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Wenn es zwölf Uhr schlägt und der Unterricht zu Ende ist, dürfen wir meist in die Schlafstube, wo Mutter an dem kleinen Tisch vor dem Fenster mit ihrer Näharbeit sitzt. Wir betrachten ihre Arbeit, und sie fragt uns, ob wir unsere Aufgaben gekonnt hätten, und ob wir fleißig und ordentlich gewesen seien, und darauf antworten wir natürlich immer mit einem Ja.
Heute war ich mit dem Aufräumen meiner Bücher und dem Abwaschen meiner Schiefertafel etwas früher als die andern fertig, und so komme ich vor Gerda und Anna ins Schlafzimmer hinein.
Doch als ich die Tür öffne, sitzt Mutter nicht wie gewöhnlich an ihrem Nähtisch, sondern sie wandert laut weinend im Zimmer hin und her.
Sie weint indes nicht so, wie wenn die Nachricht von irgendeinem Todesfall eingetroffen wäre, sondern wie wenn sie nur niedergedrückt oder auch ärgerlich und verzweifelt und ganz außer sich wäre. Sie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und ruft mit schriller Stimme, die einem in den Ohren gellt:
»Er darf es nicht tun! Er darf nicht!«
Ich halte jäh auf der Schwelle an und kann keinen Schritt machen. Nie, niemals hätte ich geglaubt, daß Mutter auf solche Weise weinen könnte. Es ist, als habe sich der Boden vor ihr geöffnet und das ganze Haus schwanke hin und her.
Wenn Vater oder Tante Lovisa so verzweifelt weinten, wäre es bei weitem nicht so gefährlich. Aber seht, Mutter! Mutter könnte nicht so weinen, wenn nicht das Verderben über uns wäre. Mutter ist ja so klug. Auf Mutter verlassen wir uns alle.
Vater sitzt am Schreibtisch und folgt Mutter mit den Augen. Er sieht freilich auch bekümmert aus, aber durchaus nicht so wie Mutter, und er versucht auch ein paar beruhigende Worte zu sagen, aber Mutter hört nicht auf ihn.
Als Vater mich in der Tür stehen sieht, steht er auf, kommt zu mir her und nimmt mich bei der Hand.
»Wir wollen gehen, damit Mutter sich beruhigen kann,« sagt er und nimmt mich mit sich ins Eßzimmer.
Da läßt er sich wie gewöhnlich im Schaukelstuhl nieder, und ich bleibe neben ihm stehen.
»Warum weint Mutter?« frage ich.
Vater schweigt einen Augenblick; aber er begreift wohl, daß ich sehr erschrocken bin und es grausam wäre, mir nur zu sagen, es sei etwas, das ich nicht verstehen könnte.
»Onkel Kalle ist heute vormittag hier gewesen und hat uns mitgeteilt, er wolle Gårdsjö verkaufen.«
Das war allerdings auch für mich eine schreckliche Nachricht, denn ich habe ja Gårdsjö und die Verwandten dort so sehr lieb, und Gårdsjö ist mir von jeher wie eine zweite Heimat gewesen. Aber ich konnte doch nicht begreifen, warum Mutter das so furchtbar schwer nahm.
»Weißt du, Mutter hängt eben so ganz besonders an Gårdsjö,« erklärt Vater. »Es war eine großartige Sache, als dein Großvater ein Hüttenwerk kaufte. Er war ja freilich durch das Handelsgeschäft in Filipstadt reich geworden, aber nachdem er Hüttenbesitzer geworden war, nahm er eben doch eine ganz andere Stellung ein, und seine Frau und seine Töchter ebenfalls.«
Ich erwiderte nichts, denn ich wußte einfach nichts zu sagen.
»Der Schwiegervater mußte ja ein paarmal im Jahr nach Gårdsjö reisen und nach seinem Hüttenwerk sehen,« fährt Vater fort, »und da hatte er meist seine älteste Tochter bei sich. Dadurch lernten deine Mutter und ich uns kennen.«
Ich begreife ja, daß Vater sagen will, für Mutter seien so viele glückliche Erinnerungen mit Gårdsjö verbunden; aber es sah doch Mutter gar nicht ähnlich, irgendwelcher schönen Erinnerungen wegen so bitterlich zu weinen.
»Und als junge Eheleute haben wir in den ersten Jahren auf Gårdsjö gewohnt, bis dein Großvater starb und wir hierher nach Mårbacka übersiedelten.«
Ich schüttle nur den Kopf zum Zeichen, daß ich nichts begreife.
»Aber du wirst doch verstehen, wie traurig deiner Mutter zumut ist, weil dein Onkel das Gut verkaufen will?«
Ja, etwas davon verstand ich ja jetzt, aber doch nicht den ganzen Zusammenhang.
»Warum muß denn Onkel Kalle verkaufen?« frage ich.
»Er sagt, mit jedem Jahr, das er noch bleibe, büße er immer mehr Geld ein. Die Schmiede hat er ja schon lange aufgegeben, und von der Landwirtschaft kann er nicht leben. Mutter meint, er müßte eigentlich mit dem Sägewerk und der Ziegelei und der Mühle durchkommen können, aber er wagt sich nicht darauf zu verlassen. Er sagt, es stehen schlimme Zeiten bevor.«
Als Vater das sagt, fällt mir ein, was Onkel Oriel und Onkel Schenson damals drunten am Landungsplatz miteinander gesprochen haben. Und ich erinnere mich, daß Onkel Oriel meinte, das ganze Fryktal werde einstürzen.
Ich schließe die Augen, und ich sehe vor mir, wie die Erde bebt und das eine große Herrenhaus nach dem andern einstürzt. Da fällt Rottneros, da fällt Skarped, da fällt Öjervik, Stöpafors, Lövstafors, Gylleby, Helgeby. Herrestad ist schon gefallen, und Gårdsjö wankt jetzt auch. Und ich verstehe, wovor Mutter Angst hat.
Wie ich noch so mit geschlossenen Augen dastehe, berührt Vater meine Hand.
»Hör, mein liebes Kind!« sagt er. »Geh jetzt in den Salon und mach einen Spalt an der Schlafstubentür auf, und sieh nach, ob Mutter sich beruhigt hat.«
Und natürlich gehe ich, aber ich kann es doch nicht lassen, mich zu fragen, warum Vater nicht selbst geht.
Ich weiß, Vater ist es das Allerschrecklichste, wenn jemand weint, aber er hätte doch eigentlich einen Versuch machen sollen, Mutter zu trösten. Ich habe das Gefühl, daß er geradezu froh ist, als ich vor einer Weile ins Schlafzimmer kam und er dann fortgehen konnte. Ja, Vater ist in manchen Fällen doch recht hilflos.
Und jetzt, während ich allein im Salon stehe, begreife ich, warum Mutter weint.
Ich muß an Tante Georgina denken, als sie sagte, Mutter sei sehr besorgt, weil Vater krank sei und nichts Rechtes mehr unternehmen könne. Mutter weiß, daß die bösen Zeiten im Anmarsch sind, und sie hatte ihre Hoffnung auf Onkel Kalle gesetzt und geglaubt, er werde ihr Stütze und Hilfe sein, wenn Vater das einmal nicht mehr sein könnte. Jetzt aber will der Onkel fortziehen, und Mutter bleibt allein zurück, ohne jemand zu haben, auf den sie sich verlassen kann.
Als ich die Schlafstubentür öffne, sehe ich, daß Anna darin ist und Mutter überredet hat, sich aufs Sofa zu legen; sie deckt sie eben mit einem Tuch zu.
Da denke ich, Mutter ist in guten Händen, und gehe zurück zu Vater ins Eßzimmer.
Aber als ich die Tür öffne, ist mir, als hätte ich noch nie gemerkt, wie grauhaarig und alt und zusammengesunken Vater ist. Und wie merkwürdig hilflos!
Ach, wie sehr wünsche ich, erwachsen und klug und gelehrt und mächtig und reich zu sein, damit ich ihm helfen könnte!
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