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Im Svartsjöer Kirchspiel in Värmland war einmal ein Mann, der war eines Weihnachtsabends überall in der ganzen Umgegend herumgegangen, um sich Gäste einzuladen, aber er hatte niemandes habhaft werden können, der an diesem Tage sein Haus verlassen wollte. Lange streifte er herum, aber als es schließlich zu dämmern begann, ohne daß es ihm gelungen war, einen einzigen Gast an sich zu locken, merkte er, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als unverrichteter Dinge heimzukehren.
Der Mann hätte sich wirklich selbst sagen müssen, daß es nicht anders hatte kommen können, er hätte die Sache ruhig nehmen sollen, aber das tat er nicht, sondern war überaus erbost über all die Ablehnungen, die ihm zuteil geworden waren. Er hatte sowohl Eßwaren wie Branntwein eingekauft, und seine Frau war nun gerade damit beschäftigt, einen Schmaus zu richten. Aber was sollte das für eine Freude sein, wenn kein munterer Kamerad mitkommen und ihm am Weihnachtstisch Gesellschaft leisten wollte? »Das ist natürlich, weil sie sich zu gut dünken, zu mir zu kommen,« sagte er. »Weil ich Totengräber geworden bin, ist es nicht fein genug, den Weihnachtsabend in meinem Heim zu feiern.«
Diese Anklage war ganz ungerecht, denn man mag den Svartsjöern nachsagen, was man will, nie ist es einem Menschen aus diesem Kirchspiel in den Sinn gekommen, eine Einladung abzuschlagen, weil der Gastgeber ein zu geringer Mann ist. Und dieser Mann war ja kein gewöhnlicher Totengräber. Er hieß Anders Oester und war aus altem Spielmannsgeschlecht. Selbst war er Feldmusikant bei den Värmländer Jägern gewesen, und erst nachdem er gnädigen Abschied aus dem Kriegsdienst erhalten hatte, hatte er die Anstellung als Totengräber angenommen.
Obendrein war er nicht nur Totengräber, sondern auch Küster, ein Beruf, der durchaus nichts Abschreckendes an sich hat. Aber in der Gemütsstimmung, in der er sich augenblicklich befand, dachte er nur an die dunklen Seiten des Lebens.
»Wenn kein anderer zu mir kommen will, muß ich mir wohl ein paar Geister vom Kirchhof zu Gast laden,« murmelte er. »Die werden sich doch wenigstens nicht schämen, beim Totengräber zu schmausen.«
Er ging da eben an der alten, grauen Steinmauer vorbei, die den Svartsjöer Kirchhof einfriedet, und darum war natürlich ein solcher Gedanke in seinem Hirn entstanden, aber er hatte vorderhand noch durchaus nicht die Absicht, Ernst damit zu machen.
Als er noch ein paar Schritte gegangen war, merkte er jedoch, daß ein runder, weißer Gegenstand aus dem dürren Gras hervorschimmerte, das den Gehpfad besäumte. Das Ding blinkte viel weißer als ein gewöhnlicher Stein, und so blieb er stehen, um zu sehen, was das sein konnte. Da erblickte er in dem bleichen Dämmerlicht nichts Geringeres als einen Totenschädel. Er war wahrscheinlich mit Erde und Schutt aus einem Grab geworfen worden, das er am vorhergehenden Tag gegraben hatte, und dann war er wohl von irgend einem Tier dahin geschleppt worden, wo er jetzt lag.
Unter gewöhnlichen Umständen hätte der Mann sicherlich dieses Überbleibsel eines Menschen aufgehoben, der einer seiner Vorväter sein konnte, und auf jeden Fall im selben Kirchspiel gelebt hatte und gestorben war wie er; er hätte ihn in die Aufbahrungskammer getragen, aber jetzt war er nicht in der Laune, etwas so Einfaches und Natürliches zu tun. Er zog vielmehr den Hut, verbeugte sich lächelnd vor dem Totenschädel und sprach ihn mit einer eigentümlich milden, flötenden Stimme an, die er nur dann hatte, wenn er in seiner bösesten Laune war.
»Guten Abend, guten Abend!« sagte er. »Gehorsamster Diener. Ja, nun will ich vor allem ein fröhliches Weihnachtsfest wünschen, und dann möchte ich sagen, daß ich ausgezogen bin, um zum Schmaus zu bitten. Ich möchte wohl wissen, ob Ihr euch zu gut dünkt, um heute abend zu mir zu kommen? Es ist kein großes Fest, wißt Ihr, aber Essen und Branntwein wird es genug geben.«
Nachdem er diese Einladung vorgebracht hatte, blieb er mit dem Hut in der Hand stehen, wie um die Antwort abzuwarten.
»Nun, Ihr sagt doch wenigstens nicht nein,« fuhr er fort, nachdem er eine angemessene Zeit gewartet hatte, »und so darf ich wohl hoffen, daß Ihr kommt. Ich wohne dort drüben in dem großen Haus auf dem Kirchenhügel, so habt Ihr keinen langen Weg zum Gastmahl.«
Dabei lachte Anders Oester laut und wild auf, setzte den Hut auf den Kopf und begab sich in sein Heim, ohne sich auf dem Wege weiter aufzuhalten.
Es verhielt sich wirklich so, daß er der nächste Nachbar des Friedhofes war. Denn er hatte seine Wohnstatt im Gemeindehaus in ein paar kleinen Dachkammern. Als er nun durch die Einfahrt gegangen war und die Eingangstür öffnete, bot sich ihm ein Anblick, der nicht danach angetan war, seine schlechte Laune zu verbessern. Seine Frau lag nämlich gleich hinter der Tür auf dem Boden und scheuerte den unteren Vorraum. Ein kleines schmales Talglicht stand in einem Messingleuchter vor ihr auf dem nassen Fußboden und beleuchtete Wassereimer, Bürste und Wischfetzen.
»Ja, das schickt sich wirklich, daß du noch hier liegst und scheuerst, wenn jeden Augenblick Gäste kommen können!« sagte der Mann im Eintreten.
Sie hob das Gesicht, das überraschend schön war, mit reinen feinen Zügen, und warf ihm einen hastigen Blick zu. Sie merkte sofort, wie die Sache stand.
»Ach so, niemand wollte kommen,« sagte sie. »Ja, hab' ich mir's nicht gedacht. Das hat man doch sein Lebtag nicht gehört, daß sich Menschen am Weihnachtsabend zu Gaste bitten lassen.«
»Nein, sie haben es alle zu gut, als daß sie zu uns kommen wollten,« sagte er mit einer Heftigkeit, als ob er eine Anklage gegen sie schleuderte. »Das heißt, einer hat die Einladung doch angenommen,« fuhr er in nachlässigem Tone fort, »aber er kommt erst etwas später.«
»Dann gehe doch zu uns hinauf und warte auf ihn,« sagte die Frau. »Es ist schon angezündet und gedeckt. Ich bin hier unten gleich fertig.«
Aber Anders Oester hatte durchaus keine Lust, so zu handeln, wie man ihn gebeten hatte. Er blieb im Flur stehen, der Scheuernden mitten im Wege. Das wußte er, und es erfüllte ihn mit bitterer Befriedigung.
Rechts von ihm öffnete sich die Tür zur Ratsstube, wo die Gemeindeältesten ihre Sitzungen und Zusammenkünfte abzuhalten pflegten. In der offenen Feuerstatt brannte eine große prasselnde Flamme, die den ganzen Raum erleuchtete, und Anders Oester stellte sich hin und sah hinein. Die Stube war in altertümlicher Weise eingerichtet, mit groben schmucklosen Balkenwänden, ungeheuren Dielen und sichtbaren Dachsparren. Starke, wandfeste Bänke liefen rings um den ganzen Raum, ein großer ungestrichener Holztisch mit gewundenen Beinen stand erhöht in einer Ecke, dem Eingang schräg gegenüber, und vor dem Tisch ein hochlehniger lederbezogener Bürgermeisterstuhl, ein wahrhaftes Sinnbild sicherer Gewalt und unerschütterlicher Ruhe.
Die Frau hatte auch drinnen gescheuert und dann den Boden mit weißem Seesand und gehacktem Wacholderreisig bestreut. In dem flackernden Schein der lodernden Flamme erschien der Raum Anders Oester ansehnlich und traulich zugleich, und er sagte zu der Frau:
»Wenn du fertig bist, kannst du die Weihnachtsgerichte heruntertragen und hier in der Ratsstube aufdecken. Ich glaube, ich will den Weihnachtsschmaus hier abhalten.«
Die Frau sah ganz entsetzt zu ihm auf.
»Was meinst du?« rief sie. »Du willst hier unten sitzen und mit dem saufen, den du erwartest? Man kann ja nichts vor die Fenster ziehen. Wenn jemand vorbeiginge, würdet ihr ja gesehen werden.«
Sie war ganz erregt. Die Ratsstube gehörte so wie die Kirche der Gemeinde, und sie betrachtete sie beinahe als eine heilige Stätte. Sie konnte sie sich nicht für ein Trinkgelage verwendet denken.
Aber Anders Oester wollte sich nicht darein finden, daß ihm an diesem Tage alles versagt wurde, was er sich wünschte.
»Sei doch nicht so widerspenstig, Bolla,« sagte er. »Ich sage dir, daß ich heute abend hier sitzen und meinen Weihnachtsschmaus halten will.«
Es war der große Tisch, die großen Stühle und die große Stube, die ihn lockten. Wenn er sein Weihnachtsfest, auf einem so ehrwürdigen Stuhle sitzend, feiern durfte, an einem Tisch, an dem neben ihm reichlich zwanzig, dreißig Leute Platz hatten, über einen Raum hinsehend, wo all die Mächtigen der Gemeinde sich zu versammeln pflegten, dann würde er sich als ein angesehener Mann fühlen, als ein Großbauer, und das war es, was ihm nottat.
»Du kannst sicher sein, daß du um deine Stelle kommst, wenn du das tust,« sagte die Frau. »Eine solche Tollheit wirst du nicht anstellen, solange ich lebe.«
Als die Frau sich in dieser entschiedenen Weise seinem Wunsche widersetzte, kannte sein Zorn keine Grenzen. All der Mißmut, der sich während des ganzen Tages in ihm angesammelt hatte, kochte nun auf und wollte zum Ausbruch kommen. Er erwiderte ihr kein Wort, sondern lief nur die Treppe zum Dachboden hinauf, und in ihr Zimmer, wo er das Jagdgewehr von der Wand riß.
Dann schlich er mit leisen Schritten zur Treppe zurück und beugte sich über das Geländer, so daß er die Frau sehen konnte, die noch immer dalag und den Flurboden scheuerte.
»Bolla, Bolla,« sagte er mit einer Stimme, die so sanft und weich war, daß sie beinahe von Honig triefte, »ist das dein Ernst, daß ich nicht am Ratstisch sitzen und meinen Weihnachtsschmaus essen darf, solange du am Leben bist?«
»Ja, das ist es!« rief sie rasch zurück; aber kaum war es gesagt, mußte sie daran denken, daß diese flötende Stimme nie etwas Gutes zu bedeuten hatte. Sie warf einen raschen Blick hinauf und erblickte eine blanke Büchsenmündung ein paar Ellen über ihrem Kopf.
Blitzschnell warf sie sich zurück. Im selben Augenblick war der Flur von Rauch und Feuer erfüllt, und eine Kugel schlug gerade vor ihr in den Fußboden ein.
»Herr, du Allmächtiger!« Sie ließ alles stehen und liegen und floh Hals über Kopf hinaus in die Dunkelheit.
Anders Oester machte keinen Versuch, sie zu verfolgen. Er lachte nur kalt und schneidend auf, ganz so wie früher auf dem Wege. Dann ging er ganz ruhig hinauf und hängte das Gewehr an seinen Platz.
Hierauf begann er mit großer Raschheit und Behendigkeit alles so einzurichten, wie er es haben wollte. Er puffte die Scheuergerätschaften in einen Winkel des Flurs, um freien Durchgang zu haben, und trug dann alles, was die Frau zum Schmaus aufgetischt hatte, in die Ratsstube hinunter. Er breitete ein Tuch auf dem Ratstisch aus, setzte zwei zierliche dreiarmige Leuchter darauf, mitten dazwischen stellte er einen großen Butterstollen, auf das sorgsamste gekräuselt und geziert, dann brachte er mehrere Sorten weiches Brot, fetten und mageren Käse, Wurst, Schinken, eine Hammelkeule, einen Humpen Weihnachtsbier sowie Messer und Teller. Zu allerletzt schleppte er das Branntweinfäßchen hinab, das er mitten auf den Tisch stellte, mit einem Kranz von Gläsern unter der Pipe.
Als alles in Ordnung war, setzte er sich auf den Bürgermeisterstuhl und aß und trank wohlbehaglich und in guter Ruhe.
Es war vermutlich so, daß der aufgehäufte Zorn in ihm, der ihn so gequält hatte, daß jedes Glied ihn schmerzte, durch den abgefeuerten Schuß einen Ablauf gefunden hatte. Er empfand eine solche Erleichterung, daß er gar nicht anders denken konnte, als daß er recht gehandelt hatte.
Warum mußte die Frau sich ihm auch in diesem widersetzen, das doch ein so unschuldiger Wunsch war? Es kam ihr doch zu, ihrem Mann untertänig zu sein. Nun war es ihr so ergangen, wie sie es verdient hatte. Er hatte nur Gerechtigkeit gegen sie geübt, und nicht genug damit, daß es gerecht war, es war auch klug.
Wie er da saß, erinnerte er sich an eine ganze Reihe von Fällen, wo sie widerspenstig gewesen war. Aber jetzt hatte es wohl mit derlei ein für allemal ein Ende. Jetzt hatte sie einmal gelernt, wer der Herr im Hause war. Es war ein ganz vortrefflicher Einfall gewesen, auf sie zu schießen, fortab würde er bessere Tage haben und mehr Freude in seiner Ehe.
Er war müde und hungrig und ließ sich das Essen wohl schmecken. Nach einer Weile, als er sich satt zu fühlen begann, dachte er jedoch mit erneutem Bedauern daran, daß er nicht imstande gewesen war, sich Gesellschaft zu verschaffen.
Da fiel ihm mit einemmal der Totenschädel ein. »Ich glaube, er will es machen wie die andern und sich auch nicht einfinden,« sagte er. »Da bleibt wohl nichts anderes übrig, als daß ich fortgehe und ihn hole.«
Er setzte den Hut auf, legte die wenigen Schritte zum Friedhof zurück und kam bald mit dem Totenschädel in der Hand zurück.
Es klebte eine Menge Erde daran fest, und so tauchte er ihn in den Eimer und trocknete ihn mit dem Scheuerfetzen ab. Als er ihn so fein, als er nur konnte, gemacht hatte, stellte er ihn auf dem Tisch vor sich auf. – – –
Die Frau saß mittlerweile ganz verstört und verweint in einem Bauernhof, der einige wenige Schritte von der Kirche entfernt lag. Sie war zu guten Freunden und Nachbarn gekommen, die sie zu trösten versuchten, und da es Weihnachtsabend war, tat sie ihr möglichstes, um wenigstens ihre Tränen zu unterdrücken, damit sie mit ihrem Jammer nicht ihre Weihnachtsfreude störe. Aber sie hatte das Gefühl, daß sie da saß und in einen Abgrund hineinstarrte, in den sie stürzen mußte.
»Er hat auf mich geschossen!« dachte sie einmal ums andere. »Er hat mich töten wollen! Was soll aus uns werden?«
Wäre er betrunken gewesen, dann hätte es weniger zu sagen gehabt. Aber er war nüchtern gewesen, und er hatte sie töten wollen, um solch einer Lappalie wegen.
Sie dachte an die lange Zeit, die sie miteinander gelebt hatten. Mehr als zwanzig Jahre hatten sie Gutes und Böses miteinander geteilt, und nun war es dahin gekommen, daß er auf sie geschossen hatte. Es war also nicht die geringste Spur von Zärtlichkeit für sie in seinem Herzen nach all der Not und all den Kümmernissen, die sie miteinander durchgemacht hatten.
Hier im Bauernhof, in den sie ihre Zuflucht genommen hatte, waren ein paar kleine Jungen, die der ganze Vorfall ungemein interessierte. Immer wieder liefen sie hinaus, guckten durch die Fenster in das Gemeindehaus und erzählten ihr dann, was sie gesehen hatten.
»Jetzt trägt er das Essen hinunter und deckt auf dem großen Ratstisch auf,« berichteten sie. Nach einer Weile hieß es: »Jetzt sitzt er auf dem Bürgermeisterstuhl und ißt und trinkt.«
Das nächstemal erzählten sie, daß er da saß und sprach, ganz als ob noch jemand im Zimmer bei ihm wäre. Er hob das Glas und trank jemandem zu, den die Kinder nicht sehen konnten.
Die Frau fragte nur wenig danach, was der Mann trieb. Sie konnte an nichts andres denken, als dieses Einzige, daß er auf sie geschossen hatte! Es schien ihr ganz unmöglich, zu ihm zurückzukehren. Nicht so sehr der Gedanke, daß sie in ewiger Angst vor einem Manne leben mußte, der beim geringsten Widerspruch gleich zum Gewehr griff, hinderte sie, in sein Haus zurückzukehren. Es war vielmehr das herzlähmende Gefühl, daß er sie hassen mußte, wenn er imstande war, sie auf diese Weise zu überfallen.
Das war unrettbar. Das ließ sich nie wieder gut, nie ungeschehen machen. Der Grund, auf dem sie ihr Glück gebaut hatten, war eingestürzt. Jetzt hatte es keinen Halt mehr.
Kalte Schauer schüttelten sie, während sie der Bäuerin half, die Grütze rühren und den Weihnachtstisch decken. »Er hat mich ja doch mit seinem Schuß getötet,« dachte sie; »er ist mir gerade durchs Herz gegangen.«
Sie hatte sich eben mit den anderen am Weihnachtstisch niedergelassen, als die Tür sachte aufging und der Mann eintrat. Er ging nicht in das Zimmer vor, sondern blieb im Schatten bei der Tür stehen. Er winkte ihr nicht, daß sie zu ihm kommen solle; er machte überhaupt keine Bewegung, er stand nur da.
Im ersten Augenblick empfand sie nichts anderes als Zorn, daß er es wieder wagte, ihr in die Nähe zu kommen, und sie zwang sich, ihn nicht anzusehen und zu tun, als ob er gar nicht da wäre. Aber natürlich konnte sie es doch nicht lassen, hie und da einen hastigen Blick zur Tür zu werfen, und sie wunderte sich, daß er so still dastand. »Es ist ihm etwas geschehen,« dachte sie. »Er ist nicht derselbe wie vorhin. Er ist ganz weiß im Gesicht. Gewiß ist er krank geworden. Vielleicht hatte er schon Fieber, als er vorhin auf mich schoß.«
Sie stand vom Tisch auf, sagte leise: »Habt schönen Dank,« und ging auf die Tür zu. Der Mann öffnete sie und ging vor ihr aus dem Hause und auf ihr Heim zu. Er ging den ganzen Weg schweigend, und sie hatte das Gefühl, daß sie seinem Geiste folgte, nicht ihm selbst.
Sie wußte ja, daß er in der Ratsstube aufgedeckt hatte, aber davon war jetzt keine Spur zu sehen, sondern alles war fein säuberlich zurechtgestellt. Er ging über die Treppe in ihre eigene Wohnung auf dem Dachboden. Auch da sah alles ganz so aus, wie da sie von daheim fortgelaufen war.
Das einzige, was ihr fremd war, war ein Totenschädel, der in einer Ecke des Zimmers auf einem Tisch stand. Der Mann stellte sich an den Tisch und wies auf den Schädel.
»Sieh ihn an,« sagte er.
Sie tat es, aber konnte nichts Ungewöhnliches daran sehen.
»Siehst du, daß er erschossen worden ist, ermordet?« sagte er. »Er ist kein Selbstmörder gewesen. Der Schuß ist von rückwärts gekommen, hier dicht hinter dem Ohr.«
»Ja, ich sehe,« sagte sie in zitternder Erwartung.
»Kannst du dich erinnern, je von einem gehört zu haben, der in diesem Kirchspiel erschossen worden wäre? Nein, so etwas hat sich zu unserer Zeit nicht begeben, und auch nicht zu unserer Eltern Zeit. In dieser Gegend ist wohl nicht oft jemand ermordet worden. Dieser hier ist vielleicht der einzige von all jenen, die auf dem Friedhof begraben liegen, der durch einen Schuß gefallen ist, und just heut' abend ist er zu mir gekommen.«
Er nickte ihr, das, was er eben gesagt hatte, bekräftigend, zu und fuhr fort:
»Denke doch nur! Von den vielen tausend Schädeln, die hier auf dem Friedhof begraben sind, gibt es vielleicht nur diesen einen, der von einer Mörderkugel durchbohrt wurde, und gerade der liegt nun hier vor mir.«
Die Frau stand noch immer stumm da.
»Er lag mir im Wege, als ich heute abends heimging, gerade dieser hier mit dem Schußzeichen. Er wollte sich mir wohl zeigen, aber ich sah ihn damals nicht so recht an. Später, als ich allein hier saß, kam er mir immer in den Sinn, so daß ich schließlich nicht anders konnte, ich mußte gehen und ihn holen. Er erbarmte mich, weil er so allein draußen in der Kälte und Dunkelheit lag, und überdies wollte ich jemanden haben, mit dem ich reden konnte. Und als ich ihn dann vor mir auf den Tisch stellte und ein Glas einschenkte, um mit ihm anzustoßen, da sah ich, daß er von einem Schuß zersprengt war. Was sagst du dazu, Bolla? Wo ist er her, und warum kam er mir gerade heute abend in den Weg? Woher kommt es, daß ich ihn gleich hineinnehmen mußte, nachdem ich auf dich geschossen hatte?«
»Das war wohl Gott,« flüsterte sie und faltete die Hände.
»Ja,« erwiderte er ebenfalls flüsternd. »So ist es. Es war Gottes Wille. Er wollte, daß ich gerade diesen sehen sollte. Er sollte mir zeigen, was es war, was ich hatte tun wollen. Er wurde mir gesendet, damit ich meine große Sünde und Verworfenheit erkenne.«
Sie näherten sich einander. Unwillkürlich faßten sie sich bei den Händen und blieben still vor dem Totenschädel stehen, mit einem Ausdruck im Gesicht wie zwei unschuldige Kinder. Sicherlich war er ihnen von Gott gesandt. Er sagte ihnen durch seine Gegenwart, daß Gott sich ihrer annahm, daß er Erbarmen mit ihnen hatte und sie retten wollte.
Sie fühlten plötzlich, daß alles andere ohne Belang war. Die Frau verlangte nicht, daß der Mann ihr sage, daß er bereue. Sie hatte ganz vergessen, daß sie nicht mehr mit ihm zusammenleben wollte. Der Mann dachte nicht mehr, wer von ihnen beiden jetzt der Herrschende im Hause sein würde. Sie hätten tausendmal aufgebrachter gegeneinander sein können, sich tausendmal mehr vorzuwerfen haben können, alles wäre vergessen gewesen, vor der beseligenden Gewißheit, daß Gott sich ihrer erbarmt hatte und sie davor erretten wollte, einander zu hassen.
Gott wollte ihnen wohl. Darum hatte er ihnen einen Warner geschickt. Vor etwas so Großem vergaßen sie nicht nur ihren Groll gegeneinander, sie vergaßen auch ihre Armut, ihre Zukunftssorgen. Sie fühlten das größte Glück, das Menschen empfinden können.