« rief die Pflegeschwester mit zärtlicher Stimme. »War denn das Schneewittchen noch nie zornig gewesen?«
»Schließlich sank sie in einen tiefen Schlaf,« fuhr die Pfarrerstochter fort, »der ihr Vergessen brachte, und aus dem sie erst am nächsten Morgen erwachte, als die Sonne hinter dem Berg aufging und ihr ins Gesicht schien. Da fiel ihr das ganze Unglück wieder ein, und sie wußte nicht, was sie tun sollte.
Aber sie brauchte sich nicht lange zu besinnen, denn ein paar Minuten später trat das Zimmermädchen herein und richtete von der Frau Pfarrer aus, das Fräulein solle aufstehen und sich an den Webstuhl setzen.
Es war noch nicht einmal ganz vier Uhr, so früh war Schneewittchen sonst nie aufgestanden. Sie hatte freilich früher auch gearbeitet, aber nur nach ihrem eigenen Gutdünken, und wie es ihr selbst beliebte. Schon wollte sie wieder zornig werden; aber dann mußte sie an die Wildheit in ihrem Herzen denken, und sie bekam Angst, diese könnte wieder losbrechen.
Nachdem sie ein paar Stunden am Webstuhl gesessen hatte, verstand sie besser, wie alles gekommen war. Nicht eingeschmeichelt hatte sich Jungfer Babitz bei ihrem Vater, sondern sie hatte ihm so lange die Wahrheit gesagt, bis ihm die Augen dafür aufgegangen waren, welch eine unschätzbare Stütze sie ihm und seiner Tochter sein würde. Und da ihr guter Vater nun hatte sehen müssen, wie wenig die Tochter sein kluges Vorgehen zu schätzen gewußt hatte, war er gewiß jetzt sehr empört über sie.
Als es sieben Uhr war, wurde Schneewittchen zu ihrem Herrn Vater hineingerufen, um verwarnt und ermahnt zu werden; und etwas anderes hatte sie ja auch nicht erwartet. Der gute Vater war indes schrecklich unbehilflich, als er sie ermahnte, und so wäre Schneewittchen fast aufs neue zornig geworden. Sie ließ es aber nicht so weit kommen, sondern bat die beiden herzlich um Verzeihung und küßte beiden, der Babitz und dem Vater, die Hand. Ach, sie sah wohl, wie leicht es dem Vater ums Herz wurde, als dieses geordnet war, und er wieder Frieden im Hause hatte!«
»Und so etwas kann geschehen, während andere Leute nur ein paar Meilen entfernt sind und nichts davon wissen!« rief die Pflegeschwester mit tränenerstickter Stimme. »Da hätte ich dabei sein sollen!«
»O, es war recht gut, daß niemand da war, der Schneewittchen aufstachelte,« versetzte die Pfarrerstochter. »Sie war recht froh, sich so versöhnlich gezeigt zu haben, denn als sie die beiden beisammen sah, wurde ihr bald klar, wer am meisten zu bedauern war. Nein, nicht sie war am unglücklichsten dran, denn sie war jung, sie konnte sich verheiraten und eine eigene Heimat bekommen; aber bei dem Vater war das ganz anders, er konnte Jungfer Babitz jetzt nie wieder loswerden, sondern mußte sie bis ans Ende seines Lebens behalten. Das bedeutete so viel, als immerfort in grauem Winter ohne Sommersonnenschein leben zu müssen. Ja, ihr Vater war zu bedauern, nicht sie!
Aber so versöhnlich sie auch sein wollte, so konnte sie doch wieder nicht anders, als sich über ihren Vater ärgern, als dieser nach einer Weile ans Küchenkammerfenster kam und sie fragte, ob sie mit ihm spazieren gehen wolle. Sie antwortete, es sei ihr unmöglich, weil die Mutter befohlen habe, es müßten vor dem Frühstück so und so viele Ellen Tuch fertig gewoben sein.
Im ersten Augenblick wollte der Vater sagen, sie solle trotzdem nur mitkommen. Aber dann überlegte er sich wohl, daß es nicht anging, schon am ersten Morgen die Befehle der Mutter umzustoßen. Und so ging er vom Fenster weg und ließ Schneewittchen am Webstuhl sitzen. Das aber hatte sie nie und nimmer erwartet! Ach, es war ihr, als müßte ihr das Herz aufhören zu schlagen! Nun hatte sie ihren Vater verloren, das fühlte sie deutlich.«
Hier wurde die Stimme der Pfarrerstochter von Tränen erstickt, und sie verstummte. Auch Anna Brogren sagte nichts mehr, aber sie weinte ganz vernehmlich. Und die Kleine hätte auch geweint, wenn sie nicht so große Angst gehabt hätte, die andern würden es hören.
In der nächsten Nacht erging es der Kleinen kein bißchen anders als in der vorigen. Anna Brogren war nicht abgereist, wie es ihre Absicht gewesen war, sondern hatte ihre Heimreise verschoben. Und kaum hatten der Pfarrer und die Pfarrfrau am Abend gute Nacht gesagt, als Anna Brogren auch schon aus dem Gastzimmer in die Küchenkammer heruntergeschlichen kam, um mit ihrer Pflegeschwester zu plaudern.
Diesmal gaben sie sich gar nicht erst Mühe, zu warten, bis die Kleine eingeschlafen war. Die Pröpstin sagte sofort, sie sei nur dageblieben, um die Fortsetzung des schönen Märchens vom Schneewittchen zu hören, das Maja Lisa ihr in der vergangenen Nacht erzählt habe. Und zugleich sagte sie auch, Maja Lisa solle nur ohne Verzug anfangen, damit sie heute nacht gewiß fertig würden, denn länger als bis morgen könne sie durchaus nicht dableiben.
Dann erzählte die Pfarrerstochter weiter.
»Wenn ich mich recht erinnere,« sagte sie, »so war Schneewittchen noch nicht länger als acht Tage wieder daheim, als der Küster Moreus und seine Frau Ulla zu Besuch kamen. Ich kann gar nicht sagen, wie vergnügt Schneewittchen war, als sie ankamen. Es stand allerdings jetzt alles wohl und gut zwischen ihr und der Stiefmutter, aber sie mußte immerfort arbeiten. Den ganzen Tag hindurch trat sie den Webstuhl und ließ das Schifflein an einem groben Drillgewebe hin und her fliegen, und wenn sie sich am Abend zu Bette legte, tat ihr der Rücken bitter weh. Da war es gut, wenn jemand zu Besuch kam, weil sie dann einige Stunden von der Arbeit befreit war.
Ach, ach! Schneewittchen dachte im stillen, sie werde sicherlich niemals solche Lust zum Arbeiten bekommen wie die Stiefmutter. Auch würde sie wohl nie so fingerfertig und geschickt werden wie diese. Die Stiefmutter konnte wundervollen Damast weben, mit einer Bordüre, auf der die ganze Arche Noah abgebildet war. Schneewittchen merkte wohl, daß die Stiefmutter sie für eine rechte Stümperin hielt; aber sie hoffte trotzdem, die Mutter werde verstehen, wie sehr sie sich Mühe gab, es ihr recht zu machen.
Ulla Moreus kannte die Stiefmutter schon von der Zeit her, wo diese noch Haushälterin auf Borg gewesen war, und die beiden verstanden sich gut miteinander. Außerdem war Ulla mit ihrer Schwiegermutter vor ganz kurzem zur Herbstbäckerei auf Borg gewesen, da hatte sie viel von der gnädigen Frau Gräfin zu berichten! Schneewittchen merkte auch wohl, wie sehr sich die Stiefmutter freute, von allen den tollen Streichen zu hören, die die Gräfin wieder ausgeheckt hatte.
Wenn ich aber die Wahrheit sagen soll, so glaube ich: wer am vergnügtesten über den Besuch war, war doch ihr Herr Vater. Schneewittchen sah mit Freude, wie er das würdevolle Benehmen, das er seit seiner Verheiratung angenommen hatte, abwarf und wieder ganz wie früher wurde. Und sie sagte sich: »Ich weiß nicht, wo sich mein Väterchen in der letzten Zeit aufgehalten hat, denn ich bin nicht mehr mit ihm zusammen gewesen, seit wir miteinander nach dem südlichen Anger gingen, um nach den Mähern zu sehen.«
Ach, Schneewittchen wußte es nur zu gut! Um ihretwillen wagte der Vater nicht mehr zu lachen oder zu scherzen. Sein Gewissen machte ihm Vorwürfe, weil er ihre Erziehung bisher so schlecht geleitet hatte. Siehst du, er dachte, Schneewittchen wäre bei ihrer Rückkehr niemals so auf ihn und die Mutter losgefahren, wenn er sie nicht verwöhnt gehabt hätte; darum sollte sie von jetzt an streng gehalten werden, das hatte er sich fest vorgenommen, und es war ihm so bitter ernst damit, daß er, wenn sich die Tochter jetzt im Zimmer befand, nie anders als streng und ernsthaft zu sein wagte.
Noch vor wenigen Monaten dachte der Vater nicht anders, als seine Tochter sei gerade so, wie sie sein sollte, jetzt aber taugte sie ganz und gar nichts mehr, und der Vater wurde gewiß nicht wieder wie früher, bis sie ein ganz neues Wesen bekommen hatte.
Als nun Küster Moreus kam, vergaß der Vater seine schwere Last und war ganz wie früher. Da stieg in Schneewittchen unwillkürlich der Gedanke auf, der Vater müsse sie doch recht lieb haben. Denn welchen Zwang legte er sich ihretwegen alle Tage auf! Nein, sie war ihm gar nicht so dankbar, wie sie es eigentlich hätte sein sollen.
Die Stiefmutter wollte das Abendessen selbst kochen, denn sie wollte Ulla Moreus zeigen, daß man früher auf Lövdala nie so gut gespeist hatte wie jetzt. Ulla war die geschickteste Kochfrau im ganzen Kirchspiel, das wußte die Pfarrfrau wohl. Und da Ulla überdies beständig unterwegs war, um bei Hochzeiten und Begräbnissen zu kochen, dachte die Mutter, es lohne sich wohl, aufmerksam gegen Ulla zu sein. Während nun die Pfarrfrau am Herd stand, schlug Ulla vor, sie und Schneewittchen könnten indessen eine Weile zur Großmutter gehen.
Drüben bei der Großmutter machte Ulla ein Paket auf, das sie mitgebracht hatte, um den andern ein Vergnügen zu bereiten. Es sei ein prachtvolles Geschenk, das sie von der gnädigen Frau Gräfin erhalten habe, sagte sie. Ach, nie mußte man so herzlich lachen, als wenn Ulla erzählte, wie wohl angeschrieben sie bei der Gräfin sei und welche schöne Geschenke sie von ihr erhalte. Einmal hatte sie ihr einen Schoßhund verehrt, der nur mit Sahne ernährt werden durfte. Ja, ja, das könnte man gutherzig nennen, wenn man ein solches Tier einer Küstersfrau schenkte, die gewißlich nicht immer eine Kuh zum Melken hatte!
Ich weiß nicht, ob es Ulla nicht geradezu leid getan hätte, wenn ihr von der Gräfin einmal etwas Nützliches geschenkt worden wäre. Ach, wie übermütig war sie, als sie das neue Geschenk auspackte!
›Da seht einmal her!‹ rief sie. ›So ausstaffiert werde ich künftig auf die Bauernhöfe kommen, wenn ich zur Hochzeit koche.‹
Die Gräfin dachte wohl, sie habe etwas ganz Besonderes getan, als sie Ulla diesen Reitanzug schenkte. Es war der englische, den sie in den letzten Jahren immer getragen hatte, ein langer schwarzer Rock, eine enganliegende mit Zobel verbrämte Jacke nebst einem kleinen Zylinderhut. Der Anzug war aus ausgezeichnetem Stoff gearbeitet und sicher noch nicht vertragen, aber es war doch ein ganz verrücktes Geschenk. Der Rock war übermäßig lang, Ulla konnte keinen Schritt darin machen, und in der roten Jacke sah sie rasend komisch aus. Doch nun verlangte Ulla, Schneewittchen solle das Kleid jetzt auch anprobieren. Und als sie es angezogen hatte, waren Großmutter und Ulla ganz entzückt.
›Ach, wie schade,‹ rief Ulla, ›daß nicht du dieses großartige Geschenk bekommen hast! Das Kleid sitzt dir ja wie angegossen, gerade als sei es für dich gemacht.‹
Schneewittchen mußte sich vor den Spiegel setzen, Ulla lockerte ihr das Haar ein wenig und drückte ihr den Hut darauf.
›Seht sie nur an,‹ sagte sie zur Großmutter. ›Sieht sie nicht ganz aus wie eine kleine gnädige Gräfin? Habt Ihr sie je so niedlich gesehen?‹
Aber nun sagte Ulla, Schneewittchen dürfe das Reitkleid ja nicht wieder ausziehen, bis sie ihr Vater und Moreus darin gesehen hätten.
Und nun muß ich eins sagen: Schneewittchen hätte sich nicht verkleiden sollen; sie wurde jetzt gleich sehr ausgelassen und meinte, sie sei nun jemand ganz anderes. Großmutter und Ulla lachten sich fast krank über sie, als sie vollends anfing, die gnädige Gräfin im Sprechen und im Gehen nachzuahmen.
Ulla sagte noch einmal, sie würde es ihr nie verzeihen, wenn ihr Mann das Fräulein nicht als Gräfin sehen dürfte, und sie bestand darauf, Schneewittchen müsse jetzt gleich ins Wohnhaus mit ihr hinübergehen.
Schneewittchen dachte wohl im stillen: ›Vielleicht hat Vater jetzt, wo er so ernst geworden ist, keinen Gefallen daran, daß ich mich verkleide. Früher durfte ich es tun, so oft ich Lust dazu hatte, aber jetzt ist alles anders geworden.‹
Jedoch sie war mutig, weil Ulla dabei war, und so redete sie sich selbst zu und sagte: »Es geht doch wirklich nicht an, daß du dich so ganz unterdrücken läßt. Heute ist ja der Herr Vater wieder ganz wie früher, und er kann doch nichts Unpassendes darin finden, wenn du das Kleid der Gräfin angezogen hast.«
Außerdem hatte Schneewittchen noch einen weiteren Trost. Sie glaubte, der Stiefmutter werde es nicht mißfallen, wenn sie sich auf Kosten der Gräfin ein wenig ergötzten.
Als sie die Treppe hinuntergingen, kam Ulla ein neuer Gedanke. Sie nahm Schneewittchen mit nach dem Stall und überredete da den langen Bengt, den Rappen zu satteln. Der Rappe war ein dickes kleines Pferd, das den großen Reitpferden auf Borg ganz und gar nicht glich; auch sahen die Sättel des Pfarrhauses mit ihren gepolsterten Sitzen und Lehnen denen der Gräfin Märta durchaus nicht ähnlich.
Als der Rappe gesattelt und Schneewittchen aufgestiegen war, lief Ulla voraus. Mit lauter Stimme rief sie zur Saal– und zur Küchentüre hinein, die Gräfin Märta komme durch die Allee dahergeritten.
Ei, ei, ei! Welcher Aufruhr entstand im Pfarrhaus! Die Pfarrfrau riß sich die Küchenschürze so hastig vom Leib, daß der Bund abriß, und eilte auf die Freitreppe hinaus. Der Pfarrer lief mit solcher Geschwindigkeit herbei, daß ihm die Perücke ganz schief auf dem Kopf saß, und stellte sich neben seine Frau. Ulla und der Küster Moreus pflanzten sich hinter dem Pfarrpaar auf, und auf der untersten Stufe stand das Zimmermädchen und knickste.
Nun hatte Schneewittchen allerdings eine Reitgerte in der Hand, und sie gebrauchte sie auch tüchtig; aber deshalb ließ sich der Rappe doch nicht aus seinem gemächlichen Schritt bringen, und Schneewittchen dachte, das sei recht gut, denn dadurch würden ja Vater und Mutter sofort erkennen, wer dahergeritten kam.
Aber war es nicht zu komisch! Die Stiefmutter war wohl von dem roten Leibrock, in dem die Gräfin nun seit mehreren Jahren immer ausgelitten war, ganz geblendet und merkte nichts. Kaum aber hatte Fräulein Schneewittchen mit der Reitgerte gegrüßt und gerufen: ›Bon jour, monsieur le pasteur!‹ wie die Gräfin es zu tun pflegte, als die frühere Jungfer Babitz auch schon alle Stufen heruntereilte und eine Verbeugung machte, als wollte sie in den Boden sinken.
Ach, wie soll ich alles beschreiben? Die Mutter war etwas kurzsichtig, das wußte Schneewittchen wohl; überdies war es auch Abend und ein wenig dämmerig, aber das konnte sie sich doch unmöglich denken, daß sie nicht erkannt worden sein sollte.
Da dachte sie: ›Der Stiefmutter gefällt es, daß ich mich über die Gräfin lustig mache;‹ denn sie wußte ja, wie erbost sie auf ihre frühere Herrin war. Nie, nie, nicht mit einem Gedanken fiel es Schneewittchen ein, daß die Mutter sich vor ihr verneigen könnte. Und sie stand ja da und strahlte mit dem ganzen Gesicht. So glücklich hatte sie noch niemals ausgesehen.
Schneewittchen sprang ohne Hilfe aus dem Sattel, ganz wie die gnädige Gräfin, und warf die Zügel dem langen Bengt zu. Dann wandte sie sich an die Pfarrfrau, reichte ihr die Hand und sagte:
›Eh bien, Raclitz, wie geht es Ihr in der neuen Stellung?‹
Aber denk dir, kaum hatte Schneewittchen das gesagt, als sich die Mutter auch schon niedergebeugt und ihr die Hand geküßt hatte!
Da endlich begriff Schneewittchen! Die Mutter hatte sich täuschen lassen und glaubte, die Gräfin selbst sei gekommen, sie zu besuchen. Durch diese Erkenntnis wurde Schneewittchen so bestürzt, daß sie ausrief: »Aber Frau Mutter, ich bin es ja nur!«
Da richtete sich die Mutter blitzschnell auf und schleuderte Schneewittchens Hand weg. Noch einen einzigen Blick warf sie der Stieftochter zu, dann wendete sie sich jäh um, stürmte die Treppe hinauf und eilte in die Küche hinein.
Nun versammelten sich die andern, der Vater, der Küster Moreus und Ulla um Schneewittchen, und alle lachten herzlich über die Verkleidung, Ach, ach! Ein kleines Weilchen noch mußte sie ihre Rolle weiterspielen, weil ihr guter Vater so erfreut aussah. Aber eigentlich war sie wie versteinert; der Blick der Stiefmutter hatte ihr eine furchtbare Angst eingejagt und sie dachte: ›Nun habe ich mir die Mutter zum Feind gemacht. Sie macht sich zwar nichts daraus, wenn man sie ein bißchen neckt, wenn sie aber jemand geradezu für Narren hält, wird sie es ihm nie verzeihen.‹«
Hier machte die Pfarrerstochter eine Pause, wie um zu hören, was die Pflegeschwester über die Geschichte denke.
»Eigentlich sollte man nur herzlich darüber lachen,« sagte Anna Brogren, »aber ich kann es doch nicht, es wird mir im Gegenteil angst und bang dabei. Erzähle nur rasch weiter, damit ich erfahre, wie schlimm es dir – nein, ich meine, wie es Schneewittchen ergangen ist.«
Und die Pfarrerstochter erzählte weiter:
»Ja, ich muß dir wirklich erzählen, was sich Ende September Sonderbares ereignete. Es ist zwar gar nichts Wichtiges, das wirst du gleich merken; aber ich glaube, es hat Schneewittchen doch den Mut etwas gestärkt. So oft ihr nämlich dieses Erlebnis wieder in den Sinn kam, sagte sie sich: ›Es ist doch gut, daß noch jemand auf dem Hofe ist, der keine Angst vor der Stiefmutter hat.‹
Denn alle andern, ihr Herr Vater nicht ausgenommen, hatten ja Angst vor ihr, das sah sie nur zu deutlich, und eins mußte sie auch zugeben: die Stiefmutter war wirklich äußerst besorgt um den Vater und bewachte ihn so sehr, daß er sich kaum noch zu rühren wagte. Aber ach, wie ängstlich hütete sich der gute Vater auch, nein zu sagen, wenn die Stiefmutter etwas wollte.
Ja, das war alle Tage deutlich zu erkennen, aber nie deutlicher als damals, wo er ihr die Erlaubnis zum Branntweinbrennen gab. Jedermann auf dem Hofe sagte, wenn jemand anders als die Stiefmutter ihn darum angegangen hätte, würde er niemals eingewilligt haben, denn er sei von jeher dagegen gewesen. Wenn ihm in früherer Zeit jemand mit diesem Vorschlag gekommen sei, habe er immer ganz verdrießlich gesagt: ›In einem Pfarrhaus solle man die Feldfrüchte zum Brotbacken und Grützekochen verwenden, aber nicht zu diesem unglückseligen Getränke, das nur allen Menschen zum Verderben erfunden worden ist.‹
Der gute Vater hatte sicher dasselbe auch zu der Pfarrfrau gesagt, sie aber hatte sich nicht abschrecken lassen. Sie sagte, wenn der Pfarrer den Branntweingenuß in seinem Hause ein für allemal abschaffen wollte, dann würde sie ihm gewiß beistimmen, da er nun aber doch Branntwein im Hause habe, sowohl für die Gäste, als auch fürs Gesinde, könnte man ihn doch ebensowohl selbst herstellen, denn wenn man ihn zu Hause brenne, koste er nur die Hälfte. So sprach sie, und sie quängelte so lange darum, bis der Vater nachgab.
Als nun zum erstenmal Branntwein gebrannt werden sollte, entlehnte die Pfarrfrau von einem Nachbarhof einen Kessel mitsamt Hut und Rohr, und sobald er da war, machte sie sich an die Arbeit.
Während das Maischen und Gären im Gang war, ließ sie der Braumagd keinen Augenblick Ruhe, und als destilliert wurde, stand sie die ganze Zeit selbst im Brauhaus drüben. Nein, sicher hätte ihr niemand vorwerfen können, sie schone sich in irgendeiner Weise!
Der Vater dagegen saß die ganze Zeit, so lange die Branntweinbrennerei dauerte, in seinem Zimmer und tat seiner Frau nicht ein einziges Mal die Ehre an, den Kopf zur Brauhaustüre hineinzustecken und um eine Probe von dem Getränke zu bitten.
Daran merkte die Pfarrfrau wohl, daß er noch immer gegen die Sache war. Und über etwas anderes war sie auch nicht im Zweifel: sobald nur ein einziger Mensch auf dem Hofe nur im geringsten beduselt wäre, würde er sofort kommen und das ganze Verfahren einstellen und verbieten. Deshalb wachte die Mutter mit Argusaugen darüber, daß keines von denen, die ihr halfen, zu oft eine Kostprobe bekam; und da alle Leute einen Riesenrespekt vor ihr hatten, gelang es ihr auch, die Ordnung die ganze Zeit über aufrecht zu erhalten.
Nur ein einziges kleines Mißgeschick ereignete sich.
Die Mutter war mit der Klärung schon ganz fertig und hatte nichts mehr zu tun, als den Branntwein in große Flaschen und Krüge zu füllen. Außerdem wollte sie auch noch den ›Nachtropfen‹ versorgen; da er aber noch warm war, füllte sie ihn in einen Eimer und stellte diesen zum Abkühlen vor die Brauhaustüre.
Gleich darauf kam der lange Bengt am Brauhaus vorüber. Es zog ihn mit aller Macht zu dem Eimer hin; aber sofort stand die Mutter unter der Tür.
›Lieber Bengt,‹ sagte sie. ›Ihr werdet doch davon nicht trinken wollen? Das ist nicht für Menschen, es ist nur das Spülicht.‹
Der lange Bengt machte ein einfältiges Gesicht und ging weiter, indem er sagte, er sei eben auf dem Wege nach dein Stall, und es sei doch wohl nichts Strafbares, wenn er am Brauhaus vorbeigehe.
Danach ging er auch richtig in den Stall und holte eine Heugabel, die die Stallmagd von ihm entlehnt hatte. Diese Heugabel wollte er in die Scheune zurücktragen. Als nun aber der lange Bengt das Gittertor zum Wirtschaftshofe öffnete, traf er mit dem großen Bock zusammen, der, die Nase zwischen den Gitterstäben, nach dem Brauhaus hinüber schnupperte. Es war ein schöner Tag, alle Ziegen waren im Freien, und die ganze Schar hielt sich in der Nähe eines Reisighaufens auf, nur der große Bock stand an dem Gatter.
Aber es ist ein wahres Rätsel, wie der lange Bengt so ungeschickt sein konnte! Er machte das Gittertor gerade so weit auf, daß der große Bock sich neben ihm durchdrängen konnte, und danach gab er sich gar keine Mühe, ihn wieder zurückzutreiben, was er doch eigentlich hätte tun müssen, sondern er sah nur nach, ob die andern Türen alle geschlossen waren, damit der große Bock nicht in Vaters Obstgarten und nicht auf der Mutter Kohlbeete kommen könnte. Wahrscheinlich dachte er, es könnte nichts schaden, wenn der Bock ein bißchen auf dem Rasen im Hof weidete.
Und nun sollst du hören! Der große Bock würdigte das Gras nicht eines einzigen Blickes, sondern sprang in kurzem Trab geradeswegs auf das Brauhaus zu. Und er kam so leicht und elegant dahergetrippelt, daß die Mutter ihn gar nicht hörte, obgleich die Brauhaustüre angelehnt war.
Dieser Bock war von jeher ein richtiger Schlauberger gewesen. Beim Saufen schlapperte er weder wie ein Hund, noch schlürfte er wie ein Pferd, sondern er trank so leise, daß niemand merkte, was er tat. Auf diese Weise hatte er manche Kanne Milch hinter dem Rücken der Viehmagd ausgetrunken, und jetzt gelang es ihm, den ganzen ›Nachtropfen‹ in aller Ruhe auszutrinken, ohne daß die Pfarrfrau auch nur eine Ahnung davon hatte, was geschah.
Als er jedoch den ganzen Eimer ausgetrunken hatte, fing er nach seiner Gewohnheit zu meckern an; denn wenn er einen losen Streich ausgeführt hatte, dann wollte er auch sehen, wie ärgerlich und aufgebracht die andern über das, was er angestellt hatte, waren, sonst machte es ihm keine Freude. So meckerte er also lustig drauf los, und im nächsten Augenblick stand die Mutter auf der Schwelle und sah, daß der Eimer leer war.
Da ergriff sie eine lange schwarze Backschaufel, die immer in der Ecke hinter der Brauhaustüre stand, und wollte den großen Bock damit züchtigen. Aber nach der großartigen Bewirtung, die diesem zuteil geworden war, meinte er gewiß, die Mutter könnte nicht im Ernst böse sein, und so stellte er sich auf die Hinterbeine vor ihr auf und begann zu tanzen. Nun war ja der große Bock ein altes großes Tier, und es war nicht immer so angenehm, wenn man mit ihm zusammentraf. Die Mutter schlug mit der Backschaufel nach ihm, und wer den großen Bock kannte, mußte nun glauben, die Sache würde kein gutes Ende nehmen. Auch eilten nun alle, der Vater und Schneewittchen mitsamt den Mägden, eiligst aus dem Wohnhaus herbei, um der Pfarrfrau beizustehen. Der große Bock tat ihr indes nichts zuleide, sondern tanzte nur vor ihr auf und ab, und da machte der Vater den andern ein Zeichen, sie sollten zurückbleiben und sich nicht in das Spiel mischen. Zugleich rief er der Mutter zu, sie solle sich rasch ins Brauhaus zurückziehen, so lange der Bock noch in seiner guten Laune sei.
Aber die Pfarrfrau kümmerte sich nicht um diese Warnung, und schließlich gelang es ihr, dem Bock einen recht harten empfindlichen Schlag zu versetzen. Da ließ er sich auf alle viere nieder; aber damit war nicht viel gewonnen, denn im nächsten Augenblick sprang er mit einem Satz ins Brauhaus hinein und benützte da seine Hörner dazu, so viele von den mit Branntwein gefüllten Flaschen und Krügen umzustoßen, als er nur erreichen konnte. Und kaum war die Mutter hinter ihm hereingekommen, als er auch schon wieder hinauswitschte.
Und der große Bock war schlau! Er wußte recht wohl, nun hatte die Mutter mit dem Aufrichten aller der umgestoßenen Gefäße sehr viel zu tun, da war er eine Weile sicher vor ihr und konnte in aller Ruhe seiner guten Laune die Zügel schießen lassen. Zuerst blieb er vor der Brauhaustüre ein paar Sekunden lang ruhig stehen und schaute sich um, dann schritt er langsam und ernst die Anhöhe zum Wohnhaus hinauf.
Der große Bock hatte meistens ein würdiges und feierliches Benehmen, und das kam ihm wohl zu statten, denn man hätte von einem so stattlichen Tier ja nie geglaubt, daß es je daran dachte, einen losen Streich auszuhecken. Aber noch nie hatte man ihn so großartig gesehen wie jetzt. Er hob einen Fuß um den andern langsam hoch auf, trug den Kopf stolz zurückgelegt, streckte die Nase in die Luft und protzte gleichsam mit seinem langen Bart und seinen großen Hörnern. Es blinkte allerdings etwas unruhig in seinen Augen, und der hintere Teil seines Körpers schlenkerte hin und her.
Der Vater glaubte, der Bock sei auf dem Wege zu seinen Ziegen im Wirtschaftshof; deshalb rief er Schneewittchen und den andern Frauenzimmern zu, sie sollten dem Bock aus dem Wege gehen und ihn nicht scheuchen. Wenn aber der große Bock diese Absicht gehabt hatte, dann änderte er sie jedenfalls, denn als er an der Freitreppe des Wohnhauses vorüberkam, sah er, daß der, der zuletzt herausgeeilt war, um ihn fortzujagen, die Haustüre offen stehen gelassen hatte. Und war er eben noch ganz ernsthaft dahingeschritten, so machte er jetzt plötzlich einen Satz und sprang die Stufen hinauf geradeswegs ins Haus hinein.
Sofort stürzte die ganze Schar der Mägde hinter ihm drein, um ihn hinauszujagen. Da floh der Bock die Bodentreppe hinauf; als sie ihn aber auch auf den Bodenraum verfolgten, sprang er zum Bodenfenster hinaus. Und als er diesen Sprung machte, gab er sich gar nicht erst Mühe, zu sehen, wie weit es von da auf die Erde hinunter ging. Aber dieses Tier hatte immer Glück, und so war es auch gerade an das Fenster gekommen, das direkt über dem Dach des Hauseingangs war.
Es war ein kleines steilabfallendes Dach mit einem ganz schmalen Giebelspieß in der Mitte, und auf diesen kam der Bock in seinem Sprung zu stehen. Er konnte von da keinen Schritt machen, ohne herunterzufallen, weder nach rechts noch nach links, und ebenso unmöglich schien es auch, daß er wieder auf den Bodenraum zurückgelangen könnte.
›Rasch hinein mit dir!‹ rief der Pfarrer und drohte ihm mit dem Stock.
Aber der Bock blieb da stehen, wo er stand. Die Mägde waren voller Schrecken darüber, wie es nun gehen würde, wieder aus dem Haus herausgelaufen. Aber der große Bock sah ganz vergnügt aus; er drehte nur den Kopf und zwinkerte ihnen zu, und man konnte wohl sehen, wie sehr er sich über ihr Entsetzen freute.
Indessen hatte die Pfarrfrau ihre Flaschen wieder aufgerichtet und trat nun, mit der Backschaufel in der Hand, heraus, um den Bock zu vertreiben. Aber als dieser sie sah, zwinkerte er nur noch lustiger als zuvor; in diesem Augenblick hatte er nicht den geringsten Respekt vor ihr.
Sie aber schwang die Backschaufel noch einmal gegen den Bock; in demselben Augenblick zog dieser die Beine an, flog wie ein Pfeil durch die Luft und landete dicht vor der Pfarrfrau auf dem Boden.
Kaum war er drunten angelangt, als er sich auch schon auf die Hinterbeine aufrichtete und der Mutter einen Stoß versetzte, daß sie umfiel. Darauf sprang er nach dem Wirtschaftshof davon, war mit einem Satz übers Gatter weg und tanzte dann seinen Ziegen noch mehrere Minuten lang etwas vor.
Aber im ersten Augenblick dachte niemand mehr an den Bock. Alle rannten herbei, der Mutter aufzuhelfen. Und wer von allen zuerst zur Stelle war, das war Schneewittchen. Aber die Mutter stieß sie heftig zurück und rief:
›Verstelle dich nur nicht! Ich weiß wohl, wie du gegen mich gesinnt bist, denn ich sehe, daß du dich über meinen Unfall freust! Ja, lache nur, so lange du kannst, ich weiß jemand, der dich zum Weinen bringen wird!‹
Und es ist allerdings wahr, Schneewittchen sah nicht so schrecklich ängstlich aus. Sie hatte ja über den Bock lachen müssen, und da war ihr Gesicht noch nicht wieder ganz ernsthaft geworden.
Aber die Worte ihrer Stiefmutter genügten, sie für den ganzen übrigen Tag betrübt zu machen.
Und du, meine liebe Pflegeschwester, wirst wohl verstehen, daß dieses dem Schneewittchen nicht gerade neuen Mut einflößte. Nein, das tat ein Traum, den sie in der folgenden Nacht hatte.
Da sah Schneewittchen wieder den Bock vor sich, wie er da droben auf dem Dachfirst des Hauseingangs stand; aber jetzt war es kein wirklicher Bock mehr, sondern alle Freudigkeit und aller Humor, die von jeher in diesem Hause gewohnt hatten, waren da auf das Dach hinausgestiegen und machten sich über die Stiefmutter lustig. Und der Bock in Schneewittchens Traum konnte sprechen, und er sagte zu der Stiefmutter, es werde ihr nicht gelingen, dieses Haus zu einem kalten, harten Gefängnis zu machen, wie sie es gerne möchte, denn es sei zu viel von dem alten Geiste da, der leiste ihr Widerstand.
Und als Schneewittchen dann erwachte, dachte sie, das sei ganz wahr, und nun war es ihr, als sei sie nicht mehr so ganz allein in ihrem Kampf gegen die Stiefmutter.«
»Und du kannst dich darauf verlassen, sobald ich Schneewittchen wieder besuche, werde ich dem großen Bock ein paar Brotlaibe mitbringen!« sagte Anna Brogren, als die Pfarrerstochter eine Pause machte.
»Ach, ich fürchte, dieser Schmaus kommt zu spät,« versetzte die Pfarrerstochter; »denn im letzten Brief, den ich von Schneewittchen bekam, berichtete sie gerade, die Stiefmutter habe den großen Bock schlachten lassen.«
»Ei, sieh, ei, sieh!« sagte die Pröpstin nachdenklich. »Aber tat denn Schneewittchens Vater gar nichts dagegen und ließ den Bock einfach schlachten? Ich sage dir, jetzt bekomme ich wirklich Angst, diese Stiefmutter werde Schneewittchen noch einmal etwas Böses antun.«
Aber da entgegnete die Pfarrerstochter rasch: »Ach nein, dem Schneewittchen tut sie wohl nichts zuleid; sie meint im Gegenteil, Schneewittchen denke an nichts anderes, als wie sie die Stiefmutter recht ärgern könnte.«
»Das müßte sie doch besser wissen.«
»Ach, es trifft sich auch immer so schlimm für Schneewittchen; und ich will dir gleich noch eine Geschichte erzählen, damit du siehst, wie unglücklich es Schneewittchen immer geht.«
»Ja, ich will die Geschichte bis zu Ende hören,« versetzte die Pröpstin; »aber ich sehe eben doch, daß Schneewittchen in Gefahr ist und nicht ihre Stiefmutter.«
»Du weißt doch,« fuhr die Pfarrerstochter fort, »daß Schneewittchens Vater selbst den ganzen Garten des Pfarrhofs angelegt hat. Ihm allein hatte man die Stachelbeeren und Johannisbeeren und die herrlichen Erdbeerländer und die Gewürzbeete, sowie auch den Rosengarten auf der Westseite des Hauses zu verdanken.
Aber das prächtigste von allem waren doch die Apfelbäume. Der Vater hatte alle selbst gepflanzt und gepfropft, und weit und breit gab es gewiß keine so herrlichen Äpfel wie die des Pfarrgartens. Wenn Schneewittchen von diesen Äpfeln aß, meinte sie immer, sie seien aus lauter Sonnenschein und Sommerwärme bereitet.
So schöne Äpfel wie in diesem Sommer hatte Schneewittchen noch nie in ihres Vaters Garten gesehen. Ach, die herrlichen Paradiesäpfel, die Astrachaner und Goldparmänen, die Renetten und Winteräpfel! Die Bäume hingen zwar vielleicht nicht ganz so voll wie sonst, aber die Früchte waren darum um so schöner. Nicht ein einziger Apfel war wurmig; alle waren gleich groß und schön geformt. Alle Astrachaner leuchteten durchsichtig hell, alle Goldparmänen glänzten goldgelb, alle Paradiesäpfel schimmerten dunkel grünlichrot, und alle Winteräpfel hatten glühend rote Bäckchen.
Ja, wirklich, die Äpfel waren so wundervoll, daß man in der ganzen Gegend davon sprach. Groß und schön glänzten sie bis auf die Straße hinaus, und die Vorübergehenden kamen oft in den Hof herein und baten, ob sie nicht in den Garten hineingehen und die Äpfel ansehen dürften.
Aber nun muß ich etwas sagen. So schön und gut die Äpfel auch waren, so hatten die Pfarrleute doch auch ihren Ärger damit, und in den andern Jahren war immer eine große Menge von den Äpfeln des Pfarrgartens gestohlen worden. In diesem Jahr jedoch kam kaum ein einziger Apfel weg, denn die Pfarrfrau hielt unermüdlich Wache darüber. Von Ende August an, wo die Äpfel allmählich reif wurden, war sie immer draußen im Obstgarten, und sie wachte auch jede Nacht dort.
Ja, sie tat sogar noch mehr als das. Sie hütete die Äpfel auch vor den Hausbewohnern. Die Gattertüren wurden mit Vorlegschlössern versehen, und die Schlüssel dazu verwahrte die Pfarrfrau in ihrer eigenen Tasche. Wenn sie dann einen recht süßen schimmernden Astrachaner fand, brach sie ihn wohl für den Vater; aber weder Großmutter Beata noch Schneewittchen bekamen je auch nur einen einzigen Apfel zu kosten.
Ach, in den andern Jahren hatte man zwar keine so schönen Äpfel, aber mehr Freude davon gehabt! Da war niemand auf den Hof gekommen, der seine Lust nach einem Apfel nicht hätte stillen dürfen. Und man gab nicht nur den eigenen Hausbewohnern, sondern wer nur zu Besuch kam, durfte die Äpfel versuchen, und die meisten erhielten auch ein Bündelchen mit auf den Weg.
Aber nicht einmal dann bekam irgend jemand einen davon zu essen als die Äpfel von den Bäumen gebrochen wurden, denn diese Arbeit besorgte die Pfarrfrau ganz allein. Sie zog Handschuhe an und brach jeden einzelnen Apfel sehr fürsorglich von seinem Ast, damit keiner angestoßen oder verletzt wurde.
Schneewittchen kam es freilich ein wenig bitter vor, daß sie gar keine von den Äpfeln bekam, während sie noch die erste Sommersüße hatten; aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, wie schön es dann sein würde, wenn sie im Spätjahr und den ganzen Winter hindurch Äpfel zu essen hätten. Die Stiefmutter verstand sie auch sicher so gut aufzubewahren, daß sie nicht faulten.
Aber die Mutter hatte andere Pläne mit den Äpfeln, das mußte Schneewittchen bald merken. Nein, nicht im Pfarrhaus sollte all das schöne Obst gegessen werden, daran dachte die Pfarrfrau keinen Augenblick.
Der Pfarrer hätte gewiß auch seine Äpfel gerne daheimbehalten, wie in den andern Jahren. Aber die Pfarrfrau hatte ausgerechnet, daß man Geld damit verdienen könnte, und so wollte sie die ganze schöne Obsternte auf dem Brobyer Markt verkaufen.
Und es geschah, wie die Mutter es wollte. Mit zwei schwerbeladenen Wagen voll Äpfel nebst einem Knecht und einer Magd, die ihr beim Verkauf helfen sollten, fuhr sie zu Markte.
Als sie auf dem Marktplatz angekommen war, stellte sie einen Tisch auf, öffnete die Kisten und Fässer und legte die Äpfel zum Verkauf aus. Nein, sie fürchtete sich wirklich vor keiner Arbeit! Grobe Handschuhe an den Händen und einen großen Schal umgebunden, stand sie hinter dem Tisch und bot die Äpfel feil. Sie konnte sich einfach nicht dazu entschließen, jemand anders mit dieser Sache zu betrauen. Und ich muß sagen, die Ware konnte sich sehen lassen, und die Pfarrfrau konnte stolz darauf sein. Wundervoll im herrlichsten Rot und Grün und Gelb und Weiß leuchtete es von ihrem Stand, und die Leute strömten schon der Augenweide wegen herbei. Auf den großen Brobyer Markt kamen immer die Gärtner von den sörmländischen Schlössern und von den großen Herrenhöfen von Nässet; aber keiner von allen konnte so schönes Obst auslegen wie die Pfarrfrau.
Sobald sie alles zum Verkauf bereit hatte, eilte auch gleich eine Menge Leute herbei und fragte nach dem Preise der Äpfel. Aber da verlangte sie einen so hohen Preis, daß die Leute ganz bestürzt wurden und nicht kaufen wollten.
Und siehe, schließlich mußte die Pfarrfrau wirklich trotz ihrer wundervollen Auslage sehen, wie die Marktbesucher ihre Einkäufe bei ihren Nachbarn machten! Aber sie gab nicht nach und setzte ihren Preis nicht um einen einzigen Heller herunter, ja sie verlangte gerade doppelt so viel wie alle andern. Sie dachte wohl, später am Tage, wenn die Fremden ihr Obst verkauft hätten, würden ihre Äpfel schon an die Reihe kommen.
Vielleicht rechnete sie auch noch mit etwas anderem. Sie wußte wohl, wieviel Branntwein immer auf dem Brobyer Markt getrunken wurde, und daß mittags um zwölf Uhr kaum noch ein nüchterner Mann da zu finden war, und so meinte sie, die Bauersleute würden es am Nachmittag nicht mehr so genau mit dem Gelde nehmen.
Und es sah auch aus, als sollte Schneewittchens Stiefmutter recht behalten. Je später es wurde, desto mehr Leute versammelten sich um ihren Stand. In erster Linie alle Kinder, Jungen und Mädchen, die auf dem Markt waren. Diese standen um den Tisch herum, mit einem Finger im Mund, und schauten gar sehnsüchtig nach den Äpfeln hinüber, es hätte einem wirklich das Herz rühren können. Die Kinder hatten natürlich nichts, um zu kaufen, aber es standen auch Erwachsene herum, die ihre Augen nicht von dem schönen Obst abwenden konnten.
Immer wieder trat der eine oder der andere näher und fragte nach dem Preis. Aber die Pfarrfrau blieb dabei und verlangte ebensoviel wie am Morgen. Jetzt, wo alle andern Äpfel verkauft waren, wollte sie nicht abschlagen, denn sie war fest überzeugt, daß sie nun doch noch an die Reihe käme.
Schneewittchens Stiefmutter sah wohl, wie aller Gesichter um sie her vor Verlangen nach den Äpfeln glühten, und jeden Augenblick dachte sie: ›Jetzt können sie nicht mehr widerstehen, es muß nur erst einer anfangen.‹
Aber es währte länger und immer länger, und schließlich glaubte sie selbst, sie müsse am Ende doch mit ihren schönen Äpfeln wieder heimfahren.
Doch nun wollte sie einen letzten Versuch machen, und so trug sie der Magd auf, Fräulein Schneewittchen zu holen, die zwischen den Marktbuden umherging, um für alle daheim, die nicht mit auf den Jahrmarkt gedurft hatten, kleine Geschenke einzukaufen.
Als Schneewittchen zu ihrer Stiefmutter hinkam, sagte diese, Schneewittchen solle jetzt eine Weile ihre Stelle einnehmen und die Äpfel verkaufen; sie habe nun so lange auf einem Fleck gestanden und ganz kalte Füße bekommen, sie müsse sich deshalb ein wenig Bewegung machen.
Ach, Schneewittchen war es außerordentlich zuwider, da auf dem Brobyer Markt verkaufen zu sollen! Aber sie wagte sich der Mutter nicht zu widersetzen. So zog sie denn deren Handschuhe an, band sich den Schal um und nahm den Platz hinter dem Tisch ein. Und nach vielen Ermahnungen, sich streng an den festgesetzten Preis zu halten, durchaus nicht mit sich handeln zu lassen und auch selbst keine Äpfel zu essen, ging die Stiefmutter ihres Wegs.
Aber wenn die Mutter gedacht hatte, die Leute würden von ihrer Stieftochter eher kaufen als von ihr, dann hatte sie sich verrechnet.
Das Fräulein mußte hinter ihrem Tisch stehen und ihre Äpfel bewachen, konnte jedoch nicht einen einzigen davon verkaufen. Es ging ihr genau wie der Mutter; der dichte Kreis von großen und kleinen Leuten verringerte sich zwar nicht, aber niemand kaufte.
Doch nun kamen zwei halbbetrunkene Bauernburschen mit ihren Mädchen am Arm daher und drängten sich durch den Haufen der Herumstehenden vor. Es war eine laute, ausgelassene Gesellschaft, die Burschen hatten Geld in der Tasche, mit dem sie klimperten, und sie waren in der richtigen Laune, etwas draufgehen zu lassen, Schneewittchen bekam zwar Angst vor ihnen und wäre am liebsten davongelaufen, blieb dann aber doch stehen in der Hoffnung, nun endlich etwas zu verkaufen.
Die jungen Leute drängten sich auch ganz bis zum Tisch hin, und der vorderste fragte gar nicht nach dem Preis, sondern legte sofort seine große Faust auf einen Haufen der schönsten Äpfel. Zugleich sah er die Pfarrerstochter an und versuchte so nüchtern und bieder wie nur möglich auszusehen.
›Woher sind denn diese Äpfel?‹ fragte er.
Und die Pfarrerstochter antwortete, sie seien aus ihres Vaters Garten.
›Ja, da bin ich schon oft gewesen, ich kenne Euren Vater und auch Euch recht wohl. Das ist ein guter Mann, Euer Vater.‹
Schneewittchen erwiderte einige freundliche Worte, denn es gefiel ihr, daß der Bursche so gut von ihrem Vater sprach.
›Ja, Ihr und Euer Vater seid alle beide gute Leute,‹ fuhr der Bursche fort. ›Ja, Ihr seid so gut, daß Ihr es einem armen Burschen wohl gönnet, Eure Äpfel zu versuchen, ohne dafür zu bezahlen.‹
Und ehe Schneewittchen recht begriff, was er im Schilde führte, hatte er eine Handvoll der schönen Äpfel ergriffen und war auf und davon gelaufen.
Und das Mädchen, das er am Arm gehabt hatte, packte auch rasch ein paar Äpfel und lief hinter ihm drein. Ganz ebenso machte es dann auch das nächste Paar.
Aber Schneewittchen war auf so etwas natürlich gar nicht gefaßt gewesen. Wie hätte sie sich das denken können! Sie war ganz außer sich, als diese Burschen und Mädel sich mit so vielen Äpfeln, für die sie kein Geld bekommen hatte, aus dem Staube machten. Im ersten Augenblick wollte sie ihnen nachlaufen, um ihnen die Äpfel wieder abzujagen; sie wagte es aber doch nicht, sondern schickte den Knecht und die Magd nach, die hinter ihr standen. Zugleich aber sah sie, daß der ganze Volkshaufen sich noch näher an den Tisch herandrängte.
›Jetzt kaufen sie doch noch,‹ dachte sie, und ihr gesunkener Mut hob sich wieder.
Aber die und kaufen! O, kein Gedanke, sondern sie sprangen vor, packten so viele Äpfel, als sie konnten, und riefen zugleich, sie und ihr Vater seien ja so gut, da verlangten sie sicher nicht, daß arme Leute so ein paar Äpfel bezahlten. Und alle die kleinen Jungen, die sich den ganzen Tag lang an den Äpfeln fast blind gesehen hatten, rissen ihre Mützen herunter und füllten sie sich; und alle die kleinen Mädchen, denen vor lauter Begierde das Wasser im Munde zusammengelaufen war, stürzten auch vor und strichen sich die Äpfel ungezählt in ihre Schürzen.
Schneewittchen legte sich weit über die Äpfel vor, um sie mit ihrem Körper zu beschützen. Aber was half das? Sie weinte und bat und rief, sie machten sie unglücklich. Aber wer fragte danach? Es waren nicht nur kleine Buben und Mädel, die die Äpfel an sich rissen, sondern auch Erwachsene, und alle lachten vergnügt und hielten die ganze Sache nur für einen kleinen Jahrmarktsscherz. Und so oft wieder jemand einen Apfel packte, rief er ihr zu, sie und ihr Vater seien ja so gute Leute, daß sie ihnen wohl ein paar Äpfel gönnten.
Schneewittchen schlug um sich, und Schneewittchen rief nach Hilfe, aber die Äpfel waren verloren. Die Marktleute stülpten den Tisch um, wälzten die Kisten und Fässer herbei und rissen die Äpfel an sich. Es waren auch viele Raufbolde auf dem Markt, die sich nun mit in den Tumult mischten. Da gab es Streit und eine wilde Schlägerei, und Schneewittchen mußte sich zurückziehen und ihre Äpfel im Stich lassen, sonst wäre sie zertreten worden.
Gerade da kam die Mutter zurück und fand die Stieftochter ausgeplündert, verlassen und vor Zorn und Entsetzen laut weinend. Die Stiefmutter faßte sie am Arm und schüttelte sie. ›Warte nur, bis wir heute abend nach Hause kommen,‹ sagte sie, ›da werde ich dich lehren, meine Äpfel zu verschenken!‹
Und man konnte sich ja über den Ärger der Stiefmutter nicht wundern; aber Schneewittchen war es doch recht schwer, daß die Mutter glaubte, sie habe es mit Absicht getan.
Ach, war das eine schwere Heimfahrt vom Markte! Sie saßen miteinander im Wagen, der Vater, die Mutter und Schneewittchen. Im Anfang versuchte der Vater, die andern wie sonst freundlich zu unterhalten. Aber die Mutter saß stocksteif mit fest zusammengekniffenen Lippen in der Wagenecke und erwiderte kein Wort. Schneewittchen aber weinte nur immerfort. Der gute Vater konnte sich gar nicht einmal so sehr grämen; auch ergötzte er sich wohl ein wenig darüber, daß die Leute gerufen hatten, er sei gar so gut und gönne ihnen die Äpfel gewiß auch ohne Bezahlung. Außerdem versuchte er wohl auch, sich den Mut aufrechtzuerhalten, indem er alle Marktleute, an denen sie vorüberfuhren, anredete und sie fragte, ob sie ihre Kühe gut verkauft, was sie für ihre Schafe bekommen, und ob sie nicht auch einige von seinen Äpfeln gesehen hätten.
Aber nach einiger Zeit wurde Vater sonderbar still; er wendete sich nach der Mutter um und sah sie lange unverwandt an. Dann starrte er wieder lange vor sich hin, und da sah er plötzlich alt und müde aus.
Wieder nach einer Weile merkte ich, daß Vater jetzt auch mich lange und betrübt ansah. Es war, als wolle er mir ganz bis auf den Grund meines Herzens sehen.
Dann sagte er plötzlich: ›Du wirst deiner Mutter sehr ähnlich;‹ und er nahm meine Hand zwischen seine beiden und streichelte sie ganz sachte.
Es war, als wollte mich der gute Vater beruhigen und mich fröhlich machen. Und ich dachte: ›Der Herr Vater versteht, daß ich es nicht mit Absicht getan habe; er weiß, daß ich nicht so bin.‹
Er behielt meine Hand in der seinigen, bis wir zu Hause ankamen. Aber er beugte sich immer weiter vor, und als wir daheim waren, sank er ganz zusammen und machte keinen Versuch, auszusteigen, als Mutter und ich aufstanden. Ich glaubte, er sei tot.
Aber so schlimm war es doch nicht, obgleich es wohl nahe genug daran gewesen war.«
Hier machte die Pfarrerstochter eine Pause, Ihre Stimme bebte, und sie brauchte Zeit, sich zu beruhigen, ehe sie weiter sprechen konnte.
»So, nun weißt du, wie es mir hier geht,« sagte sie dann. »Die Stiefmutter mag mit mir machen, was sie will, ich kann bei Vater nicht klagen, denn ich fürchte, der Schlag könnte ihn dann wieder treffen wie damals, als er vom Brobyer Markt nach Hause fuhr und an unseren Unfrieden dachte.«
»Aber sieht er es denn nicht selbst?«
»Das ist wohl möglich, aber er kann nichts mehr tun. Es sieht jetzt aus, als sei er wieder gesund, aber ich weiß wohl, wie schwach er ist. Niemals kann Vater wieder so werden wie er an jenem Morgen war, als wir miteinander zu den Mähern auf den südlichen Anger hinausgingen.«