Selma Lagerlöf
Die Prinzessin von Babylonien und andere Erzählungen
Selma Lagerlöf

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In memoriam

Albert Theodor Gellerstedt

(Antrittsrede in der schwedischen Akademie den 20. Dez. 1914)

Meine Herren!

Da die schwedische Akademie die überaus große Dankbarkeitsschuld, die sie mir schon auferlegt, noch dadurch vermehrt hat, daß sie mich zu ihrem Mitglied wählte und mir dadurch den größten Ehrenbeweis erzeigte, den sie zu vergeben hat, erwies sie mir eine besondere Gunst, indem sie mich den Platz nach dem Dichter der Blumen und Vögel, Albert Theodor Gellerstedt, einnehmen ließ, mit der daran geknüpften Verpflichtung, einen Lebensabriß von ihm zu entwerfen. In den grauen Tagen eines värmländischen November hätte mir keine liebere Aufgabe zuteil werden können, als mich in seine Dichterwelt einzuleben. Oftmals hatte ich dabei eine so deutliche Empfindung von flatternden, musizierenden Vöglein umgeben zu sein, von prangenden Edelrosen und glitzerndem Sonnenschein, daß ich vom Buch aufsehen mußte, um mich in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Aber ein Biograph hat nicht das Recht, einzig und allein in die Freude und Friedensstimmung zu versinken, die die Gellerstedtsche Dichtung ausstrahlt, sondern er muß forschen und untersuchen. Und was bei einer solchen Prüfung zuallererst in die Augen fällt, ist wohl, daß der Dichter in den sieben kleinen Büchern, die er hinterließ, nie von etwas anderem spricht, als von dem, was er selbst gesehen und erlebt hat. Er setzte sich nicht hin, um Gedichte oder Skizzen über Dinge zu schreiben, die es nie gegeben hatte, oder über Ereignisse, die nie geschehen waren, ja, er konnte sich nicht einmal damit begnügen, das wiederzuerzählen, was andere ihm mitgeteilt hatten. Selbstgesehen und selbsterfahren mußte das sein, was seine Feder in Bewegung setzen sollte.

Aus diesem, daß er die Gegenstände der Dichtung stets seiner eigenen Welt entnahm, ging ganz natürlich hervor, daß er hie und da im Vorübergehen auch eine kleine Mitteilung fallen ließ, was er selbst für ein Mensch war, wo er wohnte, und womit er sich befaßte. Und für mich, die ich noch in dem Lustgarten der Dichtung weilte, den er hervorgezaubert, war es ein lieber Gedanke, daß ich aus diesen kleinen Andeutungen ein Gesamtbild von ihm selbst zusammenfügen könnte. Ich würde gar nicht über dieses kleine umfriedete Gebiet hinauszugehen brauchen, in dem ich mich ebenso wohl zu fühlen glaubte, wie er selbst. Ich würde in dem Gefühl arbeiten können, daß der alte Dichter unter dem gewaltigen weißen Rosenbusch des »Sommerhäusels« saß und mir von den Dingen erzählte, die er in seinem Leben bemerkenswert gefunden, während tausend Rosen Wohlgeruch in die Luft sandten und die Grasmücke ihre Triller schlug, drüben über dem großen Johannisbeerstrauch, der nie Johannisbeeren trug, aber auf dem engen Platz stehen bleiben durfte, weil er sich so vortrefflich zur Stütze für kleine Sängernester und zum Schutze für kleine Singvögeljungen eignete.

Aber diese Art, zu Werke zu gehen, war natürlich nicht die, die ich zuerst zu wählen gedachte, sondern ich begann die Arbeit damit, Auskünfte über Gellerstedt bei seinen Freunden und Angehörigen einzuholen. Mit größter Dankbarkeit werde ich eingedenk sein, wie bereitwillig sie mir ihre Hilfe versprachen und welche wichtigen Aufschlüsse sie mir gaben. Aber ich machte doch nur eine ganz kurze Wanderung auf diesem Wege; denn bald erlag ich der großen Versuchung, in diesem Lebensabriß nur das wiederzugeben, was der Alte von sich selbst erzählt hat.

Eine Sache möchte ich doch gern von diesen ersten Forschungen festhalten. Das ist das freundliche Aufleuchten im Auge, das gute Lächeln, das sich zeigte, wenn seine Freunde von ihm sprachen. Der alte Dichter war eine Erinnerung, an die sie mit Freuden dachten. Wehmut, daß er dahingegangen, war wohl auch zu merken, aber die Freude, daß sie ihn einmal besessen hatten, überwog.

Man braucht dem, was Gellerstedt zu erzählen hat, nicht lange zu lauschen, so hört man ihn schon versichern, daß er in Sörmland geboren ist. An mehreren Stellen erwähnt er, daß er in der kleinhügeligen, wasserreichen Sörmlandnatur aufgewachsen ist. Aber andererseits soll es doch im Kirchenbuch der Gemeinde Säterbo eingezeichnet stehen, daß dem Kanalbaumeister Lars Gellerstedt und seiner Frau am 6. Oktober 1836 ein Sohn geboren wurde, der den Namen Albert Theodor bekam. Und die Gemeinde Säterbo liegt ja in Västmanland, wenn sie sich auch bis hinunter nach Sörmland erstreckt. Wie dem auch sei, wir müssen hierin dem Kirchenbuch unrecht und Gellerstedt recht geben. Er war ein Grenzbewohner, er stammte von der Gegend östlich vom Hjälmaresee, wo drei Landschaftsgrenzen zusammenstoßen. Und das hat die Verwirrung angestiftet. Aus dem großen schwedischen Garten, der Sörmland heißt, war er entsprungen. Er hat wohl kaum einen Sohn hervorgebracht, der deutlicher das Gepräge des Erdreichs trug, das ihn erzeugt hat.

Wenn man Gellerstedt darin recht gibt, daß er ein Sörmländer Kind ist, muß man hingegen ein paar andere Angaben, die er über seine erste Zeit macht, mit mehr Vorbehalt aufnehmen. Es ist wohl nicht ganz wortwörtlich zu nehmen, wenn er erklärt, daß er in einem Schilfröhricht geboren wurde, und sich mit Moses vergleicht, weil er seine frühesten Tage auf dem Wasser zugebracht hat. Es ist freilich wahr, daß sie in der Hjälmaregegend Wasser genug zur Verfügung hatten, aber sein Elternhaus war doch auf jeden Fall ein rotes Holzhaus mit weißen Ecken und stand fest gegründet auf einem Hügel über dem alten Kanal, der seit Gustav Vasas Zeit die Verbindung zwischen dem Hjälmaresee und dem Arbogafluß vermittelt hat.

Es war kein großes Haus, in dem er heranwuchs. Es hatte eine gewaltige Küche, und das war wichtig, da all die Verrichtungen, mit denen die Mutter beständig beschäftigt war, ihren Raum verlangten. Aber es war auch bedauerlich, weil die anderen Räume im Erdgeschoß, das Wohnzimmer, das Eßzimmer und seine eigene Stube dafür gar zu klein ausgefallen waren. Glücklicherweise hausten ja auch nicht viele darin, nicht mehr als Vater, Mutter und er, so daß sie nicht soviel Spielraum brauchten, namentlich da Friede und Eintracht in dem stillen Heim herrschte.

Beide Eltern waren rechte Arbeitsameisen, und so war auch nicht daran zu denken, daß der Sohn seinem Anteil an Mühe und Anstrengung entgehen könnte. Er war noch nicht alt, als er ausgeschickt wurde, die Kühe von der Weide heimzuholen, oder als er es lernte, mit dem Flegel in der Tenne zu dreschen. Nicht nur zum Spaß, sondern um sich wirklich nützlich zu machen, half er Laub hacken und Schilf schneiden. In der emsigen Erntezeit wurde er am meisten in Anspruch genommen, aber er hatte das ganze Jahr genug zu tun. Er erwarb sich auch in einer Unzahl von Arbeiten Fertigkeit: er konnte Besen binden, er spulte Garn für seine hausgewebten Kleider, er fing die Bienen ein, wenn sie schwärmten, und er zeichnete für die Mutter Muster. Mit dem Fischfang war er jeden Tag beschäftigt. Das war halb und halb eine nützliche Tätigkeit, aber es war auch das allergrößte Vergnügen.

Doch trotz all dieser Arbeiten hatte er noch Zeit, sich auf eigene Faust zu zerstreuen und zu vergnügen.

Ein kleiner Vorfall in seinen frühesten Kindheitsjahren – er glaubt selbst, daß er damals nicht mehr als vier Jahre alt war – gab den Anstoß zu mancherlei in dieser Richtung. Es begab sich nämlich damals, daß er sich zum erstenmal einen Vogel ganz genau ansah. Es war eine Bachstelze, die über den Zaun vor dem Fenster getrippelt kam, mit seidigschwarzer Brust und wippendem Schwanz. Sein Entzücken war so groß, daß ihm seine schweigsame alte Großmutter, die sich zufällig bei ihnen aufhielt, daraufhin eine kleine Legende erzählte, wie die Bachstelze einmal von der Jungfrau Maria den Auftrag bekam, ihre Schere und ihren schwarzen Seidenknäuel zu holen; aber die Bachstelze war eine säumige Botin, sie kam erst zurück, als die Jungfrau Maria schon anders wohin gezogen war, und seither fliegt der Vogel mit Knäuel und Schere herum, und sucht seine Herrin. Immer ruft er: Nimms mit, nimms mit! in seinem Eifer, das anvertraute Gut abzuliefern.

Daß solch kleinen Tierchen etwas so Merkwürdiges passieren konnte, muß den Vierjährigen sehr ergriffen haben. Nun hieß es auf andere Bachstelzen achten, und horchen, ob sie in der gleichen Weise sangen, ja, man mußte auch auf die anderen kleinen Vögel aufpassen, um herauszukriegen, wie sie gekleidet waren, was sie sagten und was sie erlebt hatten. Und es zeigte sich, daß auch die, die nicht so glücklich daran waren, wie die Bachstelze, ihr Interesse hatten. Das merkwürdigste Ereignis in ihrem Leben fiel in den Vorsommer, wo sie Nester bauten und Eier legten. Es wurde eine der wichtigsten Beschäftigungen der freien Stunden, diese Nester zu suchen und den Ton jedes Vogels kennenzulernen, um beim Suchen einen Anhaltspunkt zu haben.

Ein anderes Gebiet der Welt, das ihm große Zerstreuung bereiten sollte, nicht nur in seiner einsamen Kindheit, sondern auch in aller Zukunft, entdeckte der kleine Albert Gellerstedt auf einer Reise nach Stockholm, die er mit den Eltern unternahm, als er ungefähr fünf Jahre alt war. Es ist ja oft gesagt worden, daß es nicht so leicht ist, den Wert dessen zu erkennen, was man stets vor Augen hat; dazu braucht es Entfernung und Entbehrung, und daher kam es wohl, daß er gerade damals einen wilden Heckenrosenstrauch bewunderte und liebte, der an einer Uferanpflanzung in der Norrtullsgegend blühte. Er hätte ihn vielleicht gar nicht bemerkt, wenn er daheim in all dem Überfluß von Blumen und Grün geblieben wäre. Aber hier in der Stadt gewann er in dem Grade sein Herz, daß er ihn gar nicht mehr vergessen konnte. Als er wieder nach Hause zurückkehrte, mußte er gleich nachsehen, ob es denn auch hier etwas ebenso Schönes gab. Nun ging er daran, die Blumen zu untersuchen, die in Garten und Hag, in Wiese und Wald, in Fluß und See blühten. Man mußte lernen, wo sie sich am liebsten aufhielten, wann sie am schönsten blühten, alle diese kleinen Lieblinge, die ihm teuerer wurden, als er damals erklären, als er je beschreiben konnte.

Bei all dieser Naturanbetung war er ein Unband, ein Wildfang, ein richtiger Junge, ängstlich bestrebt, ja nicht die leiseste Spur von Weichheit zu zeigen. Aber einmal verriet er ganz unversehens ein wenig von seiner wirklichen Natur. Es war ein Weihnachtsabend mit guter Schlittschuhbahn. Er war mit der Jugend der Umgegend auf dem See gewesen und hatte da ein kleines Abenteuer erlebt und sich infolgedessen verspätet. Als er endlich heimkam und in die gute Stube trat, wo die Weihnachtsgeschenke ausgebreitet waren und der Christbaum zum Anzünden bereitstand, waren die Eltern mißgestimmt. An diesem Abend hätte er doch die Kameraden rechtzeitig verlassen können; er wußte ja, daß sie hier daheim auf ihn warteten. Da mußte er ihnen denn erzählen, daß die Kinderschar draußen auf dem Eise einen Mann getroffen hatte, der schwer betrunken auf einem Schlitten saß und sicherlich in der Kälte erfroren wäre, wenn nicht er und noch ein paar Jungen ihn nach Hause geschleppt hätten. Aber es war ein langer Weg und eine schwere Ladung gewesen. Er hatte nicht früher kommen können. Darüber herrschte größere Freude daheim, als der Junge erwartet hätte. Der Weihnachtsabend wurde reicher, wärmer als je zuvor. Und das war ja auch nicht zu verwundern: die Eltern wußten ja schon, daß sie einen Sohn hatten, der ungewöhnlich reich begabt, geweckt, und klug war; aber daß dieser Wildfang auch Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft einem Unglücklichen gegenüber zeigen konnte, das hatten sie vielleicht kaum zu hoffen gewagt.

Als Gellerstedt elf Jahre alt war, kam er nach Arboga zur Schule. Aber er stellt sich selbst kein gutes Zeugnis aus, weder im Fleiß, noch im Betragen. In den Schulknaben hatte er gleichalterige Kameraden zum Spielen, in den Lehrbuben gleichalterige Feinde zum Raufen. – Das scheint zum mindesten in den ersten Schuljahren das Hauptergebnis gewesen zu sein. Im letzten Jahre in Arboga lernte er jedoch etwas von höchstem Wert, obgleich auch diese Erkenntnis nicht auf der Schulbank erworben wurde.

Im letzten Wintersemester – er war damals sicherlich nicht älter als fünfzehn Jahre – begegnete er eines Tages auf der Straße einem jungen Mädchen von ungefähr seinem eigenen Alter, sah ein schönes Gesicht, hörte eine wohlklingende Stimme ein paar Worte sagen und fühlte plötzlich, daß eine große, mächtige Veränderung in ihm vorgegangen war.

Er befand sich durchaus nicht im Zweifel, was es war, das sich begeben hatte, sondern wußte vom ersten Augenblick an, daß er jetzt verliebt war. Aber es fiel ihm deshalb nicht ein, zu versuchen, mit dem jungen Mädchen bekannt zu werden. Während des ganzen Semesters trieb er es nicht weiter, als in Erfahrung zu bringen, wo sie wohnte, um so oft als möglich an ihrem Fenster vorbei zu gehen und einen Blick auf sie zu erhaschen. Im Sommersemester kam er ihr jedoch ein wenig näher. Da gingen sie zusammen draußen in der Umgebung des kleinen Städtchens spazieren und pflückten Schlüsselblumen und gelbe Anemonen, wie es die jungen Leute damals zu tun pflegten. Und auf ihren Wink hörte er auf, mit den Lehrbuben zu raufen, Vogelnester zu plündern und derbe oder häßliche Worte zu gebrauchen. Von Liebe war zwischen ihm und »Ruth« keine Rede, aber sie wußte schon, wie es um ihn stand, und Freunde und Bekannte waren auch nicht im Unklaren darüber.

Am letzten Abend, den er in Arboga verlebte, veranstaltete ein barmherziger Freund eine kleine Bootsfahrt über den Fluß. Ruth und er und einige andere junge Leute wurden eingeladen. Bald glitten sie zwischen den üppig blühenden Flußufern unter einem herrlichen Abendhimmel dahin. Sie rissen Seerosenknospen aus dem Wasser, sie gingen ans Land und pflückten Blumen, sie sangen Lieder, sie lauschten dem Geigenspiel eines der Teilnehmer, sie scherzten und lachten, und Ruths schönes Gesicht erleuchtete das ganze Fest. Aber die Zeit verfloß rasch. Mitternacht begann heranzukommen, und sie mußten nach Hause zurückkehren. Gellerstedt führte die Ruder, und auf der Steuerbank ihm gegenüber saß Ruth und ordnete ein Sträußchen blauer Veronika, jene kleinen leicht abfallenden Blumen, die »Treue bis in den Tod« genannt werden. Wehmütig dachte er an all das, was er nun verlassen mußte. Er würde jetzt die Bücher beiseite legen und in die Welt hinausziehen, um Baumeister zu werden, wie der Vater, aber er wollte sich nicht damit begnügen, sich um Schleusen und Kanalufer zu kümmern, sondern er wollte gewaltige Bauten errichten, mit Türmen, so hoch wie die Kirchen Arbogas. Er war sehr froh, daß die Eltern ihm gestattet hatten, die Künstlerlaufbahn einzuschlagen. Aber es war noch weit bis zum Ziel. Er wußte nicht einmal, ob er an der Kunstakademie in Stockholm als Schüler aufgenommen werden würde. Das einzig Sichere war, daß alles hier nun ein Ende hatte. Schon morgen würde er weit weg von ihr sein, der er seine ganze Liebe geschenkt hatte.

Trauer und Sehnsucht erlangten plötzlich Macht über seine Schüchternheit. Gerade als die ersten Stadthäuser in Sicht kamen, stand er auf, ging zu Ruth hin, ergriff eine ihrer blauen Blumen und steckte sie in seine Brusttasche. Nichts sagte er, und nichts sagte sie, aber sie wurde so still und so schön. Die mit im Boot saßen, waren ein wenig gerührt und blieben alle stumm. Nur der kleine Geiger stimmte an: Weißt du wieviel Sterne stehen an dem blauen Himmelszelt . . .

In gewisser Weise wurde aus dem Ganzen nichts weiter. Es kam weder zur Verlobung noch zur Heirat; aber der feine Duft der ersten Jugendliebe blieb in der Seele des jungen Menschen, der in die Großstadt ziehen sollte, um dort das Glück zu suchen. Sie trug den Keim zur Reife und Entwicklung in sich. Sie war gerade zur rechten Zeit gekommen, um ein Schutz gegen Alles zu werden, was ihm an Schlechtigkeit und Laster begegnen sollte.

*

Auf dem Leuchtturmplatz der äußersten Klippe südlich von Karlskrona, ein paar nackten niedrigen Schären, die man vom Land aus kaum bemerken würde, wenn nicht auf der größten von ihnen ein kleiner Festungsposten stünde, wurde im Sommer 1870 ein neuer Leuchtturm gebaut. Der den Bau leitete, war ein junger Ingenieur, jetzt einige dreißig Jahre alt und seit fünf Jahren verheiratet. Schon seit 1864 hatte er die Aufsicht über die Bauten des Lotsen- und Leuchtturmamtes hier im Reiche.

Aber der hohe Leuchtturm war nicht das einzige Bauunternehmen, das in diesem Jahre draußen auf der Schäre in Gang war. Da gab es nämlich eine Menge Hausschwalben, die von den Insektenschwärmen der Tangbänke hingelockt worden waren, und zur rechten Zeit hatten diese angefangen, sich mit ihren Nestern zu befassen. Der junge Ingenieur hatte beobachtet, wie sie ihre kleinen Hängetürme an den Mauern des alten Turmes befestigten. Zuerst wurde ein Ring aus Lehm an die Mauer festgeklebt. Er wuchs an, und bald sah man die Randung des Erdgeschosses. Aber weiter kam es auch nicht. Sobald eines der kleinen Schwalbennester halbfertig war, löste es sich von der Wand und fiel zu Boden.

So begab es sich mit einem Nest nach dem anderen. Kein einziges erlangte solche Haltbarkeit, daß es zur Verwendung kommen konnte. Den ganzen Sommer war bei den Schwalben auf der äußersten Klippe keine Rede von Eierlegen, geschweige denn von einer Aufzucht der Jungen.

Das war ein recht seltsames Vorkommnis und nicht leicht zu erklären. Die kleinen Baumeister verstanden ihre Sache wohl, aber vielleicht war mit dem Baumaterial, das dieses Jahr zur Verfügung stand, irgend etwas nicht in Ordnung.

Während der menschliche Baumeister, der auch hier draußen auf der Schäre arbeitete, dastand und zusah, wie die Nester der Schwalben zerfielen, dachte er an seines eigenen Glückes Haus, an dem er nun schon seit dem Aufbruch nach Stockholm, am Tage nach der lieblichen Bootsfahrt auf dem Arbogafluß zimmerte. Baute er es aus dem rechten Stoff? Würde es haltbar sein? Würde es ihn und was ihm zugehörte, tragen können? Vielleicht würde es auch zu Boden stürzen, bevor es mehr als halbfertig war?

Da war ja kein Zweifel, er hatte Erfolg gehabt. Ängstlich und verzagt war er vor dem Eisengitter der Kunstakademie gestanden, aber alles war gut gegangen, und er war in die Architektenklasse aufgenommen worden. Da hatte er die Führung eines so genialen Lehrers, wie Scholander genossen und die höchste Anerkennung errungen: die Medaille und das große Reisestipendium. Dann hatte er sich drei ganze Jahre im Ausland aufgehalten, hatte gesehen, genossen, studiert. Als er wieder heimkam, war er wohl vorbereitet, die schwindelnd hohen Kirchen und Schlösser zu bauen, von denen er in seiner Kindheit geträumt hatte, aber niemand hatte ihn zu solchen Aufgaben berufen. Um heiraten und einen Hausstand gründen zu können, hatte er sich um die Ingenieurstelle beim Lotsenamt beworben. Und nun fuhr er umher und baute Leuchttürme! Hieß das, das Glückshaus in der rechten Weise erbauen?

Noch tiefere Grübeleien bemächtigten sich seiner. Hatte er richtig gewählt, als er aus sich einen Architekten machte? Er konnte sich ein Leben ohne künstlerische Tätigkeit nicht denken, aber wenn nun in seinem Lande und in seiner Zeit kein Bedürfnis nach einem Baukünstler war – – –

Wenn er an die Jahre zurückdachte, wo seine Anlagen sich zuerst zu erkennen gegeben hatten, mußte er zugeben, daß viele Zeichen darauf deuteten, daß er zum Maler geboren war. Er hatte immer eine ausgesprochene Fähigkeit gehabt, das was er sah, fest und klar ins Auge zu fassen. Er hatte als Kind gezeichnet und gemalt und ja eigentlich nie ganz aufgehört mit Pinsel und Farben zu arbeiten. Vielleicht auch hätte er sich zum Dichter ausbilden können? Von Kindheit an war es so gewesen, daß er aus dem, was er sah, einen Sinn herauslesen wollte. Und hier draußen auf der Schäre hatte er sogar begonnen ein paar kleine Verse zu formen. Er hätte ja ebensogut einen dieser Kunstzweige wählen können. Der Maler und der Schriftsteller hatten es beide leichter als der Architekt, ihren Beruf auszuüben.

Man denke, wenn er nie dazu kam, etwas anderes zu bauen als Leuchttürme und Lotsenhütten! Es war ein Lebensunterhalt, und den Lebensunterhalt hatten auch die Schwalben hier auf der Schäre, aber den Glücksbau, der dem Leben erst Inhalt geben sollte, den vermochten sie nicht aufzurichten.

War er nicht auf einer entlegenen Klippe gelandet, einem Orte, den er des Auskommens wegen gewählt hatte, aber von dem er bald aufbrechen mußte, da dort so viel von dem fehlte, was für ihn das Wesentliche war?

Lange ging er in dieser Unruhe herum, aber eines Tages fand er eine Art Trost. Es war eine Kindheitserinnerung, die in ihm erwachte. Er entsann sich der großen alten Weiden, die an dem Ufer des dreihundertjährigen Kanals wuchsen. Sie waren ebenso groß wie alt, und eine jede von ihnen entsandte viele Stämme, einige über das Wasser hin, andere gerade zum Himmel hinauf, andere landeinwärts. Als Kind hatte er die Weiden als Brücken benützt, um sich zu den Seerosen hinauszuschlängeln, die draußen im Kanal blühten, und auf diese Art hatte er den Unterschied zwischen ihnen und anderen Bäumen sehen gelernt und sie lieber gewonnen als die übrigen. Andere Bäume hatten nur einen Stamm, aber die Weiden hatten viele, und das konnte doch nur ein Vorzug sein. Sie waren geduldig, man konnte ihnen so viele kleine Zweige abbrechen als man wollte, ohne daß es ihnen das mindeste anhatte. Dem Wasser waren sie zugetan und den Menschen auch: sie hielten sich immer an solchen Gewässern auf, wo auch Menschen gern wohnten und hausten. Aber da wollten sie ihren Platz für sich haben. Demütig und bescheiden waren sie: rings um sie, auf dem Lande wie im Wasser, konnte es wachsen und blühen. Dankbar waren sie, wenn man nur einen Versuch machte, sie zu pflanzen, gleich schlugen sie Wurzeln.

Nun dünkte es ihn, daß die Weiden ihn daran erinnerten, daß auch sie Bäume waren, wenn sie auch nicht mit einem einzigen Stamm in die Höhe schossen. Wurden sie gehemmt oder behindert, dann neigten sie sich und fügten sich, aber sie wuchsen darum doch. Warum sollte er es nicht ebenso machen? Sich damit begnügen, der Weidenbaum unter den Künstlern zu sein? Seiner Begabung das Recht geben, sich nach soviel Seiten auszustrecken, als sie es vermochte. Was bedeutete es, ob er ein hoher Baum wurde, wenn nur das Wesentliche, das Schaffens- und Dichterglück ihm nicht versagt blieb!

In der lieblichen Kindheitsheimat am Hjälmarekanal gab es etwas, das der Deutsche Hain hieß. Im Sommer war er ein weitgestrecktes, grünes Gewölbe, das auf schlanken Birkensäulen ruhte, im Frühling ein einziger, zusammenhängender Teppich von Leberblümchen. In demselben Jahre, in dem Gellerstedt das Elternhaus verließ, um seine Studien in Stockholm zu beginnen, war er in den Osterferien in diesen Hain gegangen und hatte große Mengen der kleinen Blümchen gepflückt. Er achtete darauf, daß er Blumen von allen Schattierungen bekam, hellblau, lilafarben und rötlich, er wußte ja so genau, wo er die einen wie die anderen finden sollte.

Mitten in seinem Sammeleifer blieb er ganz erstaunt vor ein paar weißen Blumenhügelchen stehen, die er noch nie bemerkt hatte. War es möglich, daß es hier in dem Hain eine Blumenart gab, die er noch nie gesehen hatte?

Es war auch keine neue Bekanntschaft. Es waren nur ein paar Leberblümchen, denen es aus dem einen oder anderen Anlaß beliebt hatte, sich in Weiß zu kleiden. Vielleicht nur, um sich besonders schön für ihn zu machen, der von Kindheit auf ihr Freund gewesen und nun allen Ernstes fortziehen sollte. Sie wußten wohl, wie wehmütig seine Gedanken, während er so im Hain umherwanderte, zur Heimat geschweift waren, zu Ruth, zu allem, was er nun verlassen sollte.

Es fehlte nicht viel, so hätte er geglaubt, daß es sich wirklich so verhielt, wenigstens konnte er seither nie die weißen Leberblümchen vergessen und die Freude und den Trost, den sie ihm geschenkt hatten.

Auch sah er keine anderen weißen Leberblümchen mehr, bis zum Frühling 1871, ganze neunzehn Jahre später. Auch da zu Ostern.

Das meiste, was ihm in der Zwischenzeit widerfahren war, war ja günstig gewesen – günstig auch in dem Sinne, daß er sich seine kindliche Lebensfreude bewahrt hatte. Aber in diesen Tagen hatte Kummer ihn heimgesucht, und eines Morgens war er so verzweifelt aus seinem Heim in Stockholm fortgegangen, daß er nicht einmal wußte, wohin er seine Schritte lenkte.

Doch einmal auf der Wanderung erwachte er plötzlich zu dem Bewußtsein, wo er sich befand. Er ging über den Heumarkt, und in der einen Ecke des Marktes hatte sich eine Menge armes Landvolk mit seinen Fuhren von Frühlingsgrün und Blumen niedergelassen. Es war vielleicht der wohlvertraute Duft des zarten Grüns, der ihn aus der Betäubung geweckt hatte.

Er hielt seine Schritte an, und sieh da! Da lagen gerade vor ihm zu oberst auf einer der kleinen Blumenpyramiden zwei Büschel weißer Leberblümchen.

Da waren sie wieder, da kamen sie jetzt, wie das erstemal, um ihm über einen schweren Abschied hinwegzuhelfen. Es wurde ihm wundersam zumute, wie immer, wenn man das Gefühl hat, daß uns die große Natur rings um uns, in der einen oder anderen Weise zeigen will, daß sie an unserem Schmerz oder an unserer Freude teilnimmt.

Ein paar Stunden später wurden die blauen Leberblümchen in den Sarg eines toten Knäbleins gelegt, der den Namen Sten getragen hatte. Er war ganz auf blaue Anemonen gebettet, aber unter seinen kleinen Patschhändchen ruhten die weißen Abschiedsblumen, die Trostblumen.

 

Und jetzt, wo Gellerstedt in sein Mannesalter getreten ist, finde ich plötzlich, daß meine Methode, ihn sein eigener Biograph sein zu lassen, ihre großen Schwierigkeiten hat. Denn was kann ich wohl nach seinen eigenen Büchern von seinem Leben und seiner Tätigkeit wiedergeben?

Ich kann vorerst einmal erzählen, daß er jetzt in seiner eigenen kleinen Steinvilla weit draußen in Oestermalm wohnt, daß er davor ein Gärtchen angelegt hat, das mit seiner ellentiefen Gartenerde und seiner reichlichen Sonne bald zu einem kleinen Paradies wird, daß der Garten von einem Staket umgeben ist, das von einem versoffenen Arbeiter angelegt wurde, dem Herrn des treuen Hundes Hektor. Ich kann erzählen, daß eine Drossel mit hohem weißem Stehkragen und schwarzem Ordensband über der Brust an Wintertagen zu kommen und an die Scheibe zu klopfen pflegt, um Geschäfte in Hanfsamen und Talg zu machen, daß eines Frühlings im Garten ein Nistkästchen aufgestellt wird, das nacheinander ein Gartenrotschwanz, der kein Weibchen findet, einnimmt, ein schwarzweißer Fliegenschnapper, dessen Schätzchen die Beute der Katze wird, und schließlich eine kranke Drossel, sicherlich ein lebensmüder, alter Einsiedler. Ich kann erzählen, wie der Nestplünderer der Sörmländer Wälder sich in einen Mann verwandelt hat, dessen schwerster Kummer es ist, ein Vogelnest zerstört zu sehen, wie aus dem fünfjährigen Schwärmer für einen rosigen Heckenrosenstrauch ein fanatischer Züchter und Verehrer der schönsten Edelrosen geworden ist. Ich kann von der Ninarose erzählen, von der Rose, die der »siebenarmige Leuchter« genannt wird. Das eine Rosenleben nach dem andern kann ich nach seiner Beschreibung wiedergeben. Ich kann von den flammenden Tulpen erzählen, von der genügsamen Kresse und der anhänglichen Bellis perennis, die in seinem Gärtchen gedeihen. Ich weiß, daß er wenigstens in den ersten Jahren seine Reisen noch fortsetzt und nach seinen Leuchttürmen sieht. Ich folge ihm nach Västergarn, zur Kapellenspitze, zu dem kleinen Leuchtturm im Kalmarsund, der wie ein »Nachtkästchenleuchter auf einem Glastablett« aussieht.

Ich weiß auch zu erzählen, wie die Großstadt sich immer drohender dem kleinen Gärtchen nähert, wie sie ihre hohen Häuser rings herum aufrichtet, ihre häßlichen Feuermauern. Da wird kein Pardon gegeben: die Rosen werden ihres Sonnenscheins beraubt, die Menschen ihres Behagens. Schließlich lebt man da wie auf dem Grund eines Steinbruchs, ohne Luft und Licht. Es bleibt nichts anderes übrig, als den lieben kleinen Besitz zu verkaufen und wegzuziehen. Der junge, vierzig Meter hohe Eschenbaum, den Gellerstedt selbst als dreijähriges Pflänzchen hingebracht hatte, muß vor der Axt fallen, während alles, das sich retten läßt, Edelrosen und Blumenzwiebeln, Flieder und Beerensträucher, Bekannten geschenkt oder auch in das »Sommerhäusel« gebracht werden, dem kleinen Fleckchen Erde auf der Värminsel, die er für fünfzig Jahre gepachtet hat.

Diese Übersiedlung aus dem entzückenden eigenen Heim in der Stadt fand im Jahre 1902 statt, und damit beginnt die Geschichte des »Sommerhäusels«. Da stand ursprünglich nur eine elende Taglöhnerhütte mit ein paar versandeten Feldern, die seit unvordenklichen Zeiten nur Kartoffeln getragen hatten; aber Gellerstedt errichtete da eine kleine Sommervilla und bepflanzte und besäte jeden Quadratzoll Erde. Wie genau hat er mich nicht mit dem Leben dort draußen in seinem stillen Altersheim vertraut gemacht! ganz so, wie mit dem lieben Kindheitsheim! Da geht der fanatische Erdgräber Johann aus Kräklinge und bricht Steine aus dem Boden. Da geben die wilden Rosensträucher Proben ihrer wunderbaren Lebenskraft, da geht man und behütet die ungeschützten Nester der kleinen Gartensänger, da trauert man über die bösen Streiche des Eichelhähers und der Katze; da hört man den Krammetsvogel konzertieren, der ebensoviel von den anderen Vogelstimmen weiß, wie nur je Gellerstedt selbst. Da kriecht die Natter auf den Apfelbaum, da wird über alle Launen der Natur nachgegrübelt, da führt man genau Buch über die Leistungen der Edelrosen.

Über all dies weiß ich also ganz gut Bescheid, aber wie unglaublich viel sollte ich nicht außerdem wissen! Ich war selbst Gellerstedts Zeitgenossin, und ich erinnere mich, daß er eine Zeitlang Professor der Architektur an der technischen Hochschule war, eine Zeitlang Chef der Ober-Intendantur. Ich mußte ihn ja als einen hochgeschätzten Aquarellisten und Radierer nennen hören, ich weiß, daß er die Egon Lundgrensche Medaille bekommen hat, zum Mitglied der Akademie der freien Künste gewählt wurde und mehrere Jahre ihr Sekretär war. Und noch weniger kann es mir unbekannt geblieben sein, daß die Schwedische Akademie ihm den Karl-Johann-Preis für seine Gedichte zuerteilt hat und daß er im Jahre 1901 berufen wurde, ihrem Kreise anzugehören.

Aber wenn ich von dem alten Dichter noch mehr über all dies erfahren will, dann komme ich zu kurz. War er befriedigt? Trauerte er darüber, daß er fast gar nicht als schaffender Architekt hatte wirken können? Genügte es ihm, in seinem Hauptfach nur als Lehrer und Beamter zu arbeiten? Hat irgend etwas von seiner Saat von Ideen und Anregungen in unseren Tagen vielfältige und herrliche Früchte getragen?

Auch auf seine Malerausflüge kann ich ihm nicht folgen. Er ist der Maler der stillen alten Gäßchen gewesen, er hat ihre rasch verflüchtigte Schönheit vor der Vergessenheit gerettet. Aber über die Freude, die Hingebung, mit der er diese Arbeit ausgeführt hat, hat er auch nicht viele Worte verloren.

Und seine Bücher! Ich habe vor mir vier Bände mit kleinen kurzen Gedichten, zwei Bände Prosastücke und den versifizierten Anfang einer Selbstbiographie, die nicht im Buchhandel erschienen ist. Was ist ihre Geschichte? War er ängstlich, er wie andere, als er sie in die Welt hinaussandte? Freute er sich über die Freunde, die sie ihm verschafften? Bemerkte er, daß eine Menge der Gedichte in Musik gesetzt wurden? Träumte er davon, einmal, wenn er zur Ruhe kam, größere Dinge zu vollbringen, die das Menschenherz tiefer ergreifen, die Lebensweisheit, die er in seinem langen Leben gesammelt, noch kräftiger einprägen sollten?

Er, der in drei Richtungen so Hohes erreichte, als ein Mensch sich nur wünschen kann, war er froh über die Art, wie er sein Pfund verwaltet hatte? War es ihm genug, der Weidenbaum mit den vielen Stämmen zu sein? Grübelte er nicht darüber nach, wie es gewesen sein könnte, wenn er mit gesammelter Kraft als ein einziger Stamm in die Höhe geschossen wäre?

Es sieht sogar aus, als hätte Gellerstedt das Gefühl gehabt, daß ein künftiger Biograph ihm diese und ähnliche Fragen stellen könnte. Er beginnt eines seiner Prosastücke mit dem Eingeständnis, daß er mit allerlei Auszeichnungen sehr verwöhnt wurde, und er verspricht, von einer davon zu erzählen, der ersten. Und nach diesem verheißungsvollen Anfang erfährt man, daß er im Alter von fünf Jahren von einer dankbaren Schultante mit einer Schachtel Zuckerplätzchen geehrt wurde. Es ist beinahe, als wollte er sich auf Kosten des armen Nachfolgers lustig machen. –

*

Es war in dem kalten und verspäteten Frühling 1906. Gellerstedt und seine Frau waren nach Paris gefahren. Sie hatten dort ein paar Wochen verlebt, und nun, anfangs Juni, befanden sie sich auf der Heimreise. Und schlechter Laune war er. Mit nichts dort draußen war er zufrieden gewesen. Er hatte sich über alles geärgert, über Toiletten wie über Gesichter, über Blumenbeete wie über Kunstwerke. Die ganze Reise, insoweit sie ein Vergnügen sein sollte, war mißlungen.

Er wollte es nicht gerade heraus sagen, aber die Mißstimmung kam vielleicht hauptsächlich daher, daß es ihn verdroß, Mai und Juni von seinem Gärtchen ferne zu sein.

Im Lauf all der Jahre hatte wohl vieles andere an Interesse verloren, die Liebe für die Blumen und Vögel aber hatte sich nur vertieft. Und gerade zu der Jahreszeit wegreisen zu müssen, wo sie ihm die meiste Freude machten, das hatte er nicht mit Geduld tragen können.

Ganz Paris war nicht einen Tag im »Sommer-Häusel« wert!

Aber was für eine Freude hatte er davon, heuer hin zu kommen? Das Feuer der Tulpen war erloschen, der Schnee der Apfelblüten befleckt, der Balsam des Flieders vom Winde verweht.

Nun war er endlich auf dem Heimweg. Er wird von der Sehnsucht vorwärts gejagt, ohne doch viel zu erhoffen. Er läßt sich weder in Kopenhagen noch in Lund aufhalten. Erst als er vor dem Zentralbahnhof in Stockholm steht, atmet er ein wenig auf. Es sieht ja aus, als wäre der Frühling hier daheim noch nicht so ganz vorbei, obgleich man schon den 10. Juni schreibt.

Ohne Aufenthalt wandern er und seine Frau zum Dampfschiff hinunter, um zum Sommerhäusel hinauszufahren.

Da erwartet sie eine große Überraschung. Nichts ist verblüht – im Gegenteil. Gleich hinter dem Gitter steht der große Fliederbaum »Ludwig Späth« so beladen mit dunkellila Blütentrauben, daß er sich zu Boden neigt. Und drinnen im Garten blüht der persische Flieder sich schier zu Tode, die Fackeln der Tulpen leuchten in den Beeten, die Apfelblüten liegen wie ein dünner Schleier über den Bäumen, die Bellis strahlt auf den Kieswegen, das Gras leuchtet hellgrün, der Klee errötet. Alles ist auf einmal gekommen, ohne Ordnung, wie es manchmal sein kann, wenn der Frühling sich verspätet hat.

Es ist schon der Mühe wert, eine Pariser Reise zu machen, um zu solch einer Blütenfreude und Blütenpracht heimzukommen. Mißstimmung und Alter ist vergessen, als er umhergeht und das ganze lächelnde Reich inspiziert. Die Stockrosen haben sich so ziemlich gehalten, im Johannisbeerstrauch ist ein Vogelnest, die Klematisranke hat wieder einmal die Beschwerden des Winters überlebt, der weiße Riesenrosenstock verspricht ebenso reich zu blühen wie im vergangenen Jahr.

Mir ist es so ergangen, daß von allem, was Gellerstedt geschrieben hat, diese Heimkehr zu dem blühenden Sommersitz sich meiner Erinnerung am tiefsten eingeprägt hat. Vielleicht, daß andere dieselbe Erfahrung gemacht haben.

Man muß daran denken, daß er ein siebzigjähriger Mann war, als dies sich zutrug, und daß seine Naturanbetung ebenso warm war wie nur je.

Man beginnt zu verstehen, daß nichts Zufälliges darin liegt, wenn er so vieles aus seinem Leben stumm übergeht. Er spricht und dichtet nur von dem, was seine höchste Liebe besessen hat. Nicht die Wechselfälle des Menschenlebens, sondern die der Natur haben ihn gefesselt. Ihr Reichtum oder ihre Armut, ihre Gaben, ihre Rätsel haben sein Herz in Schwingung versetzt.

Man blättere nur ein wenig in seiner Dichtung! Er spricht vom Rotschwanz, von der Lerche, der Bastard-Nachtigall; mindestens ein halbes Hundert seiner kleinen Gedichte ist verschiedenen Arten von Vögeln gewidmet. Blumen und Bäume haben noch mehr erhalten; wohin man blickt, begegnen einem die Bilder aus der Welt der Natur. Er besingt das Wasser in all seinen Erscheinungsformen, als Meer wie als Tautropfen. Er besingt das Licht, wie es uns von der heiteren Frühlingssonne entgegenströmt und vom bleichen Herbstmond.

Das Menschenleben ist nicht ganz und gar vergessen, aber welch verhältnismäßig geringer Teil fällt doch auf sein Los! Da sind vor allem Stens zehn kleine Lieder, einige Liebesgedichte an seine Frau, einige Gelegenheitsverse an Freunde und Bekannte, einige kleine Lieder von verschiedenem Inhalt.

Und man kann die Beobachtung machen, daß die Menschen, über die er spricht, meist etwas mit seiner großen Liebe zu tun haben. Es sind Gärtner, Rosenzüchter, Vogelkenner.

Andererseits vergißt er ja uns arme Menschen nicht ganz und gar, wenn er seine Lieblinge in der freien Natur besingt. Er hat etwas von einem pflanzenkundigen Arzt, der die Kräuter des Bodens sammelt, um heilende Salben und gesundheitsbringende Tränklein daraus zu bereiten. Aus jeder kleinen Blume weiß er eine Lehre zur Labung für kranke und ängstliche Menschengemüter zu pressen.

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß er der Welt der Natur bei weitem den Vorzug vor der der Menschen gab, er fand sie gerechter, weiser und schöner. Und sie belohnte ihn herrlich für all seine Liebe. Da sein Reich nicht von derselben Welt war wie das aller anderen, konnte er so wundersam geschützt und verehrt seine Wege gehen ohne Neider und Verleumder. Die jagende Unruhe vor der Zukunft konnte nie Wurzel bei Einem schlagen, der seine größte Ehre darein setzte, wenn es ihm gelang, eine Rose zu pfropfen. Hoheit und Glanz vermochte ein Herz nicht zu blenden, das es sich als das schönste Los erträumte, einmal als gelbgefiederter Sänger hieher zurückzukehren und sein Nest in der Krone eines reichblühenden, dichtbelaubten Rosenstocks zu bauen.

Aber es ist vielleicht unrecht, zu starke Worte zu gebrauchen. Es währte nicht lange, so zeigte es sich, wer doch die größte Macht über Gellerstedt hatte, wer im tiefsten Innern seines Herzens wohnte.

In »Alte Weisen« steht ein kleines Gedicht, das »Nur du!« heißt, und das lautet so:

Gält es über sanfte Wellen
Heiter nur dahin zu gleiten,
Wollt' ich manchem Frohgesellen
Platz in meinem Kahn bereiten.

Doch auf wilden Stromesschnellen
Kannst nur Du das Boot geleiten,
Wie auch Gott die Fahrt mag stellen,
Du bleibst treu an meiner Seiten.

Das war zu seiner Frau gesagt, und es war im Ernst gesagt.

Wie ernst es gemeint war, wußte vielleicht weder er noch sie, bis die Stunde kam, wo sie scheiden mußten.

Es war im Jahre 1912, als Gellerstedt seine getreue alte Lebensgefährtin verlor, und seither konnte er sich im Leben nicht zurechtfinden. Rosen und Vöglein waren noch da, die Sonne glitzerte wie früher auf den Wellen der Salzsee vor dem »Sommerhäusel«, aber er konnte nicht dieselbe Freude an all dem empfinden. Der Tag wurde lang und freudlos, die Arbeit schwer und quälend. Es war keine Widerstandskraft mehr in ihm gegen Altersschwäche und Krankheit, und als der Tod kam, am 7. April 1914, da war er froh, über die dunklen Pfade von hinnen zu wandern, auf denen er hoffen konnte, mit der Vermißten wieder vereinigt zu werden.

 


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